Zebraland - Marlene Röder - E-Book

Zebraland E-Book

Marlene Röder

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Reggae – es war einfach alles perfekt an jenem Abend im August. Doch wie gern würden Judith, Philipp und Anouk genau diese Stunden aus ihrem Leben streichen und den Abend vergessen, an dem sie unter freiem Himmel zu Bob Marley tanzten. Denn das war der Abend, an dem sie Yasmin töteten. Ein tragisches Unglück. Keine Zeugen. Ein Schweigegelübde, das für die Freunde zur moralischen Zerreißprobe wird. "Das wichtigste Gebot lautet: Du sollst nicht töten. Ein anderes: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Ihr habt getötet. Ihr habt gelogen. Ihr opfert bereitwillig alles, was eurem mickrigen, kleinen Leben gefährlich werden könnte. Doch wie weit seid ihr bereit zu gehen? Wie viel ist es euch wert? Wie viel seid ihr euch wert?"Das Leben von Judith, Ziggy, Philipp und Anouk ändert sich mit einem Schlag, als Anouk nach einem Open-Air-Konzert aus Versehen Yasmin mit dem Auto überfährt. Als diese tot an der steilen Straßenböschung liegt, fliehen die vier Freunde vom Unfallort und versprechen sich, niemandem etwas von der Tat zu erzählen. Doch dann tauchen Erpresserbriefe von einem unbekannten Rächer namens Mose auf und das Grauen nimmt kein Ende. Denn Mose zwingt einen nach dem anderen dazu, ein hartes, persönliches Opfer zu bringen. Um Buße zu tun. Und um Reue und Demut zu zeigen.

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Seitenzahl: 206

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Impressum

Als Ravensburger E-Bookerschienen 2010Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2010 Ravensburger Verlag GmbHAlle Rechte dieses E-Booksvorbehalten durchRavensburger Verlag GmbHISBN 978-473-38418-1www.ravensburger.de

In Erinnerung an Dida

And whosoever diggeth a pitShall fall in itAnd whosoever diggeth a pitShall bury in itBob Marley, Small Axe

Inhalt

Ich stehe auf dem Dach der Turnhalle und spraye ein Zebra auf die Rückwand meiner Ex-Schule.

Der Geruch von frischer Farbe umgibt mich. Meine Spraydose zischt, während ich mit Schwarz die letzten Outlines ziehe. Unter meinen Turnschuhen knirscht Kies. Ich trete einen Schritt zurück, um mein fertiges Werk zu bewundern.

Das Zebra ist riesig, seine Streifen sind bunt.

Gelb

wie mein Lieblings-T-Shirt mit Bob Marley, das ich in jenem Sommer ständig trug.

Dunkelbraun

wie Anouks lange Locken.

Grün

wie Judiths Augen, wenn sie wütend war.

Weiß

wie Philipps alter Mercedes, den er von seinem Opa bekommen hatte.

Rot

wie das Blut, das…

Das Zebra scheint mir den Kopf zuzuwenden. Ich kann seinen Ausdruck nicht deuten. Blickt es traurig? Anklagend? Oder grinst es mich höhnisch an?

Schwarze Gedanken kriechen aus ihren Löchern. Sie zerren an mir da hoch oben auf dem Dach der Turnhalle. Meine Beine sind wacklig. Langsam, mit dem Rücken gegen die bemalte Wand, lasse ich mich auf den Kies sinken. Dort bleibe ich hocken, den Kopf auf den Knien, und atme tief durch.

Das Nächste, was ich höre, ist die Stimme des Hausmeisters, der mich anschreit.

Die Schule verzichtet großzügig auf eine Anzeige wegen Vandalismus. Dafür muss ich mein Zebra mit weißer Farbe überstreichen.

Der Hausmeister ist noch immer voller Genugtuung über seinen Fang. Ab und zu kommt er vorbei, um mir beim Schuften zuzugucken. Nach zwei Tagen Arbeit ist nichts mehr zu sehen. So als hätte es das Zebra nie gegeben. Nur wenn die Sonne auf die Wand fällt, kann man es noch erahnen.

Der Hausmeister brummt zustimmend und ich bin endlich entlassen. »Eins würde mich interessieren, Junge«, sagt er, bevor ich mich aus dem Staub machen kann. »Wieso hast du es nachmittags gemacht? Man könnte ja fast meinen, du wolltest erwischt werden.«

Ich antworte nicht, und er mustert mich mit kleinen, listigen Augen: »Na ja, geht mich ja nichts an.«

Ich wünschte, Claudia, meine Mutter, würde das auch so sehen. Natürlich macht sie ein Riesentheater.

»Was ist eigentlich mit dir los, Fridolin?« Ich kann meinen Namen nicht ausstehen! Alle nennen mich Ziggy. Nur Claudia nicht.

»Hast du nichts anderes zu tun, als rumzuhängen und verdammte Zebras zu sprühen?«

»Ich arbeite doch«, verteidige ich mich.

»Im Lager vom Supermarkt!« Möchte wissen, warum ihr Job in der Drogerie okay ist und meiner nicht.

»Außerdem helfe ich Elmar in der Werkstatt.«

Es war ein Fehler, Elmar zu erwähnen. Claudia schnaubt, jetzt kommt sie so richtig in Fahrt: »Dein Cousin ist trotz seiner sechsundzwanzig Jahre ein großes Kind! Ein Wunder, dass seine sogenannte Werkstatt noch nicht pleitegegangen ist. Aber du! Du hast Abitur! Du könntest eine gute Ausbildung machen, vielleicht sogar studieren.« Kopfschüttelnd fügt sie hinzu: »Wenn du wenigstens glücklich mit deinem Leben wärst.«

Wir wissen beide, dass ich es nicht bin, obwohl ich versuche, das zu verbergen.

In der plötzlichen Stille klingt Claudias Stimme seltsam, die Wut darin bricht und wird zu einem Flehen, das ich tausendmal schlimmer finde.

»Nun sag doch endlich was, Fridolin! Ich mache mir Sorgen um dich, begreifst du das nicht?!« Sie hat Tränen in den Augen, und ich will nur noch weg.

»Du hast dich im letzten Jahr so verändert. Nichts scheint dir mehr Freude zu machen, nicht mal das Gitarrespielen! Vielleicht solltest du mal mit jemandem reden…«

Aber da bin ich schon fast raus aus der Wohnung.

Manchmal frage ich mich, warum ich es nicht so gemacht habe wie die anderen.

Wie Philipp, Anouk und Judith. Vielleicht hätte ich diesem verdammten Kaff den Rücken zukehren und versuchen sollen zu vergessen.

Aber ich glaube, so weit kann man gar nicht laufen, dass man so was vergisst.

Wie immer, wenn ich nicht weiß, wohin ich mit mir soll, gehe ich zu Elmars Werkstatt. Elmar ist nicht nur mein Cousin, sondern auch mein bester Kumpel. Spätestens seit dem Tag, an dem wir Bob Marley adoptiert haben.

Ich war damals gerade sechzehn geworden und meine Niete von Vater hatte mal wieder meinen Geburtstag vergessen.

Mein Vater hat Claudia und mich verlassen, als ich in die Schule kam. Dass er meinen Geburtstag vergisst, passiert regelmäßig. Ich glaube, er vergisst sogar regelmäßig, dass er überhaupt einen Sohn hat. Eigentlich sollte ich also daran gewöhnt sein. Es sollte mir nichts mehr ausmachen.

Klappte aber nicht. Stattdessen blies ich Trübsal.

»Was’n los, Mohn?«, fragte Elmar. Er quatscht alle Leute mit »Mohn« an, seit er dieses Interview gelesen hat, in dem Bob Marley seinen Interviewpartner so angesprochen hat. Elmar ist der größte Bob-Marley-Fan auf Erden. Der einzige Grund, warum er kein Rastapatois spricht, die Sprache der jamaikanischen Gettos, ist, dass ihn dann keine Gurke mehr verstehen würde.

»Ist wegen deinem Alten, oder?«, hakte Elmar jetzt nach.

Ich zuckte die Achseln. Im Hintergrund dröhnte Exodus in Endlosschleife aus dem CD-Player.

Plötzlich erklärte Elmar in ernstem Ton: »Ich finde, wir sollten Bob Marley adoptieren!«

»Bob Marley ist tot«, sagte ich.

»Sei doch nicht immer so negativ!«, erwiderte Elmar. »Angenommen, er wäre noch am Leben. Und wir würden ihm zufällig mal über den Weg laufen. Nur mal angenommen! Dann würde Old Bob uns bestimmt sofort als seine Söhne erkennen.«

Ich glotzte Elmar an. Sein Gesicht sah ebenso unjamaikanisch aus wie meines.

Elmar stöhnte. »Söhne auf einer geistigen Ebene, Mohn! Ich meine, Bob würde sofort erkennen: Hey, diese Jungs haben den Flow. Die sind richtig, die beiden. Klaro?«

Ich nickte langsam.

Elmar laberte weiter: »Wusstest du, dass Bob Schweißer gelernt hat? Während dieser Zeit hat er sein Talent entdeckt. Der Rest ist Musikgeschichte!« In Elmars Gesicht trat ein schwärmerischer Ausdruck, sein rotes Ziegenbärtchen schien zu glühen. »Stell dir vor, Old Bob nimmt dich mit auf seine Tourneen! Jede Menge Gitarren und Groupies… und Geld wie Heu!«

»Mir würde schon reichen, wenn mein Vater für mich Unterhalt zahlen könnte«, grummelte ich.

Elmar winkte ab. »Komm, vergiss die Niete. Wir adoptieren einfach Bob! Ist doch praktisch, so ein Vater ohne Risiken und Nebenwirkungen.«

»Und außerdem tot«, warf ich ein.

»Tot, aber Jamaikaner«, bekräftigte Elmar. »Und mit Idealen! Wie hört sich das für dich an: Elmar Marley?«

»Bescheuert.«

Wir lachten.

»Nicht so bescheuert wie dein Name, Mohn.« Elmar verzog das Gesicht, als läge mein Name ihm auf der Zunge wie etwas Ungenießbares. »Fridolin… nee du, das geht gar nicht. Wir müssen dich dringend umtaufen… Einer von Bobs Söhnen heißt Ziggy. Der ist auch Musiker. Ziggy– das ist doch mal ein Hammer-Name, oder?«

Elmar sprang plötzlich auf: »Ach ja, ich hab da noch was für dich! Ist aber nicht verpackt.«

Er verschwand in seinem Kabuff nebenan und kam kurz danach mit meinem Geschenk wieder. »Sie ist zwar nur vom Flohmarkt, aber jetzt steht deiner Musikerkarriere nichts mehr im Wege…«

Es war eine leicht zerkratzte Gitarre. »Hier, für dich, Ziggy«, sagte Elmar.

So kam ich am selben Tag zu einer Gitarre und zu einem neuen Namen.

Kurz darauf gründeten Elmar und ich unsere Band, die Sons of the Rastaman.

Ziggy Radinski, Gitarre.

Elmar Marley, Bongo und Gesang.

Eigentlich wollte Elmar, dass ich singe. Er ist überzeugt davon, dass ich eine großartige Stimme habe, die nur darauf wartet, von der Welt entdeckt zu werden.

»Die wartet keineswegs darauf, entdeckt zu werden. Das würde ich doch wissen«, sage ich immer, wenn er davon anfängt. »Der einzige Ort, an dem ich jemals singen werde, ist meine Dusche.«

»Da wird aber die Gitarre nass, Mohn«, entgegnet Elmar dann betrübt. »Warum stellst du dein Licht so untern Scheffel? Vielleicht solltest du dein Quietscheentchen mit auf die Bühne nehmen, um deine Schüchternheit zu überwinden.«

So ist Elmar. Total crazy. Claudia hat Recht, er ist ein großes Kind.

Aber eins weiß ich genau: Von sechs Milliarden Menschen, die auf diesem Planeten rumrennen, ist er der, dem ich meine Geschichte am ehesten erzählen kann. Schließlich hat Bob Marley uns beide adoptiert. Auch wenn der nichts davon weiß und leider schon tot ist.

Von Elmar selbst sind im Moment nur die abgelatschten Turnschuhe zu sehen, denn er liegt auf seinem Rollbrett und schraubt am Fahrzeugboden eines Volvos herum.

Er kennt mich gut, er merkt gleich, dass etwas nicht stimmt. Aber im Gegensatz zu meiner Mutter weiß er, wie er mich zum Reden kriegt: Er lässt mich einfach in Ruhe, so lange, bis mir mein eigenes Schweigen auf den Kopf fällt.

Während der letzten Monate ist das Schweigen so schwer geworden, dass es mich langsam begräbt und ich darunter ersticke. Ich gehe daran kaputt. Die Wahrheit muss endlich raus, egal was dann passiert.

Doch wo soll ich anfangen, an welchem Faden ziehen, um dieses wirre Knäuel in meinem Inneren zu lösen? Wie soll ich die Geschichte erzählen, die Geschichte unseres unglücklichen Kleeblatts?

Es geht hier um Menschen, die atmen, knutschen, heulen, Blut und Wasser schwitzen. Nicht um irgendwelche fremden Menschen.

Es geht um uns vier: Judith, Philipp, Anouk und mich.

Elmar ist unter dem Volvo hervorgerollt und sieht mich stirnrunzelnd an.

Jetzt oder nie.

Ich hole tief Luft und fange an.

Judith

»Judith, deine Freunde sind da, um dich abzuholen!«, ruft meine Mutter vom Erdgeschoss herauf.

Sie sind pünktlich. Sogar fünf Minuten zu früh. Die meisten Menschen achten nicht auf solche Details, aber mir sind sie sehr wichtig. Es ist wichtig, sich auf andere verlassen zu können. Und auf Phil kann ich mich zu hundert Prozent verlassen.

»Jaaa, komme schon!« Ich spucke den letzten Rest Zahnpastaschaum aus, spüle nach und werfe einen Blick in den Spiegel: lange Beine, lange Nase, die mein Vater als stolze Adlernase bezeichnet.

»Ein Zinken«, murmle ich resigniert. »Ein Hexenzinken. Was soll’s.« Ich lächle meinem Spiegelbild flüchtig zu, dann poltere ich die Treppe hinunter.

Meine Mutter steht unten am Treppenaufgang: »Kannst du nicht wie andere Menschen in normalem Tempo laufen?«, fragt sie kopfschüttelnd. »Immer musst du rennen! Du wirst noch zu deiner eigenen Beerdigung gerannt kommen!«

Eine andere Mutter hätte ihre Tochter vielleicht zum Abschied gedrückt, wenn sie ein paar Tage wegfährt. Aber zwischen uns ist das nicht so.

»Tschüss, bis übermorgen«, sage ich, aber ich spreche ins Leere. Meine Mutter hat sich schon abgewandt. In mir zieht sich etwas zusammen.

Da sehe ich zum Glück Phil, der draußen an der Gartenpforte steht und mir zuwinkt. Und in mir wird alles weit und leicht. Wie beim Laufen, wenn ich im richtigen Rhythmus bin. Nein, das ist besser als Laufen.

Ich winke zurück. Dann schnappe ich mir die Isomatte und den Rucksack und stürme zur Haustür hinaus.

»Hey, Hexe«, sagt Phil, als ich bei ihm ankomme, und lächelt.

Ich tue so, als sei ich beleidigt, dass er mich so nennt. Dabei mag ich das eigentlich. Weil es an unsere gemeinsame Geschichte erinnert.

»Hey, Phil«, antworte ich. Gemeinsam laufen wir zu dem alten weißen Mercedes hinüber, der am Straßenrand wartet. Anouk, Phils Freundin, sitzt am Steuer.

Phil öffnet den Kofferraum des Wagens. »Cool, dass du zwei Tage Festival mit uns noch auf deiner aktuellen To-do-Liste unterbringen konntest«, meint er und grinst sein typisches Philipp-Grinsen, bei dem nur ein Mundwinkel spöttisch hochgezogen ist. Ständig macht er sich über meine Listen lustig.

»Die helfen mir den Überblick zu behalten. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen«, verteidige ich mich.

»Super, Hexe«, sagt er ironisch und verstaut meine Isomatte im Kofferraum.

Dabei war die Sache mit den Listen eigentlich sein Einfall. Wir waren damals vierzehn und hatten uns gegenseitig interviewt, was wir in zehn Jahren erreicht haben wollen. Wenn wir vierundzwanzig und erwachsen sind, werden wir uns gegenseitig zur Rechenschaft ziehen und überprüfen, ob wir für unsere Träume gekämpft und sie verwirklicht haben. Das ist der Plan.

Phils Liste, in meiner ordentlichen Mädchenschrift verfasst, harrt in meiner Nachttischschublade auf den Tag der Wahrheit. Keine Ahnung, wo er meine hat. Ich kann sie sowieso auswendig:

Was Hexe in 10Jahren erreicht haben will

1.) Die Deutschen Jugendmeisterschaften im 100-Meter-Sprint gewinnen.

2.) Mit Phil in eine weit entfernte Stadt ziehen und dort in einer coolen WG wohnen.

3.) Zusammen mit Phil Journalistik studieren.

4.) Gegen Ungerechtigkeit und Unwahrheit kämpfen!

5.) Sich nicht mehr wegen ihrer Eltern schlecht fühlen.

»Statt über meine Listen zu lästern, solltest du froh sein, dass ich überhaupt mitkomme«, erwidere ich eingeschnappt und pfeffere meinen Rucksack in den Kofferraum. »Es sind nur noch ein paar Wochen bis zu den Qualifikationen für die Jugendmeisterschaften. Eigentlich müsste ich trainieren, anstatt mit euch auf dieses komische Festival zu fahren!«

»Ich bin froh, dass du mitkommst«, sagt Phil plötzlich ganz sanft. »Aber wenn du jetzt nicht endlich einsteigst, kannst du zum Festival joggen. Das wäre bestimmt ein prima Training!«

Ziggy

Z: »Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommt, wäre ich zu Hause geblieben. Ich hätte mir die Bettdecke über den Kopf gezogen und mit angehaltenem Atem gewartet…« E: »Gewartet? Worauf?« Z: »Darauf, dass dieser Kipppunkt in meinem Leben verstreicht. Nichts, nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, auf dieses Festival zu fahren. Aber damals wusste ich noch nicht, wie die Normalität von einer Sekunde auf die andere zu etwas Ungeheuerlichem werden kann.«

Ich erinnere mich noch, wie nervös ich an diesem Tag war. Schließlich sollte es der erste Auftritt der Sons of the Rastaman werden. Und es war etwas ganz anderes, auf Feten vor Freunden zu jammen, als vor unbekanntem Publikum!

Während ich das Treppenhaus hinunterlief, ging ich im Kopf alle Stücke durch, die wir an dem Abend spielen wollten. Draußen vor dem Wohnblock, bei den Fahrradständern, prallte ich plötzlich mit jemandem zusammen.

Es war Zebra.

Eigentlich hieß sie Yasmin. Aber alle nannten sie Zebra, weil sie immer dieses gestreifte Kopftuch trug.

Durch unseren Zusammenstoß war es ein wenig verrutscht. Mit einer kleinen, automatischen Handbewegung zog Yasmin das Kopftuch gerade, sodass es wieder ihren Haaransatz verdeckte. Ihre Finger zitterten.

Ich entschuldigte mich. »Alles in Ordnung?«, fragte ich zögernd. Wir saßen zwar in der Schule im selben Kunstkurs, aber sonst hatten wir nichts miteinander zu tun.

»Ja«, antwortete Yasmin mit dem Gesicht zur Wand. Aber ich hatte bereits gesehen, dass ihre Wimperntusche verlaufen war. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich mir wieder zu. Sie hatte wirklich geheult.

»Nein, eigentlich ist nicht alles in Ordnung«, sagte sie und deutete auf den Wohnblock nebenan, in dem ihre Familie lebte. »Ich habe mich gerade schrecklich mit meinem Bruder gezofft.«

Das wunderte mich etwas. Murad war auch auf unserer Schule, zwei Stufen unter uns. Bisher war der mir immer ganz friedfertig vorgekommen.

Doch dann kam heraus, dass sie sich nicht mit ihm gestritten hatte, sondern mit Kerim, ihrem älteren Bruder. »Kerim sagt… na ja, ist ja auch egal.« Yasmin verstummte. Offensichtlich wollte sie den Grund ihres Streits für sich behalten. Sie kramte in einer kleinen weißen Handtasche mit kurzen Henkeln und fischte die Stöpsel eines MP3-Players heraus.

»Musik hören hilft mir, mich abzuregen«, erklärte sie. »Ich drehe einfach die Lautstärke voll auf und schon… Willst du mal hören?« Yasmin hielt mir einen Ohrstöpsel hin.

»Klar«, sagte ich überrascht und steckte mir das Ding ins Ohr. Durch das Kabel des MP3-Players verbunden lauschten wir. Es war eine Art türkischer Pop. Der Gesang hörte sich fremd und melodisch an.

»Klingt irgendwie traurig. Wovon handelt das Lied?«, fragte ich.

»Unglückliche Liebe«, antwortete Yasmin und lächelte. »Ich liebe traurige Liebeslieder. Singst du auch?« Sie deutete auf meinen Gitarrenkoffer, den ich über der Schulter trug.

Warum wollten auf einmal alle, dass ich singe?! Die wahren Götter der Musikwelt sind die Männer mit den Gitarren, nicht die, die im Vordergrund rumblöken.

»Nö. Warum?«, brummte ich und gab ihr die Ohrstöpsel zurück.

»Nur so. Du hast eine angenehme Stimme. So tief.«

Okay, vielleicht war ich ein bisschen geschmeichelt. Ich erzählte ihr von unserem Auftritt. Sie hatte sogar schon mal von den Sons of the Rastaman gehört und wusste, dass wir hauptsächlich Sachen von Bob Marley spielten.

»Reggae ist nicht so meine Richtung. Aber ich mag diesen Song…« Yasmin summte ihn mir vor. Sie traf die Töne gut, ich erkannte die Melodie sofort.

Es war Redemption Song.

»Ja, der ist wirklich schön. Aber den kann ich nicht spielen«, gab ich zu.

»Schade. Den würde ich gerne mal hören«, sagte Yasmin. »Na ja, ich muss dann mal los. Will noch nach Distelfelde.« Sie setzte einen Helm auf und schloss ihr altes rotes Moped los. »Mistding«, murmelte Yasmin. »Das Licht ist auch schon wieder kaputt.«

Sie stieg auf. »Ich wünsch dir viel Glück für euren Auftritt«, sagte sie und lächelte. Zwischen ihren Schneidezähnen war eine kleine Lücke, was ihrem Gesicht einen schelmischen Ausdruck verlieh. Mir war vorher nie aufgefallen, was für ein nettes Lächeln sie hatte.

»Mach’s gut, Yasmin«, sagte ich.

Sie trat den Kickstarter durch und knatterte davon.

Mit Elmars VW-Bus, den er in den Reggaefarben Grün, Gelb und Rot angesprüht hatte, brauchten wir ungefähr eine Stunde. Schon von Weitem sahen wir ein Patchwork aus bunten Zelten.

Das eigentliche Festival fand auf dem Gelände eines stillgelegten Kalkwerks statt. Der Geruch von Grillfleisch, Schweiß, Hasch und Dixi-Klos hing in der Luft. Aus einer alten, graffitibesprayten Lagerhalle dröhnte Musik. Die Dezibel vibrierten in meinen Ohren und machten mich ganz kribbelig. Da drin war die Hauptbühne!

Leider durften wir dort nicht auftreten. Für uns und andere noch unbekannte Bands war die Nebenbühne draußen vorgesehen. Eigentlich war es mehr ein Podest als eine richtige Bühne.

Die Sonne sengte vom Himmel, während wir als Erstes Elmars Bongo zur Bühne schleppten. Auf den ausgedörrten Rasenflächen lagerten Gruppen von Menschen. Elmar warf ihnen nervöse Blicke zu.

»Shit, ist mir heiß«, brummte er. »Das ist bestimmt das Lampenfieber! Ich brauch dringend was zu trinken. Willst du auch’n Bier?«

Ich nickte und ließ mich neben der Bongo im Schatten unserer Bühne nieder. Elmar machte sich vom Acker.

Zehn Minuten vergingen.

Dann fünfzehn, zwanzig. Ich wartete immer noch. Wo steckte dieser Komiker?! Gut, unser Auftritt war erst um neunzehn Uhr, aber schließlich mussten wir vorher noch Soundcheck machen.

Golden flimmerte der aufgewirbelte Kalkstaub über den ausgetretenen Wegen. Eine Menge Leute liefen an mir vorbei. Aber kein Elmar.

Nach einer halben Stunde begriff ich, dass gerade etwas gewaltig schieflief. Es war siebzehn Uhr zweiundvierzig, als ich schließlich aufstand, um ihn suchen zu gehen.

Judith

»Was kommt als Nächstes?«, fragt Anouk.

»Irgendwelches Reggaezeug.« Phil verzieht das Gesicht. »Sons of the Rastaman, nie von denen gehört.«

Wir stehen zu dritt vor der Nebenbühne und warten zusammen mit einer Menge anderer Leute darauf, dass es endlich weitergeht. Ein Schweißtropfen rinnt zwischen meinen Schulterblättern herab. Obwohl es schon Abend wird, ist die Luft noch immer schwül und zähflüssig wie Sirup. Bestimmt gibt es heute noch ein Gewitter.

»Wann kommt diese blöde Band endlich?«, schimpfe ich.

Doch die Band lässt sich Zeit. Oben auf der Bühne hockt nur ein Betrunkener mit einem roten Ziegenbärtchen. Er hat eine Bongo zwischen den Knien und trommelt zur Retortenmusik, die aus den Lautsprechern schallt. Ein paar Leute tanzen.

Anouk wippt auf den Zehenspitzen und schaut immer wieder zu uns rüber. »Habt ihr Lust zu tanzen?«, fragt sie nach einer Weile.

»Phil tanzt nie«, antworte ich und stupse ihn an. »Diese Art von körperlicher Ertüchtigung ist unter seiner Würde. Stimmt’s, Phil?«

»Das ist einfach nicht mein Ding«, erklärt Philipp und verschränkt die Arme. »Ich mag es nicht, wenn die Leute mich so anstarren.«

»Oh, okay«, sagt Anouk und hört auf zu wippen. Warum hatte Phil die nicht zu Hause gelassen?

Dinge, die mich an Anouk nerven

1.) Ihre Art zu sprechen, sodass alle ihre Sätze wie Fragesätze klingen.

2.) Ihr Stil: dieses Kleid, das an eine Sommerwiese erinnert. Diese Flut dunkelbrauner Locken, die ihr über den Rücken wallt. Zugegeben, sie ist hübsch– aber BITTE – muss sie wie ein romantisches Kleinmädchenklischee rumlaufen?!

3.) Wie sie sich jetzt wieder an Phil lehnt, als wäre sie kurz davor, mit ihm zusammenzuwachsen.

4.) Dass sie nächstes Jahr sogar in der Redaktion unserer Schülerzeitung mitmachen will, nur um ihrem Schatzi zu gefallen.

5.) Dass dieses Püppchen echt null eigenständige Persönlichkeit hat.

»Wenn du Lust hast zu tanzen, geh doch einfach«, sage ich zu Anouk und es klingt aggressiver, als ich beabsichtigt habe.

Sie wirft Phil aus dunklen Bambiaugen einen fragenden Blick zu. Als er zustimmend nickt, gibt sie ihm einen Kuss. »Okay, ich bin gleich wieder da.« Dann drängt sie sich durch die Menge vor zur Bühne.

Ich mache eine spöttische Bemerkung über den Trommler mit dem Ziegenbärtchen, aber Phil hört mir gar nicht zu. Er hat nur Augen für seine Freundin. Anouk, immer nur Anouk… Die Eifersucht sticht, als hätte ich eine giftgrüne Kastanie in der Brust.

Wie lange kennt Phil diese Anouk denn schon? Gerade mal läppische drei Monate! Wir beide sind schon seit sieben Jahren befreundet. Seit dem Tag, an dem ein paar Jungs Philipp auf dem Pausenhof verspottet hatten: »W-w-was hast du gesagt, du Spasti? Sag’s noch mal, Stotter-Philipp!«

Und er stotterte sich unbeirrt durch seine Sätze, mit einer seltsam erwachsenen Würde. Ich war beeindruckt. Doch die anderen standen im Kreis um ihn herum und lachten. Drei gegen einen, das war vielleicht unfair! Wut stieg in mir auf, eine heiße Woge, die mich mitten in den Kreis der Spötter spülte.

»Bei ihm funktioniert vielleicht seine Zunge nicht richtig«, stieß ich hervor, »aber bei euch ist es gleich das ganze Hirn!«

Murrend schoben sich die Jungen näher an uns heran. Ich ballte die Fäuste, bereit zum Kampf. Aber sie zögerten.

»Du Hexe!«, zischte einer, und in diesen zwei Worten lagen so viel Wut und Hass und Angst, dass ich zusammenzuckte.

Dann rannten sie weg.

Phil blieb stehen und sah mich mit wachem, grauem Blick an. »Bist du wirklich eine Hexe?«, fragte er.

»Nein«, murmelte ich. Vielleicht würde er auch vor mir davonrennen.

»Ich glaube, du bist eine«, sagte er gelassen. »Weil Hexen was Besonderes sind.« Philipp hatte mir die Hand gegeben, und seitdem waren wir Freunde. Die besten Freunde. Alles war in Ordnung, bis diese Anouk aufgetaucht ist.

Plötzlich schien ich nur noch eine Nebenrolle in Phils Leben zu spielen.

»Sorry, was hast du gesagt, Judith?« Phil hat anscheinend gemerkt, dass ich auch noch da bin. Ich murmle, dass mich die Frisur des Trommlers an diese Hunde erinnert, bei denen man nicht weiß, wo hinten und vorne ist.

Phil lacht. »Ein Hund hätte sicher mehr Talent.«

»Manchmal bist du ganz schön arrogant«, entgegne ich, muss aber grinsen.

»Niveau wirkt nur von unten aus gesehen arrogant«, gibt Phil selbstgefällig zurück. »Und Mister Bongo da vorne ist ziemlich weit unten.«

Da muss ich ihm Recht geben. Das Getrommel klingt inzwischen wie ein aus dem Takt geratener Herzschlag. Ein paar Leute buhen schon und fordern lauthals die angekündigte Band. Doch Mister Bongo scheint das alles nicht zu stören. Während seine Hände einen schnellen, immer unregelmäßiger werdenden Rhythmus schlagen, ist sein Blick starr auf jemanden in der Menge gerichtet.

Es ist Anouk, die er beobachtet.

Ihr Körper biegt sich, von den Trommelschlägen getragen, herumgewirbelt, sie wiegt die Hüften.

Wie ein balzendes Rebhuhn, denke ich.

Zum x-ten Mal frage ich mich, was Phil und Anouk eigentlich aneinander finden. Ob er mit ihr auch über Bücher diskutiert? Wahrscheinlich hält die Oscar Wilde für ein neues Mode-Label.

Na ja, vermutlich hat Anouk andere Qualitäten…

Als hätte sie meinen Gedanken gespürt, schaut Anouk in unsere Richtung und wirft uns ein glühendes, atemloses Lächeln zu.

Ich spüre, wie ich rot werde.

Am meisten, am allermeisten an Anouk nervt mich, dass ich mich von ihr so aus der Fassung bringen lasse. Wie albern. Ich schnaube.

Philipp sieht mich irritiert an.

Zum tausendsten Mal nehme ich mir vor, mir im Umgang mit Anouk mehr Mühe zu geben. Ein wenig. Ein winziges bisschen.

Schließlich ist sie die Freundin meines besten Freundes.

Auch wenn sie wie ein balzendes Rebhuhn tanzt.

Ziggy

Z: »Kennst du diese Träume, in denen man rumläuft und verzweifelt irgendwas sucht, doch man kann es ums Verrecken nicht finden?« E: »Ich träume nicht so oft.«Z: »Ich schon. Leider.«E: »Aber ich verlege oft meinen Lieblingsschraubenschlüssel. Dann kann ich nicht weiterarbeiten, bis ich ihn wiedergefunden habe. Macht mich völlig kirre, Mohn.«Z: »Na, dann weißt du ja, was das für ein Gefühl war, dich auf dem Festival zu suchen.«

Kopflos rannte ich über das Gelände und hielt Ausschau nach Elmars langen roten Dreads. Fehlanzeige!

Inzwischen war es schon kurz nach sieben. Die ganze Zeit musste ich daran denken, dass wir gerade unseren ersten richtigen Auftritt verbockten– ohne überhaupt einen einzigen Song gespielt zu haben!