Zauber der Savanne - Patricia Mennen - E-Book

Zauber der Savanne E-Book

Patricia Mennen

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Beschreibung

Heimat ist dort, wo Herz und Seele zu Hause sind

Afrika, 1924. Owitambe steht in voller Blüte. Jella und Fritz von Sonthofen haben ihre Träume verwirklicht und mit ihrer Farm ein kleines Paradies geschaffen. Die Kalahari ist ihre Heimat geworden, die sie nicht mehr verlassen möchten. Ihre Tochter Riccarda hingegen sträubt sich gegen die Sesshaftigkeit. Sie geht nach Berlin, um Sängerin und Tänzerin zu werden. Doch als es zu einer schicksalhaften Begegnung kommt, wird Rickys Leben auf den Kopf gestellt. Wird sie in Europa bleiben – oder wird sie erkennen, dass ihr Herz für Afrika schlägt?

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Seitenzahl: 844

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Buch

1924 steht Owitambe in voller Blüte. Jella und Fritz von Sonthofen haben ihre Träume verwirklicht und mit ihrer Farm ihr persönliches Paradies geschaffen. Neben der erfolgreichen Farmwirtschaft gehen beide ihrer Leidenschaft nach: Jella betreibt ein kleines Lazarett für Einheimische, Fritz kümmert sich um verletzte Tiere. Die Kalahari ist für die Auswanderer zur Heimat geworden, die sie nie mehr verlassen möchten.

Sehr zum Unmut ihrer Eltern sträubt sich ihre Tochter Riccarda jedoch gegen die Sesshaftigkeit. Sie hat ein besonderes Talent und soll zur Musiklehrerin ausgebildet werden, möchte aber viel lieber auf einer großen Bühne in Deutschland stehen. Nach einem Eklat stimmen ihre Eltern zu, dass Ricky nach Berlin reisen darf. Jella, die noch immer Kontakt zu ihrem alten Freund Zille pflegt, erwirkt zumindest, dass ihre Tochter in geordneten Verhältnissen unterkommt. Sie hofft, dass sich Ricky nach kurzer Zeit die Hörner abstoßen und zu ihrer Familie zurückkehren wird.

In ihrem neuen Leben als Tänzerin und Sängerin ist Riccarda von Sonthofen überglücklich. Doch als es zu einer schicksalhaften Begegnung kommt, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Bleibt sie in Europa und verschreibt sie sich weiterhin ihrer Karriere – oder wird sie erkennen, dass ihr Herz für Afrika schlägt?

Zauber der Savanne ist der abschließende Teil einer mitreißenden Familiensaga um eine deutsche Familie, die ihre Heimat verließ, um ihr Glück in Afrika zu finden.

Autorin

Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

Näheres über die Autorin erfahren Sie unter www.patricia-mennen.de

Von Patricia Mennen bei Blanvalet lieferbar:

Der Ruf der Kalahari • Sehnsucht nach Owitambe • Im Land der sieben Schwestern • Das Tal der goldenen Flüsse • Ellas Geheimnis

Patricia Mennen

Zauber der Savanne

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Copyright © by Blanvalet Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlagmotiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com.

Redaktion: Rainer Schöttle

DF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-08505-6V003

www.blanvalet.de

Für Marc und Athina

Wichtig ist nicht, wo du bist–sondern was du tust, wo du bist!

(Südafrikanisches Sprichwort)

Prolog

Feine, dampfende Nebelschwaden schmiegten sich wie Kissen um den Fuß des mächtigen Tafelbergs. Während die flache Gipfelfläche des Waterbergs von den ersten Sonnenstrahlen bereits hellrot angeleuchtet wurde, verharrte die Landschaft darunter noch in dem dunklen Grau der Nacht. Das plötzlich einsetzende »Wuk-wuk-wuk« eines Nashornvogels klang wie ein Aufbruchsignal. Langsam kam Leben in das grüne Dickicht rund um das ausgedehnte Felsmassiv. Das beeindruckende Gebrüll mehrerer Löwen hallte durch die sich auflösende Stille des beginnenden Tages.

Ein junger Buschmann folgte in gebückter Haltung der Spur des angeschossenen Kudubocks. Das Pfeilgift hatte seine Wirkung noch nicht voll entfaltet. Jetzt musste der Jäger dafür sorgen, dass das Tier in Bewegung blieb, damit die lähmende Wirkung des Larvengifts das Herz erreichte. Die Schritte der großen Antilope wurden bereits schwerfälliger. Bald würde der Kudu zusammenbrechen. Debe freute sich auf den Genuss beim Verzehr des Auges. Die Kraft des Tieres, seine Weitsicht und Größe würden auf ihn übergehen und ihm weiteres Jagdglück bescheren. Von heute an würden alle sehen, was für ein geschickter Jäger in ihm steckte. Endlich war er ein Mann, und endlich würde man ihm erlauben, einen Liebesbogen zu schnitzen und damit auf Brautschau zu gehen. Zweige knackten vor ihm im Gebüsch, und er konnte das angestrengte Schnauben der großen Antilope hören. Es war so weit, das Tier würde sich jeden Augenblick zum Sterben niederlegen. Er wartete darauf, das Brechen von Zweigen zu hören, doch stattdessen nahm der Buschmann etwas anderes wahr, das ihn sofort innehalten ließ. Scharfer Uringeruch verriet die unmittelbare Nähe von Raubkatzen. Der junge Buschmann erschrak und biss sich gleichzeitig vor Enttäuschung auf die Unterlippe. Die Fährte des von ihm angeschossenen Tieres führte genau in die Richtung der Löwen. Beinahe im gleichen Augenblick brach im Busch vor ihm ein Tumult los. Das Fauchen von Wildkatzen, ein kraftvoller Sprung, das Schlagen von Tatzen. Debe war zu weit entfernt, um die Szene mit eigenen Augen verfolgen zu können, aber er hörte, wie die angeschlagene Antilope einen letzten Fluchtversuch unternahm, bevor die Löwen deren Leben durch einen gezielten Biss in die Kehle beendeten. Der junge Buschmann blieb unbeweglich stehen und versuchte seine Verbitterung niederzukämpfen. So lange war er seiner Beute gefolgt, und jetzt hatten die Raubkatzen sie ihm vor der Nase weggeschnappt. Debe schnaubte unmutig. Es tat ihm weh, sich so nah vor dem Ziel geschlagen geben zu müssen. Wenn er nur bessere Waffen gehabt hätte! Wieder einmal dachte er voller Neid an die mächtigen Donnerpfeile der weißen Männer. Für seine Leute waren sie tabu. Doch er selbst wünschte sich nichts mehr als solch eine mächtige Waffe. Damit hätten ihm die Löwen die Beute nicht streitig gemacht. Er hätte sie ohne Mühe vertrieben.

»Die Donnerpfeile haben deinen Großvater getötet«, hielt ihm seine Mutter Nakeshi stets vor. »Sie stehen mit Gwi und den bösen Geistern in Verbindung. Kein Buschmann darf diese Waffen nutzen, denn er würde Kauhas Zorn auf sich ziehen!« Aber Debe war sich nicht mehr sicher, ob das stimmte. Er dachte an Großmutter Chuka, die sie während der letzten Trockenzeit hatten zurücklassen müssen. Hätte seine Gruppe einen Donnerpfeil besessen, dann würde die Großmutter vielleicht noch leben und wäre nicht verhungert!

Das Rattern eines Automobils übertönte die vielfältigen Geräusche der Savanne und riss ihn aus seinen grüblerischen Gedanken. Irgendwo hinter der feuchten, sich lichtenden Nebelwand kam es zum Halten. Debes Augen begannen zu leuchten, und er vergaß augenblicklich seinen Unmut. Seine Neugier war geweckt. Wenn ihm schon seine Beute abhandengekommen war, wollte er wenigstens einen Blick auf das voller Zauber steckende Reittier der Weißen werfen. Unbemerkt schlich er sich an. Verborgen hinter einem Rosinenbusch beobachtete er das eckige Metallgefährt. Schon als Kind hatte er sich von dem Leben der Weißen angezogen gefühlt. Wieso besaßen diese Menschen solch mächtige Zauber? Hatten sie einen Pakt mit dem Mond geschlossen, dem Erschaffer der Welt? Voller Bewunderung musterte der Buschmann das kastenähnliche Fahrzeug, mit dem sich die Weißen schneller als jede Antilope fortbewegen konnten. Wie leicht ihr Leben doch war! Drei Männer sprangen von der Pritsche des Wagens. Sie hielten Donnerpfeile in ihren Händen. Einer von ihnen deutete aufgeregt auf eine Spur und winkte die anderen zu sich. Offensichtlich waren sie dem Löwenrudel auf der Spur. In gebückter Haltung verfolgten sie die Fährte. Debe erschrak. Wussten die Männer nicht, dass niemand die Herren der Savanne ohne Not töten durfte? Der Zorn Kauhas würde wie ein Blitzschlag auf sie herabschlagen, wenn sie den Frevel begingen, eines der mächtigen Tiere zu töten. Der Mond würde ein Blutopfer von ihnen verlangen. Der junge Buschmann wollte mit diesen schlechten Jägern nichts zu tun haben und beschloss zu gehen. Doch dann fiel sein Blick auf etwas Glänzendes auf der Pritsche des Wagens.

Ein Donnerpfeil!

Er lag dort unbewacht. Das war die Gelegenheit, um sich die Waffe von Nahem anzusehen. Wachsende Neugier rang mit seinem angeborenen Misstrauen. Schließlich schob er alle Vorsicht beiseite und wagte sich aus seiner Deckung. Mit leichten, schnellen Schritten näherte er sich der Ladefläche des Wagens. Zögernd griff er über den Pritschenrand und tastete nach der Waffe. Ob der Donnerpfeil auch ihm gehorchen würde? Er lauschte in die Savanne. Die weißen Männer waren noch in der Nähe, aber die nahen Löwen nahmen ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Ganz vorsichtig hob er das Gewehr an und zog es zu sich herüber. Es fühlte sich kalt und hart an und es ziemlich schwer. Brauchte man einen Zauberspruch, um es Feuer spucken zu lassen? Wie stellte es der weiße Mann an, dass der tötende Donner aus dem Rohr herauskroch? Debe stellte das Gewehr mit dem Lauf nach oben vor sich auf den Boden und schielte in den Schusskanal. Es sah aus wie ein schmaler, leerer Köcher. Ratlos kratzte er sich am Kopf.

»Zeig mir deinen Donner!«, befahl er dem Gewehr.

Doch die Waffe schwieg. Schließlich hob er den Donnerpfeil hoch und setzte ihn so an die Schulter, wie er es einmal aus weiter Entfernung bei einem weißen Mann beobachtet hatte, die rechte Hand am hölzernen Schaft, die linke umklammerte den kalten Lauf. Er zielte auf einen Mankettibaum in seiner Nähe.

»Sende deinen Donner!«, befahl er mit leiser Stimme, doch nichts geschah. Das Gewehr war so schwer, dass es ihn Mühe kostete, es ruhig an seiner Schulter zu halten. Die Finger seiner rechten Hand umspannten kaum den hölzernen Schaft. Er musste nachfassen und legte seine Hand weiter vorne an den Schaftrand, dort, wo sich ein metallener Riegel befand. Er fand heraus, dass sich der Riegel nach hinten bewegen ließ und drückte durch. In diesem Moment löste sich ein Schuss.

Der Rückstoß des Gewehrs traf den Buschmann so unvorbereitet, dass er hart nach hinten katapultiert wurde und zu Boden fiel. Dabei glitt ihm die Waffe aus den Händen. Debe war so verwirrt, dass er wie ein auf den Rücken gefallener Käfer auf dem Boden liegen blieb. Eine Zeit lang wagte er sich nicht zu rühren. Er wusste nicht, was schlimmer war, die Schmerzen an seiner Schulter oder der Nachhall des Schusses in seinen Ohren. Obwohl er die Schritte der zurückkehrenden Männer hörte, blieb er liegen. Erst ein derber Tritt in die Seite löste ihn aus seiner Schockstarre. Mühsam rappelte er sich auf und sah in die Gesichter dreier wütender weißer Männer.

»Verdammter Niggerdieb«, brüllte der Älteste von ihnen. Sein wettergegerbtes Gesicht verhieß nichts Gutes. Debe hielt den Atem an. Bewegungslos stand er vor den großen Männern und fürchtete ihren Zorn.

»Was fällt dir ein? Ich hätte gute Lust, dir die Haut abzuziehen und in meinem Haus an die Wand zu nageln!«

»Er hat mit dem Schuss die Löwen verjagt«, beschwerte sich der Zweite. Die Haare unter seinem weiten Krempenhut klebten an seinem Kopf, als wären sie nass. »Das war meine letzte Chance, um noch an eine Löwentrophäe zu kommen. Jetzt werde ich wegen dieses Niggers ohne sie nach England zurückkehren müssen! Das werde ich Ihnen berechnen, meine Herren!«

»Nun beruhigen Sie sich doch, Mr Cannister«, beschwichtigte der Dritte, der noch am ruhigsten reagierte. »Die Löwen sind nicht weit! Ich bin sicher, dass Sie heute Abend noch Ihre Chance bekommen werden.«

»Du verdammte kleine Missgeburt«, erregte sich der Älteste erneut. Seine Augen glühten vor Zorn. Sein struppiges, schlohweißes Haar stand in seltsamem Kontrast zu den schwarzen, büscheligen Augenbrauen. Er stieß brutal gegen Debes Brust, sodass der aus dem Gleichgewicht geriet und nach hinten stolperte. »Wir werden ihn abknallen und dann mit seinem Leichnam die Löwen anlocken, die er durch seine Dummheit vertrieben hat!« Tatsächlich hob er sein Gewehr und drückte es Debe auf die zitternde Brust.

»Lass gut sein, Nachtmahr.«

Der Besonnene drückte entschieden den Lauf von Nachtmahrs Gewehr in Richtung Boden, während er den Buschmann interessiert musterte. »Sieh an, ein Buschmann!«, meinte er nachdenklich. »Sprichst du unsere Sprache?«, fragte er zu Debe gewandt.

Immer noch voller Angst nickte dieser.

»Was soll das, Baltkorn?«, murrte der Alte. »Er ist nichts als ein lausiger Negerdieb!«

»Immerhin, er ist ein Buschmann und spricht unsere Sprache«, korrigierte der Mann, den sie Baltkorn nannten, mit einem listigen Zwinkern. Er trat an Debe heran und legte seine Hand auf dessen Schulter. Der Buschmann wusste nicht, was er davon halten sollte. Der Mund des Mannes lächelte freundlich, doch die Augen blieben kalt wie die einer Schlange.

»Gefällt dir das Gewehr?«, fragte er lauernd. Debe nickte zögerlich. »Möchtest du gerne wissen, wie man damit schießt? Ich kann es dir zeigen!« Debe wurde sofort misstrauisch. Eben noch wollten ihn die Männer töten, und jetzt das?

»Natürlich musst du erst etwas für mich tun!« Baltkorn deutete auf den Mann mit den feuchten Haaren.

»Das ist Mister Cannister«, fuhr er fort. »Es war sein Löwe, den du soeben verjagt hast. Jetzt ist der Mann sehr böse auf dich. Dieser hier…«, er deutete auf Nachtmahr, »will dich sogar töten, weil du sein Gewehr stehlen wolltest!«

Debe sah die Männer furchtsam an. Er zitterte und fürchtete immer noch um sein Leben.

»Ich kann dein Leben retten, wenn du tust, was wir von dir verlangen!« Der Druck auf seine Schulter verstärkte sich. »Führ uns zu den Löwen!«

»Oh nein!« Debe zuckte erschrocken zusammen. »Löwe ist sehr gefährlich! Es gefällt Kauha nicht, Löwe zu jagen! Ich führe Männer nicht zu Löwe!«

»Du kleine Missgeburt! Ich werde dir Beine machen!« Nachtmahr holte mit der Faust aus, um ihn ins Gesicht zu schlagen. Doch Baltkorn fiel ihm erneut in den Arm.

»Ich mach es auf meine Art, ist das klar?«, raunzte er ihn an. Nachtmahrs dunkle Augen funkelten vor Zorn, doch schließlich ließ er mit grimmigem Blick von ihm ab. Baltkorn wandte sich erneut an Debe.

»Du musst den Löwen nicht töten, du sollst uns nur zu ihm führen. Dein Gott ist nicht so mächtig wie Mister Cannister. Er wird dir nicht böse sein. Wer ein Gewehr hat, hat sehr viel Macht! Wenn du tust, was ich dir sage, lehre ich dich mit der Macht umzugehen.«

Debe war hin- und hergerissen. Die Worte des weißen Mannes verwirrten seine Sinne. Was wusste er von Kauha? War der weiße Mann wirklich so mächtig, und konnte er etwas von seiner Macht auch auf ihn übertragen?

Baltkorns Stimme klang plötzlich hart wie das Eisen eines Pfeiles. »Wenn du dich weigerst, werden wir dich mitnehmen und ganz allein in einem dunklen Loch einsperren. Du hast die Wahl!«

Debe hatte davon reden gehört, dass die weißen Männer Buschmänner wie ihn einsperrten. Und die Verlockung war groß. Er musste nicht lange überlegen.

»Ich führe euch zu Löwen!«, verkündete er entschlossen.

Erster Teil

1924-1925

Neuigkeiten

Mai 1924

»Unverschämter, frecher Affe!«

Jella starrte auf ihre leere Hand, in der sie eben noch ein Butterbrot gehalten hatte. Tatenlos, wenn auch insgeheim amüsiert, musste sie mit ansehen, wie sich der Pavian mit ihrem Essen davonmachte. Sobald er sich in sicherer Entfernung wusste, setzte er sich auf seinen blanken Hintern und bleckte triumphierend die gelben Zähne in ihre Richtung. Es sah aus, als lachte er sie aus. Jella hob drohend den Zeigefinger.

Ihr vierjähriger Neffe Benjamin stand neben ihr und gluckste vor Lachen.

»Sieh nur, Tante Jella, jetzt macht Jacko dich auch noch nach!«

Das Butterbrot im Maul sprang der Affe auf und ab und äffte ihre Drohgebärde nach. Ihre anfängliche Empörung löste sich angesichts der theatralischen Vorstellung des Affen in schallendes Gelächter auf.

»Wir hätten nie erlauben dürfen, dass dieser unverschämte Pavian auf Owitambe bleibt!«, prustete sie los. »Irgendwann übernimmt er hier das Regiment. Das dürfen wir nicht zulassen!«

»Aber Jacko muss jetzt nicht weggehen, oder?«, fragte Benjamin und sah sie aus seinen hellblauen Augen groß an. Jella strich dem kleinen Jungen beruhigend über den krausblonden Wuschelkopf.

»Keine Angst, niemand wird Jacko von hier vertreiben, aber es wird Zeit, dass dein Großvater ihm endlich seine schlechten Manieren abgewöhnt! Er muss lernen, dass er sich nicht einfach nehmen kann, was er gerade will. Erst neulich hat er Großmutter Imeldas neuen Sommerhut ruiniert. Wenn ich nur daran denke, wie er die Kunstblumen genüsslich zerkaut hat…«

Jella unterbrach ihre Schimpftirade auf den Affen, als sie in der Ferne eine Staubwolke auf die Farm zukommen sah.

»Siehst du, wer da kommt?«, fragte sie ihren kleinen Neffen. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte. Ihre Sehkraft hatte in letzter Zeit etwas nachgelassen, aber sie war noch zu eitel, als dass sie sich mit einer Brille abgefunden hätte.

»Das ist der Bakkie von Onkel Fritz. Hoffentlich hat er mir die Zwille aus Okahandja mitgebracht!« Benjamin hüpfte aufgeregt auf und ab. »Ich bin nämlich längst alt genug, um schießen zu lernen!«

Die Staubwolke näherte sich rasch, und bald konnte auch Jella den motorisierten Pritschenwagen erkennen. Nach all den langen Jahren klopfte ihr Herz immer noch vor Freude, wenn sie ihren Mann nach längerer Zeit der Trennung wiedersah. Eilig fuhr sie sich mit ihren großen Händen durch das kurz geschnittene, rote Haar, das von feinen Silberfäden durchzogen war, und ging mit Benjamin zum Haus. Der Bakkie rollte auf den Hof und kam zum Stehen. Noch bevor Fritz richtig ausgestiegen war, wurde er von dem kleinen Jungen stürmisch umarmt. Fritz hob seinen Neffen etwas unbeholfen mit seinem Armstumpf auf seinen gesunden Arm und wirbelte ihn durch die Luft. Als er ihn schließlich absetzte, forderte er ihn auf, rasch seine Mutter zu holen. Als sie endlich allein waren, zwinkerte er Jella gut gelaunt zu.

»Ich habe gehört, dass die Menschen dieser Farm einige wichtige Waren benötigen. Wenn Sie bereit sind, meine Preise zu zahlen, dann kann ich Ihnen mit Mehl, Zucker, Kaffee, neuem Stoff… oder einem Kuss aushelfen.«

»Ich weiß gar nicht mehr, was das ist!« Jella ging auf sein Spiel ein und gab die Beleidigte. »Ich hatte mich gerade an den Gedanken gewöhnt, alleine zu leben! Du kannst also gleich wieder gehen!« Ihre strahlenden Augen straften ihre Worte Lügen. Als Fritz sie in den Arm nahm, gab sie ihren Widerstand sofort auf und erwiderte seinen zärtlichen Begrüßungskuss.

»Hast du die Medikamente und den Narkotisierapparat bekommen?«, fragte sie schließlich.

»Alles hinten auf der Ladefläche.«

»Wieso kommst du so spät? Wir hatten dich alle früher hier erwartet! Du hättest uns wenigstens anfunken können!«

»Das habe ich ja versucht«, stöhnte Fritz und verdrehte genervt die Augen, »aber ich bin nicht durchgekommen. Ich fürchte, dass unser Empfänger mal wieder den Geist aufgegeben hat. Der neue Narkotisierapparat ist erst gestern in Windhuk eingetroffen. Das war der Grund für meine Verspätung.«

»Wie war es in Etosha?«, erkundigte sich Jella. »Habt ihr die Wilderer stellen können?«

»Leider nicht!« Fritz verzog ärgerlich sein Gesicht und rieb sich seinen Armstumpf. »Irgendjemand muss die Schurken gewarnt haben. Wir waren ganz sicher, dass wir sie dieses Mal erwischen würden, aber dann sind sie doch nicht erschienen. Ich werde den dringenden Verdacht nicht los, dass einer unserer eigenen Männer ein Verräter ist.«

»Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung, findest du nicht auch? Ich dachte immer, du könntest deinen Männern blind vertrauen.«

Fritz zuckte mit den Schultern. Plötzlich wirkte er ziemlich müde und abgespannt. »Das habe ich auch immer gedacht. Aber unsere Wildhüter werden von der Verwaltung viel zu schlecht bezahlt. Man kann es ihnen nicht einmal übel nehmen, wenn sie sich noch etwas Geld durch das Ausplaudern von Informationen dazuverdienen. Unser Informant von der Walfischbay war sich ganz sicher, dass die Wilderer eine neue Lieferung aus dem geheimen Elfenbeinversteck holen würden. Seitdem wir das Lager kürzlich entdeckt hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir die Männer schnappen. Niemand außer uns sechs wusste davon. Es muss eine undichte Stelle geben!«

»Das tut mir leid! Du hast so viel Energie in diese Aktion gesteckt. Nun komm erst mal mit ins Haus!« Jella strich Fritz zärtlich über den Arm. »Teresa hat Apfelkuchen gebacken. Das wird deine Stimmung sicherlich rasch wieder heben.«

»Einen Moment noch! Ich habe noch etwas Wichtiges vergessen.« Er zog aus dem Führerhaus des Bakkie einen Brief und wedelte vielsagend damit herum.

»Von Raffael?«, rief Jella. »Endlich! Sonja wartet schon so lange auf eine Nachricht von ihm. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ihn sofort bekommt!«

»Deshalb habe ich Benni ja auch losgeschickt.«

Wenige Augenblicke später trat Sonja aus der Tür des kleinen Hauses, das sie gemeinsam mit ihrem Sohn bewohnte. Sie war eine hübsche junge Frau mit weizengelben Haaren und sanft dreinblickenden graublauen Augen.

Derzeit lebten drei Generationen auf Owitambe. Großvater Johannes mit seiner Himbafrau Sarah, seine Tochter Jella mit ihrem Mann Fritz und eben Sonja, die Frau von Johannes’ Sohn Raffael, mit ihrem Sohn Benjamin.

Fritz überreichte Benjamins Mutter den Brief, worauf ihr fein geschnittenes Gesicht zu strahlen begann.

»Vielen Dank!« Sonja errötete leicht, als sie den Umschlag ungeöffnet in ihre Schürzentasche steckte.

»Willst du ihn nicht gleich aufmachen?«, drängelte Jella. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.

»Lass sie doch«, tadelte Fritz. »Sonja möchte den Brief sicherlich in Ruhe lesen.«

»Ich will ja nur wissen, wie es meinem Bruder im fernen England ergeht! Schließlich ist er schon lange genug fort, und seit Monaten haben wir überhaupt nichts von ihm gehört.«

»Ich werde euch bald berichten«, versprach Sonja hastig. »Es ist nur…« Sie schluckte. »Ich habe Angst, dass er seine Rückkehr erneut um ein halbes Jahr verschiebt.«

»Oh!«

Jella wurde erst jetzt die Tragweite ihrer Taktlosigkeit bewusst. »Ich wusste ja nicht… ähm… Selbstverständlich lassen wir dich nun in Ruhe. Du kannst ja später zu uns stoßen. Ach, Benni, willst du nicht mit uns kommen und schon mal ein Stück Apfelkuchen essen? Nun komm schon, Fritz!«

Fritz lachte. Er liebte Jella gerade wegen ihrer Direktheit. Obwohl seine Frau die vierzig schon längst überschritten hatte, war sie immer noch so impulsiv und undiplomatisch wie in ihrer Jugend. Er hakte ihren Arm bei sich ein und steuerte mit ihr und Benni zu der Veranda, auf die mittlerweile auch Jellas Vater getreten war.

*

»Wann kommt Ricky uns denn endlich wieder einmal besuchen?«, fragte Johannes, während er sich die letzten Kuchenkrümel von seinem unrasierten Kinn wischte. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenem Kuchen hing noch in der Luft. Der alte Mann vermisste seine älteste Enkelin von allen Familienmitgliedern am meisten. »Ist sie glücklich in Windhuk? In ihrem letzten Brief wirkte sie recht einsilbig.«

»Das kommt dir nur so vor«, beschwichtigte ihn Jella und schenkte ihrem Vater noch eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ein. »Ricky macht eine Ausbildung zur Gesangs- und Musiklehrerin. Das entspricht genau ihren Neigungen.«

»Wen soll sie denn hier in Südwestafrika schon unterrichten?«, knurrte Johannes. »Alles wird darauf hinauslaufen, dass sie den Gören hier das Alphabet nahebringt. Seit es kaum noch Deutsche in Südwestafrika gibt, macht doch keiner mehr Musik. Die Buren sind doch allesamt unmusikalisch.« Er steigerte sich weiter in seinen Unmut hinein. »Das Kind ist für diese Provinz viel zu talentiert. Sie gehört auf die großen Bühnen dieser Welt. Sie bewegt sich anmutig wie ein Schwan und singt wie eine Nachtigall. Ihr Problem ist nur, dass niemand von euch das sehen will!«

»Ach Vater, hör doch damit auf!«, protestierte Jella ungehalten. »Du hast unserer Tochter schon viel zu viele Flausen in den Kopf gesetzt. Am Ende glaubt sie den Unsinn noch selber. Überhaupt! Wie stellst du dir das denn vor? Sie ist noch ein Kind, noch nicht einmal mündig. Sollen wir sie etwa allein nach Europa schicken? Ich weiß, wie gefährlich es dort für ein junges Mädchen sein kann. Ganz abgesehen davon, dass wir uns das gar nicht leisten können. Ich finde es schon sehr fahrlässig von uns, dass wir sie so viel Musik nebenbei studieren lassen, obwohl das eine nahezu brotlose Arbeit ist. Sie hätte das Zeug zu ganz anderen Dingen gehabt.«

»Ja, ja, ich weiß«, konterte Johannes übellaunig. »Du wolltest immer, dass sie Medizin studiert und eine richtige Ärztin wird. Aber dafür eignet sich unsere Ricky nicht.«

Die Stimmung an der Kaffeetafel drohte plötzlich zu kippen. Jellas und Raffaels Vater wurde in den letzten Jahren immer eigenwilliger und schwieriger. Er nörgelte an allem herum, entzog sich immer öfter der Gemeinschaft und brauste leicht auf. Nur seine beiden Enkel Ricky und Benjamin genossen seine ungeteilte Zuneigung.

Zum Glück gesellte sich Sonja nun zu ihnen. Sie hatte sich ein frisches Kleid übergezogen und strahlte von innen heraus.

»Stellt euch nur vor«, meinte sie voller Stolz. »Raffael hat sein Examen als Barrister bestanden. Er ist sogar als Jahrgangsbester ausgezeichnet worden.«

Alle bei Tisch freuten sich und gratulierten Sonja.

»Respekt! Das schaffen nicht viele«, meinte Fritz anerkennend. »Ich empfand es schon als eine außerordentliche Leistung, als er damals in London an der juristischen Fakultät ›Inner Temple‹ überhaupt aufgenommen wurde. Ein Abschluss an dieser Universität, noch dazu ein hervorragender, wird ihm alle Türen und Tore öffnen! Wird er euch nach London nachholen?«

Sonja zuckte mit den Schultern. »Davon schreibt er nichts«, gab sie etwas kleinlaut zu, »aber er wird mit dem nächsten Schiff zurück nach Owitambe kommen. Der Brief war lange unterwegs. Wer weiß, vielleicht kommt er schon in den nächsten Tagen!«

»Endlich mal eine gute Nachricht!«, gab sich nun sogar Johannes wieder versöhnlich. Er hatte immer noch Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass sein Sohn sich nicht für die Farm, sondern für ein Jurastudium entschieden hatte. Obwohl Jella und Fritz, nachdem sie vor einigen Jahren wieder aus Indien zurückgekehrt waren, mit viel Energie Owitambe aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und daraus eine ertragreiche Farm gemacht hatten, hatte er sich nur mürrisch damit abgefunden.

»Aber das ist ja wunderbar. Wir müssen unbedingt Telegramme nach Windhuk und Okakarara schicken und Ricky und Imelda und Rajiv benachrichtigen«, schlug Jella begeistert vor. »Sie müssen einfach alle kommen. Es wird herrlich werden! Endlich ist mal wieder etwas los auf Owitambe!«

*

Raffaels bevorstehende Ankunft brachte Leben auf die Farm. Alle stürzten sich voller Eifer in die Vorbereitungen zu dem Willkommensfest, bei dem sich nach langer Zeit wieder einmal alle Familienmitglieder treffen würden. Fritz und sein Vorarbeiter Matteus beschlossen, ein Schwein zu schlachten, das die Frauen zerlegen und daraus Blut- und Leberwürste, Schinken und Bratfleisch machen sollten. Fritz’ Mutter Imelda und ihr zweiter Ehemann Rajiv bestanden darauf, aus ihrem Kolonialwarenladen ein Fass Bier beizusteuern. Teresa musste Brot und Kuchen backen, und Sarah brachte frisches Gemüse und Salat aus ihrem Garten. Jellas Halbbruder Raffael war vor beinahe vier Jahren allein nach London aufgebrochen, um dort ein Jurastudium zu beginnen. Die Aufnahme in die Eliteuniversität »Inner Temple« war für ihn als Mischling eine besondere Ehre gewesen. Mit seinem nun erworbenen Examen als Barrister hatte er eine Zulassung an allen englischen Obergerichten erworben und somit auch eine Anwaltszulassung in Südafrika und seiner unter südafrikanischem Mandat stehenden Heimat Südwestafrika. Das war auch der Grund gewesen, weshalb er nicht in Berlin, der Heimat seines Vaters Johannes, studiert hatte. Ein deutsches Examen wäre hier in Afrika niemals anerkannt worden.

Fritz hatte inzwischen das Funkgerät wieder repariert und herausgefunden, dass das Dampfschiff aus Europa schon am übernächsten Tag in der Walfischbay ankommen würde. Raffael hatte sich kurz darauf ebenfalls per Telegramm gemeldet und ihnen mitgeteilt, dass er noch einen kurzen Zwischenstopp in Windhuk einlegen werde, bevor er nach Hause käme. Kurz entschlossen hatte Fritz Sonja und ihrem Sohn angeboten, sie im Bakkie nach Windhuk zu bringen, um Raffael am Bahnhof zu überraschen. Gleichzeitig wollten sie Ricky abholen und mit auf die Farm bringen. Jella war das nur recht. Auf diese Weise gewann sie etwas Zeit, um sich um das Einräumen der mitgebrachten Medikamente zu kümmern und den neuen Äthernarkoseapparat näher in Augenschein zu nehmen. Auf diese neue Errungenschaft freute sie sich ganz besonders. Immer wieder war es erforderlich, kleinere und manchmal auch schwierigere Operationen in ihrem kleinen Lazarett durchzuführen. Oft reichte die Zeit nicht, um die Patienten in ein richtiges Krankenhaus zu bringen. Sie hatte immer ein ungutes Gefühl dabei gehabt, nicht weil sie sich vor den Eingriffen selbst fürchtete, sondern weil sie vor den Folgen der Narkose äußersten Respekt hatte. Ohne eine richtige Dosierungsmöglichkeit des Äthers lief sie Gefahr, dass der Patient zu wenig oder zu stark betäubt wurde. Hinzu kam, dass manchen Patienten während der Narkose die Zunge nach hinten klappte und sie keine Luft mehr bekamen. Vor noch gar nicht langer Zeit wäre ihr um ein Haar ein Patient auf dem Operationstisch erstickt, wenn es ihr nicht mit dem Ende eines Löffels gelungen wäre, die Zunge beiseitezuschieben, um die Atemwege wieder freizubekommen. Fritz hatte ihr danach dringend geraten, sich einen der neumodischen Äthernarkotisierapparate sowie einige andere Hilfsgeräte für die Anästhesie zu beschaffen. Der bewährte Ombredanne-Inhalator war sowohl handlich als auch äußerst leicht einzusetzen. Er bestand aus einer etwa zwanzig Zentimeter großen Metallkugel, die mit Gaze gefüllt war. Daran war auf der einen Seite ein Luftbehälter aus einer Schweinsblase befestigt, während sich auf der anderen Seite der Kugel eine Gesichtsmaske mit einer Gummidichtung befand. Die Kugel selbst wurde mit Äther befüllt. Eine Kontrollröhre mit einem Zeiger gab genau an, wie viel von dem Narkosemittel der Patient über die Gesichtsmaske inhalierte. Um das Zurückfallen der Zunge zu verhindern, hatte Jella sich eine praktische Zungenzange bestellt. Eine andere Zange, die »Rose’sche Mundsperre«, sollte verhindern, dass der Patient seine Zähne während des Wegdämmerns zu fest zusammenpresste. Die geschlossenen Enden der Zange liefen in einem Keil aus, den man zwischen die Zahnreihen schieben konnte. Durch das Zusammendrücken des Handgriffs wurden die Keile auseinandergespreizt und öffneten so den Mund. Das war bei längeren Operationen wichtig, wenn es nötig war, den Kranken zu intubieren. Dafür hatte Jella sich mehrere Tuben kommen lassen sowie ein u-förmiges Laryngoskop, um die Luftschläuche behutsam in die Luftröhre bugsieren zu können. Das war die sicherste Methode, um die oberen und tieferen Atemwege frei zu halten.

Jella sah sich zufrieden in ihrem kleinen Reich um. Im Laufe der Jahre hatte sich aus der Arztpraxis eine richtige kleine Klinik entwickelt. Neben einem Behandlungsraum gab es noch ein kleines Labor, einen eigenen Operationsraum mit einer hellen, verstellbaren Deckenlampe sowie zwei Krankenzimmer, in denen sie schwerkranke Patienten unterbringen konnte. Ohne die Unterstützung von Fritz und ihrer zukünftigen Schwägerin Sonja wäre das alles nicht entstanden. Sorgfältig begann sie nun mit dem Einräumen der neu eingetroffenen Medikamente. Neben den Schmerzmitteln Aspirin und Pantopan hatte sie auch Morphin geordert, das sie sofort in dem verschließbaren Schrank unterbrachte, ebenso wie die Schlafmittel Allonal, das Herzmedikament Digalen und Ephedrin, von dem sie sich Linderung für den Buschmann Bô erhoffte, der unter asthmaartigen Hustenanfällen litt.

»Ich sollte mal wieder nach Nakeshi sehen«, schoss es ihr sogleich durch den Kopf. Mit der Buschmannfrau verband sie seit vielen Jahren eine kaum zu erklärende Seelenverwandtschaft. Nakeshi nannte sie »Sternenschwester«, und tatsächlich war die aus einem so ganz anderen Kulturkreis kommende Buschmannfrau ihr in vielen Dingen näher als jede hellhäutige Freundin. Wie es ihr wohl gehen mochte? Ihre Gruppe war schon lange nicht mehr in der Gegend gewesen. Hoffentlich waren sie alle wohlauf. In den letzten Jahren hatte sich vieles geändert. Seitdem die Buren und Südafrikaner in Südwestafrika das Sagen hatten, hatten sich die Rassenunterschiede im Land noch wesentlich verschärft– und am Ende der unmenschlichen Werteskala standen die Buschmänner, die sowohl den weißen Farmern als auch den Ovambo, Herero und Damarra ein Dorn im Auge waren, weil sie sich nicht an die neu geschaffenen Grenzen hielten. Seit Tausenden von Jahren zogen die Buschmänner durch die Savanne und jagten und sammelten das, was sie notwendigerweise zum Leben brauchten. Sie kannten kein Eigentum und hatten deshalb auch gar keine Vorstellung davon, was es für die Farmer bedeutete, wenn sie hin und wieder ihr Vieh jagten oder sich für einige Zeit auf ihrem Land niederließen. Für manche Farmer waren die Buschmänner deshalb wie Freiwild. Wenn sie nicht schnell genug von ihrem Land verschwanden, zögerten sie nicht, sie selbst mit Waffengewalt zu verjagen. Andere missbrauchten die gutgläubigen Buschmänner als billige Zwangsarbeiter. Sie köderten sie erst mit einem angenehmen Leben und schenkten ihnen Alkohol. Sobald sie davon abhängig waren, zwangen sie sie, für einen Hungerlohn bei ihnen zu arbeiten.

Wo das noch hinführen sollte! Jella seufzte. Sie verschloss den Medikamentenschrank und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche. Seit einiger Zeit hatte sie sich angewöhnt, Hosen zu tragen. Sie waren praktischer und bequemer als die langen Röcke.

Ob es sich wohl lohnte, die wichtigsten Krankenakten noch einmal durchzusehen? Viel Lust hatte sie dazu nicht, denn es gab noch genügend für die vielen Gäste vorzubereiten. Allerdings ging das Wohl ihrer Patienten vor.

Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch fiel ihr Blick durch das kleine Fenster neben der Tür. Dort entdeckte sie eine unbekannte Schwarze. Sie schien aus keinem der umliegenden Dörfer zu stammen. Die Frau wirkte ratlos und traute sich augenscheinlich nicht, ins Haus zu treten. Jella beschloss, die Krankenakten liegen zu lassen und nachzusehen. Die Fremde erschrak, als sie Jella so unvermittelt aus der Tür treten sah. Einen kleinen Augenblick lang dachte sie, dass sie vor ihr davonlaufen wollte. Sie war keine Herero, sondern schien aus einem Ovambodorf von weiter her zu sein.

»Owe uya po!– Willkommen«, begrüßte Jella sie auf oshivambo.

»Ou li tutu nawa?– Wie geht’s?«

»Wa aluka– Hallo«, antwortete die Frau zögernd. Sie wagte offensichtlich nicht, ihr in die Augen zu sehen. Jella hatte das schon oft erlebt. Viele ihrer Patienten, vor allem, wenn sie von abgelegenen Orten kamen, sahen in ihr eine mächtige Medizinfrau, die durch ihren Blick heilen, aber auch verfluchen konnte. Die anfänglichen Versuche, den Menschen zu erklären, dass sie über keinerlei Zauber verfügte, hatte sie längst aufgegeben. Für die Afrikaner bedeutete eine Heilung, dass der Arzt die Geister der Ahnen beschwichtigen und so das Leid von den Kranken nehmen konnte. Was sollte sie gegen diesen Aberglauben auch ankämpfen? Oft unterstützte ihr Glaube sogar den Heilungsprozess.

»Kann ich dir helfen?«, drang Jella behutsam vor. Die Ovambofrau war vielleicht dreißig Jahre alt. Ihr fehlte ein Schneidezahn, und sie hatte offensichtlich vor noch gar nicht langer Zeit ein Baby entbunden, denn ihre Brüste waren prall gefüllt und voller Milch. Da sie das Kleine nicht bei sich trug, vermutete Jella, dass das Kind einige Tage nach der Geburt gestorben war.

»Schmerzen deine Brüste?«, fragte sie mitfühlend. »Wenn du willst, kann ich dir eine Salbe geben. Davon geht auch der Milchfluss zurück.«

Die Frau bedeckte angstvoll ihre nackten Brüste.

»Nein! Ich will keine Medizin! Ich brauche die Milch noch!«

»Dann lebt dein Baby?«

Jella sah sich suchend um. Offensichtlich war die Frau aber allein gekommen. Normalerweise trugen afrikanische Mütter ihre Kinder immer bei sich. Die Augen der Ovambo flackerten vor Angst, bevor sie zaghaft antwortete.

»Ich habe es versteckt!«, flüsterte sie.

»Aber warum, um Gottes willen? Hast du Angst, dass deinem Kind etwas geschieht? Hol es! Hier ist es in Sicherheit!«

Jella drängte die Frau. Schließlich lebte sie lange genug in der Wildnis, um zu wissen, dass selbst nahe am Haus immer wieder Schakale oder sogar größere Wildtiere ihr Unwesen trieben und ein so wehrloses Geschöpf als willkommene Beute betrachten würden.

»Mein Kind ist verflucht!«

Die Frau sah sich mehrfach um, so als würde sie verfolgt.

»Niemand hier wird deinem Kind etwas antun!«, versprach Jella nochmals. »Es steht unter meinem Schutz!«

Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf und versuchte ein ernst zu nehmendes Gesicht zu machen. Das mochte zwar etwas großspurig wirken, aber sie hoffte, dass ihr Gebaren die Frau beruhigen würde. Unter dem Schutz einer Medizinfrau zu stehen bedeutete diesen Menschen viel. Vermutlich war mit dem Kind etwas nicht in Ordnung. Vielleicht war es behindert. In vielen Stämmen bedeutete eine Behinderung einen Fluch.

»Wenn dein Kind krank ist, dann bist du hier genau richtig. Ich sehe es mir gerne an. Vielleicht kann ich ihm helfen.«

Die Frau schüttelte betrübt den Kopf. »Mein Sohn ist gesund«, versicherte sie, »er braucht keine Medizin.«

»Ich kann den Fluch von ihm nehmen«, behauptete Jella.

Die Frau wich ängstlich zurück. »Das sagt der Sangoma in meinem Dorf auch. Er sagt, dass wir Nuru zu den Ahnen geben müssen, sonst wird eine schreckliche Krankheit über das ganze Dorf kommen.«

Jella raufte sich innerlich die Haare. Immer wieder wurde sie vor die Situation gestellt, sich gegen die barbarischen Sitten der Medizinmänner behaupten zu müssen. Dabei war es nicht so, dass sie die Heilkundigen der Stämme nicht achtete. Im Gegenteil. Einige von ihnen waren wirklich erstaunliche Heiler und verfügten über ein enormes pflanzenkundliches und psychologisches Wissen, um das sie sie beneidete. Allerdings gab es, wie unter Ärzten auch, Scharlatane, die ihre Stellung missbrauchten und für ihre eigenen Machtinteressen nutzten. Sie wusste, dass sie nun behutsam, aber auch entschieden vorgehen musste.

»Bring mir deinen Sohn, dann kann ich sehen, ob der Medizinmann in deinem Dorf recht hat!«, befahl sie mit strenger Miene.

»Der fremde Sangoma ist sehr mächtig«, sagte die Frau mit angstvoller Stimme. »Er hat schon einige von meinem Stamm verflucht. Sangoma sagt, wenn wir ihm unseren Sohn nicht geben, wird er großes Unglück über den ganzen Stamm bringen. Aber ich will nicht. Nuru ist mein einziges lebendes Kind. Er ist meine Zukunft! Du musst mir helfen, Madam!« Sie sah sie aus tränenglänzenden Augen an. Ihre Verzweiflung war fast greifbar.

»Bring den kleinen Nuru zu mir«, wiederholte Jella mit sanfter, eindringlicher Stimme. »Ich werde ihn mir ansehen, und dann überlegen wir, was wir tun können. Weiß dein Mann, dass du hier bist?«

Die Ovambo schüttelte verbittert den Kopf.

»Er denkt wie Sangoma. Nuru muss sterben, sagt er. Alle in meinem Dorf sind gegen mich!«

Ihre Verzweiflung brach sich nun endgültig ihren Weg, und sie begann leise zu weinen. Jella legte tröstend den Arm um sie und versuchte die Frau zu beruhigen. Und dennoch musste sie noch lange auf sie einreden, bevor sie endlich bereit war, das Baby zu holen. Als sie schließlich aus einem kleinen Waldstück trat, hatte sie ihr Kind der Tradition gemäß auf den Rücken gebunden. Allerdings war es unter dem großen Tuch nicht zu sehen.

»Darf ich?« Jella schob vorsichtig das Tuch beiseite und entblößte das Gesicht des etwa drei Monate alten Jungen. Der Kleine schlief und schien auf den ersten Blick gesund zu sein. Außergewöhnlich war allerdings seine äußerst helle Haut. Selbst seine gekräuselten Haare waren von einem hellen Blond. Als er unvermittelt aufwachte und sie mit roten Augen verwundert ansah, wusste Jella, weshalb sich alle vor dem kleinen Kerl fürchteten.

Nuru war ein Albino!

Das Phänomen war ihr wohlbekannt. Albinos kamen immer wieder vor. Sie waren eine Laune der Natur, wenn auch eine relativ seltene. In der Wildnis hatten Lebewesen, die Störungen in der Bildung von Farbstoffen aufwiesen, meist keine Überlebenschance, weil sie durch ihr helles Aussehen zu sehr aus ihrer Umgebung hervorstachen und deshalb leicht Opfer anderer Tiere wurden. Bei Menschen hingegen hätte man meinen sollen, dass die Toleranz größer gewesen wäre. Mit Verstand und Einsicht gesegnet hätten sie fähig sein müssen, sich über derartige Launen hinwegzusetzen und die Andersartigkeit zu akzeptieren. Doch genau in dieser Hinsicht versagten viele ihrer Spezies kläglich. Jella musste an ihre Jugend in Berlin denken, wo es üblich gewesen war, auf den Jahrmärkten allerlei kuriose, lebendige Missgestalten auszustellen. Kleinwüchsige, Riesen, Krüppel, Hautkranke oder Menschen exotischer Völker wurden wie Tiere gehalten und zur Schau gestellt. Ein Albino hätte dort sicherlich auch seinen Platz gefunden. Warum sollte das in Afrika anders sein? Allerdings entsetzte sie der Gedanke, was der Medizinmann mit dem Albino anstellen wollte. So mancher Einheimische hatte ihr schon erzählt, dass man aus den Organen von frisch getöteten Albinos mächtige Medizin herstellen konnte. Allein die Vorstellung ließ Jella schaudern. Vermutlich ging es dem Sangoma hauptsächlich um seinen Einfluss auf das Dorf. Wenn es ihm gelang, eine Mutter dazu zu bewegen, ihr eigenes Kind herzugeben, stärkte das seine Macht. Dieses perfide Spiel durfte sie unter keinen Umständen zulassen. Sie würde mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft gegen solche Barbarei ankämpfen. Dieses Kind und seine Mutter mussten vor der Willkür dieses Medizinmanns geschützt werden!

»Du hast einen hübschen Sohn«, meinte sie entschlossen zu der Ovambo. »Er wird einmal zu einem kräftigen jungen Mann heranwachsen und eine Freude für seine Mutter sein.«

Auf dem Gesicht der Frau erstrahlte zum ersten Mal ein stolzes Lächeln.

»Ihr zwei könnt erst einmal hierbleiben. Setz dich auf die Bank vor der Klinik, und warte auf mich. Ich sage Teresa Bescheid, damit sie sich um euch kümmert. Wenn du uns hier auf der Farm etwas zur Hand gehst, kannst du vorläufig bleiben. Sobald ich Zeit habe, werde ich in dein Dorf gehen und mit dem Sangoma und deinem Mann reden.«

Die Ovambofrau nahm Jellas Hände und drückte sie an ihr Herz.

»Saburi wird dir immer dankbar sein«, versicherte sie aufrichtig. Rein zufällig entdeckte Jella, dass die Frau ein eitriges Ekzem am Unterarm hatte.

»Darf ich mal sehen?«

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte den Arm vorsichtig in ihre Richtung. Saburi verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. Jella sog Luft ein. Das Ekzem war etwa taubeneigroß und an den Rändern unnatürlich gerötet. Auf seiner Wölbung war es aufgeplatzt und schmutzig gelber Eiter drang daraus hervor. Bei genauem Hinsehen erkannte Jella kleine, weiße Maden, die aus der Wunde krochen.

»Du musst sofort mit mir in mein Behandlungszimmer kommen!«, befahl sie und schob Saburi in Richtung Tür. »Ich muss die Wunde unbedingt behandeln.«

Saburis Augen weiteten sich erneut vor Angst. Jella beruhigte sie.

»Es wird nicht lange wehtun. Ich werde ganz vorsichtig die Wunde mit meinem Messer öffnen und den Eiter entfernen. Hast du dich irgendwo verletzt?«

Saburi sah Jella entsetzt an und schüttelte dann vehement den Kopf. »Ich habe mich nicht verletzt. Das muss der Fluch des Sangoma sein! Er wird mich töten, wenn ich ihm Nuru nicht zurückbringe.«

Sie wollte sich von ihr lösen, doch Jella hielt sie fest.

»Wenn ich nicht sofort schneide, wird dein ganzer Arm krank, und dann wirst du sterben.«

»Das ist der Fluch des Sangoma«, wiederholte Saburi nochmals leise.

»Unsinn«, widersprach Jella energisch. »Wahrscheinlich hat dich ein Moskito gestochen, und der Stich hat sich entzündet. So etwas geschieht immer wieder. Nun komm schon!«

Nur widerwillig ließ sich Saburi in das Innere des Gebäudes führen. Jella drückte sie auf einen Hocker und legte den Arm auf den Behandlungstisch. Dann rührte sie ein leichtes Schmerzmittel an und befahl der Frau, es zu trinken. Sie achtete darauf, dass es nur leicht wirkte, um Nuru zu schützen, der ja schließlich ihre Milch trank. Dann reinigte sie sorgfältig die Umgebung der Wunde mit Karbolsäure, bevor sie den Arm durch einen selbst entwickelten Sichtschutz vor den Augen ihrer Patientin verbarg. Saburi sollte nicht mit ansehen, wie sie ihr Skalpell zückte, um das Ekzem zu entfernen.

»Erzähl mir von deinem Dorf und deinem Leben«, forderte sie die Ovambofrau auf. Um unvorhergesehene Bewegungen zu verhindern, musste sie versuchen, sie von dem Eingriff abzulenken. Normalerweise hielt Sonja bei solch kleinen Eingriffen die Patienten fest, aber die war ja gerade nicht da. Während Saburi stockend von ihrem Dorf erzählte, das über zwei Tagesreisen von Owitambe entfernt lag, verrichtete Jella in Ruhe ihr Werk. Sie musste fast bis zum Knochen schneiden, um das eitrige Gewebe zu entfernen. Sorgfältig achtete sie darauf, dass sie nichts übersah. Danach reinigte sie die Wunde nochmals mit Karbolsäure und nähte sie zu. Eine halbe Stunde später war der Arm ordentlich versorgt und verbunden. Vorsorglich gab sie Saburi noch etwas von dem Schmerzmittel und brachte sie in das Patientenzimmer.

»Teresa wird dir gleich etwas zu essen bringen«, versprach sie der Ovambo. »Du kannst dich so lange mit deinem Sohn auf eines der Betten legen.«

Zukunftspläne

Valentin Reuter saß mit leicht geschlossenen Augen im Zuschauerraum und lauschte fast mit Wehmut Riccarda van Houtens Gesangsvortrag. Seine feingliedrigen Finger begleiteten mit leichtem Schweben die Musik. Der junge Komponist und Dirigent hatte zum ersten Mal, seit er sich in Windhuk niedergelassen hatte, eine vielversprechende Schülerin. Nur schade, dass er sie schon bald wieder verlieren würde. Er hatte eine lukrative Anstellung in Berlin gefunden, wo er an einem renommierten Theater als Orchesterleiter wirken konnte. Man hatte ihm sogar eigene Arrangements in Aussicht gestellt. Eine solche Chance vergab man nicht, auch wenn er sich überdies auch noch in die junge Frau verliebt hatte. Valentin war ein eher schüchterner Mann, dem es schwerfiel, über seine Gefühle zu reden. Viel eher gelang es ihm da schon, sich über die Musik auszudrücken. Er öffnete die Augen und beobachtete fasziniert, wie Riccarda allmählich an Selbstsicherheit gewann. Es war ihr erster Auftritt vor einem größeren Publikum, doch von dem Lampenfieber, das sie vor wenigen Minuten noch fast um den Verstand gebracht hatte, war nun nichts mehr zu spüren. Ihre Stimme hallte leicht und klar durch den Festsaal, jubelte und verlor sich dann wieder in Tiefsinnigkeit. In den tieferen und mittleren Stimmlagen hatte sie ein weiches Timbre, das Valentin berührte und zugleich erregte. In den höheren Stimmlagen dagegen wurde die Stimme leicht, beweglich, fast verspielt und zart. Umso erstaunlicher fand er die große Strahlkraft, die sie in der höchsten Lage entwickelte und die sie zu einer wahrhaft begabten Koloratursopranistin machte.

Riccarda hatte sich nicht davon abbringen lassen, einen Liedzyklus von Robert Schumann vorzutragen. Als ihr Klavier- und Gesangslehrer hatte Reuter ihr davon abgeraten, denn der Zyklus »Frauenliebe und-leben« verlangte von der Interpretin große Empathie und viel Einfühlungsvermögen; beides forderte sehr viel Kraft. Es war nicht so, dass er ihr selbiges nicht zugetraut hätte, aber Riccarda hatte kaum Bühnenerfahrung, und Valentin fürchtete, dass ihre Stimme kippen könnte. Immerhin musste sie innerhalb einer halben Stunde in acht Liedern den Lebensweg einer Frau von der ersten Liebe bis zum Tod ihres Mannes wiedergeben. Doch seine Befürchtungen blieben unbegründet. Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit gelang es Riccarda, die Zuschauer mitzureißen. Im Publikum saßen einige Honoratioren aus der Stadt, darunter auch der Direktor der Oberrealschule, höhere Protektoratsbeamte und sogar Ratsmitglieder. Gebannt lauschten sie dem Vortrag der Sängerin, die voller Emotionen den Zuhörern den Eindruck vermittelte, als hätte sie dieses Leben selbst durchlebt. Die Leichtigkeit des ersten Verliebtseins war wie ein Hüpfen und Tirilieren. Dem folgte bange Hoffnung, schwelgerische Verliebtheit und schließlich tiefe Freude über den Heiratsantrag. Dem Eheglück und dem erfüllten Muttersein folgte schließlich der unfassbare Tod des geliebten Mannes. Riccardas Stimme war erfüllt von Trauer und Verzweiflung, als sie den Zyklus mit diesem letzten Lied beendete. Im Festsaal herrschte für einen Moment betroffenes Schweigen, bevor sich der Beifall wie ein donnerndes Brausen in den Saal ergoss. Die Anspannung der Sängerin löste sich, und sie verbeugte sich mit einem charmanten Lächeln. Valentin hielt es nun auch nicht mehr auf seinem Stuhl. Wie einige andere im Publikum auch sprang er auf und klatschte begeistert. Stolz und Bewunderung funkelten aus seinen Augen. Er musste sich glücklich schätzen, diese Begabung fördern zu dürfen. In der jungen Frau steckte weit mehr als nur eine Musiklehrerin. Sie sollte ihr Talent auf keinen Fall in der Provinz verschleudern!

Nach dem ausgiebigen Beifall zog sich das Publikum in das angrenzende Foyer zurück, in dem noch ein kleinerer Imbiss serviert wurde. Valentin Reuter nutzte die Gelegenheit, seine Schülerin zu beglückwünschen.

»Fräulein van Houten, heute sind Sie über sich selbst hinausgewachsen!«

Riccarda strahlte vor Freude über das Lob, doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. Sie wusste, dass er sehr kritisch sein konnte und nie ohne Einschränkungen lobte. Ihre bernsteinfarbenen Augen suchten nach verborgener Kritik. Doch er hob beschwichtigend seine Arme und lachte nun auch.

»Keine Angst«, meinte er. »Heute habe ich überhaupt nichts auszusetzen, Fräulein van Houten. Selbst die hohen Stimmlagen haben Sie bravourös gemeistert. Allerdings gehören Sie nicht auf solch eine Bühne…« Er deutete etwas abfällig auf den kleinen Festsaal.

»Sehen Sie, nun kommt doch noch Kritik«, schmollte Riccarda gekränkt. »Bestimmt sind Sie der Meinung, dass meine Stimme den Raum nicht gefüllt hat. Vielleicht stimmt das ja auch und ich bin völlig unbegabt!«

Er hob beschwichtigend die Arme. »Aber nein, Sie waren wundervoll. Ich wollte damit etwas ganz anderes sagen! Sie müssen mich nur ausreden lassen!« Etwas unbeholfen fuhr er sich durch sein feines braunes Haar mit dem hohen Stirnansatz. »Ganz im Gegenteil. Sie könnten mit Leichtigkeit eine viel größere Konzerthalle füllen, so wie es sie in Berlin, Paris und London gibt. Mir ist allerdings erst heute aufgefallen, wie stark Ihre Präsenz auf der Bühne ist. Sie haben nicht nur eine außergewöhnliche Stimme, sondern auch noch schauspielerische Begabungen. Manch eine Dame hat beim letzten Lied ihr Taschentuch gezückt und mit Ihnen getrauert. Dieses Talent müssen Sie ausbauen! Sie brauchen Tanz- und Schauspielunterricht und Bühnenerfahrung. Warum kommen Sie nicht mit mir nach Berlin?«

Er war über seine eigene Courage erstaunt. Die Worte waren ihm ehrlich, aber ohne Bedacht über die Lippen gehuscht.

»Nach Berlin? Mit Ihnen?« Ricky starrte ihren Gesangslehrer fassungslos an. »Also, das ist…! Was soll das…?«

Er räusperte sich verlegen. So hatte er es nicht geplant, doch nun war es an der Zeit, endlich mit der Sprache herauszurücken.

»Ich habe das Angebot erhalten, als Konzertmeister in einem sehr renommierten Theater zu arbeiten. Ich werde in wenigen Wochen Südwestafrika verlassen und nach Berlin reisen!«

»Das können Sie nicht tun! Ohne Sie… das geht einfach nicht!«

Ihre heftige Reaktion verblüffte und freute ihn zugleich. In einer spontanen Regung griff er nach ihrer Hand.

»Dann macht es Ihnen also etwas aus, wenn ich nicht mehr hier bin?«

Ricky entzog sie ihm rasch wieder und sah ihn befremdet an.

»Aber natürlich! Wer sollte mir denn sonst hier Gesangsunterricht geben? Sie sind weit und breit der Einzige, von dem ich noch etwas lernen kann!«

»Ach ja, der Gesangsunterricht!«

Valentin schluckte. Es gelang ihm nur schlecht, seine Enttäuschung zu verbergen. Wie hatte er Riccarda mit seinem spontanen Angebot nur so überrumpeln können? Er ruderte etwas zurück und versuchte die Situation zu entspannen.

»Sie könnten mit mir kommen– selbstverständlich in allen Ehren! Als Konzertmeister werde ich einen gewissen Einfluss haben. Bestimmt lässt sich dort auch für Sie ein Engagement finden! Wenn Sie wollen, rede ich mit Ihren Eltern.«

»Das ist unmöglich!« Riccardas eben noch euphorische Stimmung war nun auf den Nullpunkt gesunken. »Meine Eltern würden das niemals gestatten. Sie wissen ja nicht mal, dass ich heute Abend ein Konzert gegeben habe. Und…«

Als hätte sie das Unheil heraufbeschworen, tönte es aus dem Dunkel der hinteren Ränge laut: »Riccarda!«

Valentin sah sich um. Ein gut aussehender Herr in mittleren Jahren trat mit einer wesentlich jüngeren Frau auf sie zu. Riccardas Gesicht wurde bei seinem Anblick aschfahl.

»Vater! Was machst du denn hier?«, fragte sie erschrocken. Valentin sah seine Schülerin überrascht an. Er hatte das Gefühl, dass sie am liebsten geflohen wäre.

»Dasselbe könnte ich dich auch fragen«, meinte Rickys Vater verstimmt. Erst auf den zweiten Blick fiel Valentin auf, dass dem Mann die linke Hand fehlte. »Wieso hast du uns nichts von diesem Konzert erzählt? Deine Mutter und ich waren nicht darüber im Bilde, dass angehende Musiklehrerinnen auch öffentliche Auftritte haben.«

»Ihre Tochter hat ein ausgesprochen ausgeprägtes Talent.« Valentin fühlte sich verpflichtet, sich einzumischen. »Gestatten. Ich bin ihr Musiklehrer. Reuter ist mein Name. Es wäre schade, wenn man der Öffentlichkeit eine solche Begabung vorenthalten würde.«

»Das mag schon sein.« Fritz musterte ihn so, als hätte er soeben die Ehre seiner Tochter beschmutzt. »Ich frage mich allerdings, weshalb uns Riccarda dann nicht darüber informiert hat. Meine Frau wäre mit Sicherheit auch gerne dabei gewesen.«

»Das glaube ich kaum«, stellte Riccarda trotzig fest. »Mutter hätte mir das Konzert doch sicherlich verboten.«

»Das hätte sie mit Sicherheit nicht. Zumindest hättest du uns die Gelegenheit geben sollen, dies selbst zu entscheiden.«

»Nun sei doch nicht so streng, Fritz«, mischte sich nun die jüngere Begleitung ein. »Du hast gerade selbst noch gesagt, dass Ricky herausragend gesungen hat. Ich konnte doch sehen, wie stolz du auf sie warst. Ich jedenfalls bin es. Ricky hat eine wunderbare Stimme!«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, stimmte ihr Valentin eifrig zu. Er wollte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, für Riccarda ein gutes Wort einzulegen. Er war schließlich ein ausgebildeter Musiker und Fachmann. »Das musische Talent Ihrer Tochter geht weit über das Mittelmaß hinaus«, meinte er. »Sie ist wie ein Diamant, der noch etwas geschliffen werden muss. Sie sollten ihr unbedingt die Gelegenheit geben, sich weiter zu entfalten! Riccarda hat Besseres verdient, als in der Provinz Musiklehrerin zu werden.«

Fritz warf ihm nur einen geringschätzigen Blick zu. »Nur weil Sie ihr Musiklehrer sind, haben Sie noch lange kein Recht, über die Zukunft meiner Tochter zu befinden«, kanzelte er ihn ungehalten ab. Valentin fühlte sich, als habe er soeben eine Ohrfeige bekommen. Er hatte sich mit seiner Bemerkung eindeutig zu weit aus dem Fenster gelehnt.

»Aber Herr Reuter hat ja recht!«, wagte sich Ricky vor. Sie war aufgebracht, weil ihr Vater mit seinen harschen Bemerkungen den Erfolg dieses Abends zerstörte. »Ich möchte nicht Musiklehrerin werden. Ich möchte singen, tanzen und auf der Bühne stehen. Warum gesteht ihr mir das denn nicht zu?«

Die Miene ihres Vaters verdüsterte sich noch mehr. »Ricky, das ist nicht der Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren. Würdest du jetzt bitte deine Sachen holen und uns begleiten?«

Riccarda versuchte etwas zu erwidern, doch ihr Vater hatte sich unmissverständlich abgewandt und begab sich grußlos nach draußen.

*

Das schrille Abfahrtssignal hallte über den Bahnsteig. Schwerfällig dampfend begann sich die rußgeschwärzte Dampflokomotive der »South African Railway« in Bewegung zu setzen und zog den Zug aus dem Swakopmunder Bahnhof. Wolkig weißer Dampf hüllte die wenigen Menschen auf dem Bahnsteig ein.

Raffael hatte erst in allerletzter Minute den Zug erreicht. Er war völlig aus der Puste und musste erst einmal verschnaufen, bevor er sich nach einem geeigneten Sitzplatz umsah. Sein Bein schmerzte von der ungewohnten Anstrengung. Es hatte sich nie ganz von der unheilvollen Begegnung mit einem Elefantenbullen erholt. Deshalb humpelte er mit seinem Gepäck von Abteil zu Abteil. Zwar war in den vorderen Abteilen überall Platz, doch als Mischling hatte er sich in die drei letzten Waggons zu begeben, die für die Farbigen vorbehalten waren. Seit die Südafrikanische Union über das ehemalige Deutsch-Südwestafrika regierte, hatte sich die Rassentrennung zunehmend verschärft. Schwarze und Mischlinge waren Menschen zweiter Klasse und wurden dementsprechend auch nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft erachtet.

»Willkommen zu Hause«, murmelte er verstimmt. Während seiner Studienzeit in dem weit liberaleren England war er von solch deklassierenden Vorurteilen weitgehend verschont geblieben. Zwar gab es auch dort Menschen, die gewisse Vorbehalte gegen Andersfarbige hatten, doch dort hatte man ihn zumindest nicht daran gehindert, seine Laufbahn an der Universität erfolgreich zu Ende zu bringen. Seinen schweren Koffer hinter sich herziehend, steuerte er auf eine der hölzernen Pritschen zu, die sich entlang der Waggonwand befanden. Der Wind pfiff durch die glaslosen Fensteröffnungen und wirbelte Wüstensand ins Abteil. Neben einer fülligen Hererofrau in einem farbenprächtigen Kleid und ihren drei Kindern schien noch etwas Platz zu sein.

»Ist es gestattet?«, fragte er höflich. Die Herero sah den Mann in dem vornehmen Tweedanzug überrascht an, schob eilig ihren Hühnerkäfig beiseite und machte Anstalten, ihren Platz für ihn zu räumen. Raffael winkte ab.

»Bleib sitzen! Hier ist genügend Platz für uns alle!« Die Herero musterte ihn skeptisch. Dann erst registrierte sie, dass auch er ein Farbiger war, und nahm beruhigt wieder Platz. Auf den ersten Blick sah der schlanke, hochgewachsene Raffael tatsächlich wie ein Weißer aus. Seine Haut war für einen Mischling auffallend hell, und die Haare hatten einen leicht rötlichen Ton. Der Mode entsprechend trug er sie pomadisiert, sodass ihre krause Struktur nicht besonders auffiel. Nur sein Mund mit den vollen Lippen und die vor Eifer oft glühenden, schwarzen Augen verrieten sein dunkelhäutiges Erbe. Er wollte gerade seinen Koffer unter der unbequemen Holzbank verstauen, als ihn eine vertraute Stimme ansprach.

»Mein Jott, wenn das nicht der junge Sonthofen ist, dann fress ich ’nen Besen!«, rheinländerte Traugott Kiesewetter. Der dickleibige Missionar quälte sich ebenfalls durch den Zug, allerdings in die andere Richtung zu den Abteilen der Weißen. Er hatte im Laufe der Jahre noch mehr an Gewicht zugesetzt. Seine blank polierte Glatze glänzte wegen der körperlichen Anstrengung vor Schweiß. »Du warst ja eine Ewigkeit nicht mehr in der Heimat, Junge«, strahlte er und streckte ihm seine dicke kleine Hand entgegen. »Du musst mir unbedingt erzählen, wie es dir im fernen England ergangen ist.« Raffael ergriff die Hand und grüßte zurück.

»Komm Junge, wir gehen weiter nach vorne. Hier kriegt man ja keine Luft mehr!« Ohne seine Reaktion abzuwarten, bahnte er sich seinen Weg durch die bunte Menge von Menschen, Ziegen und Hühnerkäfigen, bis er die für die Weißen reservierten Abteile erreichte. Raffael machte Kiesewetter auf ein Schild aufmerksam. »For Whites only« war darauf zu lesen. Der Missionar grunzte unwillig.

»Papperlapapp! Das ist Burengedöns! Wenn einer über deine Anwesenheit meckert, dann bekommt er es mit mir zu tun!« Unbeeindruckt setzte er seinen Weg fort. Tatsächlich waren die Abteile, die den Weißen vorbehalten waren, um einiges bequemer als die mit einfachen Holzpritschen ausgestatteten, zugigen Waggons der Schwarzen. Die Abteile hatten verschließbare Fenster und ausreichend gepolsterte Sitzbänke. Kiesewetter setzte sich auf die erstbeste freie Bank und deutete Raffael an, es sich ihm gegenüber ebenfalls bequem zu machen. Einen kurzen Augenblick zögerte der junge Mann, doch in Anbetracht seines schmerzenden Beins beschloss er, das Angebot anzunehmen. Falls der Schaffner sich beschweren sollte, konnte er immer noch zurückgehen. Doch seine Befürchtungen schienen grundlos. Niemand der im Abteil Anwesenden nahm Anstoß an ihm. In seiner vornehmen Aufmachung wurde er wahrscheinlich tatsächlich für einen Weißen gehalten. Raffael genoss die bequeme Sitzhaltung und rieb seinen Oberschenkel. Seit er von diesem Elefantenbullen schwer verletzt worden war, plagten ihn immer wieder Schmerzen. Seine Halbschwester Jella hatte ihm dringend geraten, sich in England einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen, doch Raffael hatte ihren gut gemeinten Rat immer wieder aufgeschoben und schließlich einfach in den Wind geschlagen. In Momenten wie diesen bereute er es allerdings, dass er so nachlässig gewesen war.

»Sie fahren bestimmt nach Hause! Ihre Familie wird glücklich sein, Sie wieder in Afrika zu haben! Werden Sie auf der Farm bleiben?«

»Bestimmt nicht«, meinte Raffael, dem beim Gedanken an seinen Vater etwas mulmig wurde. »Ich habe mich bereits in England für eine renommierte Kanzlei in Windhuk beworben. Es ist zwar nicht gerade das, was ich mir erträumt habe, aber wenn Dr. Schmiedel mich nimmt, kann ich dort einstweilen wertvolle Erfahrungen sammeln. Später würde ich mich gerne selbstständig machen.« Seine Stimme wurde etwas gedämpfter, als er fortfuhr. »Ich träume davon, eine Kanzlei nur für Schwarze und Mischlinge zu eröffnen. Es wird Zeit, dass sich auch mal jemand für unsere Belange einsetzt. Es geht nicht an, dass Weiße und Farbige für das gleiche Vergehen mit unterschiedlichen Strafen versehen werden. Dafür möchte ich kämpfen.«

»Eine mutige Idee«, nickte Kiesewetter zustimmend. »Du wirst sicherlich viel zu tun haben.« In Gedanken setzte er noch hinzu: »Und viel Ärger bekommen.« Aber er wollte den jungen Mann nicht entmutigen, deshalb schwieg er. Er befragte ihn stattdessen über seine Zeit in England und erzählte seinerseits von der Arbeit in der Missionsstation westlich von Okakarara. Die beiden Männer unterhielten sich angeregt, sodass die Zeit wie im Flug verging. Raffael hatte den Umweg über Windhuk extra in Kauf genommen, um persönlich bei Dr. Schmiedel vorstellig zu werden. Er wollte Sonja damit überraschen und so schnell wie möglich mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn nach Windhuk ziehen. Doch vorher wollte er sie heiraten. Sie waren jetzt beide längst mündig und konnten über ihr eigenes Leben entscheiden. Der alte Nachtmahr konnte ihnen nun keinen Stein mehr in den Weg legen. Leute wie dieser sture, selbstherrliche und rachsüchtige Baron und Großwildjäger waren der Grund dafür gewesen, dass sich Raffael zu einem Jurastudium entschieden hatte. Diese Menschen meinten, sich Farbigen gegenüber alles erlauben zu können. Egal, wie grausam und verwerflich ihre Taten waren, sie kamen immer wieder davon, weil die südafrikanische Justiz kaum etwas gegen sie unternahm. Es wurde Zeit, dass die Afrikaner mehr Selbstbewusstsein entwickelten und sich nicht immer von den Weißen bevormunden ließen. Raffael hatte große Pläne und hoffte, sich sowohl politisch als auch juristisch für die Benachteiligten einsetzen zu können. Und er brannte darauf, seine Pläne in die Tat umzusetzen.