Zauberberg Riva - Willi Jasper - E-Book

Zauberberg Riva E-Book

Willi Jasper

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Beschreibung

Ein Sanatorium am Gardasee in der Literatur Am Ende des 19. Jahrhunderts gründete der Wiener Arzt Christoph von Hartungen in Riva am Gardasee ein Sanatorium, das schnell zu einem bevorzugten Dorado von Aristokraten, Diplomaten, Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern wurde. Die besondere Anziehungskraft des Ortes machte die uralte Verbindung von südlichem Naturerlebnis, Heilklima und humanistischer Kulturtradition aus, die Reminiszenzen reichen von Vergil über Dante bis zu Nietzsche. Vor dem Ersten Weltkrieg verkehrten hier prominente Persönlichkeiten wie Thomas und Heinrich Mann, Sigmund Freud, Franz Kafka und Max Brod, Christian Morgenstern, Rudolf Steiner, Magnus Hirschfeld oder Hermione von Preuschen. Willi Jasper untersucht dieses Zauberberg-Milieu mit seinen schillernden Gästen im ideengeschichtlichen Zusammenhang. Gleichzeitig dokumentarische Erzählung und kulturhistorischer Essay, zeichnet Zauberberg Riva das farbige Bild der geistigen Aufbruch- und Untergangsstimmung dieses mitteleuropäischen Mikrokosmos.

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WILLI JASPER

ZAUBERBERG RIVA

Erste Auflage Berlin 2011

Copyright © 2011

MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Göhrener Str. 7, 10437 Berlin, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Falk Nordmann, Berlin

eISBN: 978-3-88221-923-4

www.matthes-seitz-berlin.de

Inhalt

I. RIVA

Hans Castorps »Italienblick«

Hades und Sanatorium

Der Bruderstreit im Ruderboot

II. GÖTTINNEN

Im Zeichen der Venus

Die tragische Komödiantin

»Ins Weibliche übersetzen«

III. KAFKAS TRÄUME

Nachruf auf eine Badeanstalt

Luftschiffe

Der Jäger vom Gardasee

IV. APOLLON ODER DIONYSOS?

Freuds Herzschwäche

Ehekrisen und »Verrohung der Theaterkritik«

»Irrenhaus Österreich«: Der Fall Girardi

Männerakte im Freien

V. WOHLLAUT ODER WEHKLAGE?

Galgenlieder

»Jesus des kleinen Mannes«

Seelenzauber und rohe Männerstimmen

»Musik ist dämonisches Gebiet«

VI. SEHNSUCHT UND TOD

Untergang des Abendlands?

Principe di Monteneveso – Der Fürst vom »Schneeberg«

Visconti und der Zauberer

Quellen und Literatur

Davos und Riva: »Wachsende Verklärung der Landschaft«

Umschlag der ersten Ausgabe von Der Zauberberg (S. Fischer),

Postkarte mit einer Ansicht des Gardasees von Hans Lietzmann

I. RIVA

Hans Castorps »Italienblick«

Im Mai des Jahres 1912 nahm Thomas Mann die Unbequemlichkeiten einer Hochgebirgsfahrt mit der Rätischen Schmalspurbahn auf sich. Ziel der Reise war der Kurort Davos, wo seine Frau Katia im Waldsanatorium des Dr. Jessen einen Lungenspitzenkatarrh auskurierte. Genauer war es nur ein Verdacht, der Befund sollte sich nicht bestätigen. »Mit den heute verfügbaren Methoden«, so der Mediziner Christian Virchow, »hätte man vermutlich gefolgert, dass sie zu häufig wiederkehrenden, heftigen, vermutlich von den Nasennebenhöhlen ausgehenden, katarrhalischen Affektionen neigte, die die Patientin nicht gehindert, vielleicht sogar befähigt haben«, ihr »mehr als biblisches Alter« zu erreichen. Dass seine von Familien- und Repräsentationspflichten überreichlich beanspruchte Frau sich – auch ohne Krankheit – vielleicht einfach nur einmal zurückziehen wollte, hätte Thomas Mann wohl nur schwer akzeptiert. Also musste sie krank werden, und er konnte als fürsorglicher Besucher in Erscheinung treten. Er logierte in dem ganz in der Nähe gelegenen »Haus am Stein«, von dessen Fenster aus er die bewaldeten Berghänge und Katias Balkon gleichzeitig im Blick hatte. Man konnte ja nie wissen – schließlich hatte Katia selbst von der »ungeheuren Laxheit« berichtet, »die bestand, dass man über die Balkone von einem Zimmer ins andere kommt – es war schon in sittlicher Hinsicht nicht ganz einwandfrei«. Doch zu Eifersucht bestand kein Anlass, und der Besucher aus dem Flachland begann sich wohlzufühlen. Die elitäre Krankenwelt mit ihrer beeindruckenden »Geschlossenheit und einspinnenden Kraft« veranlasste ihn sogar, eine Weile solidarisch mitzuhüsteln. Sicherlich blieben die in Davos gewonnenen »wunderlichen Milieueindrücke« nicht ohne Einfluss auf Thomas Manns Idee, »eine Art von humoristischem Gegenstück zum Tod in Venedig« zu entwerfen, die sich dann zu jenem berühmten Opus Magnum Der Zauberberg ausweiten sollte. Er wollte sich vom alten Schema der Künstlerproblematik lösen. Katia Mann hat den Umstand, dass kaum Autorennotizen und Exzerpte zum Zauberberg erhalten sind, weidlich ausgenutzt, um die Bedeutung ihrer ebenfalls verschollenen Davos-Briefe für die Romanidee zu betonen. Weniger beachtet wurde hingegen die Enthüllung, dass wesentliche Ortsbeschreibungen und Figurenkonstellationen des Zauberbergs der trivialen Urlaubsgeschichte Unter Kranken und Gesunden in Davos entstammen, die ein gewisser Johannes Uhtenwoldt bereits 1907 im Selbstverlag veröffentlicht hatte.

Zu der Erkenntnis Der Zauberberg stimmt nicht kam auch der Schriftsteller Dieter Forte nach einer Ortsbesichtigung in Davos. Er fand zwar ein mit japanischen Touristen besetztes chinesisches »Zauberberg«-Restaurant, nicht aber das im Roman beschriebene Tal – und auch mit den Bergen blieb »einiges unklar«. Im heutigen »Waldhotel Bellevue«, dem alten Waldsanatorium, gibt es neben Wellness immerhin auch eine Bibliothek mit verschiedenen Ausgaben des Zauberbergs und Seminarveranstaltungen für fortgeschrittene Leser. Doch die Vorträge der Professoren blieben Forte unverständlich – er musste schließlich mit anderen Kulturwanderern enttäuscht feststellen, dass die Zauberberg-Topographie phantastisch sei und Hans Castorp falsche Fährten gelegt habe: »Der Kompass und der Höhenmesser haben endgültig ausgedient, die Landkarten sind wegzulegen, die Orientierung ist auf eine andere Art zu suchen.«

Suchen wir also nach anderen Spuren in Castorps Phantasiewelt. Aufschlussreiche Hinweise liefern seine Träume. Inmitten einer Schneelandschaft träumte er von einer mediterranen Gegenwelt. Er blickte von einer Balkonterrasse auf einen »üppig grünenden Park«. Vogelstimmen »voll zierlichinnigem und süßem Flöten, Zwitschern, Girren, Schlagen und Schluchzen« drangen zu ihm »wie Musik«. Sie erinnerten an den »leidenschaftlichen Wohllaut« eines weltberühmten italienischen Tenors, der ihn einst verzaubert hatte. Als er »sonnenerwärmte, steinerne Stufen« hinabstieg, lichteten sich die Wolkenschleier und in »wachsender Verklärung« der Landschaft tauchte ein neues Panorama auf: das »Südmeer« – es ist »tief-tiefblau, von Silberlichtern blitzend«. Von »immer matter blauenden Bergzügen weit umfasst« erschien eine »wunderschöne Bucht«, die einem »Bergsee« glich. Am Ufer tummelte sich »verständig-heitere, schöne junge Menschheit« und auf Inseln sah man »kleine, weiße Häuser aus Zypressenhainen« leuchten. Hans Castorps »ganzes Herz öffnete sich«. Entzückt und gedankenverloren betrachtete er aus sicherer Distanz die »tränenschimmernde Herrlichkeit« des Südens. In Italien oder Griechenland war er nie gewesen, dennoch »erinnerte« er sich. Es war ein »Wiedererkennen« im Sinne Platons und Freuds, ein »Menschheitstraum«. Den Eindruck des »Elementarischen« konnte der Süden ihm nur durch den Fernblick vermitteln. Südliche Visionen schlossen »Heimatodem« nicht aus. »Italienblick«, das war auch die Aussicht von Thomas Manns Sommerhaus in Nidden am Kurischen Haff über das Meer bis zur ostpreußischen Küste: »Man findet einen erstaunlich südlichen Einschlag. Das Wasser des Haffs ist im Sommer bei blauem Himmel tiefblau. Es wirkt wie das Mittelmeer. Es gibt dort eine Kiefernart, pinienähnlich. Die weiße Küste ist schön geschwungen, man könnte glauben, in Nordafrika zu sein.« Auch hier ist die Rede von einer »unvergleichlichen« Farbenpracht, »wenn der Osthimmel das Feuerwerk des westlichen widerspiegelt«.

Doch ein ganz besonderer Ort für die Empfindungen des »Italienblicks« war Riva am Gardasee. Thomas Mann weilte hier erstmals im Jahr 1901 als Sanatoriumsgast und sammelte Eindrücke für seine Novellen Tristan, Tonio Kröger und Der Tod in Venedig – skizzierte in seinem Notizbuch aber auch schon atmosphärische Anregungen und Charakterbilder, die später im Zauberberg Verwendung finden sollten.

Die besondere Anziehungskraft des Gardasees – von dem schon Vergil und Dante schwärmten – begründete und begründet sich noch immer durch eine uralte Verbindung von südlichem Naturerlebnis, Heilklima und humanistischer Kulturtradition. Eine ursprüngliche Besonderheit ergibt sich aus der geologischen Formation der Region. Wie alle oberitalienischen Seen ist der Gardasee aus dem Schmelzwasser eines riesigen Gletschers entstanden. Lang und schmal im Gebirge, buchtet er beim Erreichen der Ebene in ein großes halbrundes Becken aus. Diese Form und Lage verursachte einen thermischen Effekt: Nach Norden vom Hochgebirgskamm vor kalten Wetterlagen geschützt, nach Süden zur Wärme der Poebene geöffnet, heizt sich der See im Sommer stark auf und kühlt den ganzen Winter über nicht aus. So entstand an den Ufern eine schmale Klimazone mit südländischer Flora, deren zugängliches Terrain früh besiedelt wurde. Das älteste Zeugnis der Zivilisation sind die vor viertausend Jahren an den glatten Felsen am Südhang des Monte Baldo zwischen Garda, Torri del Benaco, San Zeno di Montagna und Castelletto angebrachten Bilderschriften. Von besonderer historischer und kultureller Bedeutung ist der einzige größere Ort am Gardasee – das am nördlichen Ufer liegende Riva del Garda. Zahlreiche archäologische Funde zeugen von der Besiedlung Rivas und seiner Umgebung schon seit der Jungsteinzeit. Nacheinander lösten sich Römer, Goten, Langobarden und Franken in der Herrschaft ab. Danach war Riva ein von den fürstlichen Bischöfen Trients, den Venezianern, dem Visconti-Geschlecht aus Mailand, sowie den Scaligern aus Verona umkämpfter Ort. Ob der 1484 in Riva geborene Humanist Julius Caesar Scaliger wirklich ein Spross des veronesischen Geschlechts della Scala war, ist umstritten. Die Rivaner jedenfalls akzeptierten seine selbsterklärte geistige Schutzherrschaft, wie sie später auch Napoleon und die Bayern als Besatzer erdulden mussten, bevor sie dann zum Zankapfel zwischen Italien und Österreich wurden. So entwickelte sich Riva während und nach der Renaissance zu einem multikulturellen Zentrum Mitteleuropas und zugleich zu einem speziellen geistigen »Umschlagplatz« zwischen Italien und Deutschland.

Es war die Mischung aus Tradition, Fortschritt und ästhetischer Erhabenheit, die seit dem 19. Jahrhundert den Rivabesuch zu einem Pflichterlebnis für die europäischen Kultureliten machte. In dem Riva benachbarten Fischerdorf Torbole hatte der Italienreisende Goethe bereits 1786 Halt gemacht und war, wie oft zitiert, dem »belebenden Hauch der Antike« begegnet. Am 12. September notiert er in sein Tagebuch: »Heute habe ich an der ›Iphigenie‹ gearbeitet, es ist im Angesichte des Sees gut von statten gegangen.« Auch der Romantiker Heinrich Heine erlag auf seiner »Reise von München nach Genua« jener »Ruinenverzauberung«, die von den mittelalterlichen Überresten der Stadtbefestigung ausging, die man im Rocchettamassiv zur Verteidigung des Hafens errichtet hatten. Von Malern sind die Festungsruine und das Sarcatal immer wieder auf die Leinwand gebannt worden. 1855 ließ sich auch Anselm Feuerbach von dieser Landschaft inspirieren: »Das Sarcatal war das Schönste, ganz italienisch, da fühlte ich zuerst, wie man Italien malen müsse. Die Gegend war unbewohnt, das Tal mit den wildesten Granitblöcken übergossen, dazwischen stille kleine Seen, mit alten Kastellen darin; dahin muss man gehen, wenn man weltmüde ist, das gibt Ruhe und Stimmung. Abends lagen wir im Fenster des Gasthofes in Riva, da lag der Gardasee im Mondschein und wir fragten uns, wachen oder träumen wir …« Nietzsche, der im Frühjahr 1880 als »Wanderer« in Olivenhainen am Gardasee mit seinem »Schatten« philosophierte, erblickte – wie sein Begleiter Heinrich Köselitz berichtet – »vom Fenster« seines Rivaner »Hotels du Lac« aus »das herrlichste südlichste Landschaftsbild, das man sich nur wünschen kann«. Und selbst heute wird der Gardasee nicht nur als Surfer-Eldorado wahrgenommen, wie ein aktueller Reiseprospekt belegt: »Ganz plötzlich beginnt hier am Fuße der Alpen der Süden. Das blaue Wasser geht in den sattgrünen Hügel über und die milden Jahreszeiten lassen Olivenbäume und immergrüne Pflanzen in einem prächtigen Naturgarten wachsen. Die Schriftsteller, die in den Hotels und Villen der Gegend zu Gast waren, sprechen von einer einzigartigen, sonnigen Landschaft, von einem unglaublich blauen Himmel, von Bergen mit einem rötlichen Schleier, von einem glitzernden und italienischen See.«

Das Ritual, den Blick über glitzernde Seen, weiße Berge und romantische Burgruinen in die südliche Ferne schweifen zu lassen, teilten Thomas Mann und Hans Castorp mit tausenden von jungen »Leidensgenossen«, die sich eine Kur in den Bergsanatorien leisten konnten. Die Entstehungsgeschichte der Sanatorien ist eng mit zwei Zivilisationskrankheiten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verknüpft – mit der Lungentuberkulose und der Neurasthenie. Während die Tuberkulose schon länger in den europäischen Großstädten grassierte (und Romanhelden und -heldinnen oft daran litten und starben), war die »Neurasthenie« eine aktuelle Erscheinung. Der Begriff traf offensichtlich den Nerv der Zeit. Der amerikanische Arzt George M. Beard hatte ihn erstmals 1869 verwandt. Er erklärt die zunehmende Hektik und Unruhe des Arbeitslebens, die allgemeine Beschleunigung, den Konkurrenz- und Leistungsdruck, die wachsende Isolierung und Individualisierung zum Verursacher der Neurasthenie und erhebt diese selbst in den Rang einer Zivilisationskrankheit. Auch Richard von Krafft-Ebing – ein prominenter Wiener Psychiater – definierte 1900 die Neurasthenie als »eine funktionelle, mit den Hilfsmitteln der heutigen Forschung nicht erfassbare Nervenkrankheit«, bei der die »nervösen Apparate schon nach auffallend geringer Inanspruchnahme in den Zustand reizbarer Schwäche versetzt werden«. Die Neurasthenie sei durch ein Nervenleben bedingt, »das die Bilanz zwischen Produktion und Verbrauch von Nervenkraft nicht mehr herzustellen vermag«. Angesichts so allgemeiner Beschreibungen erscheint es einleuchtend, dass die damaligen Ärzte – zumal sie meist auch alle Formen von Depressionen unter dem Begriff »Neurasthenie« subsumierten – zu Verlegenheitsdiagnosen neigten. Wie viele Intellektuelle ihrer Zeit haben offensichtlich auch Thomas und Heinrich Mann ihr »Nervenleiden« per Selbstdiagnose zu erfassen versucht. So schrieb Thomas Ende Januar 1906 an den Bruder: »Bei mir hat sich die ganze Neurasthenie mehr und mehr auf den Magen concentriert, der sich bei wachsender Vorsicht meinerseits auch immer mimosenhafter beträgt. Warum isst man also nicht Marzipan?« Und so wurde der oft zitierte Vers des Pan-Mitarbeiters Otto Erich Hartlebens zur allgemeingültigen Therapie: »Raste nie, doch haste nie, sonst haste die Neurasthenie!«

Betrachte man aus heutiger Sicht die historischen und literarischen Beschreibungen der Krankheit, so der Mediziner Christian Virchow, dann falle zunächst auf, »dass unter der Fülle von Symptomen«, die angeführt würden, »kaum eines ist, das nach modernen Vorstellungen, wenn es von Belang ist, nicht einem klar definierten Leiden zugeordnet wird.« Und er fragt sich, ob der Begriff »Neurasthenie« berechtigt und ob das eng mit dem fin-de-siècle verbundene »nervöse Zeitalter«, das von dieser Modekrankheit beherrscht wurde, nicht auch »ein Mythos« gewesen sei. Dem entspreche auch die literarische und autobiografische Beschreibung des Problems durch Thomas Mann. In seiner »faszinierenden Darstellung der Krankenwelt« komme »beispielhaft die Lebensabkehr einer übersättigten Gesellschaft zum Vorschein«. Diese Sphäre sei »nicht nur eine Bleibe für die Erkrankten, sondern auch für die, die es sich leisten konnten, der Verführung zur Ungebundenheit zu erliege, und für all jene, die der herrschenden Sphäre, der Verbindung von Eros und Thanatos verfallen.«

In der Tat erschien das Sanatorium – und vornehmlich das Bergsanatorium – als eine eigene Welt mit einem eigentümlichen Arrangement zwischen Betreuern und Betreuten, mit anderen gesellschaftlichen Konventionen, als sie das Flachland besaß. Hielt man sich an die medizinische Ordnung, war man ungebunden, frei von Pflichten und konnte sich dem sorglosen Nichtstun und Sinnieren hingeben. »Es wurde getanzt, gelacht, gesungen, gehustet und auf den Korridoren geküsst«, berichtet der Dichter Klabund. Doch es ging nicht nur ums Vergnügen, sondern auch um Visionen. Der in die Ferne gerichtete Blick der jungen Zivilisationskranken verriet die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, eine Reformgesellschaft. Sie wollten das als materiell verstandene 19. Jahrhundert körperlich und geistig überwinden und wähnten sich der von politischen und sozialen Widersprüchen zerrissenen Sphäre des europäischen »Flachlandes« moralisch und kulturell überlegen. Die meisten dieser jungen Lungen- oder Nervenkranken kamen in die Sanatorien, bevor sie ihre Weltanschauung gefestigt hatten. So suchten sie gewissermaßen zwischen Liegekur und Bewegungstherapie nach neuen Werten, die substanzieller waren als wirtschaftlicher Reichtum.

Man sinnierte, las und diskutierte Bücher, die eine Gesellschaftskritik leisten und gleichzeitig neue Wege aufzuzeigen schienen. Zur Standardlektüre gehörten Langbehns Rembrandtals Erzieher und Nietzsches Also sprach Zarathustra. In zahlreichen Loggien wurde der Aufbau einer besseren »rembrandtdeutschen« Gesellschaft erträumt. Der Führungsanspruch der gebildeten Generation, der Anspruch, den Umbau der europäischen Gesellschaft von den Bergen aus in die Hand zu nehmen, konnte aus diesen Werken abgeleitet werden. Das von August Julius Langbehn, einem gebildeten Archäologen und Kunsthistoriker, 1890 zuerst anonym veröffentlichte Buch Rembrandt als Erzieher wurde in kürzester Zeit zum Bestseller mit 40 Auflagen. Dabei ging es nicht um Werk und Leben des niederländischen Malers aus dem 17. Jahrhundert, sondern um die Idealisierung dessen vermeintlich »deutschen Charakters«, der sich in einem Konglomerat von »Musik und Ehrlichkeit, Barbarei und Frömmigkeit, Kindersinn und Selbständigkeit« ausdrücke. Der Titel des Buches war eine Anspielung auf Nietzsches »unzeitgemäße Betrachtung« Schopenhauerals Erzieher, aus der kulturpessimistisches Gedankengut übernommen wurde. Langbehns sozialaristokratisches Programm beeinflusste die antiintellektuelle und antisemitische Prägung der deutschen Jugendbewegung bis hin zum George-Kreis.

Auch Nietzsches Kunstfiguren wurden damals von einer ganzen Generation nahezu wörtlich als Vorbild verstanden. Zarathustra war der erste Reformer, der zwar in der historischen Erzählung noch scheiterte, als aktueller Prophet des neuen 20. Jahrhunderts jedoch Erfolg versprach. Nach dem Tod Gottes, so die Predigt Zarathustras, habe der »Übermensch« eine Existenzchance »jenseits von gut und böse«. Das Kennzeichen des »höheren Menschen« sei der »Wille zur Macht« und die Hoffnung auf »ewige Wiederkunft«. Seine Bejahung des Lebens drücke sich in der Leichtigkeit des Tanzes und des Lachens aus. Die Erkenntnis »Alle Lust will Ewigkeit« habe ihren Ursprung in südlichen Gefilden. Zwar hat Nietzsche nur einen Monat (vom 13. Februar bis zum 13. März 1880) in Riva Erholung gesucht, doch gewann dieser Aufenthalt einen besonderen Stellenwert in seinem Werk und Leben. Die Erkenntnis »Warum ich so klug bin« begründete er 1889 im Rückblick seiner Lebenserinnerungen Ecce homo nicht zuletzt mit gemachten Erfahrungen in den Beziehungen zwischen Ort, Geist und Klima. »Das Genie ist bedingt durch trockene Luft, durch reinen Himmel«, heißt es da. Aber auch die Bedeutung des Einflusses südlicher Städte auf die Entstehung des Zarathustra wird von ihm selbst hervorgehoben.

Hades und Sanatorium

Man reiste auf den Spuren von Winckelmann und Goethe und vergewisserte sich gleichzeitig mit Nietzsche, »genug Geist für den Süden« zu besitzen. Vor allem die Tessiner Regionen um Lugano, Locarno oder Ascona sowie die oberitalienischen Seen mit den Zentren Como und Riva gehörten um die Jahrhundertwende zu den bevorzugten Reisezielen einer wohlhabenden, jungen Elite. Die Jahre zwischen 1890 und 1914 gelten als die Belle Epoque des mitteleuropäischen Reiseverkehrs und zugleich als Aufbruchphase für neue, alternative Lebensformen. Das wohl bekannteste lebensreformerische Experiment leiteten um die Jahrhundertwende die Gründer des »Berges der Wahrheit«, des Monte Véritas, am Lago Maggiore ein. Aus einer urtümlichen Naturlandschaft sollte allmählich eine neue Kulturlandschaft geformt werden. Die nachhaltigsten Ideen für alternative Lebensformen entstanden nicht zufällig in der südlichen Höhen- und Seeluft des Tessins und Oberitaliens. So war das 1888 von Christoph Hartung von Hartungen (1849-1917) in Riva del Garda gegründete Sanatorium ein besonderes Zentrum der naturheilkundlichen Reformbewegung.

Die Entwicklung der Homöopathie und ihre Bedeutung für die Reformbewegung ist eng mit der Hartungschen Familiengeschichte verbunden. Christoph Hartung (1779-1853), der Begründer dieser Ärztedynastie, war ein Schüler des Naturheilkundlers Samuel Hahnemann und machte nach Studium und Promotion in Wien eine steile Karriere im militärärztlichen Dienst. Durch eine persönliche Förderung von Kaiser Franz I. wurde er 1837 zum kaiserlichköniglichen Rat und obersten Militärarzt für die Provinzen Lombardei und Venetien ernannt. Von Mailand aus gelang es ihm, die in den Militärspitälern grassierende Cholera mit neuen, die Hygiene verbessernden Heilmethoden erfolgreich zu bekämpfen. International berühmt wurde Christoph Hartung jedoch durch seine spektakuläre augenärztliche Behandlung des Feldmarschalls Graf Radetzky, des damaligen österreichischen Oberbefehlshabers und Generalgouverneurs in der Lombardei und Venetien. Radetzky war im Jahre 1840 an einem bösartigen Geschwulst in der linken Augenhöhle erkrankt, dessen Behandlung die traditionellen Mediziner für aussichtslos hielten. Christoph Hartung jedoch gelang es, das Leiden Radetzkys in wenigen Monaten ausschließlich mit homöopathischen Mitteln vollständig zu heilen und den Gesamtorganismus des 75-jährigen Patienten in beachtlicher Weise zu stärken. Dieser sensationelle Heilerfolg wurde Gegenstand heftiger medizinischer Auseinandersetzungen in der europäischen Presse. Die wiederhergestellte Gesundheit des Feldmarschalls Radetzky erwies sich als so robust, dass er dem österreichischen Kaiser noch volle 16 Jahre als Oberbefehlshaber dienen und 1848/49 zwei siegreiche Feldzüge gegen Piemont führen konnte.

Als Anerkennung für die homöopathischen Heilerfolge verehrte Samuel Hahnemann seinem Schüler Christoph Hartung einen kostbaren Carneol-Ring, und der Kaiser veranlasste die Nobilitierung der Familie. Der erste »Adelsspross« Erhard Hartung von Hartungen (1819-1893) setzte in Wien die naturheilkundliche Tradition des Vaters fort. Als »verlässlichen Ratgeber« entwarf er eine Programmschrift mit dem ebenso schlichten wie wegweisenden Titel Der homöopathische Selbstarzt, worin die Patienten zur »Selbstheilung« aufgefordert wurden.

Erhards Sohn, in der Dynastiefolge Christoph IV. genannt, entschloss sich, mit seiner Familie nach Riva del Garda überzusiedeln, weil seine Frau Clara Josefa an Tuberkulose litt. Doch auch im milden Klima am Gardasee gab es trotz verzweifelter medizinischer Bemühungen keine Rettung für die junge Mutter von fünf Kindern. Sie starb 1893 im Alter von nur 34 Jahren. Christoph IV. konzentrierte sich nun ganz auf den Ausbau und die Erweiterung seines in Riva gegründeten Sanatoriums zu einer multifunktionalen »Atmosphärischen Kuranstalt für Nervenkranke und Diabetiker«, bestehend aus den drei Villen Cristoforo I bis III sowie einer Badeanstalt für Wassertherapien mit zwanzig »Lufthütten« direkt am Strand. Behandelt wurden vor allem Nervenleiden, Blutarmut, Bleichsucht, Erkältungen, Gicht, Rheuma, Asthma, Zuckerkrankheiten und Verdauungsstörungen. Die Aufnahme von Tuberkulosekranken war zumindest offiziell ausgeschlossen. In seinem Werbetext pries Christoph von Hartungen die »Villa Christoforo« als »erste deutsche Pension für naturgemäßes Leben und naturgemäße Krankenpflege« an, die durch ihre Lage am Gardasee »eine Art oceanisches Klima« gewährleiste. »Es befindet sich wohl kaum im südlichen Europa ein zweites Plätzchen, das ebenso günstig als wahrhaft schön gelegen, sich zu jeder Jahreszeit Kranken wie Erholungsbedürftigen als solch ein Gesundheitsheim darböte.« Das »Kurmittel«-Angebot umfasste »reine, warme, windstille Luft, kräftige Sonnenbäder, die vorzüglichsten Früchte des Südens, Kuh- wie Ziegenmilch, Warmbäder, Dampfbäder, Kaltbrausen, Seebäder, Schwimm-, Ruder-, Segelsport, Massage, Heilgymnastik, Terrainkuren« sowie »die schönsten und lohnendsten Gebirgspartien«. In Ergänzung zur Hauptsaison in Riva von Mai bis Oktober bot Christoph von Hartungen für die Sommermonate Juni bis September auch zusätzlich Kuren in Mitterbad im Ultental an. Neben der Bergeinsamkeit gehörte vor allem eine eisenhaltige Quelle zu den besonderen Reizen dieser Sanatoriums»zweigstelle«. Thomas Mann hat die landschaftlichen Reize Mitterbads beschrieben, dabei blieb ihm vor allem die abenteuerliche, dreistündige Anreise »zu Pferde« (von Lana bei Meran aus) im Gedächtnis haften. Er »ritt eine Art Schlachtross von sagenhaftem Körperbau aber mit dem Temperament eines Faultiers und den Launen eines unausgeschlafenen Esels«. Und sein Notizbuch enthält die Strophe: »Der Aufenthalt in Mitterbad / Ist Jedem zu empfehlen; / Mich hat er gelabt und frisch gestärkt, / Den Leib und auch die Seelen.« Einige Jahre später, im März 1906, empfahl Thomas Mann das Sanatorium Hartungen auch Hedwig Fischer, der Gattin seines Verlegers: »Der alte Doctor ist ein außerordentlich liebenswürdiger und in Nervendingen erfahrener Mann, der schon rein persönlich auf Ihren Gatten günstig wirken würde.«

Das Sanatorium Hartungen entwickelte sich schnell zum attraktiven Treffpunkt jener prominenten europäischen Denker, Diplomaten, Künstler und Schriftsteller, die an der zeitgemäßen Zivilisationskrankheit, der Neurasthenie, litten – oder glaubten, daran zu leiden. »Nervosität« und »Nervenkunst« waren dann auch Stichworte, die in der Therapie des Doktors von Hartungen eine zentrale Rolle spielten, Stichworte, die sich mit dem Psychogramm einer Gesellschaft auseinandersetzten, die in beunruhigender Erfahrung einer faszinierenden Modernität aus dem Gleichgewicht geraten war. In dieser Therapie wurden nicht nur neue Naturheilmittel zur Anwendung, gebracht, sondern auch gezielt geistige und erotische Anregungen »verabreicht«. Christoph von Hartungen war nicht nur ratgebender Mediziner, er war überdies ein gebildeter Gesellschafter, ein unabhängiger, toleranter und gütiger Geist, den seine Patienten zeitlebens als einen Messias im Gedächtnis behielten. Er war aber kein »rembrandtdeutsches« Vorbild, sondern vielmehr eine Zarathustra-Gestalt.

Christoph IV. kultivierte die angenommene aristokratische Lebensart. Er pflegte engen Kontakt mit dem russischen Fürstenhaus Gortschakow und der Bismarck-Familie – die Schwester des Reichskanzlers, Malvine von Arnim-Kröchtendorff, galt als eine Freundin, und sein Sohn Erhard heiratete 1906 deren Enkelin Eva von Arnim. Doch die Auseinandersetzung des Sanatoriumsleiters mit seiner Zeit manifestierte sich nicht nur in Adelsbeziehungen und medizinisch-hygienischem Avantgardismus, den er im Freien Hygienischen Blatt zum Ausdruck brachte, sondern auch in sozialpolitischen Publikationen und Aktivitäten. 1886 veröffentlichte er zum Beispiel einen Aufruf an die Arbeiter und Besitzenden. Darin warnte er vor Verelendung und Verarmung der Massen, deren soziale Sicherheitsfürsorge er für eine ethische und moralische Pflicht der Besitzenden hielt. Außerdem stellte er öffentliche Betrachtungen und Meditationen über das Universum an und teilte weitsichtige Gedanken eines Narren im 20. Jahrhundert mit. Aber ebenso wie staatliche Unterdrückung verurteilte er den aus Russland kommenden individuellen Terror und gründete im Januar 1902 die monatlich erscheinende Zeitschrift Der Anti-Anarchist, in deren Programmaufruf es hieß: »Mit aller Kraft, die uns erfüllt, werden wir jeder Barbarei der heutigen Kultur entgegentreten und alle Hemmnisse, welche unserer Auswicklung bewusst oder unbewusst entgegentreten, durch Belehrung und Aufklärung von oben herab zu beseitigen trachten …«

Heinrich Mann traf den »alten Doktor« erstmals 1893 und blieb ihm zeitlebens ein seelenverwandter Freund. Schon 1903 würdigte er ihn in den Göttinnen als einen »wirklichen Arzt, also von einer sehr seltenen Gattung«, als »eine Persönlichkeit, die auf andere übergreift«. In seiner 1945 veröffentlichten Autobiografie Ein Zeitalter wird besichtigt erinnerte sich der Schriftsteller, dass der »alt-österreichische« Doktor »nach Jahrzehnten am Gardasee italienisch immer noch wie ein Fremder« gesprochen habe. »Aber die Völkerschaften und ihre Streitigkeiten hätte er gern vergessen.« Und noch in seinem letzten Roman Der Atem aus dem Jahr 1949 rief er das Portrait Christoph von Hartungens erneut in Erinnerung: »Ein Fünfziger mit gestutztem weißen Bart, einmal verbauert, einmal ein eleganter Wiener Doktor, Frauenjäger wie die Genies seiner Art«.

Neben Thomas und Heinrich Mann sowie deren Schwester Carla verkehrten in Riva auch Persönlichkeiten und Geistesgrößen wie die Autoren Franz Kafka und Max Brod (und dessen Bruder Otto), Hermann und Clara Sudermann, Christian Morgenstern, Rudolf Steiner, Carl Dallago oder Peter Rosegger, der Komponist Eugen d’Albert, die Maler Hermione von Preuschen, Hans Lietzmann, Franz von Defregger oder Max Oppenheimer, Schauspieler wie Alexander Girardi und Katharina Schratt (eine enge Freundin des Kaisers Franz Josef) und neben Sigmund Freud auch andere Psychoanalytiker – so der Turiner Kriminalanthropologe Cesare Lombroso und der Berliner Sexualtherapeut Magnus Hirschfeld. Sie alle haben in ihrem Werk, in Briefen oder in Tagebüchern Rivaner Reminiszenzen anklingen lassen. Hier kamen nicht nur alternative Therapien zur Anwendung, es wurden auch Romane geschrieben, kulturpolitische Visionen entworfen und leidenschaftliche Affären begonnen. Bis 1914 war Riva ein vibrierendes Laboratorium, in dem man sich mit den beunruhigenden Erfahrungen der Vorkriegsmoderne auseinandersetzte. Der Erste Weltkrieg brachte die radikale Epochenzäsur – ihr Verkünder am Gardasee wurde Gabriele d’Annunzio. Sein rauschhafter Ästhetizismus schlug um in ein politisches Programm, das die »Idee der Tat« schon vor Mussolini zur Doktrin erklärte.

Der Zauberberg ist ein symbolischer und realer Ort zugleich – eine abgeschlossene Welt, in der die Protagonisten sehnsüchtig nach einem Ausgleich von Geist und Leben suchen und streben. Mystische Anspielungen auf den antiken Hades, Goethes Hexentanzplatz im Faust oder Wagners Venusberg mischen sich mit Beschreibungen des von Thomas Mann selbst erlebten Kurbetriebes in Davos und Riva am Gardasee einschließlich der Hartungschen »Außenstelle« in Mitterbad. Dabei eröffneten sich ihm unbekannte Bereiche einer Krankheit, die mit Unordnung, Liederlichkeit und mythischer Abgründigkeit verbunden ist. Schon die desorientierende Anreise Castorps ins Hochland durch dunkle Tunnel und entlang schwindelerregender Abgründe, aus denen Nebel und schwarzer Rauch emporsteigt, muten wie eine Expedition in die Unterwelt des Hades an. Im Sanatorium wird Castorp von zwei Ärzten untersucht, die mit Minos und Rhadamanth, dem brüderlichen Richterpaar im Totenreich, verglichen werden. Sie hatten zu entscheiden, ob eine endgültige Verbannung zum grausigen Strafort Tartaros bevorstand oder ob es einen erlösenden Weg zum Elysion, der Insel der Seligen, geben könne. Aber Castorp war kein Patient, sondern Besucher, der sich über den Zustand seines moribunden Vetters Joachim Ziemßen informieren wollte. »Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich?«, fragt der Dauerpatient Settembrini und bietet sich – wie Vergil in Dantes Göttlicher Komödie – als kundiger Hadesführer an. In Dantes phantastischer Reisebeschreibung von Hölle, Fegefeuer und Paradies hatte auch der Gardasee (unter dem alten Namen »Benaco«) eine mythologische Zuordnung erhalten. Das erklärt, warum Thomas Mann im Mai 1921 – parallel zur Arbeit am Schneekapitel des Zauberbergs – einen Zeitschriftenbeitrag verfasste, in dem er Dante als klassisches Symbol der »Ehrfurcht vor Tod und Erneuerung« gegen die »gedächtnislose Barbarei« verteidigte. Dante wurde aus dem Hölleninferno ins Paradies geführt, und Castorp erblickt mitten im Schneegestöber eine südliche Gegenwelt, deren Zauber ihn zum Bekenntnis drängt: »Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken!«

Das Totenreich des Hades ist von Wasser umgeben. Die Hauptgrenze zwischen Ober- und Unterwelt bilden der Fluss Acheron und seine Ausweitung zum Acherusischen See. Diese Grenze kann nur mit Hilfe des Fährmannes Charon nach Entrichtung eines Obolus überquert werden. In Thomas Manns Novelle Der Tod von Venedig, die den Vorarbeiten für den Zauberberg zuzurechnen ist, finden wir den Hadesboten in verschiedenen Gestalten. So erinnert der gespenstische Zahlmeister auf dem Schiff nach Venedig ebenso an den Fährmann mit der Totenfracht wie der Gondoliere, der den Novellenheld Gustav Aschenbach über die Lagune rudert und eigenmächtig das Ziel der Fahrt bestimmt. Auch Franz Kafka verfasste nach seinem Aufenthalt im Herbst 1913 eine Erzählung, in der sein toter Jäger Gracchus »leise« auf einer Barke über den Gardasee »schwebt« und im Hafen von Riva an Land getragen wird.

In Riva fand Thomas Mann vorübergehend eine geistige Lebensform zur Regulierung seines inneren Nord-Süd-Konfliktes. Seine innere Spannungslinie verlief nämlich nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen dem Norden und dem Süden Europas, zwischen deutschem Gefühl und römischem Milieu. Noch 1926, in Lübeck als geistigeLebensform, charakterisierte er seine Entwicklung als die des »Ohrenmenschen« mit der »Sensibilität des Nordens« – im Gegensatz zum »Augenmenschen« Heinrich mit der »Empfänglichkeit des Südens«.

Anfänglich machte die »ganze belleza« des »Mittelmeerländischen« Thomas Mann und seine nordische Künstlerseele »nervös« – später jedoch beeindruckten ihn positive literarische Reiseerlebnisse. Sich mit Goethe vergleichend kam er zu der Erkenntnis, »dass das urbane Genie, der erzogene Titane, der europäische Deutsche, welcher der Welt zwar ein ausgeprägt deutsches, der eigenen Nation aber ein europäisches Antlitz zuwendet, in Italien fertig wurde«. So muss man feststellen, dass nicht nur Heinrich, sondern gelegentlich auch Thomas Mann mit dem Etikett des »romanischen Artisten« kokettierte. Die öffentliche Besinnung auf seine eigene »lateinische (portugiesische) Blutmischung« war allerdings kein offensives Outing, sondern eine defensive Abwehr des Versuchs des völkischen Literaturwissenschaftlers Adolf Bartels und der antisemitischen Berliner Staatsbürgerzeitung, ihn und den Bruder Heinrich als »jüdisch« zu denunzieren.

Der Zauberberg ist ein Buch über das »Werden« der Moderne. Es ist ein Roman über die Entstehung unseres modernen Bewusstseins in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es vor allem um die widersprüchliche Entwicklung der menschlichen Emanzipationsidee, die mitverantwortlich für die große Epochenzäsur war, die der »Große Krieg« von 1914 bis 1918 bedeutete. Vordergründig offenbart sich die Welt des Sanatoriums als ein gefährliches Territorium der Ausschweifung und der Auflösung. Liebe, Rausch, Musik und Tod werden als dämonische Mächte erfahren. Sie drohen, den Intellekt, die Moral und den Arbeitswillen zu brechen. »Man ändert hier seine Begriffe« lautet eine Prophezeiung, mit der der Neuankömmling Hans Castorp empfangen wird. Er hat zu wählen »zwischen der Pflicht und dem Dienst des Lebens und der Faszination der Verwesung, für die er nicht unempfänglich war«. Der Tod ist immer gegenwärtig, auch die Liebe Castorps zu der geheimnisvoll-lasziven Russin Clawdia Chauchat berührt sein Schattenreich. Wenn es um Leben oder Tod geht, sind große Phrasen und Gesten allein nicht hilfreich, das muss auch der große Schwadroneur Mynheer Peeperkorn erfahren. Thomas Mann geht es um »pädagogisch-politische Grundabsichten«. Er wollte nach den ersten Kriegereignissen – die nicht nur die Arbeit am Manuskript, sondern auch die bisherigen Denkprozesse unterbrachen – von der romantischen »Sympathie mit dem Tod« wegkommen und den alten Pessimismus und Nihilismus überwinden. So wird Castorp in eine leidenschaftliche, intellektuelle und zugleich doktrinäre Auseinandersetzung hineingezogen, die den Roman zu überfrachten drohte. Durch »essayistische Parallelaktionen«, wie die Betrachtungen eines Unpolitischen, hat Thomas Mann dann versucht, den Zauberberg »gedanklich« zu entlasten. Es »geben die Zeitereignisse dem Kopf und Herzen so Unendliches zu arbeiten und zu bewältigen«, teilte er am 5. August 1915 dem Freund Paul Ammann mit, »dass ich in diesem Augenblick nicht weiß, ob ich weiterfabulieren darf und soll oder mich zu einer gewissenhaften und bekennend-persönlichen essayistischen Auseinandersetzung mit den brennenden Problemen zusammennehmen muss.« Es kam dann zu einer mehr als dreijährigen Unterbrechung der Arbeit am Zauberberg – die allerdings nicht unbedingt eine ideologische Entlastung bedeutete, sondern eher eine Neuorientierung.

Nach der Wiederaufnahme der Schreibarbeiten im Frühjahr 1919 mussten die geistigen Hauptkontrahenten, der italienische Humanist, Pädagoge, »Rhetor und Fortschrittsmann« Lodovice Settembrini (in dem auch ein Stück Heinrich Mann steckt) sowie der jesuitisch-anarchistische Kommunist Leo Naphta (der gewisse Eigenheiten mit dem marxistischen Kulturhistoriker und Philosophen Georg Lukács teilt) immer noch viel ideologisches Marschgepäck durch den Roman tragen. Beide liefern sich endlose Rededuelle, in denen es um eine politische Grundfrage des 20. Jahrhunderts geht, um den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Humanismus und Totalitarismus. Weil es zu keiner Einigung kommen kann, fordert Naphta seinen Gegner zum Duell und schießt sich nach der Verweigerung Settembrinis selbst in den Kopf. Der Tod hat nun etwas Bedrohliches. Thomas Mann beschreibt die akustischen Warnsignale. Die vom tosenden Wasserfall in Varone bei Riva bei ihm ausgelösten Gehörhalluzinationen verwandelt er im Schlussteil des Romans in eine musikalische Drohung. Die akustische »Dauerkatastrophe« wird zum Präludium des großen »Donnerschlags« des Ersten Weltkriegs. Der Zeitrahmen der Romanhandlung umfasst sieben Jahre. Er endet 1914. Der teuflische Schwefelgeruch des Krieges dringt aus dem Flachland bis in den Speisesaal des Zauberbergs. Seine Fieberbrunst ist schrecklicher als die der Tuberkulose und anderer Zivilisationskrankheiten.

Es sei das »Sinnlichste«, was er je verfasst habe, erklärte Thomas Mann, als Der Zauberberg im Herbst 1924 erschien. Doch mehr als um die Beschreibung menschlicher Leidenschaften ging es in dem 1200 Seiten umfassenden zweibändigen Werk um die ästhetische Einfühlung in militante Zeitgeschichte, wobei sich der Einfluss Richard Wagners als »stark stilbildend« erweisen sollte. Der Ausbruch des Krieges hatte zwar die Arbeit am Manuskript verzögert, doch zugleich die thematische Gestaltung des dramatischen Schlusses erst ermöglicht.

Begeistert schrieb die Berliner Neue Tägliche Rundschau: »Um Hans Castorp lässt der Dichter ein System von Sonnen in sorgfältig abgezirkelten Bahnen kreisen, deren Licht in verschiedenster Brechung auf die offenen Tore einer Seele fällt, ihn erhellt und von Stufe zu Stufe führt.« Für die Frankfurter Zeitung hingegen war der Zauberberg ein »furchtbares Buch«. Der »durch Krankheit geistwillig gewordener Bürgerkörper« des »blutarmen und didaktischen Helden« habe seinem Schöpfer nur als ein enzyklopädischer »Sammelapparat für die Bildung« gedient. Die widersprüchlichen Rezensionen ließen die Nachfrage nach dem Buch ansteigen, und der rasante Verkaufserfolg löste wiederum neue Kontroversen aus.

Selbst mit Thomas Mann befreundete Schriftsteller und Schriftstellerinnen reagierten unterschiedlich. Bruno Frank zum Beispiel, der damals Material für seinen Cervantes-Roman sammelte, war nach der Lektüre völlig »trunken« und sah im Zauberberg »den größten Bewusstseinszuwachs, der unserer Zeit hat zuteil werden können«. Und die spätere Trägerin des Fontane-Preises, Annette Kolb, die Wagnerverehrung mit Pazifismus zu vereinbaren wusste, fühlte sich als Leserin ebenfalls »ganz benommen« und hätte sich das Werk »noch um tausend Seiten länger« gewünscht. Der Münchner Autor und Kunsthistoriker Josef Ponten jedoch, dessen erfolgreicher Roman Der Babylonische Turm.Geschichte einer Sprachverwirrung von Thomas Mann hoch geschätzt wurde, fand, dass vom Zauberberg »etwas Lähmendes, Entmutigendes« ausgehe.

Den Kritikern hielt der Autor entgegen, dass »Castorps Geschichte die Geschichte einer Steigerung« sei. Ein »simpler Held« werde »in der fieberhaften Hermetik des Zauberberges zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig gemacht, von denen er sich früher nie hätte träumen lassen.« Die Figuren seien »alle mehr, als sie scheinen: lauter Exponenten, Repräsentanten und Sendboten geistiger Bezirke, Prinzipien und Welten.« Er habe sie allerdings nicht als »Schatten und wandelnde Allegorien« darstellen wollen – und sei zuversichtlich, »dass der Leser diese Personen, Joachim, Clawdia Chauchat, Peeperkorn, Settembrini und wie sie heißen, als wirkliche Menschen erlebt, deren er sich wie wirklich gemachter Bekanntschaften erinnert«.

Aber nicht alle von Thomas Mann auserwählte »Sendboten« waren mit ihrer Zauberberg-Mission einverstanden. So empörte sich Gerhart Hauptmann über die ihm zugewiesene Rolle des Mynheer Peeperkorn: »Dieses idiotische Schwein soll Ähnlichkeit mit meiner geringen Person haben?«, und fragte: »Wer ist nun hier der Schwätzer: Peeperkorn oder Mann?« Und als der Bruder Heinrich das Buch im Dezember 1924 erhielt, dankte er »bestens für das schöne Geschenk« und reichte es gleich demonstrativ an seine Frau weiter: »Mimi ist jetzt freilich versorgt, sie kann wochenlang lesen.« Ursache für diese pikierte Reaktion Heinrich Manns war sicher nicht nur das Erkennen seines Spiegelbildes in dem Humanisten Settembrini, sondern wohl vor allem die nicht unberechtigte Vermutung, der jüngere Bruder habe auch im Zauberberg – wie schon im Fall der Buddenbrooks – gemeinsame Erlebnisse und Diskussionen literarisch für sich allein ausgebeutet. Dass sein Zauberberg als »Frauenliteratur« abgetan wurde, hat Thomas Mann natürlich gekränkt. Als er im April 1925 Heinrichs neuen Roman DerKopf erhielt, zahlte er mit gleicher Münze zurück: »Vielen Dank für das Geschenk! Katia hat sich zuerst darüber her gemacht …«

Déjà-vu-Empfindungen beim Lesen des Zauberbergs verspürte auch der zweite Sohn des Sanatoriumgründers, Christoph von Hartungen junior, familienintern »Christl« genannt. Er hatte vom S. Fischer-Verlag ein Exemplar des Romans mit einem beigefügten Empfehlungskärtchen des Autors zugeschickt bekommen, das Buch aber erst zu Beginn des Jahres 1925 erhalten, da es ihm an die Adresse seiner Kurpraxis und Ferienresidenz Seis nachgesendet werden musste. In dieser beeindruckenden Winterlandschaft der Dolomiten verbrachte er mit seiner Familie die Weihnachtsferien und den Jahreswechsel. Mit dem neuen Namen Siusi allo Scillar für das alte Südtiroler Seis am Schlern konnte er sich – ebenso wie der deutschsprachige Postbeamte – noch nicht so recht anfreunden, obwohl er schon vor zwei Jahren für die italienische Staatsbürgerschaft optiert hatte und aus dem österreichischen Heer und Staatsverband entlassen war. Sein offizieller Wohnsitz war Meran – doch seit 1922 besaß er auch eine Kurpraxis in Seis. Das war der Ort, an den er sich gern zurückzog, um zu entspannen. Von der Terrasse seiner Residenz bot sich ein phantastischer Ausblick über das Eisacktal bis hin zur Burgruine Hauenstein am Fuße des Schlernmassivs.

Eingehüllt in warme Decken und bestrahlt von der Wintersonne saß er hier und blätterte gedankenverloren im Zauberberg. Christl hatte die wichtigsten Romanfiguren als »wirkliche Menschen« nicht nur erlebt, sondern diese Begegnungen in dem schillernden Milieu des Sanatoriums auch protokolliert. In Krieg und Frieden durch Europa – Erlebteseines österreichischen Arztes lautet der etwas gespreizte Titel seiner ungedruckten Autobiografie. Anders als sein älterer Bruder Erhard fühlte Christl sich mit der praktischen Tätigkeit als Arzt nicht »ausgelastet« und verspürte auch eine »Berufung« zu publizistischer und schriftstellerischer Aktivität. Die Bedeutung schriftlicher Aufzeichnungen war ihm durch Lektüre der Werke Sigmund Freuds und persönliche Gespräche mit dem berühmten Psychoanalytiker bewusst geworden. Dem Zauberberg musste er mit großer Verblüffung entnehmen, wie viele gemeinsame Erinnerungen an Riva er mit Thomas Mann teilte – auch wenn er in den Deutungen nicht immer mit dem Autor übereinstimmte. Besonders beeindruckt war er von dem letzten Abschnitt des Romans, in dem Thomas Mann vom Krieg erzählt – ohne ihn zu verherrlichen. »Wo sind wir?«, fragt Hans Castorp. »Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen und Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt …« Mit seiner »Desertation« ins Flachland drohte Hans Castorp – wie sein Vetter Ziemßen – das Opfer feindlicher Granaten zu werden.

Christl von Hartungen kannte die Kriegsschrecken aus eigener Erfahrung, wie die lange Zeit in einer Vitrine aufbewahrte Sammlung seiner verschiedenen zwischen 1914 und 1918 erhaltenen Auszeichnungen anschaulich dokumentierte. Die Ehrenmedaillen trugen so bizarre Namen wie »Ritterkreuz des kaiserlich-österreichischen Franz-Josef-Ordens mit Kriegsdekoration«, »Ehrenzeichen II. Klasse vom Roten Kreuz mit Kriegsdekoration verliehen durch Erzherzog Franz Salvator« oder »Silberne Militärverdienstmedaille am Bande des Militärverdienstkreuzes (Signum Laudis)« – aber auch ein »Ehrenzeichen II. Klasse für Verdienste um das Rote Kreuz« und eine nachträglich (1920) verliehene »Verwundeten Medaille« gehörten dazu. Als Regimentsarzt im Rang eines Hauptmannes der k.u.k. österreichisch-ungarischen Landwehr und des Heeres war er seit August 1914 an fast allen südöstlichen Frontabschnitten zum Einsatz gekommen, hatte die Isonzoschlachten ebenso erlebt wie die Südtiroloffensive, war mit Erzherzog Ferdinand Karls mobilem Epidemiespital nach Russland vorgerückt und hatte Seuchenlazarette in Galizien und Czernowitz eingerichtet. Er wusste, dass der Krieg nicht nur zur Geschichte des »Flachlandes« gehörte, sondern ebenso in den Bergen um Riva tiefe Spuren hinterlassen hatte – und das auch schon vor 1914.

Die malerische Region Trentino war zwei Jahrhunderte ein blutiges Streitobjekt zwischen Österreich und Italien. Allein in der Schlacht von Solferino 1859 am Südufer des Gardasees, in der sich Österreich und das mit Frankreichs Kaiser Napoleon III. verbündete Piemont-Sardinien gegenüberstanden, starben an einem Tag mehr als 20.000 Menschen. Und mindestens ebenso viele Verwundete, die medizinisch unversorgt blieben, erlagen später ihren schweren Verletzungen. Österreich war der Verlierer und musste die Lombardei an Italien zurückgeben, durfte aber den nördlichen Teil des Gardasees behalten. Zwar sollte Henry Dunant noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Gemetzels von Solferino das Internationale Rote Kreuz gründen, doch die Aufrüstung am Gardasee ging weiter. Man sicherte die Grenze massiv und baute Teile des Gebirgszuges Monte Baldo und den sich zwischen Riva und Torbole erhebenden Monte Brione zu einem verschachtelten System von Bergfestungen aus. Der Berg wurde von unzähligen Gängen durchlöchert und mit Schießscharten zum Gardasee durchbrochen, wobei Unmengen von Beton und Stahl verarbeitet wurden. Ihre »Feuertaufe« erhielten diese modernen Festungen zwischen 1914 und 1918, als österreichische Kaiserjäger und italienische Alpini einen gnadenlosen Stellungskrieg gegeneinander führten, der erneut Zehntausenden von Soldaten das Leben kostete. Und auch noch am Ende des Zweiten Weltkrieges, im April 1945, sollten sich oberhalb Torboles verschanzte deutsche Soldaten mit amerikanischen Landungstruppen auf dem Gardasee eine blutige Schlacht liefern.

Die meisten Touristen, die sich heute im Windschatten des Monte Brioni am nördlichen Gardasee sonnen, ahnen nichts von der kriegerischen Geschichte dieser schönen Landschaft. Wenn aber neugierige Wanderer von Riva aus dem Sentiero della Pace (»Friedenspfad«) ins Gebirge folgen,