Zeit der Rivalen - Jeffrey Archer - E-Book
SONDERANGEBOT

Zeit der Rivalen E-Book

Jeffrey Archer

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie kämpfen um Liebe und Macht – aber nur einer wird triumphieren

In den sechziger Jahren treten in Großbritannien vier junge Politiker auf die Bühne. Sie stammen aus unterschiedlichen Schichten und haben verschiedene Gründe, warum sie in die Politik streben. Ihr Ziel aber ist das gleiche: Macht. Um sie zu erreichen, ziehen sie von Beginn an alle Register des politischen Ränkespiels.

Dieser Roman erschien auf Deutsch bereits im Zsolnay Verlag unter dem Titel Rivalen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 601

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

In den Sechzigerjahren treten in Großbritannien vier junge Politiker auf die Bühne. Sie stammen aus unterschiedlichen Schichten und haben verschiedene Gründe, warum sie in die Politik streben. Ihr Ziel aber ist das gleiche: Macht. Um sie zu erreichen, ziehen sie von Beginn an alle Register des politischen Ränkespiels.

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politiker-Karriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, »Kain und Abel« war sein Durchbruch. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Seine historischen Reihen »Die Clifton-Saga« und »Die Warwick-Saga« begeistern eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREY ARCHER

Zeit derRIVALEN

ROMAN

Aus dem Englischen

von Ilse Winger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe FIRST AMONG EQUALS erschien 1984.

Diese Ausgabe beruht auf der Neuausgabe von 2013 bei Pan Books, an Imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited.

Auf Deutsch erschien der Roman bereits unter dem Titel RIVALEN im Zsolnay Verlag.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Vollständig überarbeitete Neuausgabe 07/2021

Copyright © 1984, 2013 by Jeffrey Archer

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von iStockphoto (Wavebreakmedia)

und Shutterstock.com (TTstudio.Francesco Scatena)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21797-6V001

www.heyne.de

Für Alan und Eddie

PROLOG

Mittwoch, 10. April 1931

Wäre Charles Gurney Seymour neun Minuten früher geboren worden, hätte er den Titel eines Earl geerbt, ein Schloss in Schottland, zehntausend Hektar Land in Somerset und eine gut gehende Bank in der Londoner City.

Es dauerte einige Jahre, bevor der junge Charles begriff, was es bedeutete, das erste Rennen seines Lebens verloren zu haben. Sein Zwillingsbruder Rupert hatte es mit Mühe geschafft, als Erster das Licht der Welt zu erblicken, und in den folgenden Jahren bekam er nicht nur die üblichen Kinderkrankheiten, sondern es gelang ihm auch, sich Scharlach, Diphtherie und Meningitis zuzuziehen, sodass seine Mutter, Lady Seymour, ständig um sein Leben zitterte. Charles dagegen war zäh und hatte so viel Seymour-Ehrgeiz geerbt, dass es für ihn und seinen Bruder gereicht hätte. Nach ein paar Jahren nahmen alle, die die beiden Brüder kennenlernten, fälschlicherweise an, Charles wäre der Erbe des Titels.

Verzweifelt suchte der Vater nach irgendeiner besonderen Begabung seines Sohnes Rupert. Vergebens. Mit acht Jahren wurden die beiden Jungen nach Summerfield geschickt, wo bereits Generationen von Seymours auf die Anforderungen von Eton vorbereitet worden waren. Charles wurde während des ersten Monats an der Vorbereitungsschule zum Klassenvertreter gewählt, und mit zwölf Jahren war er Schulsprecher, während man Rupert nur den »kleinen« Seymour nannte. Anschließend kamen beide Jungen nach Eton, wo Charles seinen Bruder sehr bald in sämtlichen Schulfächern übertraf, schneller ruderte und ihn im Boxring fast umbrachte.

Als ihr Großvater, der dreizehnte Earl of Bridgewater, 1947 schließlich starb, wurde der sechzehnjährige Rupert zum Viscount Seymour, und Charles erbte die bedeutungslosen Buchstaben »Hon«, die er vor seinen Namen setzen durfte.

Der Honourable Charles Seymour ärgerte sich jedes Mal, wenn Fremde seinen Bruder ehrfürchtig mit »Mylord« ansprachen. Seine Leistungen in Eton blieben hervorragend, und er bekam einen Studienplatz für Geschichte in Christ Church in Oxford. Rupert absolvierte all diese Jahre, ohne seine Lehrer und Prüfer sonderlich zu überfordern. Mit achtzehn kehrte der junge Viscount auf den Familiensitz in Somerset zurück, um den Rest seines Lebens als Gutsbesitzer zu verbringen. Wer dazu bestimmt ist, elftausend Hektar Land zu erben, kann kaum als Bauer bezeichnet werden.

Von Ruperts Gegenwart befreit, setzte Charles seine Studien in Oxford fort, als seien sie bloß ein Spiel. Die Wochentage verbrachte er damit, die Geschichte seiner Familie zu studieren, und die Weekends auf Partys und Treibjagden. Da niemand je auf die Idee kam, Rupert könnte Interesse für die Finanzwelt zeigen, nahm man allgemein an, dass Charles nach seinem Studienabschluss die Nachfolge seines Vaters in der Seymour-Bank antreten werde – zunächst als Direktor, später als Präsident, obwohl letztlich Rupert die Familienanteile an der Bank erben würde.

Dieser wohlüberlegte Plan scheiterte jedoch, als der Hon. Charles Seymour eines Abends von einer anziehenden Studentin aus Somerville zur Oxford Union geschleppt wurde. Sie verlangte von ihm, sich den Vortrag »Ich bin lieber ein einfacher Bürger als ein Lord« anzuhören. Dem Präsidenten des Debattierklubs war es gelungen, dafür Premierminister Sir Winston Churchill zu gewinnen. Charles saß hinten in dem großen Saal inmitten von Studenten, die von Churchills Vortrag fasziniert waren. Während der witzigen und beeindruckenden Rede ließ Charles den großen Staatsmann nicht aus den Augen, obwohl ihm immer wieder derselbe Gedanke kam: Nur die Zufälligkeit der Geburt hatte es verhindert, dass Churchill nicht der neunte Duke of Marlborough geworden war. Hier stand ein Mann vor ihm, der drei Jahrzehnte lang die Weltbühne beherrscht und sämtliche erblichen Titel, die eine dankbare Nation ihm anbot, abgelehnt hatte, einschließlich desjenigen eines Duke of London.

Von diesem Moment an verbat sich Charles, dass man ihn »The Honourable« nannte; sein Ehrgeiz ging nun über bloße Titel hinaus.

Ein anderer Student, der an diesem Abend Churchill zuhörte, dachte ebenfalls über seine Zukunft nach. Er saß aber nicht eingezwängt zwischen seinen Kommilitonen im Hintergrund des Saales. Der hochgewachsene junge Mann im Frack thronte allein auf einer erhöhten Plattform in einem breiten Sessel, denn darauf hatte er als Präsident der Oxford Union Anspruch. Bei seiner Wahl war sein gutes Aussehen jedoch nicht ausschlaggebend gewesen, denn 1952 durften Frauen in der Union noch nicht wählen.

Obwohl Simon Kerslake ein Erstgeborener war, verfügte er über so gut wie keines von Charles Seymours Privilegien. Er war der einzige Sohn eines Anwalts und wusste, welche Opfer sein Vater gebracht hatte, um ihn in eine Privatschule zu schicken. Sein Vater starb, während Simon das letzte Jahr am Lancing College absolvierte; er hinterließ seiner Frau eine bescheidene Rente und eine prächtige MacKinley-Standuhr. Eine Woche nach dem Begräbnis verkaufte Simons Mutter die Uhr, damit ihr Sohn das letzte Jahr mit all den »Extras« beenden konnte, die andere Jungs für selbstverständlich hielten. Außerdem hoffte sie, ihrem Sohn damit bessere Chancen für eine Aufnahme an die Universität zu verschaffen.

Schon als kleiner Knirps hatte Simon nur einen Wunsch gehabt: besser zu sein als seine Konkurrenten. Ein »Macher«. Viele seiner Altersgenossen fanden ihn jedoch streberhaft oder arrogant, je nachdem, wie eifersüchtig sie waren. Während des letzten Semesters wurde Simon nicht mehr Schulsprecher, und er konnte dem Direktor dessen mangelnde Weitsicht nicht verzeihen. Im selben Jahr, nachdem er die Prüfung abgelegt hatte, erhielt er ein Schreiben aus Oxford, dass man ihm leider keinen Studienplatz anbieten könne – für Simon nicht hinnehmbar.

Mit derselben Post traf das Angebot eines Stipendiums der Durham University ein, das er umgehend ablehnte. »Künftige Premierminister studieren nicht in Durham«, teilte er seiner Mutter mit.

»Wie wäre es mit Cambridge?«, fragte sie und trocknete weiter das Geschirr ab.

»Keine politische Tradition«, erwiderte Simon.

»Aber wenn du keine Aussicht auf einen Platz in Oxford hast, was dann?«

»Das habe ich nicht gesagt, Mutter«, erwiderte der junge Mann. »Am ersten Tag des Semesters werde ich Student in Oxford sein.«

Da sie seit achtzehn Jahren an scheinbar unerreichbare Ziele gewöhnt war, verkniff sie sich die Frage: »Wie willst du das denn schaffen?«

Zwei Wochen vor Semesterbeginn mietete Simon ein Zimmer in einer kleinen Pension in Oxford. An dem kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers, das er lange Zeit zu bewohnen vorhatte, stellte er eine Liste sämtlicher Colleges zusammen und verteilte sie auf fünf Spalten. Drei der Colleges wollte er vormittags, drei nachmittags besuchen, so lange, bis ein zuständiger Tutor positiv antworten würde auf seine Frage: »Haben Sie für dieses Studienjahr einen Studenten aufgenommen, der nicht antreten kann?«

Am vierten Nachmittag, als ihm bereits leise Zweifel kamen und er überlegte, ob er in der folgenden Woche nicht doch nach Cambridge fahren sollte, erhielt er den ersten positiven Bescheid.

Der für die Aufnahme zuständige Tutor des Worcester College nahm die Brille von der Nasenspitze und sah den hochgewachsenen jungen Mann mit dem dunklen Haarschopf scharf an. Alan Brown war der zweiundzwanzigste Tutor, den Simon in vier Tagen aufgesucht hatte.

»Ja«, erwiderte Brown, »ein junger Mann aus Nottingham, den wir aufnahmen, kam letzten Monat bei einem Motorradunfall ums Leben.«

»Welches Fach, welche Studienrichtung hatte er?« Simons Stimme klang ungewöhnlich unsicher. Er betete, dass es nicht Chemie, Anthropologie oder Klassische Philologie wäre. Alan Brown ging eine Rollkartei durch, das kleine Kreuzverhör offensichtlich genießend. Er blickte prüfend auf die vor ihm liegende Karteikarte.

»Geschichte«, verkündete er.

Simons Herzschlag schnellte auf hundertzwanzig. »Ich wollte am Magdalen College Politik, Philosophie und Wirtschaftslehre studieren, wurde jedoch nicht angenommen«, sagte er. »Würden Sie mich für den frei gewordenen Platz in Betracht ziehen?«

Der Ältere konnte ein Lächeln nicht verbergen. Eine derartige Bitte war ihm in seiner vierundzwanzigjährigen Laufbahn noch nicht untergekommen.

»Familien- und Vorname?«, fragte er und setzte die Brille wieder auf, als beginne jetzt der ernste Teil des Gesprächs.

»Simon John Kerslake.«

Dr. Brown nahm den Telefonhörer und wählte eine Nummer. »Nigel? Hier ist Alan Brown. Habt Ihr erwogen, einem Mann namens Kerslake einen Platz in Magdalen anzubieten?«

Mrs. Kerslake war nicht überrascht, als ihr Sohn Präsident der Oxford Union wurde. War das nicht, hänselte sie ihn, nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Premierminister? Gladstone, Asquith … Kerslake?

Ray Gould war in einem winzigen fensterlosen Zimmer über dem väterlichen Fleischerladen in Leeds zur Welt gekommen. Dieses Zimmer teilte er die ersten neun Jahre seines Lebens mit seiner kranken Großmutter, die schließlich mit einundsechzig Jahren starb.

Die Nähe zu der alten Frau, die ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren hatte, erschien dem Jungen anfangs romantisch. Begeistert lauschte er ihren Erzählungen von dem heldenhaften Mann in seiner schönen Uniform, die jetzt sorgsam gefaltet in der untersten Lade der Kommode lag, aber auf der verblassten Fotografie neben ihrem Bett noch zu sehen war. Doch bald stimmten ihn die Geschichten traurig; er wurde sich bewusst, dass die Großmutter seit fast dreißig Jahren verwitwet war. Als ihm klar wurde, wie wenig sie von der Welt gesehen hatte – nichts als diese enge Stube, die ihren ganzen Besitz und ein gelbes Kuvert mit fünfhundert ungültigen Kriegsanleihescheinen enthielt –, wurde sie für ihn zu einer tragischen Figur.

Dass Rays Großmutter ein Testament machte, war eher sinnlos, denn alles, was er erbte, befand sich in diesem einen Raum. Über Nacht wurde es zu seinem Lernzimmer, vollgestopft mit Bibliotheks- und Schulbüchern. Erstere gab er meistens zu spät zurück, und die Geldstrafen dezimierten sein geringes Taschengeld. Seinem Vater aber wurde mit jedem neuen Schulzeugnis klarer, dass er das Schild über dem Fleischerladen nicht auf »Gould und Sohn« würde erweitern können.

Kurz nach seinem elften Geburtstag gewann Ray das höchstdotierte Stipendium für die Roundhay Grammar School. Mit der ersten langen Hose, die seine Mutter um einige Zentimeter kürzte, und einer Hornbrille, die nicht richtig passte, machte er sich auf den Weg in die neue Schule.

Hoffentlich gibt es noch andere, die so mager und voller Pickel sind wie mein Sohn, dachte die Mutter, hoffentlich wird man ihn nicht wegen seiner roten Haare hänseln. Nach dem ersten Semester stellte Ray erstaunt fest, dass er seinen Klassenkameraden weit voraus war, so weit, dass der Direktor beschloss, ihn in eine höhere Klasse zu stecken – »um den Jungen ein wenig zu fordern«, wie er Rays Eltern erklärte.

Am Ende des Jahres, das er hauptsächlich im Klassenzimmer verbracht hatte, war Ray der Drittbeste seiner Klasse und der Beste in Englisch und Latein. Nur im Mannschaftssport war er stets der Schlechteste. So brillant sein Kopf sein mochte, hielt sein Körper mit ihm nicht Schritt. Seine größte schulische Leistung in diesem Jahr aber war der erste Preis im Aufsatzwettbewerb, womit er zum jüngsten Sieger in der Geschichte der Schule wurde. Bei der Jahresabschlussfeier musste der Gewinner des Wettbewerbs seinen Aufsatz vor den versammelten Schülern und Lehrern vorlesen. Noch bevor Ray seinen Aufsatz eingereicht hatte, hatte er allein in seinem Arbeitszimmer das Vorlesen geübt, um gut vorbereitet zu sein, wenn man den Sieger bekannt gab.

Rays Klassenlehrer hatte den Schülern die Themenwahl überlassen, mit der Einschränkung, dass es sich um eine einzigartige persönliche Erfahrung handeln musste. Sechs Wochen später, am Tag des Abgabetermins, lagen siebenunddreißig Aufsätze auf seinem Schreibtisch. Er las Rays Schilderung des Lebens seiner Großmutter in dem kleinen Zimmer über dem Fleischerladen und verspürte keine Lust mehr, noch irgendeinen anderen Aufsatz zur Hand zu nehmen. Als er sich pflichtbewusst durch die anderen Hefte durchgekämpft hatte, empfahl er ohne Zögern Ray Gould für den Preis. Nur der Titel gefiele ihm nicht so recht, sagte er seinem Schüler. Ray dankte für den Rat, ließ den Titel jedoch unverändert.

Am Tag der Abschlussfeier versammelten sich siebenhundert Schüler und ihre Eltern im Festsaal. Nachdem der Direktor eine Rede gehalten hatte und der Applaus verklungen war, erklärte er: »Ich werde jetzt den Sieger im Aufsatzwettbewerb bitten, seine Arbeit vorzulesen: Ray Gould.«

Ray verließ seinen Platz und marschierte selbstbewusst zum Podium. Er blickte auf die zweitausend erwartungsvollen Gesichter hinab, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Ängstlichkeit – zum Teil vermutlich, weil er nur bis zur dritten Reihe sehen konnte. Als er den Titel seiner Arbeit nannte, begannen einige der jüngeren Schüler zu kichern, sodass Ray die ersten Zeilen ein wenig stockend vorlas. Doch als er zur letzten Seite kam, war der überfüllte Saal ganz still, und als er den letzten Absatz beendet hatte, erhielt er die erste stehende Ovation seiner Karriere.

Der zwölfjährige Ray Gould verließ das Podium und setzte sich zu seinen Eltern. Die Mutter hatte den Kopf gesenkt, Tränen liefen ihr über die Wangen. Sein Vater versuchte vergeblich, nicht zu stolz auszusehen. Auch als Ray sich gesetzt hatte, hörte der Beifall nicht auf, also senkte auch er den Kopf und starrte auf den Titel seines preisgekrönten Aufsatzes: »Das Erste, was ich ändern werde, wenn ich Premierminister bin.«

Andrew Fraser wohnte seiner ersten politischen Versammlung in der Wiege bei. Das heißt, eigentlich ließ man ihn auf dem Korridor, während seine Eltern wieder einmal in einem zugigen Saal auf dem Podium saßen. Was Beifall hieß, lernte er rasch: Er bedeutete, dass seine Mutter bald wiederkommen würde. Was Andrew nicht wusste, war, dass sein Vater – er hatte sich als Schottlands größtes Rugbyass seit dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht – wieder einmal vor den Bürgern von Edinburgh Carlton eine Rede gehalten hatte, um einen eher unwichtigen Sitz im Stadtrat zu erringen. Viele hielten Duncan Fraser damals nur für einen Rugbyhelden, und deshalb fehlten ihm auch ein paar Hundert Stimmen, um den Sitz für die Konservativen zu gewinnen. Drei Jahre später durfte Andrew, ein stämmiger, vierjähriger Junge, schon hinten in einem der halb leeren Säle sitzen, wenn er zusammen mit seiner Mutter durch die Stadt zog, um ihren Kandidaten zu unterstützen. Jetzt waren Duncans Reden schon fast so beeindruckend wie sein langer Pass, und er gewann den Sitz im Stadtrat mit einer Mehrheit von zweihundertsieben Stimmen.

Harte Arbeit und immer wieder neue Errungenschaften für seine Wähler sicherten Stadtrat Fraser den Sitz die nächsten zehn Jahre. Mit dreizehn verstand Andrew, ein untersetzter Junge mit glattem schwarzem Haar und einem Grinsen, das nur selten verschwand, genügend von Kommunalpolitik, um seinen Vater bei der Vorbereitung seines fünften Wahlkampfs zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete keine Partei mehr Edinburgh Carlton als einen unwichtigen Sitz.

An der Edinburgh Academy war keiner seiner Kommilitonen überrascht, als man Andrew zum Leiter des Debattierklubs wählte. Man war jedoch beeindruckt, als der Klub unter seiner Führung den Preis der schottischen Schulen gewann. Obwohl Andrew nie größer wurde als einen Meter sechzig, akzeptierte man ihn als besten Rugbyspieler, den die Akademie hervorgebracht hatte, seit sein Vater 1919 Kapitän des Schulteams gewesen war.

Nach Absolvierung der Akademie schrieb sich Andrew an der Edinburgh University für Politikwissenschaft ein, und nach drei Jahren war er Präsident der Union und Kapitän der Rugbymannschaft.

Als Duncan Fraser Bürgermeister von Edinburgh wurde, stattete er London einen seiner seltenen Besuche ab, um von der Königin die Ritterwürde zu empfangen. Andrew hatte gerade die Schlussexamen beendet und begleitete seine Mutter, um der Zeremonie im Buckingham Palace beizuwohnen. Danach fuhr Sir Duncan zum Parlament, um einen seiner Wähler, Ainsley Munro, zu treffen. Dieser teilte ihm beim Lunch mit, er werde sich zum letzten Mal um den Edinburgh-Carlton-Sitz bewerben und man müsse sich nach einem neuen Kandidaten umsehen. Bei dem Gedanken, sein Sohn könne Munro als Parlamentsmitglied folgen, leuchteten Sir Duncans Augen auf.

Andrew schloss seine Studien mit Auszeichnung ab und blieb an der Universität, um eine Doktorarbeit mit dem Titel »Die Geschichte der konservativen Partei in Schottland« zu schreiben. Er wartete, bis sein Vater die vorgeschriebenen drei Jahre als Oberbürgermeister hinter sich gebracht hatte, bevor er ihm das wichtigste Ergebnis seiner Dissertation mitteilte. Als Ainsley Munro jedoch offiziell bekannt gab, dass er sich an der nächsten Wahl nicht mehr beteiligen werde, wusste Andrew, dass er mit offenen Karten spielen musste, um für den Sitz in Betracht zu kommen.

»Wie der Vater so der Sohn« lautete die Überschrift eines Leitartikels in den Edinburgh Evening News, in dem man Andrew Fraser für den gegebenen Kandidaten erachtete. Besorgt, man könnte Andrew für zu jung halten, erinnerte Sir Duncan die Bürger an die acht Schotten, die es zum Premierminister gebracht hatten, von denen jeder unter dreißig gewesen war, als er ins Parlament kam. Sir Duncan schlug seinem Sohn einen gemeinsamen Lunch im New Club vor, um die Wahlstrategie zu besprechen.

»Stell dir nur vor, Vater und Sohn werden dieselbe Wählerschaft vertreten. Ein großer Tag für die konservative Partei von Edinburgh!«

»Und erst für die Labour Party«, erwiderte Andrew und sah seinem Vater in die Augen.

»Ich glaube, ich weiß nicht, was du meinst«, sagte der Oberbürgermeister.

»Es ist ganz einfach, Vater. Ich beabsichtige nicht, mich um den Sitz eines Konservativen zu bewerben. Ich hoffe, für die Labour Party zu kandidieren, sofern sie mich aufstellen.«

Ungläubig sah Sir Duncan ihn an. »Aber du warst doch dein Leben lang ein Konservativer«, rief er, und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.

»Nein, Vater«, erwiderte Andrew ruhig. »Du warst es, der mein Leben lang ein Konservativer war.«

ERSTES BUCH

1906 – 1923

Die Hinterbänkler

1

Donnerstag, 10. Dezember 1964

Der Speaker erhob sich und blickte auf das Unterhaus. Nervös zupfte er an seiner langen schwarzen Seidenrobe und an der Perücke, die seinen kahlen Kopf bedeckte. Während einer besonders stürmischen Fragestunde – die Fragen galten dem Premierminister – war das Unterhaus außer Rand und Band geraten; jetzt war der Speaker glücklich, dass die Uhr bereits halb vier zeigte. Zeit, den nächsten Punkt der Tagesordnung in Angriff zu nehmen.

Von einem Fuß auf den anderen tretend, wartete er, bis die etwa fünfhundert anwesenden Abgeordneten sich beruhigten, bevor er feierlich anhob: »Mitglieder, die den Eid abzulegen wünschen.« Wie bei einem Tennismatch wanderten die Blicke der Anwesenden vom Sprecher zum Ende des Saales. Dort stand der Sieger der ersten Nachwahlen nach der Machtübernahme durch die Labour-Partei vor zwei Monaten.

Flankiert von seinen beiden Befürwortern, trat das neue Parlamentsmitglied vier Schritte vor. Wie gut gedrillte Wachsoldaten blieben die drei Männer stehen und verbeugten sich. Der neue Parlamentarier maß gut und gern einen Meter neunzig. Mit seinem Patrizierkopf und der aristokratischen Haltung, das blonde Haar sorgfältig zurückgekämmt, sah er aus wie der geborene Tory. Er trug einen dunkelgrauen Zweireiher und die braun-blaue Krawatte der Guards. Langsam näherte er sich dem langen Tisch, der zwischen den zwei Vorderbänken – sie waren nicht mehr als eine Schwertlänge voneinander entfernt – vor dem Stuhl des Speakers stand. Seine Unterstützer im Schlepptau, ging er an der Regierungsseite entlang und stieg über die Beine des Premier- und des Außenministers, bevor ihm der Protokollführer die Eidesformel überreichte. Er hielt die kleine Karte in der Rechten und sprach die darauf stehenden Worte mit einem Nachdruck, als wären sie ein Ehegelübde.

»Ich, Charles Seymour, schwöre, dass ich Ihrer Majestät, Königin Elizabeth, ihren Erben und Nachfolgern treu und ergeben dienen werde, wie das Gesetz es befiehlt. So wahr mir Gott helfe.«

»Hört, hört«, kam es von seinen Kollegen auf den gegenüberliegenden Bänken, während der neue Abgeordnete seinen Namen in das Mitgliederverzeichnis eintrug, das der Protokollführer für ihn aufschlug. Dann trat der neue Abgeordnete vor den Stuhl des Speakers und verbeugte sich.

»Willkommen im Parlament, Mr. Seymour«, sagte der Speaker und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, Sie werden dem Parlament viele Jahre dienen.«

»Danke, Mr. Speaker«, erwiderte Charles und verbeugte sich ein letztes Mal, bevor er hinter den Stuhl des Speakers trat. Er hatte die kleine Zeremonie genauso ausgeführt, wie der ChiefWhip der Torys – der Chef der für die Abstimmungs- und Fraktionsdisziplin Zuständigen – sie auf dem Flur mit ihm geprobt hatte.

Hinter dem Stuhl des Speakers und damit außerhalb des Blickfelds der anderen Abgeordneten, wartete der Führer der Opposition, Sir Alec Douglas Home, auf ihn. Auch er schüttelte Charles herzlich die Hand.

»Gratuliere zu Ihrem glänzenden Sieg, Charles. Ich weiß, dass Sie unserer Partei und Ihrem Land viel zu bieten haben.«

»Danke«, erwiderte Charles, wartete, bis Sir Alec wieder seinen Platz auf der ersten Bank der Opposition eingenommen hatte, und nahm dann einen Seitengang, um sich einen Platz auf einer der hinteren grünen Bänke zu suchen.

Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Erregung verfolgte er zwei Stunden lang die Vorgänge im Saal. Zum ersten Mal im Leben hatte er etwas gefunden, worauf er kein geburtsmäßiges Anrecht besaß oder das ihm mühelos in den Schoß gefallen war. Er blickte zur Besuchergalerie hinauf und sah seine Frau Fiona, seinen Vater, den vierzehnten Earl of Bridgewater, und seinen Bruder, Viscount Seymour, stolz auf ihn hinabschauen. Charles hatte die erste Stufe zum Erfolg erklommen. Er lächelte, denn noch vor sechs Wochen hatte er befürchtet, es werde Jahre dauern, bis er auf einen Sitz im Unterhaus hoffen konnte.

Bei den Wahlen vor zwei Monaten hatte Charles in einem Bergwerksdistrikt in Südwales mit einer unerschütterlichen Labour-Mehrheit kandidiert. »Das ist gut für die Erfahrung und vor allem auch für die Seele«, hatte der Vizevorsitzende der konservativen Parteizentrale gemeint. Mit beidem hatte er recht gehabt, denn Charles genoss den Kampf und drückte die Labour-Mehrheit von 22.300 auf 20.100. Seine Frau hatte das Resultat treffend als »kleinen Tropfen« bezeichnet, doch es zeigte sich, dass dieser Tropfen genügte, um Charles für den Sussex-Down-Sitz zu nominieren. Sechs Wochen später saß Charles Seymour mit einer eigenen Mehrheit von 20.000 Stimmen im Unterhaus.

Er verließ den Sitzungssaal und stand, unschlüssig, womit er anfangen sollte, allein in der Members’ Lobby. Ein anderes junges Mitglied kam zielstrebig auf ihn zu. »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte der Fremde. »Mein Name ist Andrew Fraser. Ich bin der Labour-Abgeordnete für Edinburgh Carlton und hoffe, dass Sie noch keinen Partner gefunden haben.« Charles musste zugeben, dass er bis jetzt lediglich den Sitzungssaal gefunden hatte. Der Fraktionschef hatte ihm schon erklärt, dass die meisten Mitglieder sich für die Abstimmungen mit jemandem der anderen Partei zusammentaten, und es gut für ihn wäre, einen jungen Mann gleichen Alters zu finden. Bei Debatten über weniger wichtige Fragen herrschte nur »dringende Anwesenheitspflicht«, was heißt, dass Mitglieder, die ein Paar bildeten, der Abstimmung fernbleiben und vor Mitternacht nach Hause zu ihren Familien zurückkehren durften. Auf diese Weise wurde das Abstimmungsergebnis nicht verfälscht. Bei »unbedingter Anwesenheitspflicht« hingegen durfte kein Mitglied bei der Abstimmung fehlen.

»Mit größtem Vergnügen werde ich Ihr Partner sein. Muss ich irgendetwas Offizielles tun?«, fragte Charles.

»Nein«, antwortete Andrew, zu ihm aufschauend. »Ich schreibe Ihnen ein paar Zeilen, um die Vereinbarung zu bestätigen. Bitte seien Sie so freundlich, mir in Ihrer Antwort alle Telefonnummern bekannt zu geben, unter denen ich Sie erreiche. Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie einer Abstimmung fernbleiben wollen.«

»Klingt nach einem vernünftigen Arrangement«, meinte Charles, als eine rundliche Gestalt in einem hellgrauen dreiteiligen Anzug mit blauem Hemd und rosa gemusterter Fliege auf ihn zusteuerte.

»Willkommen im Klub, Charles«, sagte Alec Pimkin. »Willst du im Raucherraum einen Drink mit mir nehmen, und ich erkläre dir, wie dieser Saftladen läuft?«

»Danke«, sagte Charles erleichtert, jemanden zu sehen, den er kannte. Andrew grinste, als er Pimkin hinzufügen hörte: »Es ist genauso, als wäre man wieder in der Schule, alter Freund.« Die beiden Torys schlenderten zum Raucherraum. Andrew vermutete, dass es nicht lang dauern würde, bevor Charles seinem alten Schulfreund zeigte, wie es tatsächlich hier lief.

Auch Andrew verließ die Members’ Lobby, aber nicht auf der Suche nach einem Drink. Er musste zu einer Sitzung der Parlamentsfraktion der Labour Party, bei der die Aufgaben der folgenden Woche besprochen werden sollten.

Andrew war zum Labour-Kandidaten für Edinburgh Carlton gewählt worden; er hatte den Konservativen den Sitz mit einer Mehrheit von 3419 Stimmen weggeschnappt. Sir Duncan behielt, nachdem seine Zeit als Oberbürgermeister vorüber war, seinen Sitz im Stadtrat. Andrew – das Baby des Unterhauses – hatte sich in den sechs Wochen bereits einen Namen gemacht, und viele der älteren Mitglieder konnten kaum glauben, dass dies sein erstes Jahr im Parlament war.

Bei der Parteibesprechung im ersten Stock setzte sich Andrew auf einen der hinteren Plätze und hörte dem Chief Whip zu, der das Programm für die nächste Woche erläuterte. Wieder einmal schien es fast nur aus Sitzungen mit unbedingter Anwesenheitspflicht zu bestehen. Er warf einen Blick auf den vor ihm liegenden Block. Die für Dienstag, Mittwoch und Donnerstag angesetzten Debatten waren alle dreifach unterstrichen, nur Mittwoch und Freitag gab es eine, die er nach Absprache mit Charles Seymour würde versäumen können. Zwar war die Labour-Partei nach dreizehn Jahren wieder an die Macht gelangt, doch mit einer Mehrheit von nur vier Sitzen und bei einem ambitionierten Programm bestand für die Abgeordneten unter der Woche kaum eine Chance, vor Mitternacht nach Hause zu gehen.

Als sich der Chief Whip gesetzt hatte, sprang als Erster Tom Carson, der neue Abgeordnete von Liverpool Dockside, auf und ließ eine wütende Tirade gegen die Regierung vom Stapel, der er vorwarf, konservativer zu sein als die Konservativen. Geflüsterte Bemerkungen und Gehüstel zeigten, wie wenig Unterstützung seine Ansicht fand. Auch Tom Carson hatte sich dadurch, dass er vom Tag seiner Ankunft an die eigene Partei angriff, sehr rasch einen Namen gemacht.

»Enfant terrible«, murmelte Andrews Nachbar zur Rechten.

»Ich würde ihn nicht mit diesen Worten beschreiben«, entgegnete Andrew leise. »Man kann es auch kürzer sagen.« Der Mann mit den roten Locken lächelte, während Carson weiterschimpfte.

Wenn Raymond Gould sich während dieser ersten sechs Wochen einen Ruf erworben hatte, dann den eines der Intellektuellen seiner Partei. Deshalb betrachteten ihn die älteren Mitglieder auch mit Misstrauen, obwohl niemand daran zweifelte, dass er als einer der Ersten unter den Neulingen vorrücken würde. Niemand kannte Raymond so richtig, der Mann aus dem Norden wirkte erstaunlich schüchtern. Mit einer Mehrheit von 10.000 Stimmen in seinem Wahlkreis schien ihm jedoch eine lange Laufbahn sicher.

Leeds North hatte aus siebenunddreißig Kandidaten Raymond ausgewählt, weil er sich als so viel besser informiert gezeigt hatte als ein lokaler Gewerkschafter, auf den die Presse als Favoriten getippt hatte. In Yorkshire schätzte man Leute, die zu Hause bleiben, und Raymond hatte dem Wahlkomitee sofort in breitem Yorkshire-Dialekt mitgeteilt, dass er eine an der Peripherie seines Wahlkreises gelegene Schule besucht habe. Was jedoch wirklich den Ausschlag gab, war Raymonds Ablehnung eines Stipendiums für Cambridge. Er wollte seine Ausbildung lieber an der Universität von Leeds fortsetzen, hatte er erklärt.

Er promovierte mit Auszeichnung und übersiedelte nach London, um am Lincoln’s Inn seine Ausbildung als Anwalt zu beenden. Nach zwei Jahren trat er in eine bekannte Kanzlei ein und wurde ein gefragter Rechtsberater. Von diesem Moment an erwähnte er im Kreis seiner sorgfältig ausgewählten Freunde aus den Wahlbezirken um London kaum je seine Vergangenheit, und wer ihn mit Ray ansprach, wurde für diese plumpe Vertraulichkeit mit einem scharfen »Raymond« zurechtgewiesen.

Die Parteiversammlung löste sich auf, und Raymond und Andrew verließen den Raum – Andrew, um in sein winziges Büro zu gehen und die Post zu erledigen, Raymond, um in den Sitzungssaal zurückzukehren, weil er an diesem Tag seine Antrittsrede zu halten hoffte. Geduldig hatte er auf den richtigen Moment gewartet, um dem Unterhaus seine Ansichten über Witwenpensionen und die Tilgung der Kriegsanleihen zu unterbreiten; die Debatte über die Wirtschaftslage schien die gegebene Gelegenheit. Der Speaker hatte Raymond wissen lassen, dass er ihn vermutlich am frühen Abend aufrufen werde.

Raymond hatte viele Stunden damit zugebracht zu analysieren, wodurch sich die Verfahrensweise im Parlament von jener im Gerichtssaal unterscheidet. F. E. Smith hatte ganz recht gehabt mit seiner Feststellung, das Unterhaus sei ein lärmender Gerichtssaal mit mehr als sechshundert Geschworenen und weit und breit keinem Richter. Raymond fürchtete sich vor seiner Jungfernrede; die kühle Logik seiner Argumente wurde von den Richtern stets mehr geschätzt als von den Geschworenen.

Als er zum Sitzungssaal kam, übergab ihm ein Diener ein paar Zeilen seiner Frau Joyce. Sie hatte einen Platz auf der Besuchergalerie gefunden, um seine Rede mit anzuhören. Nach einem flüchtigen Blick zerriss Raymond den Brief, warf ihn in den nächsten Papierkorb und eilte in den Saal. Ein gerade hinauseilender Konservativer hielt ihm die Tür auf.

»Danke«, sagte Raymond. Simon Kerslake erwiderte das Lächeln und versuchte vergeblich, sich an Rays Namen zu erinnern. In der Members’ Lobby prüfte er die Nachrichtentafel, ob das Lämpchen unter seinem Namen leuchtete. Tat es nicht, also verließ er das Gebäude und ging zum Parkplatz. Er fuhr in Richtung St. Mary’s Paddington, um seine Frau abzuholen. In den letzten sechs Wochen hatten sie sich kaum gesehen, daher war der heutige Abend etwas Besonderes. Vermutlich würde das so weitergehen, bis Neuwahlen stattfanden und eine der Parteien eine arbeitsfähige Mehrheit erhielt. Was Simon, der seinen Sitz nur ganz knapp gewonnen hatte, jedoch am meisten fürchtete, war eine arbeitsfähige Mehrheit, die ihn nicht miteinschloss. Damit hätte eine der kürzesten politischen Karrieren der Geschichte ein Ende gefunden. Nach einer so langen Tory-Regierung schien die neue Labour-Regierung frisch und voller Ideale. Bestimmt würde sie eine große Mehrheit erhalten, wann immer der Premierminister sich zu Neuwahlen entschloss.

Simon erreichte Marble Arch und dachte zurück, wie er Parlamentsmitglied geworden war. Nach Oxford hatte er zwei Jahre bei der Sussex Light Infantry gedient und hatte sie als Leutnant verlassen. Nach einem kurzen Urlaub ging er zur BBC und arbeitete dort fünf Jahre – zuerst in der Abteilung Fernsehspiel, dann beim Sport und beim Aktuellen Dienst, bis er schließlich Leiter des »Panorama« wurde. Damals hatte er eine kleine Wohnung in Earls Court gemietet, und da er politisch ambitioniert war, wurde er Mitglied der Tory Bow Group. Nach seiner Ernennung zum Sekretär organisierte er Versammlungen, schrieb Broschüren und sprach bei Konferenzen, bis man ihn einlud, im Wahlkampf von 1959 als persönlicher Assistent des Vorsitzenden in der Parteizentrale zu arbeiten.

Zwei Jahre später, als »Panorama« eine Recherche zum National Health Service durchführte, lernte er Elizabeth Drummond kennen. Man hatte sie als Teilnehmerin eingeladen. Vor der Sendung machte Elizabeth ihm bei einem Drink unmissverständlich klar, dass sie den Medien-Leuten misstraute und Politiker hasste. Ein Jahr später waren sie verheiratet. Elizabeth bekam zwei Söhne, nahm jedoch jedes Mal nur kurz Urlaub, um ihre Karriere als Ärztin nicht zu unterbrechen.

Simon verließ die BBC ziemlich plötzlich, als man ihm im Sommer 1964 die Gelegenheit bot, den gefährdeten Wahlkreis von Coventry Central zu verteidigen; es gelang ihm, mit einer Mehrheit von 918 Stimmen den Sitz zu halten.

Er parkte vor dem Krankenhaus und sah auf die Uhr. Ein paar Minuten zu früh. Er schob den braunen Haarschopf aus der Stirn und dachte an den bevorstehenden Abend. Zur Feier ihres vierten Hochzeitstages wollte er Elizabeth ausführen und hatte auch ein paar Überraschungen für sie bereit. Dinner bei Mario & Franco, ein paar Stunden im Establishment Club und dann zum ersten Mal seit Wochen zusammen nach Hause zu gehen.

»Hm«, sagte er und genoss den Gedanken.

»Hallo, Fremdling«, sagte die Dame, die zu ihm ins Auto sprang und ihn küsste. Simon starrte die Frau mit dem strahlenden Lächeln und dem langen blonden Haar an, das ihr über die Schultern fiel. Er hatte sie an jenem Abend vor fünf Jahren angestarrt, als sie das »Panorama«-Studio betrat, und seitdem hatte er kaum aufgehört, sie anzustarren.

Er startete den Wagen. »Willst du eine gute Nachricht hören?«, fragte er und wartete ihre Antwort nicht ab. »Heute Abend habe ich einen Partner. Das bedeutet Dinner bei Mario & Franco, dann ins Establishment, dann nach Hause und …«

»Willst du eine schlechte Nachricht hören?«, fragte Elizabeth und wartete ebenfalls nicht auf die Antwort. »Wegen der Grippeepidemie haben wir zu wenig Personal. Ab zehn muss ich im Dienst sein.«

Simon stellte den Motor ab. »Was ziehst du also vor: Dinner, Tanzen oder direkt nach Hause?«

Elizabeth lachte. »Wir haben drei Stunden Zeit«, sagte sie. »Vielleicht reicht es sogar für ein Dinner.«

2

Raymond Gould starrte auf die Einladung. Noch nie hatte er Downing Street No. 10 von innen gesehen – ebenso wenig wie die meisten Sozialisten während der letzten dreizehn Jahre. Er schob die geprägte Karte über den Frühstückstisch seiner Frau zu.

»Soll ich annehmen oder absagen, Ray?«, fragte sie in ihrem breiten Yorkshire-Dialekt.

Joyce war die Einzige, die ihn immer noch Ray nannte, und auch ihre schwachen Versuche zu scherzen gingen ihm mittlerweile auf die Nerven. Die Dramen der griechischen Tragiker basierten auf »dem schicksalhaften Fehler«, und er wusste genau, worin seiner bestanden hatte.

Er hatte Joyce bei einem Tanzabend kennengelernt, den die Krankenschwestern vom Leeds General Hospital veranstalteten. Eigentlich wollte er nicht hingehen, doch ein Kommilitone aus Roundhay hielt es für eine amüsante Abwechslung. In der Schule hatte sich Raymond nie für Mädchen interessiert, weil seine Mutter ständig darauf hinwies, dazu sei noch Zeit, wenn er die Abschlussprüfung hinter sich hätte. Als er an die Universität kam, war er überzeugt, dort die einzige »Jungfrau« zu sein.

Er verbrachte den Abend allein in einer Ecke des mit reichlich Lampions und grellorangen Girlanden dekorierten Saals und saugte verdrossen am Strohhalm seines alkoholfreien Drinks. Wann immer sein Freund vom Tanzparkett zurückkehrte – jedes Mal mit einer anderen Partnerin –, lächelte er sie freundlich an. Dabei war er keineswegs sicher, die richtige Person anzulachen, denn seine Krankenkassenbrille steckte in der Innentasche seiner Jacke. Er begann zu überlegen, wann er gehen könnte, ohne zugeben zu müssen, dass der Abend ein totales Fiasko gewesen war. Und er hätte auf die ihm nun gestellte Frage nicht einmal geantwortet, wäre da nicht dieser vertraute Akzent gewesen.

»Gehen Sie auch auf die Universität?«

»Was heißt auch?«, fragte er zurück, ohne die Fragerin anzusehen.

»Wie Ihr Freund.«

»Ja«, erwiderte er und warf einen Blick auf das ungefähr gleichaltrige Mädchen.

»Ich bin aus Bradford.«

»Ich aus Leeds«, sagte er, und bei jedem Wort wurde das Rot auf seinen Wangen dunkler.

»Ich heiße Joyce«, fügte sie hinzu.

»Und ich Ray – Raymond.«

»Willst du tanzen?«

Gern hätte er ihr gesagt, dass er kaum je eine Tanzfläche betreten hatte, doch er brachte den Mut nicht auf. Wie eine Marionette stand er auf und ließ sich zu den Tanzenden führen. Wie kam er darauf, eine Führernatur zu sein? Auf der Tanzfläche angelangt, sah er Joyce zum ersten Mal richtig an. Sie war gar nicht so übel, hätte jeder normale Junge aus Yorkshire gefunden. Etwa einen Meter sechzig groß, ein wenig zu stark geschminkte dunkelbraune Augen und dunkles, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar. Ihr rosa Lippenstift passte zu der Farbe des kurzen Rocks, unter dem zwei äußerst hübsche Beine zu sehen waren. Sie wurden noch hübscher, wenn sie sich zu den Klängen der Viermannband im Kreis drehte. Raymond stellte fest, dass er, wenn er sie schnell herumwirbelte, den Strumpfansatz sehen konnte. Als das Quartett die Instrumente einpackte, gab sie ihm einen Gutenachtkuss. Langsam schlenderte er zu seinem kleinen Zimmer über dem Fleischerladen zurück.

Am darauffolgenden Sonntag ging er, um die Initiative zu ergreifen, mit Joyce auf den Fluss rudern. Allerdings war er beim Rudern nicht geschickter als beim Tanzen, und alles auf dem Fluss überholte ihn, inklusive eines tüchtigen Schwimmers. Ängstlich wartete er auf ein spöttisches Lachen, aber Joyce lächelte nur und sprach darüber, wie sehr sie Bradford vermisse und dass sie wieder zurückgehen wolle. Nach nur wenigen Wochen an der Universität wusste Raymond, dass er möglichst weit fort wollte von Leeds, gestand es aber niemandem ein. Nachdem sie zurückgerudert waren, lud Joyce ihn in ihr Zimmer zum Tee ein. Ray wurde dunkelrot, als sie an der Zimmervermieterin vorbeikamen, und ließ sich rasch von Joyce die schmale Treppe hinaufschieben.

Während Joyce zwei Tassen Tee ohne Milch zubereitete, saß Raymond auf dem schmalen Bett. Und nachdem beide so getan hatten, als hätten sie getrunken, setzte sie sich zu ihm, die Hände im Schoß gefaltet. Ray lauschte angespannt der Sirene einer Ambulanz, die in der Ferne verklang. Sie beugte sich vor, küsste ihn und legte seine Hand auf ihr Knie. Sie öffnete die Lippen, und ihre Zungen berührten sich. Die Empfindung war seltsam, ja erregend, fand er. Er hielt die Augen geschlossen, während sie ihn von einer Stufe zur nächsten führte, bis er sich nicht mehr zurückhalten konnte und das tat, was seine Mutter einmal als Todsünde bezeichnet hatte.

»Das nächste Mal wird es einfacher sein«, sagte sie scheu und stand auf, um ihre Kleider vom Boden aufzusammeln. Sie behielt recht. Nach einer Stunde nahm er sie wieder, und diesmal blieben seine Augen weit offen.

Sechs Monate vergingen, bevor Joyce von der Zukunft sprach. Zu diesem Zeitpunkt fand Raymond sie schon langweilig, und sein Interesse galt einer klugen kleinen Mathematikstudentin aus Surrey. Als er endlich all seinen Mut zusammengenommen hatte, um Joyce mitzuteilen, dass es vorbei sei, eröffnete sie ihm, dass sie schwanger war. Sein Vater hätte nach der Fleischaxt gegriffen, hätte er eine illegale Abtreibung vorgeschlagen. Seine Mutter zeigte sich entzückt, dass Joyce aus Yorkshire war. Mrs. Gould hatte für Fremde nicht viel übrig.

In den großen Sommerferien wurden Raymond und Joyce in Bradford getraut. Raymond war so unglücklich und Joyce so glücklich, dass sie eher Vater und Tochter glichen als Bräutigam und Braut. Nach der Trauung fuhr das junge Paar nach Dover, um die Nachtfähre zu nehmen. Die erste Nacht als Mr. und Mrs. Gould war eine Katastrophe: Raymond wurde seekrank. Joyce konnte nur hoffen, dass Paris denkwürdiger sein würde, und das war es auch. In der zweiten Nacht ihrer Flitterwochen erlitt sie eine Fehlgeburt.

»Vermutlich durch all diese Aufregung«, meinte Raymonds Mutter nach der Rückkehr. »Aber ihr könnt ja bald wieder eins haben, nicht wahr?«

Raymond zeigte jedoch keinerlei Interesse daran. Seit diesen Flitterwochen waren zehn Jahre vergangen. Er war nach London entflohen, wurde Anwalt und hatte sich damit abgefunden, ein Leben lang an diese Frau gekettet zu sein. Obwohl Joyce erst zweiunddreißig war, musste sie die schlanken Beine, die ihm einst so gefallen hatten, bereits bedecken. Wie konnte man für einen so lächerlichen Irrtum so schwer bestraft werden?, hätte Raymond die Götter gerne gefragt. Für wie reif hatte er sich gehalten, und wie unreif war er tatsächlich gewesen. Eine Scheidung hätte das Ende seiner politischen Ambitionen bedeutet: Die Leute aus Yorkshire wählten niemals einen geschiedenen Mann. Fairerweise musste Raymond zugeben, dass nicht alles katastrophal war; die Leute liebten Joyce. Während des Wahlkampfs kam sie mit den Gewerkschaftern und ihren grässlichen Frauen viel besser zurecht als er selbst. Er musste auch zugeben, dass Joyce wesentlich zu seinem Sieg beigetragen hatte. Wie bekam sie es nur hin, immer so aufrichtig zu wirken?, fragte er sich. Es kam ihm nie in den Sinn, dass sie es von Natur aus war.

»Warum kaufst du dir nicht ein neues Kleid für Downing Street?«, fragte er jetzt, als sie vom Frühstück aufstanden. Sie lächelte; seit sie denken konnte, hatte er noch nie einen solchen Vorschlag gemacht. Joyce gab sich keinen Illusionen hin über sich und ihren Mann. Aber vielleicht sah er allmählich ein, dass sie ihm helfen konnte, seine heimlichen Wünsche zu realisieren.

Am Abend des Empfangs in Downing Street gab sich Joyce alle Mühe, gut auszusehen. Sie verbrachte den Vormittag bei Harvey Nichols, um nach einem passenden Kleid zu suchen, und kehrte schließlich mit einem Kostüm zurück, das ihr auf den ersten Blick gefallen hatte. Es saß zwar nicht perfekt, doch die Verkäuferin versicherte ihr: »Madam sieht sensationell darin aus.« Sie konnte nur hoffen, Raymonds Kommentar würde zumindest halb so schmeichelhaft ausfallen. Beim Heimkommen stellte sie fest, dass sie nichts besaß, was zur ausgefallenen Farbe des Kostüms passte.

Raymond kehrte spät aus dem Parlament zurück und war zufrieden, dass Joyce schon fertig war, als er aus dem Bad kam. Er verkniff sich eine Bemerkung über die Schuhe, die nicht zu dem Kostüm passten. Auf der Fahrt nach Westminster ging er mit ihr die Namen aller Kabinettsmitglieder durch, und Joyce musste sie wie ein Schulkind wiederholen.

Die Abendluft war angenehm frisch; Raymond parkte seinen Sunbeam im New Palace Yard, und gemeinsam schlenderten sie Whitehall entlang zu No. 10. Ein einzelner Polizist bewachte die Tür. Als er Raymond sah, betätigte er einmal den Messingklopfer, und dem jungen Mitglied und seiner Frau wurde die Tür geöffnet.

Verlegen warteten Raymond und Joyce in der Halle. Jemand kam und führte sie in den ersten Stock. Langsam stiegen sie die Treppe hinauf – sie war weniger großartig, als Raymond erwartet hatte –, vorbei an den Fotos früherer Premierminister. »Zu viele Konservative«, murmelte Raymond, als sie an den Porträts von Chamberlain, Churchill, Eden, Macmillan und Douglas-Home vorbeigingen; Attlee war das einzige Gegengewicht.

Am Ende der Treppe stand Harold Wilson, die Pfeife im Mund, um seine Gäste zu begrüßen. Raymond wollte gerade seine Frau vorstellen, als der Premier sagte: »Wie geht es Ihnen, Joyce? Ich freue mich, dass Sie kommen konnten.«

»Kommen konnte? Die ganze Woche habe ich mich darauf gefreut.« Bei dieser Offenherzigkeit zuckte Raymond zusammen, und Wilsons Schmunzeln entging ihm.

Raymond unterhielt sich mit der Frau des Premierministers über die Schwierigkeit, Lyrik zu veröffentlichen, bis sie sich abwandte, um neue Gäste zu begrüßen. Dann ging er ins Wohnzimmer, sprach mit Kabinettsmitgliedern, Gewerkschaftern und deren Frauen, behielt aber Joyce dabei immer misstrauisch im Auge. Sie war in ein Gespräch mit dem Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes vertieft.

Raymond ging weiter zum amerikanischen Botschafter, der Andrew Fraser gerade erzählte, wie sehr er die Edinburgher Festspiele genossen habe. Raymond beneidete Fraser um sein entspanntes, lockeres Auftreten; er wusste, dass dieser Schotte ein nicht zu unterschätzender Rivale war.

»Guten Abend, Raymond«, begrüßte ihn Andrew. »Kennst du David Bruce?«, fragte er, als seien die beiden alte Freunde.

»Nein«, erwiderte Raymond und wischte seine Handfläche an der Hose ab, bevor er ihm die Hand reichte. »Guten Abend, Exzellenz«, sagte er und war froh, dass Andrew sich entfernte. »Ich habe Johnsons Mitteilung über Vietnam mit Interesse gelesen, und ich muss sagen, dass die Eskalation …«

Andrew hatte den Staatsminister für Schottland entdeckt und ging auf ihn zu.

»Wie geht es,Andrew?«, erkundigte sich Hugh McKenzie.

»Könnte nicht besser sein.«

»Und Ihrem Vater?«

»Ist glänzend in Form.«

»Das höre ich ungern«, sagte der Minister lachend. »Er macht mir im Entwicklungsausschuss für die Highlands und die Inseln einige Schwierigkeiten.«

»Im Grunde ist er ganz vernünftig«, sagte Andrew, »auch wenn seine Ansichten etwas verknöchert sind.« Beide lachten noch, als eine hübsche junge Frau mit langem braunem Haar auf sie zutrat. Sie trug eine weiße Seidenbluse und einen McKenzie-Schottenrock.

»Kennen Sie meine Tochter Alison?«

»Nein«, sagte Andrew und streckte die Hand aus.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie mit leichtem Lowland-Akzent und blitzenden Augen. »Andrew Fraser, der Mann, der Campbells einen vertrauenswürdigen Anstrich gibt. Der geheime Spion der Konservativen.«

»Kann kein großes Geheimnis sein, wenn das Schottland-Amt davon weiß«, erwiderte Andrew.

Ein Kellner brachte Sandwiches auf einem Silbertablett. Sein Frack war der bestgeschnittene im ganzen Raum.

»Möchten Sie ein Sandwich mit geräuchertem Lachs?«, fragte Alison spöttisch.

»Nein, vielen Dank. Diese Gewohnheit habe ich ebenso aufgegeben wie meine Tory-Herkunft. Aber passen Sie auf, wenn Sie zu viel essen, werden Sie keine Lust auf Ihr Dinner haben.«

»Ich habe nicht vor, zum Dinner zu gehen.«

»Schade. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust auf einen Bissen bei Sigie’s«, neckte Andrew.

Alison zögerte. »Es wäre das erste Mal, dass mich jemand aus No. 10 abschleppt.«

»Ich breche nicht gern mit Traditionen«, erwiderte Andrew. »Aber vielleicht könnte ich für acht Uhr einen Tisch bestellen?«

»Ist Sigie’s einer Ihrer Aristokratentreffs?«

»Keine Spur, das Lokal ist viel zu gut für diese Leute. Warum gehen wir nicht in etwa einer Viertelstunde? Ich muss noch mit ein, zwei Gästen sprechen.«

»Das glaub ich gern.« Lächelnd sah sie Fraser nach, der sich einen Weg durch die Menschen bahnte. Er wusste genau, wie man eine Cocktailparty am besten nutzt. Seine Kollegen von den Gewerkschaften würden nie verstehen, dass es nicht der Sinn einer solchen Veranstaltung war, Lachssandwiches mit Whisky hinunterzuspülen. Als er sich wieder bei Alison einfand, unterhielt sie sich mit Raymond Gould über Johnsons Erdrutschsieg bei den Wahlen.

»Versuchst du, mir mein Date wegzuschnappen?«, fragte Andrew.

Raymond lachte nervös und schob die Brille hoch. Einen Augenblick später führte Andrew Alison zur Tür, um sich zu verabschieden. Raymond, der sie beobachtete, zweifelte, ob er jemals lernen würde, sich so selbstsicher zu geben. Er sah sich nach Joyce um; sicher war es richtig, nicht als Letzte zu gehen.

In Sigie’s Club wurde Andrew diskret zu einem Ecktisch geleitet, und Alison stellte fest, dass er schon öfter hier gewesen sein musste. Die Kellner umtanzten ihn, als wäre er ein Minister, und sie gestand sich ein, dass ihr das Ganze Spaß machte. Nach einem ausgezeichneten Roastbeef, das nicht angebrannt war, und einer Crème brûlée, die es sehr wohl war, gingen sie ins Annabel’s und tanzten dort bis zwei Uhr morgens. Dann brachte Andrew Alison zu ihrer Wohnung in Chelsea.

»Haben Sie noch Lust auf einen Drink?«, fragte sie beiläufig.

»Trau ich mich nicht«, antwortete er. »Morgen halte ich meine Jungfernrede.«

»Und daher wird diese Jungfer abgelehnt«, murmelte sie ihm nach.

Als Andrew sich am folgenden Nachmittag um fünf erhob, war das Unterhaus gut besucht. Der Speaker hatte ihm gestattet, seine Rede gleich nach den Beiträgen der Vorderbänke zu halten, eine Ehre, die Andrew nicht so bald wieder zuteilwerden würde. Sein Vater und seine Mutter schauten von der Besuchergalerie aus zu, als er seinen Kollegen mitteilte, dass er alles, was er über den Wahlkreis wisse, den zu vertreten er stolz sei, vom Oberbürgermeister von Edinburgh gelernt habe. Seine Parteigenossen grinsten angesichts des Unbehagens der Opposition, hielten sich jedoch an die Gepflogenheit, eine Antrittsrede nicht zu unterbrechen.

Als Thema hatte Andrew die Frage gewählt, ob Schottland trotz seiner kürzlich entdeckten Ölvorkommen Teil des Vereinigten Königreiches bleiben sollte. Seine Überzeugung, dass sein Land als kleiner unabhängiger Staat keine Zukunft habe, war gut untermauert. Seine Rhetorik und Sprachgewandtheit brachten beide Seiten des Hauses wiederholt zum Lachen. Als er geendet hatte, ohne auch nur einmal auf seine Notizen gesehen zu haben, ertönte von seinen eigenen Bänken begeisterter Beifall, und von der Opposition kam freundlicher Applaus. In diesem Augenblick des Triumphes sah er zur Besuchergalerie hinauf. Sein Vater hatte sich vorgelehnt, um kein Wort zu verpassen. Und zu seinem Erstaunen saß vor seiner Mutter, auf einem für Ehrengäste reservierten Platz, Alison McKenzie, die Arme auf der Brüstung.

Andrews Erfolg wurde noch unterstrichen, als etwas später ein weiteres Labour-Mitglied seine erste Rede hielt. Tom Carson, der neue Abgeordnete für Liverpool Dockside, kümmerte sich weder um Konventionen noch um Tradition; seine Antrittsrede war geradezu darauf angelegt, Widerspruch hervorzurufen. Er begann mit einer Attacke auf das, was er »die Establishment-Verschwörung« nannte, und sein anklagender Finger wies sowohl auf die Minister seiner eigenen Partei als auch auf die Opposition, die er allesamt als »Marionetten des kapitalistischen Systems« bezeichnete.

Die anwesenden Mitglieder verzichteten darauf, den schimpfenden Liverpooler zu unterbrechen, der Speaker zuckte aber mehrmals, als der anklagende Zeigefinger auch ihn einzubeziehen schien. Mit Unbehagen nahm er zur Kenntnis, dass dieses neue Mitglied aus Liverpool ihnen ziemlich zu schaffen machen würde, sollte es die Absicht haben, sich hier auch weiterhin so aufzuführen.

Nach drei weiteren Reden verließ Andrew den Saal, um nach Alison Ausschau zu halten, sie war jedoch bereits gegangen. Er fuhr mit dem Lift hinauf zur Besuchergalerie und lud seine Eltern zum Tee in die Harcourt Rooms ein.

»Das letzte Mal trank ich hier mit Ainsley Munro Tee …«, begann Sir Duncan.

»Dann könnte es eine ganze Weile dauern, bis du wieder eingeladen wirst«, unterbrach Andrew.

»Das hängt ganz davon ab, wen wir bei der nächsten Wahl als deinen Gegenkandidaten aufstellen«, gab sein Vater zurück.

Mitglieder beider Parteien kamen zu Andrew, um ihm zu seiner Rede zu gratulieren. Er dankte jedem Einzelnen, sah sich dabei jedoch fortwährend um. Aber Alison McKenzie tauchte nicht auf.

Als seine Eltern aufbrachen, um das letzte Flugzeug nach Edinburgh zu erreichen, kehrte Andrew in den Saal zurück, wo Alisons Vater gerade die Debatte für die Regierung zusammenfasste. Der Minister bezeichnete Andrews Beitrag als eine der besten Jungfernreden, die das Haus seit Jahren gehört hatte.

Sobald die Debatte vorüber war und der Ordner die übliche Zehnuhrabstimmung ankündigte, verließ Andrew den Saal. Er begab sich in den Tearoom, den traditionellen Treffpunkt der Labour-Partei, der jetzt genauso voll war wie am frühen Nachmittag. Man drängte sich um die Überreste unappetitlich aussehender Salatblätter – die jedes Kaninchen mit Selbstachtung verschmäht hätte – und ein paar mit Plastik abgedeckte schwitzende Käsestücke, welche die Karte optimistisch als Salat bezeichnete. Andrew begnügte sich mit einer Tasse Nescafé.

In der hintersten Ecke hockte Raymond Gould allein in einem Lehnsessel, scheinbar in eine alte Ausgabe des New Statesman vertieft. Ausdruckslos beobachtete er, wie etliche seiner Kollegen zu Andrew traten, um ihn zu beglückwünschen. Seine eigene Antrittsrede vor einer Woche hatte keine so begeisterte Aufnahme gefunden, und er wusste es. Er hatte ebenso feste Ansichten über die Pensionen der Kriegerwitwen wie Andrew über Schottland; da er jedoch von einem Manuskript ablas, hingen die Zuhörer nicht an seinen Lippen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Andrew das Thema seiner nächsten Rede sehr sorgfältig würde wählen müssen, denn die Opposition würde ihn nicht immer mit Glacéhandschuhen anfassen.

Derlei Gedanken beschäftigten Andrew nicht, als er in eine Telefonkabine ging und eine Londoner Nummer wählte. Alison war zu Hause und gerade beim Haarewaschen.

»Wird es trocken sein, bis ich komme?«

»Es ist sehr lang«, erinnerte sie ihn.

»Dann werde ich eben langsam fahren müssen.«

Als Andrew vor Alisons Tür stand, empfing sie ihn in einem Morgenmantel. Das lange, frisch gewaschene Haar fiel über ihre Schultern.

»Kommt der Sieger, um seine Beute zu fordern?«

»Nein, bloß den Kaffee von gestern Abend.«

»Wird der dich nicht wach halten?«

»Das will ich doch schwer hoffen.«

Als Andrew Alisons Wohnung am nächsten Morgen um acht Uhr verließ, war er entschlossen, McKenzies Tochter noch wesentlich besser kennenzulernen. Er kehrte in seine Wohnung in der Cheyne Walk zurück, duschte und zog sich um, bevor er Frühstück machte und die Post durchging. Er fand einige weitere Gratulationen vor, unter anderem vom Staatssekretär für Schottland, während die Times und der Guardian kurze, aber positive Kommentare brachten. Bevor er wieder ins Parlament zurückkehrte, ging er eine Novelle durch, die er dem Ausschuss heute unterbreiten wollte. Er nahm ein paar Korrekturen vor, schnappte seine Papiere und eilte nach Westminster.

Da die Ausschusssitzung erst um halb elf stattfand, hatte er noch Zeit, seine Post von der hauseigenen Poststelle direkt neben der Eingangshalle zu holen. Mit gesenktem Kopf eilte er weiter zur Bibliothek, während er die Umschläge durchsah. Als er um die Ecke bog, sah er zu seiner Verwunderung, dass sich die konservativen Mitglieder um den Fernschreiber drängten, darunter auch der Mann, der bereit war, bei Abstimmungen sein »Partner« zu sein.

Andrew trat auf Charles Seymour zu.

»Warum die Aufregung?«, fragte ihn Andrew.

»Sir Alec hat gerade den Fahrplan bekannt gegeben, nach dem wir den neuen Tory-Parteiführer wählen.«

»Auf den wir alle mit Spannung warten«, bemerkte Andrew.

»Nicht ohne Grund«, sagte Charles, den Sarkasmus ignorierend, »da die nächste Bekanntgabe sicher die seines Rücktritts sein wird. Dann beginnt die wirkliche Politik.«

»Sehen Sie zu, dass Sie auf den Sieger setzen«, sagte Andrew grinsend.

Charles Seymour lächelte wissend, erwiderte aber nichts.

3

Charles Seymour lenkte seinen Daimler vom Parlament zur Bank seines Vaters in der City. Für ihn war Seymour of Cheapside immer noch die Bank seines Vaters, obwohl die Familie seit zwei Generationen lediglich eine Aktienminorität innehatte und Charles selbst nur zwei Prozent der Aktien besaß. Doch da sein Bruder Rupert nicht geneigt war, die Familieninteressen zu vertreten, sicherten ihm diese zwei Prozent einen Sitz im Aufsichtsrat sowie ein Einkommen, mit dem er sein kümmerliches parlamentarisches Jahresgehalt von 1750 Pfund aufbessern konnte.

Von dem Tag an, an dem er seinen Platz im Aufsichtsrat von Seymour of Cheapside eingenommen hatte, war ihm klar, dass der neue Vorsitzende, Derek Spencer, einen gefährlichen Rivalen in ihm sah.

Spencer hatte immer wieder dafür plädiert, dass Rupert an die Stelle seines Vaters treten sollte, sobald dieser sich zurückzog, und nur dank Charles’ Hartnäckigkeit war es ihm nicht gelungen, den alten Earl dazu zu überreden.

Als Charles einen Sitz im Parlament erhielt, wies Spencer sofort darauf hin, dass die schwere Verantwortung der Parlamentsarbeit ihn daran hindern werde, seinen Pflichten im Aufsichtsrat nachzukommen. Es gelang Charles jedoch, die anderen Direktoren davon zu überzeugen, wie vorteilhaft es war, wenn ein Aufsichtsratsmitglied auch in Westminster säße, obwohl er wusste, dass seine Banktätigkeit enden würde, sollte er je Minister werden.

Charles parkte den Daimler auf dem Vorplatz und überlegte amüsiert, dass dieser Parkplatz zwanzigmal so viel wert war wie sein Auto. Er war ein Relikt aus den Tagen seines Urgroßvaters. Der achte Earl of Bridgewater hatte auf eine Vorfahrt bestanden, die seiner vierspännigen Kutsche erlaubte, einen vollen Bogen zu fahren. Die Kutsche gab es längst nicht mehr, dafür nun aber zwölf Parkplätze für die Direktoren. Dem neuen Vorsitzenden war es trotz all seines Fachwissens bis jetzt nie eingefallen, den Bereich für etwas anderes zu nutzen.

Die junge Frau an der Rezeption hörte abrupt auf, die Nägel zu feilen, und sagte rechtzeitig: »Guten Morgen, Mr. Charles«, als dieser durch die Drehtür kam und im Fahrstuhl verschwand. Kurz darauf saß Charles in einem kleinen getäfelten Büro am Schreibtisch, vor sich einen unberührten weißen Block. Er drückte einen Knopf der Sprechanlage und wies seine Sekretärin an, ihn in der nächsten Stunde nicht zu stören.

Sechzig Minuten später standen auf dem Block zwölf Namen, von denen zehn wieder durchgestrichen waren. Nur die Namen von Reginald Maudling und Edward Heath blieben übrig. Charles riss das Blatt und auch das darunterliegende ab und steckte beide in den Reißwolf neben dem Schreibtisch. Dann versuchte er, etwas Interesse für die wöchentliche Sitzung des Aufsichtsrats aufzubringen; nur Punkt sieben schien wesentlich. Kurz vor elf begab er sich in das Sitzungszimmer. Die meisten seiner Kollegen saßen schon am Konferenztisch, als Derek Spencer pünktlich um elf Uhr den ersten Punkt verlas.

Während der folgenden üblichen Diskussion über Bankzinsen, Bewegungen der Metallpreise, Eurobonds und Anlagestrategien kehrten Charles’ Gedanken immer wieder zu der bevorstehenden Wahl zurück und wie wichtig eine Unterstützung des Siegers wäre, wenn er rasch von den hinteren Bankreihen vorrücken wollte.

Als man zu Punkt sieben kam, hatte Charles seine Entscheidung getroffen. Derek Spencer eröffnete die Diskussion über die vorgeschlagenen Darlehen an Mexiko und Polen. Die meisten Direktoren teilten seine Meinung, sich an einem davon zu beteiligen, aber nicht beide zu riskieren. Charles’ Gedanken jedoch waren weder in Mexico City noch in Warschau. Sie waren vielmehr weitaus mehr in der Nähe, und als der Vorsitzende zur Abstimmung rief, merkte Charles es nicht.

»Mexiko oder Polen, Charles. Was befürworten Sie?«

»Heath«, antwortete er.

»Wie bitte?«, fragte Derek Spencer.

Charles kehrte von Westminster nach Threadneedle Street zurück, um festzustellen, dass alle ihn anstarrten. Wie jemand, der sich etwas sehr genau überlegt hatte, sagte er mit Überzeugung »Mexiko« und fügte hinzu: »Der große Unterschied zwischen den beiden Ländern besteht in ihrer Einstellung zur Rückzahlung. Vielleicht will Mexiko nicht zurückzahlen, Polen aber wird nicht zurückzahlen können. Deshalb müssen wir unser Risiko begrenzen und Mexiko unterstützen. Kommt es zu einem Rechtsstreit, habe ich als Gegner lieber jemanden, der nicht zahlen will, als jemanden, der nicht zahlen kann.« Die älteren Mitglieder nickten zustimmend; der richtige Sohn von Bridgewater saß im Aufsichtsrat.

Nach der Sitzung begab sich Charles mit seinen Kollegen zum Lunch in den Speisesaal der Bank. Ein Raum mit einem Brueghel, einem Goya, einem Rembrandt und zwei Hogarths, die auch den nachsichtigsten Gourmet ablenken konnten: ein weiterer kleiner Beweis für die Fähigkeit seines Urgroßvaters, auf Gewinner zu setzen. Charles unterließ es, sich zwischen Stilton und Cheddar zu entscheiden, da er zur Fragestunde lieber wieder im Unterhaus sein wollte.

Dort ging er sofort in den Rauchersalon, den die Torys seit Langem als ihr Reservat ansahen. In den tiefen Ledersesseln und der von Zigarrenrauch geschwängerten Luft ging es ausschließlich um Sir Alecs Nachfolger. Pimkins schrille Stimme war nicht zu überhören. »Da Edward Heath Schattenkanzler ist, während wir die Steuervorlage debattieren, muss er zwangsläufig Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein.«

Später am Nachmittag kehrte Charles wieder in den Sitzungssaal zurück. Er wollte Heath und sein Schattenkabinett beobachten, wie sie die Zusatzanträge der Regierung behandelten.

Als er gerade wieder gehen wollte, stand Raymond Gould auf, um eine Novelle einzubringen. Mit widerwilliger Bewunderung hörte Charles ihm zu. Seine Auffassungsgabe und Argumentationskraft wogen den Mangel an rednerischer Begabung bei Weitem auf. Doch obwohl Gould ein gutes Stück besser war als alle anderen Neuen, hatte Charles keine Angst vor ihm. Mit Klugheit und Geschäftstüchtigkeit hatten zwölf Generationen Bridgewaters große Teile von Leeds beherrscht, ohne dass Leute wie Raymond Gould es auch nur bemerkt hätten.

Das Dinner nahm Charles an diesem Abend im Speisesaal für Mitglieder ein. Er saß zusammen mit den anderen konservativen Hinterbänklern an dem großen Tisch in der Saalmitte. Es gab nur ein Gesprächsthema, und da immer wieder dieselben zwei Namen fielen, durfte man zweifellos auf ein knappes Rennen schließen.

Als Charles nach der Zehnuhrabstimmung in sein Haus am Eaton Square zurückkehrte, lag Fiona schon im Bett und las einen Roman.

»Heute hat man dich aber früh ziehen lassen.«

»Ja«, erwiderte Charles und erzählte ihr, wie er den Tag verbracht hatte, bevor er ins Badezimmer verschwand.

Wenn Charles sich für clever hielt, spielte seine Frau, Lady Fiona, einzige Tochter des Duke of Falkirk, in einer ganz anderen Liga. Ihre Ehe wurde geplant, als die beiden noch Kinder waren, und weder Charles noch sie hatten die Klugheit dieser Wahl je infrage gestellt. Obwohl Charles vor seiner Ehe zahlreiche Freundinnen gehabt hatte, wusste er, dass er zu Fiona zurückkehren würde. Charles’ Großvater behauptete immer, die Aristokratie finge an, zu lax und sentimental über die Ehe zu denken. »Frauen«, erklärte er, »sind dazu da, Kinder zu bekommen und den Fortbestand der männlichen Linie zu garantieren.« Der alte Earl wurde in dieser Überzeugung noch bestärkt, als er feststellte, dass Rupert wenig Interesse am anderen Geschlecht zeigte und selten in Gesellschaft von Frauen gesehen wurde. Fiona hätte nie daran gedacht, dem alten Herrn offen zu widersprechen, denn sie war entschlossen, dass einst ein Sohn von ihr den Titel erben sollte. Doch trotz der anfangs enthusiastischen, später geplanten Versuche schien Charles unfähig, einen Erben zu zeugen. Ein Arzt in Harley Street versicherte Fiona, dass es nicht an ihr liege, und schlug vor, Charles solle sich untersuchen lassen. Sie schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass Charles einen solchen Vorschlag rundweg ablehnen würde. Sie erwähnte das Thema gegenüber niemandem mehr.

Ihre gesamte freie Zeit verbrachte Fiona im Wahlkreis ihres Mannes in Sussex Downs und förderte Charles’ politische Karriere. Mit der Tatsache, dass ihr keine romantische Ehe beschieden war, hatte sie sich abgefunden und begnügte sich mit deren anderen Vorteilen. Obwohl viele Männer die schlanke, elegante Dame offen oder verdeckt wissen ließen, dass sie sie begehrenswert fanden, ignorierte sie alle Avancen oder gab vor, sie nicht zu bemerken.

Als Charles in einem blauen Seidenpyjama aus dem Badezimmer kam, hatte Fiona einen Plan gefasst. Doch zuvor musste sie ein paar Fragen stellen.

»Wen favorisierst du?«

»Am liebsten hätte ich, dass Sir Alec weitermacht. Schließlich sind die Homes seit mehr als vierhundert Jahren Freunde unserer beiden Familien.«

»Das bringt uns aber nicht weiter«, erwiderte Fiona. »Alle wissen, dass Alec abdankt.«

»Richtig, und deshalb habe ich den ganzen Nachmittag damit verbracht, mir die infrage kommenden Kandidaten genauer anzusehen.«

»Wer blieb übrig?«