Zauberberge - Thomas Sparr - E-Book

Zauberberge E-Book

Thomas Sparr

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Beschreibung

Kein Roman erfasst die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts so wie Thomas Manns Zauberberg, der vor 100 Jahren erschien und von der Höhe aus ein Panorama der ­europäischen Welt entfaltet, ihrer Menschen und der beschleunigten Zeit. Die Themen des Romans sind unsere, und Thomas Sparr nennt sie in diesen alphabetischen Leitfäden durch ein unerschöpfliches J­ahrhundertwerk: der Schnee, der nicht mehr so fällt wie damals; das Zwielicht der Geschlechter; die konfuse Sexualität, Thomas Manns jüdische Figuren; die Demokratie; der Krieg und vieles mehr.

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Thomas Mann beim »Eisfest« in Davos im Januar 1921

Thomas Sparr

Zauberberge

Ein Jahrhundertroman aus Davos

BERENBERG

Vorwort

Davos

Das Alphabet des Zauberbergs

Ankunft

Bleistift

Civilisationsliterat

Demokratie

Erfinden

Figuren

Gesundheit

Humanität

Ironie

Juden

Krieg

Lukács

Musik

Namen

Opulenz

Politisch

Queer

Religion

Schnee

Tod

Unpolitisch

Vorsatz

Weimar

X-Chromosomen, Y-Chromosomen

Zauberberge

La Montagne magique

Literatur

Dank

Über den Autor

Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 23. Februar 2024 in der Schweizerischen Alpinen Mittelschule in Davos und am Abend zur Eröffnung von »100 Jahre Der Zauberberg« am Kulturplatz Davos gehalten habe.

Vorwort

Der Zufall hat es gefügt, dass ich in Davos am selben Tag zweimal über das Thema »100 Jahre Zauberberg« vortrug: vormittags heranwachsenden Schülerinnen und Schülern und am Abend einem erwachsenen, überwiegend älteren Publikum. Das war auch eine Selbstbegegnung, denn während meiner eigenen Schulzeit in Lübeck hatte ich, ungefähr im Alter der Schüler und Schülerinnen um mich herum, den Zauberberg zum ersten Mal gelesen, als älterer Mensch noch einmal ganz bewusst. Ich war dem Rat von Thomas Mann, seinen Roman zweimal zu lesen, gefolgt. Dass die Lektüre dieses Buches auf besondere Weise verzaubert, hatte ich früh erfahren, aber dass dieser Zauber mit der späten Lektüre wächst, habe ich erst beim Wiederlesen verspürt.

Diesem Zauber will ich nun nachgehen. Und der Frage, was den Zauberberg einhundert Jahre nach seinem Erscheinen so solitär erscheinen lässt, und modern zugleich.

Ich selbst bin Teil der Wirkungsgeschichte von Thomas Manns Werk. Im Juni 1975 betrachtete ich die Festgesellschaft zum 100. Geburtstag von Thomas Mann mit Katia Mann und dem damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel vor dem Lübecker Theater in der Beckergrube, sie machten sich von dort aus auf den Weg zum festlichen Mittagessen im »Schabbelhaus«. Ich las von der Veranstaltung mit Walter Jens und anderen. Damals lag das Erscheinen des Romans fünfzig Jahre zurück. Dieser Zeitraum hat sich inzwischen verdoppelt. Generationen von Germanisten haben Motive, Bilder, Metaphern vom Zauberberg erforscht, entdeckt, hergeleitet, haben die Deutungen anderer verworfen oder sind ihnen gefolgt. Die Arbeit im Innern des Zauberbergs ist eine langwierige, sie reicht weit, ist immens. Die Erläuterungen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe begleiten heute unsere Lektüre und heben vieles ans Licht, was für den Autor selbst oft im Dunkel des geschriebenen Augenblicks lag. Thomas Mann war die Erforschung seines Werks, erst recht des Zauberbergs, zeitlebens besonders wichtig.

Was macht diesen Roman nach einhundert Jahren so zugänglich, vergangen und doch gegenwärtig, erschlossen und doch rätsel-, ja zauberhaft?

Einleitend kehre ich nach Davos zurück und zeichne in groben Zügen die Geographie der Entstehung des Romans nach. Von da her entwerfe ich ein Alphabet des Zauberbergs. Es reicht von A bis Z, vom Moment der »Ankunft« in der Gebirgsstadt bis zur Zeit, die dort auf so eigentümliche Weise stillzustehen scheint, über den »Bleistift«, die »Demokratie«, das Schlüsselwort des Romans, den »politischen« Thomas Mann, den »Schnee«, das Naturphänomen des Zauberbergs, den Tod in Venedig. Die Reihenfolge der Beiträge sind dem Zufall des ABC geschuldet, manche sind länger, andere eher kurz. Es versteht sich von selbst, dass manche Buchstaben anders oder auch mehrfach zu vergeben gewesen wären, das B auch für die Betrachtungen eines Unpolitischen statt für den »Bleistift«, D ebenso für den »Donnerschlag des Krieges«, der jetzt bei K untergekommen ist, bei O könnte »Operationes spirituales« stehen, es richtet sich aber auf die »Opulenz«. Das S changiert zwischen »Schnee« und »Strandspaziergang«, die »Zivilisation« hat Unterschlupf beim dritten Buchstaben gefunden und lässt dem letzten Buchstaben Raum für den weiten »Zauber« des Romans.

Leserinnen und Leser können das Alphabet für sich beliebig ergänzen oder ändern. Die von mir gewählten Wörter sollen den Gang den Zauberberg hinauf wie Schlaglichter erhellen.

Im letzten Teil gehe ich der Wirkungsgeschichte des Romans in anderen Sprachen und Kulturen nach: La Montagne magique.

Davos und Berlin, im Februar 2024

Davos

Von Davos ging vor mehr als einhundert Jahren alles aus, nach Davos geht es heute zurück. Katia Mann war 1912 an einem Lungenspitzkatarrh erkrankt und musste zweimal in jenem Jahr und erneut 1914 mehrere Monate in dem Schweizer Gebirgsort verbringen. Ihr Mann besuchte sie dort, er registrierte die Eigentümlichkeiten, die Welt des Sanatoriums, wo seine Frau behandelt wurde, ebenso wie das heutige »Waldhotel«, die unterhalb gelegene Villa am Stein, in der er vom 15. Mai bis 12. Juni 1912 wohnte, separiert von den Kranken, also auch von seiner Frau.

Davos wurde Jahre später Teil seines Romans, aber zugleich veränderte sein Schreiben den Ort in unserer Wahrnehmung. Davos verdankt fortan seine Berühmtheit dreierlei: seinem Heilklima, einem Werk der Weltliteratur, Thomas Manns Zauberberg, und – in den letzten Jahren von wachsender Bedeutung – dem Weltwirtschaftsforum, jener Zusammenkunft im Januar jeden Jahres in der höchstgelegenen Stadt, bei der die großen Linien der Weltpolitik in die Zukunft gezogen werden.

Die Verbindung von Ort und Roman ist seit gut einhundert Jahren so eng, dass wir das eine immer schon mitdenken, wenn das andere erwähnt wird. Fällt der Name Davos, taucht der Zauberberg auf. Erwähnen wir diesen märchenhaften, magischen Titel, sehen wir eine Kuranstalt im Schnee vor uns. Millionen von Leserinnen und Lesern haben sie vor Augen, auch wenn sie nie in Davos waren. Die meisten Umschläge von Thomas Manns Roman zeigen dieses eine Motiv und damit die Verheißung von Rückzug, Erholung, Genesung von einer Krankheit, die bis in die 1940er Jahre lebensbedrohlich war und viele Opfer forderte – der Tuberkulose. Unter ihrem anderen Namen wurde sie noch bekannter: Schwindsucht. Sie ist heute dank des medizinischen Fortschritts heilbar. Als Thomas Manns Roman erschien, war die Welt allerdings noch zwanzig Jahre entfernt von der Entdeckung des Streptomycins, des ersten Antibiotikums, das gegen Tuberkulose wirkte.

Alle Einzelheiten des Ortes hat Thomas Mann in seinen Roman aufgenommen, Dorf und Platz, den See, das benachbarte Monstein. Den Namen Davos hat er nur zu Beginn genannt und erinnert uns so daran, dass die Literatur eine Kunstwelt schafft, je mehr sie Wirklichkeit aufnimmt, diese mit einem Zauberstreich spiegelt und verwandelt.

»Ganz Auge« sei er gewesen, schreibt Thomas Mann in seinem Tagebuch über seine zweite Reise nach Davos von Ende Januar bis zum 3. Februar 1921. Da hatte die Idee seines neuen Romans schon eine Inkubationszeit von nahezu zehn Jahren hinter sich, es war Zeit für den Autor, das imaginäre Terrain zu inspizieren und nach den Davoser Tagen Einzelheiten von Orten und Umständen ins Manuskript des »Zbg.« einzufügen. Im Tagebuch hält er sie fest:

»Am 30. Jan. [1921] Reise von Luzern nach Davos, am Wallensee hin mit dem Blick auf die ›Kurfürsten‹, dann, von Landquart, in das verschneite Hochgebirge hinauf und hinein. Traumhaft. Traumhaft dann der Aufenthalt in der lange vergeistigten Wirklichkeit. Von ›Dorf‹ abgeholt durch Platzer und per Schlitten ins Kurhaus. Nach dem Lunch zum Eisfest. Photogr. Aufnahme mit Niddy Impekoven. Abends als Gast auf dem Bankett der Eissportler und Tanz der Impekoven im Kurhaus. Am 31. vormittags Spaziergang allein. Nach Tische Schlittenfahrt mit Platzer nach Mondstein [sic!] bei bedecktem Wetter; nachher Mozartkonzert. Abends im Kaffee des Kurhauses. Am 1. Februar beim Schlittl-Rennen und beim Kinderfest auf der Eisbahn. Abends Vorlesung im Musiksaal des Kurhauses; unter dem Publikum auch Kurgesellschaft, Holländer u. Engländer. Nachher im Café. Am 2. mit Platzer auf der Schatzalp. Kalter Föhn. Aufstieg bis über 2000 M. Schwärze des blauen Himmels auf der Westseite. Beim Abstieg heftig hingefallen. Besuch bei Jessen. Nach dem Lunch beim Apotheker zum Kaffee mit Platzer und Dr. Wolfert (?), Sanatoriumsbesitzer. Anschließend Spaziergang zu dem ehem. Sanatorium Philippi. Ganz Auge, – wie in all den Tagen. Thee bei Platzer u. seiner Tante. Am 3. sechs Uhr Abreise: Kaffee in Klosters, Landquart, Sargans, Rohrschach, Bodensee, Lindau, Schnellzug nach München. Ankunft ½ 11 Uhr, von Katja abgeholt. –«

Gegen die »lange vergeistigte Wirklichkeit« setzt der reisende Autor die verschneite Landschaft und diejenigen, die ihm darin begegnen: Niddy Impekoven etwa, die später eine berühmte Tänzerin wird; eine Fotografie zeigt Thomas Mann mit der Siebzehnjährigen beim »Eisfest«, daneben ihre Mutter und Martin Platzer, den damaligen Redakteur der Davoser Blätter, auf dem zugefrorenen See von Davos. Die Stadt stellte ihrem schon damals berühmten Gast Begleitung. Dieser Ausflug kehrt im Zauberberg als »außerordentliche Unternehmung zu dritt«, als »Winterlust« im Kapitel »Totentanz« wieder, »die Besichtigung einer Eislaufkonkurrenz, eines Bobsleighrennens. Denn es war nun die Wintersport-Jahreszeit unseres Hochtales auf voller Höhe, eine Festwoche wurde begangen, die Veranstaltungen häuften sich, diese Lustbarkeiten und Schauspiele, denen die Vettern bisher keine andere als nur eine gelegentlich-flüchtige Aufmerksamkeit geschenkt hatten.«

Auch das Jugendstilhotel »Schatzalp« besuchte Thomas Mann, dessen Grundriss im »Berghof« wiederkehren wird. Es ist ein Gebäude aus Stahlbeton mit der Schatzalpbahn als Zubringer. 1898 bis 1900 von den Zürcher Architekten Otto Pfleghard und Max Haefeli erbaut, war die »Schatzalp« als Luxussanatorium konzipiert. Bis heute kann man dort den Speisesaal, den Konversationsraum, die Terrasse und einige Zimmer im alten Zuschnitt sehen – das Innere des Zauberbergs.

Heute führt der Thomas-Mann-Weg am »Waldhotel« entlang zur Schatzalp hinauf, wo das Sanatorium lag, das den Autor 1912 inspiriert hatte, in die Hochgebirgswelt. In Davos las man den Zauberberg Ende 1924 besonders aufmerksam. »Die Schönheit des Bergwinters in Davos hat Mann zu den bildhaftesten Seiten seines großen Werkes begeistert«, heißt es in der ersten Kritik der Davoser Blätter. Doch das Lob wich bald scharfer Kritik, die sich an Thomas Manns Darstellung des Alltags im Sanatorium entzündete, dem Leben im »Berghof«, vor allem dem Wirken seines Leiters Hofrat Behrens, in dem die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Dr. Friedrich Jessen erkannten, ein, wie der Name schon verrät, norddeutscher Arzt. Der eher generöse Chefarzt des Waldsanatoriums selbst musste beschwichtigen, als die Davoser Blätter in Thomas Manns Roman einen Rufmord an ihrem Ort und seinem Hauptzweck ausmachten: die Leiden der angereisten zahlenden Gäste zu lindern. In einem Protokoll des Großen Landrats der Gemeinde heißt es im Februar 1927, Davos sei »zu sehr als Krankenort verschrien«: »Wer nach Davos gehe, werde als krank im letzten Stadium angesehen.«

Thomas Mann hatte schon 1925 in einem offenen Brief mit dem Titel »Vom Geist der Medizin« erwidert, er habe auf »die sittlichen Gefahren« hinweisen wollen, die mit dieser Krankheit einhergehen: »Durch Krankheit und Tod, durch das passionierte Studium des Organischen, durch medizinisches Erleben also ließ ich meinen Helden, soweit seiner verschmitzten Einfalt das möglich ist, zum Vorgefühl einer neuen Humanität gelangen. Und ich sollte Medizin und ärztlichen Stand verunglimpft haben?«

Die Davoserinnen und Davoser lasen den Zauberberg Mitte der 1920er Jahre als Schlüsselroman, wie man in Lübeck ein Vierteljahrhundert zuvor die Buddenbrooks als Gesellschaftsroman verstand, oder auch missverstand. Stets bürdet die Gegenwart den lesenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen viel auf. Wir lesen die Gegenwart literarisch anders als spätere Generationen.

So entstand die Idee einer alpinen Universität, aus der schließlich die »Hochschulkurse« wurden, denen Wolfram Eilenberger in seinem Buch Zeit der Zauberer das Denkmal eines philosophischen Gipfeltreffens gesetzt hat. Martin Heidegger begegnete Ernst Cassirer auf der Schatzalp.

Das ursprünglich kleine Gebirgsdorf entwickelte früh eine literarische Anziehungskraft: Die Villa am Stein nahm noch zwei weitere berühmte Autoren auf, Robert Louis Stevenson, dessen Schatzinsel