Im Land der sieben Schwestern - Patricia Mennen - E-Book

Im Land der sieben Schwestern E-Book

Patricia Mennen

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ihre Sehnsucht führt sie in ein fernes Land voller Gefahren und Magie

England, 1855. Als die junge Amber, Tochter aus gutem Hause, dem Offizier Ashton Cartwright begegnet und sich in ihn verliebt, beginnt für sie ein neues, aufregendes Leben. Mit ihrem frisch angetrauten Ehemann, dessen Truppe sich auf Indieneinsatz befindet, reist sie nach Assam, wo sie in der faszinierenden, fremden Kultur völlig aufgeht. Doch dann stirbt Ashton – offenbar wurde er durch eine gestohlene Statue mit einem Fluch belegt. Amber muss das Relikt zu seinem Ursprungsort, einem abgelegenen Bergdorf, zurückbringen. Nur der Amerikaner Rhys kann ihr dabei helfen – doch der ist genauso unausstehlich wie geheimnisvoll …

Der Auftakt einer atemberaubenden Trilogie im farbenprächtigen Indien.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 823

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Yorkshire, 1855. Als der wohlhabende Spinnereibesitzer Lord Reginald Callahan seiner Tochter Amber einen potenziellen Ehemann präsentiert, rechnet er nicht mit ihrem vehementen Widerstand. Amber möchte sich bilden, die Welt sehen, und sie denkt gar nicht daran, ihre Unabhängigkeit einfach so aufzugeben. Doch dann bricht sie gemeinsam mit ihrer Stiefmutter zu einer Reise durch Ägypten auf und lernt in Kairo den Offizier Ashton Cartwright kennen. Als Ashton ihr kurz darauf einen Heiratsantrag macht, beginnt für Amber ein neues, aufregendes Leben. Mit ihrem frisch angetrauten Ehemann, dessen Truppe sich auf Indieneinsatz befindet, reist sie nach Assam, wo sie in einem Kloster dem jungen tibetischen Mönch Tashi begegnet und in der faszinierenden, fremden Kultur völlig aufgeht– bis Ashton unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt. Als Amber im Besitz ihres Mannes eine unheimliche Statue findet, beschwört Tashi sie, das Relikt zu seinem Ursprungsort zurückzubringen, da sonst auch sie vom Unglück verfolgt sein wird. Amber bleibt keine Wahl, als den gefährlichen Weg zu den abgelegenen Bergdörfern im Himalaya anzutreten, begleitet von ihrem Freund Tashi und dem geheimnisvollen amerikanischen Archäologen Rhys, der irgendetwas vor ihr zu verbergen scheint…

Autorin

Patricia Mennens große Leidenschaft ist das Kennenlernen von Menschen ursprünglicher Kulturen. Wann immer es geht, macht sie sich auf und versucht, einen authentischen Einblick in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet sie in ihren Büchern. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern abwechselnd in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

Von Patricia Mennen außerdem bei Blanvalet lieferbar:

Der Ruf der Kalahari · Sehnsucht nach Owitambe · Zauber der Savanne

Patricia Mennen

Im Land der sieben Schwestern

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Originalausgabe März 2014

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Dr. Rainer Schöttle

AF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10986-8V003

www.blanvalet.de

Den Abenteurern Willem, Anna-Fee und Amelie

GEISTERUNDMENSCHEN

Nach Erschaffung der Erde wollte der große Schöpfer, dass Menschen und Geister im Gleichgewicht leben. Sie sollten einander achten und respektieren. Es dauerte jedoch nicht lange, da erinnerten sich die Menschen nicht mehr an seinen Wunsch. Sie quälten und unterdrückten die Geister und behandelten sie ungerecht. Da begehrten die Geister auf und beklagten sich bei ihrem Schöpfer: »Wenn die Menschen weiter so mit uns umgehen, werden wir bald aussterben.«

Also gab ihnen der Schöpfer einen Rat: »Geht hin und backt Hefekuchen, in die ihr die Beeren des schwarzen Pfeffers mischt. Gebt die fertigen Kuchen in das Trinkwasser der Menschen. Sobald sie davon trinken, werden sich ihre Augen schwarz verfärben, und sie werden euch von da an weder sehen noch quälen können!«

Die Geister taten, wie ihnen der Schöpfer geraten hatte. Und als die Menschen am nächsten Tag von dem Wasser kosteten, wurden ihre Augen schwarz. Von nun an blieben ihnen die Geister verborgen, und sie konnten sie nicht mehr quälen. Das ist der Grund dafür, dass die Menschen keine Geister sehen können.

(Sage der Angami-Naga aus Nordostindien, dem Land der sieben Schwestern)

Prolog

Nagaland, Nordostindien

1850

Bong– Bogabong– Bogabong– Bong– Bong…

Sanft und warm begann sich der dumpfe Klang der Schlitztrommel über das von dichtem Urwaldgrün bedeckte Tal auszubreiten. Wie der gleichmäßig ruhige Schlag eines kräftigen Herzens gingen die erst leisen, dann langsam anschwellenden Schläge sogar auf die Vögel in den Wipfeln der Urwaldriesen über. Der sich stetig wiederholende Rhythmus half Lohang Hoto den Schmerz zu ertragen. Sein vor vielen Tagen tätowiertes Gesicht brannte immer noch, als wäre er in ein Ameisennest gefallen. Bis auf Lippen und Augen war die Haut mit den stammestypischen Tätowierungen des Königsclans überzogen. Die mit Ruß und Pflanzenfarbe getränkten Wunden, die der Schamane Honpa mit feinen Kata-Dornen in sein Fleisch gestochen hatte, waren noch immer entzündet. Doch der Schmerz, den er empfand, war nichts im Vergleich zu der tiefen Befriedigung, die sein Herz erfüllte. Sein Freund Nianu reichte ihm das Bambusrohr mit dem Opium und grinste ihn stolz an. Auch er und zwei weitere junge Männer der Wancho hatten sich dem Mannbarkeitsritus unterzogen, nachdem sie ihre ersten Köpfe erbeutet hatten. Im Gegensatz zu ihm beschränkten sich ihre Tätowierungen lediglich auf Stirn und Kinn. Lohang Hoto nahm dankbar einen tiefen Zug und ließ den Rauch langsam durch seine Nasenflügel wieder hinausgleiten. Dann reichte er die Pfeife an den Nächsten am Feuer weiter. Die Wirkung der Droge ließ nicht lange auf sich warten. Der Schmerz der frischen Wunden trat immer mehr in den Hintergrund und öffnete seinen Geist für die große Jagd, die seinem Volk Fruchtbarkeit und Wohlstand garantieren sollte. Gleichzeitig wuchs mit den zunehmend schneller werdenden Trommelschlägen sein Selbstbewusstsein. Das Blut des jungen Kopfjägers vom Stamm der Wancho geriet in Wallung. Seinen Stammesbrüdern schien es nicht anders zu ergehen. Lohang Hotos verschleierter Blick glitt über die mittleren Träger und Querbalken des Morungs weiter durch den Raum. Das lang gestreckte Wohnhaus der jungen Männer war voller bemalter Schnitzereien. An den Wänden hingen in dichten Reihen Schädel von Mithuns, Wasserbüffeln und Antilopen. Auf dem Boden neben dem Feuer stapelten sich die Schädel der bezwungenen Feinde. Wie von Zauberhand bewegt begannen die geschnitzten Tiere an den Balken lebendig zu werden. Der Tiger öffnete sein Furcht erregendes Maul und brüllte, dass die Wände zitterten. Das Reh neben ihm sprang erschreckt davon, während die Schlange sich über die Balken einen Weg zwischen die Männer suchte und sich prüfend vor ihnen aufrichtete. Lohang Hoto spürte, dass es Zeit war zu gehen. Er sprang auf, griff nach seinem Speer und prüfte, ob der Dao, der Kopfjägerdolch, an seinem Platz war.

»Die Geister sind mit uns!«, brüllte er außer sich vor Erregung. Seine von Schmerz und Drogen blutunterlaufenen Augen glühten wie irrlichternde Funken im flackernden Licht des Feuers. Nianu und die drei anderen ließen sich von seiner Begeisterung anstecken und stimmten in sein Kriegsgeheul ein. Mit den Füßen fest aufstampfend verließen sie das Schlafhaus der jungen Männer und gesellten sich zu den älteren Kriegern, die draußen bereits auf sie warteten.

Häuptling Po Ai nickte Lohang Hoto wohlwollend zu. Jedermann konnte sehen, wie stolz er auf seinen Sohn war. Nun war klar, dass der einmal ein großer und mächtiger Herrscher werden würde, denn nur besondere Krieger hielten dem Schmerz stand, der die Tätowierung des gesamten Gesichts hinterließ. Lohang Hoto war der Einzige im Königsclan, der überhaupt dazu bereit gewesen war.

Po Ai riss seinen Speer mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe. Sofort änderten die Männer am Songkong den Rhythmus der Schläge. Die über elf Meter lange Schlitztrommel, die aus einem einzigen ausgehöhlten Baumstamm gefertigt war, klang nun drohend und aggressiv. Ihr Hall drang über das Dorf hinaus bis weit in die vom Nebel verhangenen Dschungelberge vor.

Er war Warnung und Nachricht zugleich. Die Kopfjäger waren nun alle auf dem Dorfplatz versammelt und ließen sich von dem Rhythmus der Trommelschläge anstecken. Auf und ab wippend bildeten sie bald einen einzigen rhythmischen Körper, dessen Bewegung zunächst gleichmäßiger, dann immer kraftvoller wurde. Erst leise, dann lauter werdend stimmte der Schamane das Kriegslied an, in das nach und nach alle Männer einfielen. Der Gesang untermalte den Tanz der Krieger und ließ ihn noch wilder und ekstatischer werden, bis die Luft von der heraufbeschworenen Kraft so vibrierte, dass ein kleiner Funke ausreichen mochte, um die Situation explodieren zu lassen.

Da hob Po Ai erneut seinen Speer, und absolute Stille trat ein. Vor Anspannung erstarrten die Kopfjäger in ihrer jeweiligen Bewegung und richteten ihre erwartungsvollen Blicke auf den Anführer. Ihre Augen glühten vor Tatendrang und Kampfeslust. Kein Laut war zu hören. Selbst die Tiere des Urwalds waren verstummt. Dann streckte der Häuptling seinen Arm in Richtung des nebligen Regenwaldes aus. Weitere Anweisungen waren nicht nötig. Schweigend setzten sich die Wancho in Bewegung und trabten ihrem Anführer hinterher, bis das dunkle Dickicht des Waldes sie verschluckte.

Lohang Hoto gebührte die Ehre, den Angriff zu eröffnen. Mit erhobenem Speer und gezücktem Dao stürmte er auf das feindliche Dorf der Sema-Naga zu. Während er rannte, stieß er einen unbändigen Schrei aus und stürzte sich auf die Phalanx der Feinde, die zum Kampf bereit waren. Wie es Brauch war, hatte der Klang der Songkong die Bewohner des Dorfes gewarnt, und dessen Männer erwarteten sie mit entschlossenen Mienen. Frauen und Kinder hatten längst Zuflucht im Dschungel gesucht.

Lohan Hotos junges Herz war voller Ehrgeiz und Entschlossenheit. Mit raschen, weit ausholenden Schritten warf er sich mitten unter die Krieger. Sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein verlieh ihm ungeahnte Kräfte, und er spürte, wie die Kraft der Schlange, die sie ihm in seinem Morung übertragen hatte, in seinen Körper floss. Der Kampf war kurz und heftig. Schon nach wenigen Augenblicken war Lohang Hoto in sein erstes Gefecht verwickelt. Aus der Gruppe löste sich ein kräftiger, junger Sema-Naga. Auch er trug die Tätowierungen der Wangjans, des Königsclans. Da er um gut einen Kopf größer als Lohang Hoto und viel kräftiger gebaut war, schien er seinem Gegner weit überlegen. Sein scharfer Dolch schien überall zu sein, so wild und kraftvoll zischte er durch die Luft. Lohang Hoto versuchte zunächst, den tödlichen Schlägen auszuweichen. Hierbei kam ihm zugute, dass er viel wendiger und schneller als der Sema-Naga war. Trotzdem streifte ihn der Dao des Feindes und verletzte ihn am rechten Oberarm. Wilder Schmerz durchflutete seinen Kampfarm und machte ihn unbrauchbar. Nur durch eine schnelle Drehung gelang es ihm, dem nächsten Stich auszuweichen. Doch durch diese abrupte Bewegung stand er nun im Rücken des Feindes. Bevor dieser sich ihm wieder zuwenden konnte, nahm er rasch seinen Dolch in die linke Hand und nutzte die Gelegenheit, ihm mit der Waffe einen tiefen Stoß zu versetzen. Der Sema-Naga stieß einen überraschten Schrei aus und sank tödlich getroffen zu Boden. Noch während er fiel, spürte Lohang Hoto die Kraft des Sterbenden auf sich übergehen. Ein tiefes Triumphgefühl überkam ihn und ließ ihn für einen Augenblick unaufmerksam werden. Erst als sich die Klinge eines anderen feindlichen Kriegers bereits seinem Hals näherte, nahm er aus den Augenwinkeln ihr Blitzen wahr. Mit einer reflexartigen Drehung wich er dem Schlag aus, bückte sich und rammte dem Gegner von unten die Waffe in den Bauch. Mit einem Gurgeln sank auch dieser nieder und bedeckte ihn unter seinem schweren Körper. Keuchend vor Anstrengung und Schmerz kroch er unter dem Toten hervor und hielt nach dem nächsten Gegner Ausschau. Doch die Sema-Naga hatten genug. In wilder Flucht suchten sie ihr Heil im Dickicht des Dschungels. In Lohang Hotos Ohren rauschte immer noch der Puls des Tötens, und er kämpfte gegen den Drang, die Flüchtenden zu verfolgen. Dann fiel sein Blick auf die beiden Toten, und er wusste, weshalb die Sema-Naga geflohen waren. Einer der Getöteten war der Sohn des Häuptlings der Sema-Naga, der andere aber der Häuptling selbst. Ehe er sich’s versah, wurde er von seinen Mitstreitern umringt und bejubelt. Lohang Hoto war ein Held geworden– ein mächtiger Krieger, der es verstand, Fruchtbarkeit und Wohlstand für sein Volk zu erkämpfen. Von allen Seiten klopften sie ihm anerkennend auf die Schulter und stimmten ein triumphierendes Geheul an.

In der folgenden Nacht feierten die Kopfjäger ihren großen Sieg mit Reisbier und frisch geschlachteten Schweinen. Sie hatten in der Dorfmitte ein großes Feuer entfacht, um das sich alle Bewohner versammelt hatten. Lieder wurden gesungen und Geschichten erzählt, und eine Geschichte wiederholte sich immer wieder. Es war die von Lohang Hoto, dem tapferen Häuptlingssohn, der bei der Kopfjagd zwei Feinde erlegt und dabei die Kraft und Fruchtbarkeit des berühmten Sema-Naga-Häuptlings und dessen Sohnes auf ihren Stamm übertragen hatte. Honpa, der Schamane, hatte noch in derselben Nacht eine Totenfigur gefertigt, auf deren Gesicht er die Tätowierungen des getöteten Häuptlings kopiert hatte. Er stellte sie Lohang Hoto vor die Füße und verneigte sich vor ihm.

»Rang und Baurang sind gleichermaßen mit dir«, erklärte Honpa mit einer leisen, vom Alter geschwächten Fistelstimme. »Sie sagen, dass dein Mut und deine Tapferkeit ihren Beifall gefunden haben. Die beiden Krieger, die du getötet hast, waren weit über ihren Stamm hinaus für ihre Kühnheit und Kraft bekannt. Nimm deshalb diesen Totengott in deine Obhut. In ihm bündeln sich die Macht und der Zauber aller Dschungelgeister. Sie werden dafür sorgen, dass es unserem Volk gut geht. Niemals darf das Gefäß unserer Macht unser Stammesgebiet verlassen. Wer es raubt oder zerstört, wird den Fluch der Dschungelgeister auf sich und die Seinen laden.«

Lohang Hoto nahm das wertvolle Geschenk mit der gebührenden Demut in Empfang. Er verneigte sich vor dem mächtigen Schamanen und berührte dessen Füße mit seiner Stirn.

»Dafür werde ich mit meinem Leben bürgen.«

1. Teil – Ashton

England und Indien

1854

1

Bolton Abbey, North Yorkshire

Das schrille, jäh einsetzende Krächzen von Krähen zerschnitt die beschauliche Ruhe über Bolton Abbey. Ungeordnet, von wilden Flügelschlägen und lautem Gezeter begleitet, ließen sich die schwarzen Vögel auf den zahlreichen Mauerresten nieder. Sie fielen wie ein Räuberhaufen über die Abtei her und scherten sich keinen Deut um die junge Frau, die unter einer ausladenden Eiche ein Aquarell von dem einst so ehrwürdigen Gemäuer anfertigte.

Obwohl die ehemalige Abtei und Pfarrkirche schon seit Jahrhunderten verfiel, gab es immer noch hoch aufragende Mauerreste mit zum Teil erhaltenen Spitzbögen, die sich trotzig inmitten von wild wachsenden Büschen und Bäumen gegen Wind und Wetter stemmten. Sogar das gotische Kreuzrippengewölbe des Daches ließ sich noch erahnen.

Über den tiefblauen Sommerhimmel huschten weißgraue Wolken, die sich zu wild aussehenden Fantasiegestalten zusammenballten, um dann wieder zu zerstieben. Gegen dieses Himmelsschauspiel sah das graue Gemäuer wie ein Mahnmal für die Vergänglichkeit der Welt aus. Kein Wunder, dass die Abtei immer wieder Dichtern wie William Wordsworth oder dem Maler William Turner zur Inspiration gedient hatte.

Amber beobachtete fasziniert das chaotische Treiben der Vögel und legte ihr angefangenes Aquarell beiseite. Rasch griff sie nach einem Stück Kohle und begann die Szenerie hastig auf ihrem Zeichenblock einzufangen. Die im Volk als Unglücksboten verschrienen Vögel verliehen der Abtei etwas Geheimnisvolles und Unheimliches. Von jeher hatte sie ein Faible für mystische Dinge gehabt. Vielleicht war es das Erbe ihrer halbindischen Mutter, die sie bereits als kleines Mädchen mit vielen wundersamen Geschichten von Göttern, Dämonen und schönen Prinzessinnen in Erstaunen versetzt hatte. Amber erinnerte sich kaum noch an das Gesicht ihrer Mutter. Sie war gestorben, als sie selbst kaum vier Jahre alt gewesen war, aber ihre Geschichten hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Vor dem Tod hatte die Mutter ihr ein Amulett aus ihrer indischen Heimat geschenkt.

»Es ist sehr alt«, hatte sie ihr anvertraut. »Man sagt, es trägt die Magie des Weltwissens in sich. Wer es trägt, steht unter seinem Schutz.« Sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, es immer bei sich zu tragen.

Der Anhänger, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug, war nicht sehr kostbar, aber äußerst fein aus glänzend schwarzem Obsidian gearbeitet. Seine gewundene, verschlungene Form sah aus wie ein Schriftzeichen. Amber hatte nie herausfinden können, was es bedeutete. Für sie war es dennoch ihr wertvollster Besitz.

Aber auch nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Amber nicht auf fantastische Geschichten verzichten müssen. Denn sie und ihr älterer Bruder Camden wuchsen unter der Obhut eines irischen Kindermädchens auf. Molly Brandon war nicht nur eine Seele von Mensch, zupackend, lustig und resolut, sondern sie war auch abergläubisch und glaubte an jede Menge Geister und Kobolde. Während Camden sich schnell ihrem tatkräftigen Einfluss entzogen hatte, hing Amber voll zärtlicher Zuneigung an der kräftigen Irin mit dem großen Herzen. Molly hatte die große Begabung, selbst für einfache Sachverhalte übernatürliche Erklärungen anbieten zu können. So war es nie Ambers Schuld gewesen, wenn aus kindlicher Leichtfertigkeit wieder einmal eine Tasse zu Bruch gegangen war, sondern es war die Tat eines Kobolds oder eines anderen Feenwesens, das mit ihr seinen Schabernack trieb. Auf oder in jedem Hügel, hinter jedem alten Stein, im Wald und sogar in dem See, der zu ihrem Anwesen gehörte, hausten die merkwürdigsten Gestalten– und Amber, die schon immer viel Fantasie besessen hatte, ließ sich nur allzu gern von Mollys Geschichten einfangen.

Letztendlich hatten diese Geschichten auch dazu beigetragen, dass sie immer noch am Leben war. Amber, mittlerweile fast zwanzig, hatte neben dem Verlust der Mutter noch einen weiteren schweren Schicksalsschlag ertragen müssen. Eine heimtückische Krankheit hatte ihrer unbeschwerten Kindheit ein jähes Ende gesetzt, als sie gerade mal sieben Jahre alt gewesen war. Ein heftiger Fieberanfall mit Durchfall und Erbrechen nach einem Bad im See war der erste Vorbote gewesen. Kaum war sie von dieser vermeintlich harmlosen Krankheit genesen, trat unvermittelt ein neuer Fieberschub mit schmerzhaftem, steifem Nacken und fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Sie hatte nächtelang vor Schmerz geschrien und konnte nur mithilfe starker Betäubungsmittel beruhigt werden. Dr. Swanson, der Hausarzt der Familie Callahan, hatte ihrem Vater kaum Hoffnung gemacht.

»Es ist eine Entzündung der Hirnhaut«, hatte er verlauten lassen. »Selbst wenn sie die Krankheit überlebt, wird ihr Geist wahrscheinlich beschädigt sein.«

Doch allen Unkenrufen zum Trotz erholte sich Amber, ohne dass auch nur die geringste geistige Beeinträchtigung zurückgeblieben wäre. Allerdings war die scheinbare Genesung nur der trügerische Vorbote des schlimmsten Teils ihrer Krankheit gewesen. Eines Morgens wachte sie unter höllischen Schmerzen auf. Das Stechen in ihren Beinen raubte ihr fast die Besinnung. Als Amber versuchte, sie zu bewegen, geschah überhaupt nichts. Die Beine taten furchtbar weh, aber sie gehorchten ihr nicht. Halb wahnsinnig vor Angst hatte sie nach Molly gerufen, die sofort ihren Vater und schließlich auch Doktor Swanson benachrichtigte. Das Mädchen wurde nochmals untersucht und erhielt ein starkes Schlafmittel. Als Doktor Swanson meinte, dass sie schliefe, nahm er ihren Vater beiseite. Doch Amber war noch wach genug, um seine Worte mitzuhören. So erfuhr sie, dass sie an einer oft tödlich verlaufenden Kinderlähmung erkrankt war.

Doktor Swanson war sichtlich erschüttert, denn er war der Familie schon sehr lange freundschaftlich verbunden. Beide Kinder der Callahans waren durch seine Hilfe zur Welt gekommen.

»Ihr müsst Euch auf das Schlimmste einstellen«, meinte er ernst. »Nicht selten schreiten die Lähmungen fort und befallen auch die Atmungsorgane, aber auch wenn das– Gott gebe es– nicht eintreten wird, können die Lähmungen in den Beinen von Dauer sein. Eure Tochter wird möglicherweise für immer ein Krüppel sein.«

Das Letzte, was Amber vor ihrem endgültigen Eintauchen in einen tiefen Schlaf vernahm, war das trockene Schluchzen ihres Vaters.

Die nun folgenden Wochen und Monate sollten die schlimmsten in Ambers Leben werden. Betäubt von Schmerzmitteln hatte sie in einem abgedunkelten Zimmer vor sich hin deliriert. Sobald sie zu sich kam, wurde sie von einer Welle von Ängsten überrollt. Niemals würde sie das Entsetzen vergessen, das sie überfallen hatte, als ihr endgültig bewusst wurde, dass sie gelähmt war. Ihre Beine, mit denen sie noch vor Kurzem so schnell zu rennen vermocht hatte, waren plötzlich nur noch nutzlose Glieder– wie die ihrer Schlenkerpuppe, mit der sie so gern spielte. Der Gedanke, nie wieder über die Wiesen im Park zu tollen, auf ihrem Pony zu reiten oder mit Camden durch die Wälder ihres Anwesens zu stromern, war ihr anfangs unerträglich gewesen. Als der Schmerz jedoch nach Monaten endlich etwas nachließ, wurden auch ihre Gedanken nach und nach klarer, und ihr Lebensmut kehrte zurück. Sie war fest entschlossen, sich von dieser Krankheit nicht besiegen zu lassen.

Als Doktor Swanson, der sie fast täglich besuchte, erkannte, dass sie bereit war zu kämpfen, hatte er ein ernstes Gespräch mit ihr geführt.

»Die Lähmung in deinen Beinen wird in den nächsten Wochen nachlassen«, erklärte er ihr. »Allerdings heißt das nicht, dass du sofort wieder laufen kannst. Deine Muskeln sind durch die lange Bettruhe geschwächt. Jede Bewegung wird dir große Schmerzen verursachen. Nur wenn du sehr tapfer bist und die Beine trotzdem bewegst, besteht die Chance, dass du wieder laufen lernst. Ich werde dir Übungen zeigen, die du mit Molly machen kannst. Doch ich warne dich. Schonst du deine Beine, werden sie für immer lahm bleiben und auch verkümmern. Ich sage es dir noch einmal: Nur wenn du deine Beine bewegst, stärkst du damit deine Muskeln und kannst die Krankheit besiegen. Es liegt nun an dir.«

Die siebenjährige Amber hatte die Herausforderung angenommen. Sie hatte keineswegs vor, ihr Leben in einem Rollstuhl oder gar im Bett zu verbringen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Weg so mühsam werden würde. Schon nach der ersten Woche hatte sie ihren Mut verloren. Es war nicht nur der Schmerz gewesen, der sie verzweifeln ließ, sondern die Tatsache, dass sie keinen auch noch so kleinen Erfolg sehen konnte.

Da kam Molly ihr zu Hilfe. Noch heute war sich Amber sicher, dass sie für immer ein Krüppel geblieben wäre, wenn die tatkräftige Irin und ihre Leprechaun-Geschichten nicht gewesen wären.

Nachdem sie sich einige Tage lang standhaft geweigert hatte, mit ihren Übungen fortzufahren, war Molly eines Tages mit einer kleinen Handpuppe erschienen.

»Das ist ein Leprechaun«, hatte sie ihr ohne Umschweife erklärt. »Er ist für dich aus meiner Heimat Irland gekommen, um dir zu helfen. Für jede Übung, die du mit mir machst, wird er dir eine Geschichte erzählen.«

Die Puppe auf Mollys Hand begann sich plötzlich zu bewegen und mit einer seltsam tiefen Stimme zu ihr zu sprechen. Amber war sofort fasziniert gewesen. Der Leprechaun schien wirklich zu leben. Und dann begann er auch schon die erste Geschichte zu erzählen. Sie handelte von einer verzauberten kleinen Prinzessin, deren Geist in dem Körper einer warzigen Kröte gefangen war. Nur wenn sich jemand in ihre hässliche Gestalt verliebte, würde sie von ihrem Schicksal erlöst. Als die Geschichte gerade richtig spannend geworden war, unterbrach der Leprechaun seine Erzählung. Er war nur bereit, sie fortzusetzen, wenn Amber mit ihm den vorgeschlagenen Handel einging. Ihre Neugier war schließlich stärker als die Angst vor den Schmerzen gewesen. Sie nahm ihre lästigen Übungen wieder auf. Zu ihrer eigenen Verwunderung wurde der Schmerz um einiges erträglicher, wenn als Belohnung eine gut erzählte Geschichte folgte.

In den nächsten Monaten machte sie nicht nur gute Fortschritte, sondern sie lernte auch Disziplin und Ausdauer. Nach gut einem Jahr gelangen ihr die ersten eigenen Schritte.

Heute war Ambers rechtes Bein trotz der fleißigen Übungen immer noch etwas kürzer und auch schwächer als ihr linkes. Dadurch war ihr ein nicht zu übersehendes Hinken geblieben. Amber hatte gelernt, damit umzugehen. Mitleid oder gar Häme prallten mittlerweile an ihr ab wie Regentropfen an einer Hauswand. Sie hatte sich damit abgefunden, anders zu sein als andere Menschen. Bei gesellschaftlichen Anlässen ging sie meist ihre eigenen Wege. Während die anderen Mädchen ihres Alters mit ihren gefüllten Tanzkarten prahlten und sich eifrig über ihre Galane austauschten, verfolgte sie lieber die politischen Diskurse der anwesenden Herren. Anfangs noch schweigend, doch bald schon diskutierte sie in der Runde mit und gewann durchaus auch die Anerkennung einiger Herren. Natürlich gefiel das weder den jungen Damen noch ihren Müttern. Ein wohlerzogenes Mädchen hatte sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, sich anständig zu kleiden und zu benehmen, um möglichst rasch eine gute Partie zu machen. Doch Amber lachte nur über solche Dinge. »Wieso sollte ich mir da Mühe geben?«, spottete sie über sich selbst. »Ich kann weder tanzen, noch kann ich mit der Anmut der anderen Mädchen konkurrieren. Das Einzige, worin ich ihnen überlegen bin, ist vielleicht mein Verstand. Aber für den interessieren sie sich ohnehin nicht.« Damit war die Sache für sie abgetan.

In Wahrheit war Amber durchaus nicht hässlich, wenngleich sie aufgrund ihrer eurasischen Mutter auch nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen mochte. Sie war nicht sehr groß und von schlanker, fast ein wenig magerer Figur. Dichte, dunkelbraune Haare, die kaum zu bändigen waren, fielen ihr wie ein schwerer Vorhang über den Rücken. Ihre makellose Haut hatte einen sanften Olivton und stand in einem aufregenden Kontrast zu ihren weit auseinanderliegenden, ungewöhnlich hellbraunen Augen. Wenn sie wütend war, verglich ihr Vater ihren Blick gern mit dem einer Raubkatze. Für gewöhnlich schimmerten sie jedoch in einem warmen Bernsteinton. Ein kleiner, sensibler Mund mit vollen Lippen gab ihrem Gesicht je nach Laune etwas Koboldhaftes oder Strahlendes.

Neben einer lebhaften Mimik zeichnete sie ihr klarer Verstand aus. Da Amber als Kind viel Zeit im Haus verbringen musste, hatte der Vater ihr erlaubt, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder Camden bei dessen Privatlehrer Unterricht bekam. Schon bald war sie die eifrigere von den beiden Schülern gewesen. Während Camden seine Zeit viel lieber mit seinen Freunden oder im Pferdestall verbrachte, liebte Amber die Unterrichtsstunden und begann schon bald, erst mit ihrem Lehrer und dann mit ihrem Vater über allerlei Dinge zu diskutieren. Kurzum, Amber hatte durch die Unterstützung ihres Vaters genügend Selbstbewusstsein entwickelt, um sich in der Gesellschaft nicht als Mauerblümchen vorkommen zu müssen. In der langen Zeit ihrer Genesung war sie nicht nur zu einer raffinierten Schachspielerin geworden, sondern hatte sich außerdem in Latein, Griechisch und Geschichte umfangreiches Wissen angeeignet. Und sie hatte ihre künstlerische Begabung im Zeichnen entdeckt. Mit ihren kaum zwanzig Jahren studierte Amber mittlerweile in der angesehenen Lady Margret Hall in Oxford Geschichte und Orientalistik und interessierte sich für übernatürliche Phänomene wie Séancen, Geisterbeschwörungen und Magie.

Plötzlich geriet wieder Bewegung in die wilde Krähenschar. Laut protestierend flogen die Vögel auf, weil ein Reiter in halsbrecherischem Tempo direkt auf sie zugaloppierte. Da er gegen die bereits tief stehende Sonne ritt, musste Amber ihre Augen mit der Hand beschirmen, um ihn näher ins Visier zu nehmen. Schnell erkannte sie ihren Bruder. Sein Pferd, ein graziler und doch kraftvoller Anglo-Araber, dampfte, als Camden sich mit Schwung aus dem Sattel schwang.

»Ich habe gleich vermutet, dass du dich hierher zurückgezogen hast«, begrüßte er sie mit schelmischem Lächeln. »Kann es sein, dass du das Wiedersehen mit Vater und unserer neuen Stiefmutter noch etwas hinauszögern willst?«

Amber rümpfte missgestimmt die Nase, während sie ihren Bruder mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte.

»Sag bloß, dass du dich darüber freust. Du warst genauso gegen diese Verbindung wie ich.«

Camden zuckte mit den Schultern.

»Ich habe meine Meinung diesbezüglich eben geändert«, meinte er möglichst beiläufig. »Seit Vater die Baroness kennt, ist er mir gegenüber viel toleranter als früher.«

»Typisch Camden«, spottete Amber. »Du denkst wieder einmal nur an dich selbst. Siehst du denn nicht, dass Lady Maeve unseren Vater nur ausnehmen will? Sie ist viel jünger als er und passt überhaupt nicht zu ihm. Bestimmt ist sie nur auf sein Vermögen aus. Ich habe mich ein wenig umgehört. Ihre Familie ist völlig verarmt und dennoch verhält sie sich uns gegenüber, als entstamme sie dem Königshaus persönlich.«

»Sie kommt immerhin aus einer sehr ehrwürdigen Adelsfamilie. Ihre Vorfahren haben schon zur Zeit der Rosenkriege dem König…«

»Na und?«, unterbrach Amber ihn aufgebracht. »Das gibt ihr noch lange nicht das Recht, sich als unsere Stiefmutter aufzuspielen. Wir brauchen diese Lady nicht!«

»Da ist unser Vater offensichtlich ganz anderer Meinung«, widersprach Camden. Er legte ihr versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Außerdem sind die beiden seit über vier Monaten verheiratet. Du solltest dich endlich damit abfinden!«

Amber schüttelte ärgerlich die Hand ab und erhob sich. Sie war immer noch empört.

»Ich glaube, ich werde mich heute Abend zum Dinner entschuldigen«, meinte sie trotzig. »Lady Maeve soll spüren, wie gleichgültig sie mir ist.«

»Vater wird sehr enttäuscht sein. Er war immerhin monatelang nicht zu Hause.«

»Das ist seine Sache. Schließlich hat ihn keiner dazu gezwungen, drei Monate lang mit Lady Maeve kreuz und quer durch Europa zu reisen«, meinte Amber schnippisch.

»Gib zu, du bist eifersüchtig, weil Maeve und nicht du Vater begleiten durfte«, spottete ihr Bruder.

Amber bedachte ihn mit einem zornig funkelnden Blick.

»Vater hatte mir die Reise versprochen. Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut. Aber seit er diese Frau kennt, erinnert er sich offensichtlich an keines seiner Versprechen mehr.« Schmollend verzog sie ihr Gesicht. »Ich bleibe dabei. Wenigstens heute Abend werden die beiden auf mich verzichten müssen.«

Sie packte ihre Staffelei und die Malutensilien zusammen und begab sich zu ihrem Pferd, das sie an einem Busch angebunden hatte.

»Warte noch!« Camden hielt sie auf. Der bittende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Seine eben noch etwas überhebliche Art, den großen Bruder hervorzukehren, war mit einem Mal wie weggewischt. »Du kannst mich heute Abend nicht allein lassen…«

Amber fuhr herum.

»Und wieso nicht?« Plötzlich ahnte sie etwas. »Hast du etwa wieder Schulden?«, fragte sie missbilligend.

Camden schüttelte etwas zu energisch den Kopf.

»Das ist es nicht«, wehrte er ab. »Ich hatte in der letzten Zeit eine ziemliche Glückssträhne. Langdon schuldet mir fast fünfhundert Pfund. Damit kann ich all meine Außenstände decken. Es ist vielmehr…«

Er geriet plötzlich ins Stocken und sah Amber hilflos an.

»Nun sag schon«, drängte sie ihn. Sie kannte ihren Bruder nur allzu gut und ahnte, dass er wieder einmal etwas ausgefressen hatte. »Was ist es diesmal?«

Es war ein offenes Geheimnis, dass Camden lieber mit seinen Freunden Karten spielte und bei Pferderennen sein Geld riskierte, als sich um sein Studium zu kümmern.

»Sie haben mich von der Universität gefeuert«, gestand er kleinlaut. Amber hob die Augenbraue und wartete darauf, dass er fortfuhr. Camden schluckte. »Ich wurde während der Prüfung beim Betrügen erwischt.«

»Wie konntest du nur!«

Amber war schockiert. Im Gegensatz zu ihrem Bruder nahm sie ihre Studien sehr ernst und wäre niemals auf die Idee gekommen zu täuschen.

»Mir blieb keine andere Wahl«, verteidigte er sich halbherzig. »Ich hatte einfach nicht genügend Zeit, um mich darauf vorzubereiten.«

Er sah Amber mit seinen dunkelbraunen Augen Verständnis suchend an. In diesem Moment erinnerte er sie an einen reumütigen Hund.

»Und Vater weiß noch nichts davon«, stellte sie pragmatisch fest.

»Du musst mir beistehen. Allein schaffe ich das nicht«, flehte er sie wie ein kleines Kind an.

Sie gab ihren Widerstand auf. Es war sinnlos. Camden mochte zwar älter sein als sie, aber er war ohne Zweifel wesentlich unreifer. Mit seinen fast fünfundzwanzig Jahren war er immer noch ein unsteter Bursche, der sich beharrlich weigerte, Verantwortung zu übernehmen. Er fing ständig etwas an, um es kurz darauf wieder gelangweilt aufzugeben, weil er etwas Neues, viel Aufregenderes gefunden zu haben meinte. Amber schrieb diese Sprunghaftigkeit der fehlenden Erziehung durch ihren Vater zu. Während sie von seiner liberalen Einstellung ihr gegenüber nur profitiert hatte, war ihr Bruder mehr oder weniger an den unklaren Erwartungen gescheitert. Er war sehr sensibel, in vielen Dingen aber auch aufsässig und suchte klare Grenzen, die ihm Sir Reginald leider nur ungern vorgab. Er war viel zu lange der Meinung gewesen, dass sein Sohn von selbst auf den richtigen Weg kommen würde, und stellte nun plötzlich hohe Ansprüche. Vor über einem Jahr war es dann zu einem Eklat gekommen, bei dem Sir Reginald in ungewohnter Schärfe seinem Sohn klargemacht hatte, dass er dessen aufwendigen Lebensstil nur noch dann finanzieren werde, wenn Camden binnen Jahresfrist sein Studium in Cambridge beendete, um dann endlich in seine Fußstapfen in der Spinnerei zu treten. Andernfalls werde er ihn enterben, hatte er gedroht.

Als Camden erkannte, wie ernst es seinem Vater damit war, hatte er Besserung gelobt und für ein paar Monate tatsächlich seinen ausufernden Lebensstil aufgegeben. Doch als im nächsten Frühling die ersten Pferderennen stattfanden, wurde er wieder schwach. Sir Reginald war ihm nur nicht auf die Schliche gekommen, weil er zu der Zeit bereits Lady Maeve den Hof machte und für nichts anderes mehr Augen gehabt hatte. Doch nun nahte die Stunde der Wahrheit. Und Amber ahnte, dass Camden dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen würde. Auf einmal tat er ihr leid.

»Also gut«, lenkte sie widerstrebend ein. »Ich werde beim Dinner erscheinen. Aber nur, wenn du Vater gleich zu Beginn alles gestehst.«

»Er wird mir den Kopf abreißen und mich enterben«, fürchtete Camden.

»Das geschieht dir nur recht«, meinte Amber ungerührt. Als sie seinen entsetzten Blick sah, lenkte sie sofort wieder ein. »Das wird er natürlich nicht, aber er wird sich bestimmt etwas für dich ausdenken. Du tätest gut daran, es nicht gleich wieder auszuschlagen.«

2

Bingley, West Yorkshire

Als die Geschwister Highgrove Manor erreichten, dämmerte es bereits. Schon von Weitem war zu erkennen, dass dieser Tag ein besonderer war. Die Bediensteten liefen geschäftig umher, kümmerten sich um das Gepäck der Angekommenen und trafen letzte Vorbereitungen für das festliche Dinner. Im Salon und in den Privatgemächern waren bereits die Gaslichter entzündet, obwohl das Tageslicht noch hell genug schien. Sir Reginald mochte kein Dämmerlicht. Das gesamte Anwesen strahlte durch seine Beleuchtung die Wärme und Behaglichkeit aus, die Amber am vorigen Tag bei ihrer Ankunft noch vermisst hatte. Das herrschaftliche Haus mit seinen grauen Steinmauern und dem schiefergedeckten Dach lag inmitten eines großzügigen Parks, der eine herrliche Aussicht auf das umliegende Hügelland bot. Es bestand aus einem großzügigen, zweistöckigen Mittelbau, an den sich zwei kleinere Seitenflügel anschlossen. Eine breite Kiesauffahrt führte in einem großen Bogen vor den Eingangsbereich mit einer schweren, messingbeschlagenen Eichentür.

Dass sich nur wenige hundert Yards hinter den hohen Bäumen, die das Anwesen umgaben, die Spinnerei mit der Siedlung der Arbeiter verbarg, hätte ein Fremder nicht vermutet. Archibald Callahan, der Großvater Camdens und Ambers und Gründer der Spinnerei Callahan & Sons, hatte Highgrove Manor vor über fünfzig Jahren bewusst so geplant. Er war ein praktisch denkender Mann gewesen, der als verantwortungsvoller Unternehmer jederzeit in der Lage sein wollte, in seiner Fabrik nach dem Rechten zu sehen. Der Bau des Familiensitzes war für den aus einfachen Verhältnissen stammenden Mann die Krönung seines beruflichen Aufstiegs gewesen. Als fahrender Händler war Archibald Callahan im Jahr1779 auf den findigen Techniker Samuel Crompton getroffen, der gerade eine neuartige mit Wasserkraft betriebene Spinnmaschine erfunden hatte. Dieses Wunderwerk der Technik vermochte an einem Tag so viel Baumwolle zu verspinnen, wie es zweihundert Arbeiter in derselben Zeit in Heimarbeit kaum schafften. Das bedeutete einen unglaublichen Fortschritt.

Mit seinem angeborenen Geschäftssinn hatte Archibald sofort erkannt, welcher Profit sich daraus schlagen ließ. Cromptons Erfindung war der bis dahin erfolgreichsten Spinnmaschine, der mit Wasserkraft angetriebenen Waterframe des Perückenmachers Richard Arkwright, und erst recht der noch handbetriebenen Spinning Jenny von James Hargreaves weitaus überlegen. Mit etwas Geschick und einer Portion Glück würde er Crompton davon überzeugen können, als sein Teilhaber bei ihm einzusteigen. Er sollte die Spinnmaschinen liefern, und Archibald würde im Gegenzug dafür sein gesamtes Vermögen in eine kleine Spinnerei investieren.

Das geeignete Gebäude war rasch gefunden: Crompton kannte einen gerade insolvent gegangenen Spinnereibesitzer in Bingley in der Grafschaft Yorkshire. Archibald suchte ihn auf und wurde bald mit ihm handelseinig. Nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten gelang es ihm tatsächlich, in der Branche Fuß zu fassen. Dabei kamen ihm seine vielfältigen Beziehungen als fahrender Händler durchaus zugute. Außerdem fand er in Sally, der Tochter des ehemaligen Spinnereibesitzers, eine zuverlässige und kluge Frau, die seinen Blick auch auf die Bedürfnisse der Arbeiter lenkte.

Der sich bald einstellende Erfolg hatte verschiedene Gründe. Zum einen verfügte Archibald Callahan über einen sicheren Geschäftssinn. Außerdem hatte er die Gabe, den Vorteil von Innovationen zu erkennen. Sein Unternehmen besaß dank Samuel Crompton die produktivsten und modernsten Spinnmaschinen weit und breit und gehörte damit zu den Wegbereitern der florierenden englischen Wirtschaft. Bis 1750 war der größte Teil der aus den Kolonien stammenden Baumwolle noch in Handarbeit verarbeitet worden. Damals waren ganze Familien damit beschäftigt, die Baumwolle an Handspindeln zu verspinnen. Der große Nachteil war, dass der Bedarf an Garn selbst mit vielen Spinnerinnen nicht zu decken war. Ein Weber konnte mehr Garn zu Stoff verarbeiten, als vier Spinnerinnen in derselben Zeit an Garn herzustellen vermochten. Die Folge davon war, dass die Nachfrage an Garn stieg und es ständig Preiserhöhungen gab. Erst durch die Erfindung der mechanischen Spinnmaschinen wie der Spinning Jenny und der Waterframe war das Nachfrageproblem gelöst worden– und Archibald Callahan besaß dank Samuel Crompton die produktivsten Maschinen. Ein weiterer Grund für seinen Erfolg war, dass in der Spinnerei Callahan, anders als in vielen anderen, die Arbeiter ordentlich bezahlt wurden.

»Gute Arbeit für zufriedene Arbeiter« war Archibalds pragmatischer Grundsatz geworden, dessen Umsetzung sich sowohl in der Qualität seiner Garne als auch in der Zufriedenheit seiner Arbeiter niedergeschlagen hatte. Diesen Leitspruch hatte sich auch sein einziger Sohn Reginald zu eigen gemacht, als er im Jahr 1825 die Führung der Spinnerei übernommen hatte.

Reginald war im Gegensatz zu seinem pragmatischen Vater ein Feingeist, ein Gestalter und sehr an politischen Entwicklungen interessiert. Gleichzeitig behielt er aber durchaus die Interessen der Firma im Auge. Mit Ehrgeiz und Durchsetzungswillen modernisierte Reginald zunächst die Spinnerei. Dabei kam ihm eine weitere Neuerung in der Technik entgegen, als Richard Roberts 1830 die erste Selfaktor-Maschine entwickelt hatte. Diese Spinnmaschine konnte ohne menschliche Hilfe spinnen, da sie mit Dampf- und Wasserkraft arbeitete. Dadurch war eine Steigerung der Arbeitsleistung um zwanzig Prozent gewährleistet. Der einzige Nachteil bestand darin, dass man dafür Energie in Form von Kohle benötigte. Für deren Beschaffung war nicht nur die Vorfinanzierung zu leisten, sondern auch das Transportproblem musste gelöst werden. Aber auch da hatte Reginald die richtige Eingebung: Kurzerhand ließ er vom Bahnhof in Bingley auf eigene Kosten Gleise zu der Spinnerei verlegen.

Im Gegensatz zu seinem Vater stellten ihn jedoch die geschäftlichen Erfolge auf Dauer nicht zufrieden. Mit einem gewissen Trotz, der dem Bewusstsein entsprang, dass es seine Familie zwar zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hatte, aber dennoch in der elitären Welt der Aristokraten und Herrschenden nicht die gleichen Rechte besaß, setzte er sich für die Gleichberechtigung der Klassen ein, indem er sich für einen Sitz im Unterhaus bewarb. Der Weg dorthin war lang und schwierig gewesen, denn nicht viele in Yorkshire teilten seine liberalen Meinungen. So setzte er sich als überzeugter Demokrat dafür ein, dass das Wahlrecht auf alle Männer ausgedehnt werden sollte, egal, welchen Standes und Vermögens sie auch waren. Bislang durften nur Männer mit Grundbesitz wählen. Arbeiter, Bauern, Handlanger, Tagelöhner– und Frauen sowieso– waren von allen Wahlen ausgeschlossen. Sie besaßen keinerlei Recht, die Politik im Lande mitzubestimmen.

Außerdem verbesserte Reginald die Arbeitsbedingungen in seiner Firma. Viele seiner Arbeiter mussten jeden Tag einen langen, anstrengenden Fußweg von ihren Dörfern zur Spinnerei in Kauf nehmen. Das ging eindeutig auf Kosten ihrer Arbeitskraft. Ein ausgeruhter Mensch arbeitete schneller und zuverlässiger als ein müder. Außerdem war er glücklicher, wenn er seine Familie in der Nähe wusste. Deshalb ließ Reginald in der Nähe der Spinnerei Siedlungen aus ordentlichen Steinhäusern errichten, deren Wohnungen er für ein geringes Entgelt an die Arbeiter und ihre Familien vermietete. Aufgrund der besseren Maschinen konnte es sich Reginald leisten, seine Leute nur elf Stunden am Tag arbeiten zu lassen, während in anderen Unternehmen sechzehn Stunden die Regel waren. Am Sonntag war grundsätzlich frei. Der Erfolg war, dass seine Arbeiter zuverlässiger und schneller arbeiteten als diejenigen in vielen anderen Betrieben.

Auch in der Wahl seiner Frau tat Reginald nicht unbedingt das, was man von einem englischen Gentleman erwartete. Während einer mehrmonatigen Reise, die ihn nach Indien führte, um neue Baumwolllieferanten zu finden, lernte er Celia Desai kennen. Diese Bekanntschaft war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, denn Celia hatte zwar eine englische Mutter, ihr Vater war jedoch ein dunkelhäutiger indischer Geschäftsmann, den Reginald in Bombay kennengelernt hatte. In der indisch-englischen Kolonialgesellschaft war dies eine ausgesprochene Mesalliance. Keine anständige englische Frau ließ sich mit einem Eingeborenen ein, egal, wie angesehen und erfolgreich er auch sein mochte. Die Vermischung sogenannten minderwertigen indischen Blutes mit dem englischen galt allgemein als Verrat am eigenen Volk. Celias Mutter hatte durch die Verbindung mit Gopal Desai viele Schmähungen und Ausgrenzungen erleiden müssen. Doch die Familie hatte gelernt, es mit einer zur Schau gestellten stoischen Gelassenheit zu ertragen.

Infolge dieser Mesalliance sah auch die Zukunft für Celia– trotz ihrer Schönheit– alles andere als rosig aus. Die Tatsache, dass sie weder für die einflussreichen heiratswilligen indischen jungen Männer noch für die angesehenen englischen Gentlemen als ernsthafte Heiratskandidatin in Betracht kam, überspielte sie mit Charme und Würde. Und gerade das zog Reginald in ihren Bann. Kämpfte nicht auch er in seinem eigenen Land gegen althergebrachte Konventionen? Mit welchem Recht maßte sich der Adel an, über das ganze Volk zu regieren? Waren nicht alle Menschen gleich? Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich in die zierliche Eurasierin verliebt und ihr fortan den Hof gemacht. Die naserümpfenden englischen Gentlemen im Club hatte er genauso ignoriert wie die missbilligenden Blicke und Kommentare der Damen auf den Gesellschaften, die er mit Celia in Bombay besuchte. Kurz bevor er das Land wieder verlassen musste, hielt er bei Gopal Desai und seiner Frau Betty um ihre Hand an und heiratete sie gegen alle Widerstände im darauf folgenden Jahr in England.

Auch in Yorkshire blieb Celia eine Außenseiterin. Sie gewöhnte sich nie an das nasskalte, englische Klima und blieb deswegen viel im Haus. Von Gesellschaften hielt sie sich meist fern. Auch wenn die Ladys und Gentlemen es nicht wagten, ihre Ablehnung offen zu zeigen, spürte sie doch deren Vorbehalte. Warum sollte sie diese schüren? Den Widrigkeiten zum Trotz ließen die Liebe zu ihrem Mann und die Geburt ihres erstgeborenen Sohnes Camden sie bald aufblühen. Obwohl die erste Schwangerschaft für Celia sehr mühselig gewesen war, ertrug sie sie mit ebenso großer Geduld wie die schwere Geburt. Allerdings forderte diese ihren Tribut, und sie erholte sich nur sehr langsam davon. Die zweite Schwangerschaft ließ lange auf sich warten. Überraschenderweise gestaltete sie sich viel einfacher als die erste, und auch Ambers Geburt verlief ohne Probleme. Nie war die Familie glücklicher gewesen als in diesen unbeschwerten Jahren. Reginald hatte gerade zum ersten Mal einen Sitz im Unterhaus erworben, und Camden war ein munterer Vierjähriger, der seine kleine Schwester mit Späßen unterhielt. Doch dann war Celia plötzlich krank geworden. Trotz bester Pflege wurde sie immer schwächer. Doktor Swanson vermutete eine Infektion, die ihr Blut vergiftete. Weder Aderlass noch Schröpfköpfe zeigten irgendeine Wirkung. Kurz vor Ambers viertem und Camdens neuntem Geburtstag starb Celia und hinterließ einen untröstlichen Reginald. Viele Jahre mussten verstreichen, bevor er ihren Verlust einigermaßen verkraftet hatte. In den ersten Jahren nach ihrem Tod machte ihn die Verzweiflung blind für die Bedürfnisse seiner Kinder. Stattdessen stürzte er sich in die Arbeit und seine politischen Verpflichtungen und ließ sich nur noch selten zu Hause sehen. Die Erziehung seiner Kinder gab er in die Hände des irischen Kindermädchens Molly Brandon und des Hauslehrers.

Camden und Amber hatten mittlerweile die Stallungen erreicht und übergaben dem Stallburschen Jonathan ihre Pferde. Während Camden nochmals nach seinem neu erworbenen Zuchthengst Saladin sah, machte sich Amber auf den Weg zum Haus. Eigentlich müsste ich mich für Vater freuen, dass er mit dieser Frau so glücklich ist, dachte sie missmutig. Was sie allerdings nicht verstand, war, dass es ausgerechnet diese Maeve sein musste. Sie war gerade mal ein paar Jahre älter als Camden. Mit etwas Fantasie hätte sie Reginalds Tochter sein können! Niemals konnte sie diese Frau als ihre Stiefmutter akzeptieren. Sie betrat Highgrove Manor durch den Kücheneingang, um sicherzugehen, dass sie weder ihrem Vater noch gar der neuen Stiefmutter über den Weg lief. Außerdem hatte sie Missis Evans noch gar nicht richtig begrüßt. Die Köchin gehörte in Highgrove Manor gewissermaßen zum Inventar. Seit Amber sich erinnern konnte, regierte sie mit ihrer direkten, herzlichen Art die Küche des Anwesens. Ihre Scones und ganz besonders ihr Lammbraten mit Minzsoße waren legendär. Als Amber die Küche betrat, war Missis Evans gerade dabei, eine Wildpastete aus dem Backofen zu ziehen. Mit hochrotem Kopf balancierte sie die heiße Backform zum Küchentisch und begutachtete kritisch, aber durchaus zufrieden ihr Werk. Sobald sie Amber entdeckte, strahlte ihr rotbackiges Apfelgesicht.

»Lady Amber, was für ’ne Freude! Ihr wart schon lange nicht mehr in meinem Reich!« Sie griff rasch nach einer Kuchenplatte auf dem Küchenbord und bewegte ihren Körper mit einer Eleganz, die man ihrer rundlichen Figur nicht so ohne Weiteres zugetraut hätte, um den Küchentisch auf sie zu. »Die habt Ihr doch als Kind schon immer so gern gegessen«, meinte sie mit einem herausfordernden Zwinkern und bot ihr ein frisches Vanille-Scone mit Cremefüllung an. Amber griff gierig danach und biss mit Appetit in das lecker duftende Gebäck. Während sie mit geschlossenen Augen dem herrlichen Geschmack nachspürte, stiegen in ihr Erinnerungen an die Kindheit empor. Wie oft hatte sie hier in der Küche bei Missis Evans Trost gefunden oder auch ihr Leid geklagt, wenn sie von den anderen Kindern wegen ihrer Behinderung gehänselt worden war. Mit ihren Leckereien hatte die Köchin jeden noch so dunklen Schatten zu vertreiben vermocht.

»Köstlich. Du bäckst immer noch die besten Scones in ganz England!«, seufzte sie, fast schon wieder über ihren Ärger wegen der Stiefmutter hinweg.

In einer spontanen Reaktion umarmte sie die korpulente Köchin.

»Nun übertreibt Ihr aber mal wieder«, meinte Missis Evans geschmeichelt, während sie ihre Schürze glatt strich. »In London gibt’s doch viel bessere Bäcker als mich, nicht wahr?«

In ihrem Blick lag eindeutig die Erwartung, Amber möge widersprechen.

»Ach woher!«, behauptete diese prompt. »In ganz London gibt es nur muffiges und altbackenes Gebäck!«

Missis Evans nickte zufrieden, und Amber freute sich, dass wenigstens hier noch die Welt in Ordnung zu sein schien.

Wie so oft, wenn sie ihre Ruhe haben wollte, schlich sie durch die Dienstbotengänge zu ihrem Zimmer. In all den Jahren hatte sich im Haus nichts verändert, und doch hatte sie das Gefühl, dass mit einem Mal alles anders war. Es war nicht nur die Tatsache, dass ihr Vater wieder geheiratet hatte, nein, Amber spürte schon viel länger eine innere Unruhe in sich, die sie immer unzufriedener werden ließ. Trotz vieler Freiheiten, die sie im Gegensatz zu vielen anderen Frauen ihres Standes genoss, fühlte sie sich weiterhin angebunden und unmündig.

Noch vor einiger Zeit hatte sie ihre Unzufriedenheit auf die Tatsache zurückgeführt, dass Frauen ein großer Teil allen Wissens vorenthalten wurde. Ein wenig Bildung– hauptsächlich in leichter Literatur, um auf Gesellschaften Konversation treiben zu können–, Handarbeiten, Haushaltsführung und Kindererziehung deckten schon alle Bereiche ab, die für eine Frau schicklich waren. Damit hatte sich Amber nicht zufriedengegeben. Es hatte sie einige Überzeugungskraft gekostet, ihren Vater dazu zu überreden, sie studieren zu lassen. Doch seit sie in Oxford studierte und zu den wenigen Menschen weiblichen Geschlechts gehörte, denen es gestattet war, an Vorlesungen und sogar Seminaren teilzunehmen, die eigentlich ausschließlich Männern vorbehalten blieben, war es auch nicht besser geworden. Überall legte man ihr Steine in den Weg. Gleich zu Beginn ihres Studiums hatte sie die Erfahrung machen müssen, dass man ihr ohne nachvollziehbaren Grund einfach den Zugang zu gewisser Forschungsliteratur verwehrte, die ihre männlichen Kommilitonen ohne Weiteres einsehen durften. Männer hatten nur den geforderten Eid zu leisten, um ungehinderten Zugang zu der University Library zu haben, während sie für die Einsichtnahme in jede noch so harmlose Quelle erst einen umständlichen Antrag stellen musste, der nicht selten aus Ignoranz abgelehnt wurde. Eine Abschrift der Upanishaden war ihr verwehrt worden, weil der Bibliotheksgehilfe, der ihren Antrag bearbeitet hatte, sie mit dem Kamasutra, einer erotischen Anleitung zu Liebesdingen, verwechselt hatte. Je eifriger Amber versucht hatte, dem bornierten Gehilfen zu versichern, dass es sich bei den Upanishaden um spirituelle Erkenntnisse der hinduistischen Religion handelte, desto mehr beharrte der Mann darauf, dass diese Schriften für eine Lady unziemlich seien. Sie war darüber so erbost gewesen, dass sie sich bei der Universitätsleitung höchstpersönlich beschwert hatte. Nach langem Hin und Her und einer gewissen Einflussnahme von Sir Reginald hatte man ihr endlich den freien Aufenthalt in der berühmten Bibliothek gewährt. Ein kleiner Sieg, den sie hart erkämpft hatte.

Endlich hatte sie Zugang zu nahezu allen bekannten Quellen und konnte ihre Sehnsucht nach fremden Ländern und anderen Religionen stillen. Ganz besonders hatten es ihr die spirituellen Fragestellungen der östlichen Kultur angetan. Vielleicht rührte ihre Sehnsucht daher, dass sie durch den frühen Tod ihrer Mutter nie die Gelegenheit bekommen hatte, ihren indischen Wurzeln nachzuspüren. Sie verschlang die beiden großen indischen Volksepen Mahabharata und Ramayana mit derselben Begeisterung wie unterschiedliche Schriften über den Buddhismus. Doch je mehr sie sich mit dem östlichen Kulturbild auseinandersetzte, desto verwirrter wurde sie. Vielleicht waren es gerade diese neuen Einsichten, die ihr Weltbild mehr und mehr aus den Fugen geraten ließen. Sie war auf der Suche nach etwas, was ihrem Leben mehr Sinn gab. Doch statt Antworten stellten sich ihr immer mehr neue Fragen. Das Unbefriedigende daran war, dass sie niemanden fand, mit dem sie darüber reden konnte. Während ihre Kommilitonen die Quellen rein wissenschaftlich bewerteten und dann in einen geordneten Kontext stellten, der mit ihrem Leben nichts zu tun hatte, spürte Amber eine andere Wahrheit dahinter, die sie zunehmend aufwühlte. Sie erkannte, dass es Dinge gab, die hinter dem scheinbar Offensichtlichen verborgen waren, fand aber keinen Weg dorthin, um sie zu erkennen.

Die Welt, wie sie sie empfand, war nur ein kleiner Teil von dem, was es noch zu entdecken gab. Hungrig verschlang sie die Reiseberichte von Entdeckern und Forschungsreisenden. Die Antarktis-Expedition von Francis Crozier unter James Clark Ross, Charles Darwins mehrjährige Reise um die Welt mit der »HMS Beagle«. Besonders Darwins Reisebericht hatte es ihr angetan. Er war nicht nur in höchstem Maße anregend und unterhaltsam, sondern lieferte, wenn auch vage, Hinweise darauf, dass die Erklärung der Welt nicht ganz so einfach zu sein schien, wie es die christliche Religion vorgab. Überall lag unentdecktes Wunderland, aber ihr waren die Hände gebunden, es zu entdecken.

Je mehr sich Amber in ihre Studien vertiefte, umso größer wurde ihr Verlangen, selbst einmal in die Welt hinauszuziehen. Doch spätestens wenn sie die Bibliothek verließ, wurden ihr wieder die engen Grenzen bewusst, die ihr als Frau auferlegt waren. Und damit haderte sie. Warum nur war sie nicht wie ihr Bruder Camden als Mann zur Welt gekommen, überlegte sie sich immer wieder. Wie frei und unabhängig hätte dann ihr Leben sein dürfen. Sie hätte das, was sie in den Büchern über Forscher und ihre Expeditionen las, selbst erleben und entdecken können.

Alles Traumgespinste, tat Amber ärgerlich ihre Fantastereien ab. Es war höchste Zeit, sich für das Abendessen umzukleiden. Das Zimmermädchen hatte ihr ein cremefarbenes Krinolinenkleid hingelegt, von dem sie wusste, dass es ihrem Vater gefiel. Ambers ohnehin schmale Taille wurde durch die bauschigen Ärmel und den ausgestellten Reifrock vorteilhaft betont. Die dezente Farbe brachte ihren olivfarbenen Hautton schmeichelhaft zur Geltung. Das Dienstmädchen steckte ihre schweren, lockigen Haare zu einem verspielten Knoten hoch und drapierte seitlich zwei Korkenzieherlöckchen. Zufrieden betrachtete Amber ihr Konterfei im Spiegel. Auch wenn sie nur Camden zuliebe am Dinner teilnahm, legte sie großen Wert darauf, gut auszusehen. Insgeheim musste sie sich sogar eingestehen, dass sie sich auf ihren Vater freute. Sie liebte ihn viel zu sehr, als dass sie ihm ewig hätte böse sein können. Lady Maeve gegenüber beschloss sie jedoch kalt und unnahbar zu bleiben.

Zur selben Stunde machte sich Lady Maeve ebenfalls für das Dinner bereit. Auch sie legte großen Wert auf ihre Abendgarderobe. Sie trug ein dunkelblaues Atlaskleid, dessen nicht zu großzügiger Ausschnitt mit zarter, schwarzer Spitze besetzt war. Auf keinen Fall wollte sie an ihrem ersten gemeinsamen Abend mit der neuen Familie zu aufreizend wirken. Sie war sich durchaus ihrer neuen Rolle als Stiefmutter bewusst. Seit ihrer Hochzeit vor einigen Monaten, bei der ihre erste Begegnung mit Camden und Amber stattgefunden hatte, war ihr klar geworden, dass sie es nicht leicht haben würde. Ihr Gemahl hatte seine Kinder zu ihrem Bedauern sehr freizügig erzogen, was sich darin zeigte, dass sie diese Heirat offen abgelehnt hatten. Besonders Amber hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie sehr gut auf Maeve verzichten konnte. Sie hatte bisher kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Allen Versuchen, sie in eine Konversation zu verstricken, war Amber geschickt ausgewichen.

Bei allem Verständnis für ihre Launen wurde Maeve aus Reginalds eigenwilliger Tochter nicht so recht schlau. Natürlich wusste sie von ihrer schweren Krankheit und hegte tiefes Mitgefühl wegen ihres Leidens. Die Tatsache jedoch, dass sie in Oxford studierte und sich lieber auf Gesellschaften mit Männern als mit den Damen unterhielt, fand Maeve äußerst befremdlich. Auch wenn Amber unübersehbar humpelte, war sie doch ein hübsches, junges Mädchen, das ganz bestimmt eine akzeptable Partie machen konnte. Doch genau das schien sie abzulehnen. Maeve hatte sich deshalb vorgenommen, für Amber einen passenden Mann zu finden. Sobald sie sie etwas näher kannte, würde sie eine Strategie für ihre Zukunft entwickeln.

Der ältere Bruder Camden schien hingegen leichter beeinflussbar zu sein. Er begegnete ihr zwar reserviert, aber nicht unfreundlich. Maeve war sich sicher, dass sie beide noch gute Freunde werden konnten. Sie hatte den nur um wenige Jahre jüngeren Mann bereits nach ein paar Gesprächen durchschaut. Im Gegensatz zu seiner Schwester war er ein labiler Charakter, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden zu haben schien. Was ihm fehlte, waren klare Regeln und Aufgaben. Reginald war ihrer Meinung nach all die Jahre viel zu inkonsequent und nachlässig gewesen. Deshalb hatte sie bereits während ihrer Hochzeitsreise einige Gespräche mit ihrem Gemahl geführt. Auch hier war Maeve der Meinung, dass es höchste Zeit war, ihm eine passende, standesgemäße Frau zu suchen, die ihn unter ihre Fittiche nahm. Mit der Verantwortung für eine Familie würde Camden auch die Führung der Spinnerei zu übernehmen lernen.

Maeve zupfte nochmals an ihren sorgfältig frisierten Haaren und bemerkte gar nicht, wie Sir Reginald das Ankleidezimmer betrat. Als sie ihn hinter sich im Spiegel erblickte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Die Monate, die sie während ihrer Hochzeitsreise gemeinsam durch Europa gereist waren, hatten ganz neuartige Gefühle in ihr geweckt. Sie hatte sich tatsächlich verliebt.

Noch vor etwas mehr als einem Jahr hatte Maeve solche Gefühle für unmöglich gehalten. Mit ihren achtundzwanzig Jahren hatte sie sich längst mit ihrer Rolle als alte Jungfer abgefunden, die niemals einen Ehemann finden würde. Daran war durchaus nicht ihr Aussehen oder ihr Charakter schuld. Man konnte sie durchaus als gut aussehend bezeichnen. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, wenn auch etwas hart und kantig, der Mund ein wenig zu schmal, aber ihre kastanienbraunen Haare seidig und glänzend. Maeve war gut erzogen, gebildet, fleißig und kontrolliert und durchaus auch zu Herzlichkeit fähig. Außerdem war sie eine geborene Baroness. Doch die Landgüter ihres Vaters waren durch Misswirtschaft und unglückliche Spekulationen längst bis auf das heruntergekommene Herrenhaus verpfändet und verloren, und somit war an eine standesgemäße Aussteuer, die für eine gute Partie unabdingbar war, auch nicht zu denken. Maeve hatte sich notgedrungen mit der Vorstellung zufriedengeben müssen, zeitlebens ihrem griesgrämigen Vater den Haushalt zu führen. Doch dann war sie auf einem ihrer seltenen Londonbesuche rein zufällig Sir Reginald Callahan begegnet. Er hatte sie in der Leadenhall durch sein beherztes Eingreifen vor einem Dieb bewahrt, der ihr gerade ihre Handtasche stibitzen wollte. So waren sie bei einem anschließenden Tee ins Gespräch gekommen. Einige Wochen später hatte Reginald sie auf ihrem Anwesen in Unstruth aufgesucht und um die Erlaubnis für weitere Besuche gebeten. Maeve hatte es ihm nicht verwehrt.

Obwohl Reginald dreiundzwanzig Jahre älter war als sie, fand sie ihn durchaus attraktiv. Außerdem war er ein einflussreicher, intelligenter Mann mit vollendeten Umgangsformen und einem geistvollen Humor, der sie zum Lachen brachte. Dass er etwas kleiner als sie war und einen nicht zu übersehenden Wohlstandsbauch vor sich hertrug, übersah sie gern. Als er schließlich um ihre Hand angehalten hatte, war Maeve noch aus Vernunftgründen auf sein Angebot eingegangen. Schließlich bot sich ihr nicht alle Tage die Gelegenheit, ihrem tristen Leben auf Unstruth zu entgehen. Doch dann geschah, womit sie nie gerechnet hatte: Sie hatte sich tatsächlich in ihren Mann verliebt.

Mit dem stolzen Lächeln des frisch verliebten Ehemanns trat Reginald auf sie zu und küsste sie auf den weißen Nacken.

»Du siehst bezaubernd aus«, schmeichelte er ihr zärtlich.

Fast ein wenig verschämt zog er eine dreireihige Perlenkette aus feinsten Naturperlen hinter seinem Rücken hervor und legte sie ihr um den Hals. Maeve stieß einen entzückten leisen Schrei aus.

»Oh Reginald, das… das ist ja einfach wundervoll!« Sanft errötend, aber gleichzeitig fasziniert betasteten ihre schmalen Hände die kostbare Pracht um ihren Hals. Das sanfte, leicht ins Rosé gehende Perlmutt der Perlen verlieh ihren herben Gesichtszügen einen weicheren Glanz. »Das… das kann ich unmöglich annehmen«, hauchte sie hingerissen. »Die Kette muss ja ein Vermögen gekostet haben!«

Reginald, der direkt hinter ihr stand, legte seine Hände auf ihre Schultern und freute sich über die gelungene Überraschung.

»Diese Kette gehörte einst Celia«, erklärte er etwas verlegen. »Sie lag viele Jahre lang unberührt in einer Kommode. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne wieder in Trauer über ihren Verlust zu versinken. Doch nun hat sich alles geändert. Ich möchte, dass du die Kette von nun an trägst. Sie soll ein Symbol für unsere Liebe sein.«

Maeves Gesichtsfarbe wandelte sich in ein noch tieferes Rot.

»Das ist so lieb von dir, Reginald«, hauchte sie gerührt. »Ich fühle mich sehr geehrt.«

Reginald zog sie zu sich empor und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Lass uns hinuntergehen, Darling. Es wird Zeit für das Dinner.«

Als Amber die Treppe ins Erdgeschoss hinunterstieg, war Sir Reginald in der Halle gerade dabei, sich und seiner Gattin aus einer funkelnden Kristallkaraffe Sherry einzuschenken.

»Amber«, rief er sichtlich erfreut. Sofort goss er noch ein Glas ein und eilte ihr entgegen, um es ihr zu überreichen. »Wie schön, dich zu sehen. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, endlich wieder zu Hause zu sein!«

Seine graugrünen Augen strahlten voller Wärme, als er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Amber konnte nicht umhin, seine herzliche Begrüßung zu erwidern, und umarmte ihn ebenfalls.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, murmelte sie ehrlich.

Maeve, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat nun ebenfalls auf sie zu.

»Auch ich freue mich, dich zu sehen«, sagte sie freundlich und machte Anstalten, Amber ebenfalls zu umarmen. Doch diese wich ihr geschickt aus. So weit würde es zwischen ihnen niemals kommen, hatte sie sich vorgenommen. Maeve nahm es scheinbar ungerührt zur Kenntnis und reichte ihr stattdessen die Hand. Amber ignorierte auch diese und nickte ihr nur schmallippig zu. Zu ihrer Genugtuung erstarrte Maeves Gesichtsausdruck. Amber verbuchte es als einen ersten Triumph.

»Ist Camden noch nicht hier?«, wandte sie sich an ihren Vater.

Sie war fest entschlossen, weiterhin so zu tun, als wäre Maeve gar nicht vorhanden. Sir Reginalds Miene verfinsterte sich.

»Dein Bruder hat sich noch einmal zurückgezogen. Wir hatten vorhin ein sehr unerfreuliches Gespräch«, meinte er mühsam beherrscht. »Ich nehme an, du weißt, worum es sich handelt?«

»Du musst Camden verstehen«, nahm Amber ihren Bruder sofort in Schutz. »Er ist kein Theoretiker. Das Studium war von Anfang an nichts für ihn. Er tut sich einfach schwer mit Büchern. Was Camden braucht, sind praktische Aufgaben, an denen er sich messen kann. Das liegt ihm bestimmt sehr viel mehr.«

Sie versuchte überzeugt zu wirken. In Wahrheit aber fühlte sie leises Unbehagen, wenn sie an die diversen Deals und Wetten dachte, die ihr Bruder neben seinem Studium heimlich abgewickelt hatte, um sich seinen aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können. So hatte er für die alljährlich stattfindenden Rudermeisterschaften zwischen Cambridge und Oxford günstig Fähnchen mit den Emblemen beider Universitäten nähen lassen, nur um sie den zahlreichen Zuschauern überteuert zu verkaufen, damit sie ihren Favoriten standesgemäß zuwinken konnten. Seine Idee war ein Riesenerfolg gewesen. Allerdings hätte allein die Tatsache, dass er als Cambridge-Student Oxford-Fähnchen verkaufte, ihn seinen Studienplatz kosten können. Aber Camden war ein Spieler, der gern etwas riskierte.

»Der Junge sollte es einmal leichter haben als ich«, brummte Reginald ungehalten. »Ich hatte große Pläne mit ihm. Er hätte mein Nachfolger im Unterhaus werden können.« Seine Enttäuschung hing wie eine Gewitterwolke schwer in der Luft. »Aber so einfach werde ich ihm die Sache dieses Mal nicht nachsehen!«, drohte er. »Ich habe ihm bereits gesagt, dass er mit Konsequenzen zu rechnen hat!«