Zeit der Unschuld - Edith Wharton - E-Book

Zeit der Unschuld E-Book

Edith Wharton

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Beschreibung

Eine Geschichte von Liebe, Leidenschaft und Entsagung vor dem Hintergrund der morbiden New Yorker Gesellschaft - in den 1870er Jahren - einer der großen Klassiker der amerikanischen Literatur der Pulitzer-Preisträgerin Edith WhartonNewland Archer, ein junger Anwalt aus der New Yorker High Society, verlobt sich klassenbewusst mit May . Als Mays Cousine Ellen nach einer gescheiterten Ehe mit einem europäischen Grafen nach New York zurückkehrt, verliebt sich Newland in die galante Gräfin. Der Vernunft gehorchend, unterwirft sich Newland jedoch dem Codex der Gesellschaft und opfert seine Liebe und sein Glück: Er nimmt den Auftrag von seiner Kanzlei an, Ellen von der Scheidung abzubringen und dringt auf eine schnelle Heirat mit May ...

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www.piper.de

 

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Richard Kraushaar und Benjamin Schwarz

 

ISBN 978-3-492-97971-9

Neuauflage einer früheren Ausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© 1948 William R. Tyler

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Age of the Innocence« D. Appleton and Company, New York 1920

© der deutschsprachigen Ausgabe: Rogner & Bernhard Verlag, Hamburg 1986

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1992, 1997

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Erstes Buch

1 - An einem Januarabend …

2 - Dieses kurze Zwischenspiel …

3 - Jedes Jahr wiederholte …

4 - Im Laufe des nächsten …

5 - Am folgenden Abend …

6 - Nachdem Mr. Jackson …

7 - Mrs. Henry van der Luyden lauschte …

8 - Jeder in New York ‎war …

9 - Gräfin Olenska hatte …

10 - Am nächsten Tag beredete …

11 -‎ Als Newland Archer …

12 - Im alten New York aß …

13 - Es war ein stark …

14 - Als Archer in das Foyer …

15 - Newland Archer kam …

16 - Als Archer in St. Augustine‎ …

17 - ‎»Deine Kusine, die Gräfin, …

18 - ‎»Was heckt ihr ‎beide …

Zweites Buch

19 - Der Tag war frisch, …

20 - ‎»Selbstverständlich müssen wir …

21 - Die kleine schimmernde …

22 - ‎»Eine Einladung zu Ehren …

23 - Als Archer am nächsten Morgen …

24 - Langsam und nachdenklich …

25 - Als sie wieder auf …

26 - Jedes Jahr am …

27 - ‎Von der Wall Street …

28 - ‎»Ol- Ol- ja – wie schreibt …

29 - Archer fand …

30 - Als Archer an …

31 - Die Mitteilung der‎ …

32 - ‎»Am Tuilerienhof«, …

33 - Es war, wie Mrs. Archer …

34 - Newland Archer saß …

Erstes Buch

1

An einem Januarabend Anfang der siebziger Jahre sang Christine Nilsson in einer »Faust«-Inszenierung der New Yorker Musikakademie die Margarethe.

Es war zwar damals schon die Rede davon, in einem äußeren Stadtbezirk, »hinter den Vierziger Straßen«, ein neues Orpernhaus zu errichten, das sich an Glanz und Kostspieligkeit mit denen der großen europäischen Hauptstädte messen könne; dennoch kam die Gesellschaft nach wie vor jeden Winter in den verblaßten roten und goldenen Logen der alten gemütlichen Akademie zusammen. Die Konservativen liebten sie, weil sie klein und unbequem war und so die gefürchteten »Neuen« fernhielt, die eben anfingen, New York zu erobern; die Sentimentalen aber schätzten die historischen Erinnerungen und die Musikbeflissenen die ausgezeichnete Akustik, die ja in Sälen, die für das Anhören von Musik erbaut sind, stets eine problematische Angelegenheit ist.

Es war Madame Nilssons erstes Auftreten in diesem Winter, und ein »außergewöhnlich glänzendes Publikum« – so hatte die Tagespresse es bereits zu bezeichnen gelernt – war versammelt, um sie zu hören. Durch die glatten verschneiten Straßen war man in eigenen Kutschen, in geräumigen Landauern oder in den bescheideneren, aber bequemeren Mietdroschken herbeigekommen. Fuhr man in einer Mietdroschke an der Oper vor, so galt das als beinahe so vornehm wie im eigenen Wagen; fuhr man damit heim, so hatte dies sogar den ungeheuren Vorteil, daß man – mit scherzhafter Anspielung auf demokratische Grundsätze – in das erstbeste Fahrzeug der wartenden Reihe klettern konnte, anstatt unter dem Portikus der Akademie nach der von Frost und Schnaps geröteten Nase des eigenen Kutschers Ausschau halten zu müssen. Es war die äußerst bedeutende Entdeckung eines der großen Mietdroschkenunternehmer gewesen, daß es die Amerikaner noch schneller von den Vergnügungen weg- als zu ihnen hinzog.

Als Newland Archer die Hintertür der Klubloge öffnete, hatte sich der Vorhang gerade vor der Gartenszene gehoben. Ebensogut hätte der junge Mann auch früher eintreffen können, denn er hatte um sieben nur mit seiner Mutter und seiner Schwester zu Abend gegessen und sich dann mit einer Zigarre in der gotischen Bibliothek zwischen den polierten Bücherschränken aus Nußbaum und den kreuzblumenverzierten Stühlen aufgehalten, dem einzigen Raum, in dem Mrs. Archer das Rauchen gestattete. Aber New York war in erster Linie Metropole, und als deren Bewohner wußte man genau, daß »man« nicht pünktlich zur Oper kam; und was »man« tat oder nicht tat, spielte in Newland Archers New York eine ebenso wichtige Rolle wie die unergründlichen Totemgesetze, die vor Jahrtausenden die Geschicke seiner Vorväter beherrscht hatten.

Der zweite Grund seiner Verspätung war ein persönlicher. Er hatte bei seiner Zigarre die Zeit vertrödelt, weil er im Grunde ein Ästhet war und der Gedanke an ein bevorstehendes Vergnügen ihm oft innigeren Genuß gewährte als dessen Verwirklichung. Dies traf besonders zu, wenn es sich – wie bei ihm in den meisten Fällen – um einen erlesenen Genuß handelte. Diesmal aber war der Augenblick, auf den er sich freute, etwas so Seltenes und Köstliches, daß – ja selbst im Einvernehmen mit dem Manager der Primadonna hätte er den Zeitpunkt seines Eintretens in die Akademie nicht passender wählen können als eben jetzt, da sie sang: »Er liebt mich – er liebt mich nicht – er liebt mich!« und auf die fallenden Blütenblätter ihre tauklaren Töne niederperlen ließ.

Natürlich sang sie M’ama! und nicht »er liebt mich«, denn in der Musikwelt verlangte eine unbedingte und unabänderliche Regel, daß der deutsche Text französischer Opern, von schwedischen Künstlern gesungen, ins Italienische übersetzt wurde, damit das englischsprechende Publikum ihn besser verstünde. Dies schien Newland Archer ebenso selbstverständlich wie alle übrigen Konventionen, die sein Leben bestimmten: zum Beispiel die Notwendigkeit, zwei silberbeschlagene Haarbürsten mit seinem Monogramm in blauer Emaille zum Scheiteln seines Haars zu benutzen oder in Gesellschaft nie ohne eine Blume im Knopfloch – möglichst eine Gardenie – zu erscheinen. »M’ama… non m’ama!…«, sang die Primadonna, bis endlich ihre ganze Liebe befreit aufjauchzte: »M’ama«!, wobei sie das zerrupfte Gänseblümchen an die Lippen preßte und die großen Augen zu dem in engem purpurrotem Wams und mit Federmütze neben ihr stehenden kleinen braunen Faust-Ca-poul hob, dessen verschlagene Züge sich vergeblich bemühten, so rein und echt auszusehen wie sein argloses Opfer.

Newland Archer hatte sich gegen die Rückwand der Klubloge gelehnt. Jetzt wandte er den Blick von der Bühne ab und prüfte aufmerksam die gegenüberliegende Seite des Hauses. Direkt ihm gegenüber befand sich die Loge der alten Mrs. Manson Mingott, die wegen ihrer ungeheuren Körperfülle schon längst nicht mehr die Oper besuchen konnte, aber bei festlichen Gelegenheiten stets von einigen jüngeren Familienmitgliedern vertreten wurde. Diesmal nahmen ihre Schwiegertochter, Mrs. Lovell Mingott, und ihre Tochter, Mrs. Welland, die vorderen Reihe ein; und leicht verborgen hinter diesen brokatbekleideten Matronen saß ein junges Mädchen in Weiß, das den Blick verzückt auf das Bühnenliebespaar gerichtet hielt. Als Madame Nilsson ihr »M’ama!« durch das schweigende Haus jubelte – die Logen verstummten stets während des Blumenorakels –, stieg ein warmes Rot in die Wangen des Mädchens, überzog ihre Stirn bis an die Haarwurzeln ihrer blonden Flechten und tönte den zarten Ansatz der Brust bis an die verhüllende Tüllspitze, die von einer einzigen Gardenie gehalten wurde. Sie senkte den Blick auf den riesigen Maiglöckchenstrauß in ihrem Schoß, und Newland Archer sah, wie ihre weißbehandschuhten Fingerspitzen die Blumen sanft berührten. In seiner Eitelkeit befriedigt, atmete er auf und wandte den Blick wieder der Bühne zu.

An der Ausstattung hatte man nicht gespart; sie wurde sogar von Leuten gerühmt, die wie er die Opernhäuser von Paris und Wien gesehen hatten. Der Vordergrund war bis an die Rampenlichter mit smaragdgrünem Tuch bedeckt. In der Mitte bildeten symmetrische Buckel wolliggrünen Mooses, die von Eisenbügeln eingefaßt waren, die Grundformen von Sträuchern, die wie Apfelsinenbäumchen aussahen, aber mit großen hell- und dunkelroten Rosen besteckt waren. Aus dem Moos unter den Rosenbäumchen ragten riesige Stiefmütterchen hervor, die größer als die Rosen waren und ganz den blütenartigen Federwischern glichen, die weibliche Gemeindemitglieder für ihre angeschwärmten Pfarrer herstellten, und hier und dort blühte ein auf einen Rosenzweig gepfropftes Gänseblümchen in einem Übermaß, das einem einen Vorgeschmack auf die Wunderschöpfungen Luther Burbanks, des berühmten Züchters, schenkte.

Inmitten dieses Zaubergartens stand Madame Nilsson im weißen Kaschmirgewand, aus dessen Schlitzen blaßblau er Satin hervorschimmerte. An ihrem blauen Gürtel hing ein Täschchen, und zu beiden Seiten ihres Musselinleibchens ruhten die dicken gelben Zöpfe. Mit niedergeschlagenen Augen lauschte sie Monsieur Capouls leidenschaftlichem Werben und tat sehr unschuldig und verständnislos, wenn er mit Wort und Blick immer wieder heftig auf das Parterrefenster des hübschen Backsteinhäuschens wies, das von rechts schräg aus der Kulisse vorsprang.

»Das liebe Kind!« dachte Newland Archer, und sein Blick glitt wieder zu dem Mädchen mit den Maiglöckchen zurück. »Sie ahnt nicht einmal, worum es sich handelt.« Und er betrachtete ihr versunkenes junges Antlitz mit einem erregten Besitzgefühl, in dem das Selbstbewußtsein des wissenden Mannes sich mit leiser Ehrfurcht vor ihrer abgrundtiefen Reinheit mischte. »Wir werden den ›Faust‹ miteinander lesen… an den italienischen Seen…«, dachte er, und in einem leichten Nebel verschmolz ihm der Schauplatz seiner Flitterwochen mit den Meisterwerken der Literatur, die seiner Braut zu vermitteln er als sein männliches Vorrecht ansah. Heute nachmittag erst hatte May Welland ihm zu verstehen gegeben, daß er ihr »nicht gleichgültig« sei – mehr durfte ein Mädchen in New York nicht gestehen –, und schon eilte seine Phantasie dem Verlobungsring, dem Brautkuß und dem Marsch aus dem »Lohengrin« voraus, und er sah sie bereits in irgendeinem verwunschenen Winkel Europas neben sich.

Er wünschte durchaus nicht, daß die künftige Mrs. Newland Archer ein einfältiges Gänschen bliebe. Dank seiner Führung sollte sie so viel gesellschaftlichen Takt und schlagfertiges Wissen erwerben, daß sie es mit den beliebtesten verheirateten Frauen der »jüngeren Gesellschaft« aufnehmen konnte, die es so angenehm verstanden, die Männer huldigend an sich zu ziehen und sie gleichzeitig spielend im Zaum zu halten. Wäre er seiner Eitelkeit ganz auf den Grund gegangen – was er manchmal beinahe tat –, so hätte er dort den Wunsch gefunden, seine Frau möchte ebenso welterfahren und darauf aus sein, Gefallen zu erregen, wie jene verheiratete Dame, deren Reize ihn zwei leichtbewegte Jahre hindurch gefesselt hatten – ohne sich natürlich im entferntesten zu dem Fehltritt hinreißen zu lassen, der das Leben jenes unglücklichen Geschöpfs beinahe zerstört hätte und seine eigenen Pläne für einen ganzen Winter durcheinanderbrachte.

Wie aber solch ein Wunder von Feuer und Eis entstehen und einer rauhen Welt standhalten sollte, das auszudenken hatte er sich nie die Zeit genommen; es genügte ihm vielmehr, diese Ansicht zu hegen, ohne sie im einzelnen zu untersuchen, denn er wußte, daß er hierin mit all den sorgfältig gekämmten Herren mit weißer Weste und Blume im Knopfloch übereinstimmte, die nacheinander in die Klubloge traten, freundliche Begrüßungsworte mit ihm tauschten und die Operngläser kritisch auf den Kreis der Damen richteten, die das Produkt dieses Systems darstellten. In geistigen und künstlerischen Dingen fühlte sich Newland Archer diesen auserwählten Exemplaren der alten New Yorker Gesellschaft unbedingt überlegen; er hatte wahrscheinlich mehr gelesen, mehr nachgedacht und sogar viel mehr von der Welt gesehen als irgendein anderer. Einzeln verriet jeder seine Unterlegenheit; vereinigt aber stellten sie »New York« dar, und die Gewohnheit männlicher Solidarität ließ ihn sich ihre Glaubenssätze in allem, was die Moral betraf, zu eigen machen. Instinktiv empfand er, daß es lästig und auch taktlos wäre, wenn er auf diesem Gebiet eigene Wege ginge.

»Na, sowas!« rief Lawrence Lefferts und richtete sein Opernglas mit einem Ruck von der Bühne weg. Lawrence Lefferts war wohl in allem, was »Formen« betraf, die größte Autorität in New York. Er hatte dem Studium dieser verzwickten und fesselnden Fragen wahrscheinlich mehr Zeit gewidmet als irgendein anderer, aber dies Studium allein erklärte noch nicht seine unbedingt anerkannte Geltung auf diesem Gebiet. Ein Blick jedoch auf seine schlanke, elegante Gestalt, von dem hohen Haaransatz über der schrägen Stirn und dem kühn geschwungenen blonden Schnurrbart bis hinab auf die langen schmalen Lackschuhe, genügte, um zu erkennen, daß einem Menschen, der so gute Kleider so ungezwungen zu tragen und sich bei solcher Länge mit derart lässiger Grazie zu halten verstand, das Wissen um »Formen« angeboren sein müsse. »Wann man zum Abendanzug eine schwarze Krawatte tragen sollte und wann nicht, das kann einem niemand besser als Larry Lefferts sagen«, hatte ein junger Bewunderer einmal von ihm gesagt. Und in der Frage »Pumps oder Lackschuhe« war seine Autorität nie bezweifelt worden.

»Mein Gott!« sagte er und reichte sein Glas stumm dem alten Sillerton Jackson.

Als Newland Archer dem Blick Lefferts’ folgte, sah er mit Staunen, daß dessen Ausruf durch den Eintritt von jemand Neuem in die Loge der alten Mrs. Mingott veranlaßt worden war. Es war eine schlanke junge Dame, kaum weniger groß als May Welland, das braune Haar, das in dichten Locken ihre Schläfen umgab, von einem schmalen Diamantreif zusammengehalten. Der Eindruck dieser Haartracht, die ihr das damals sogenannte »josephinenhafte Aussehen« gab, wurde durch den Schnitt des dunkelblauen Samtgewandes verstärkt, das ein Gürtel mit großer altmodischer Schnalle recht effektvoll dicht unter der Brust umschloß. Die Trägerin dieses ungewöhnlichen Kleides schien die von ihr hervorgerufene Aufmerksamkeit gar nicht zu bemerken; sie blieb einen Augenblick mitten in der Loge stehen und erörterte mit Mrs. Welland ihr Anrecht, den Platz in der vorderen Reihe einzunehmen; dann zog sie sich mit leisem Lächeln zurück und setzte sich auf die Seite von Mrs. Wellands Schwägerin, Mrs. Lovell Mingott, die sich in der entgegengesetzten Ecke niedergelassen hatte.

Sillerton Jackson hatte Lawrence Lefferts das Opernglas zurückgereicht. Unwillkürlich blickte der ganze Klub den alten Mann an, um zu hören, was er zu sagen habe; denn der alte Mr Jackson war eine ebenso große Autorität in bezug auf »Familie« wie Lawrence Lefferts in bezug auf »Formen«. Er kannte alle Verzweigungen der New Yorker Verschwägerungen und war in der Lage, nicht nur so dunkle Fragen aufzuhellen wie die der Verbindung zwischen den Mingotts – über die Thorleys – und den Dallases aus South Carolina oder die der Beziehung des älteren Zweigs der Thorleys in Philadelphia zu den Chiverses in Albany – die man um keinen Preis mit den Manson-Chiverses am University Place verwechseln durfte –, sondern er vermochte auch die hervorstechenden Charakterzüge jeder Familie aufzuzählen, wie zum Beispiel den unerhörten Geiz der jüngeren Linie der Lef-ferts’ in Long Island oder die fatale Neigung der Rush-worths, Mißehen zu schließen, oder die Geisteskrankheit, die stets in der zweiten Generation der Chiverses in Albany wiederkehrte, mit denen ihre Vettern in New York niemals hatten heiraten wollen – von der traurigen Ausnahme der armen Medora Manson ausgenommen, die, wie jeder wußte… aber ihre Mutter war natürlich eine Rushworth.

Außer diesem Wald von Stammbäumen hütete Sillerton Jackson zwischen seinen schmalen, hohen Schläfen und unter der weichen Hülle silberner Haare ein Verzeichnis der meisten Skandale und Geheimnisse, die in den letzten fünfzig Jahren unter der glatten Oberfläche der New Yorker Gesellschaft geschwelt hatten. Ja, so weit reichte seine Kenntnis und so getreu war sein Gedächtnis, daß er wohl der einzige Mensch war, der einem hätte sagen können, woher Julius Beaufort, der Bankier, eigentlich kam, und was aus dem hübschen Bob Spicer, dem Vater der alten Mrs. Mingott, geworden war, nachdem er knapp ein Jahr nach seiner Heirat so geheimnisvoll mit einer großen Summe ihm anvertrauten Geldes verschwunden war, und zwar am gleichen Tage, als eine schöne spanische Tänzerin, die im alten Opernhaus an der Battery riesige Zuschauermengen entzückt hatte, mit dem Schiff nach Kuba gefahren war. Diese Geheimnisse aber und viele andere blieben in Jacksons Innerem versiegelt, denn sein strenges Ehrgefühl verbot ihm nicht nur, private Mitteilungen weiterzugeben, sondern ihm war auch deutlich bewußt, daß sein Ruf, verschwiegen zu sein, seine Chancen steigerte, alles ausfindig zu machen, was er wissen wollte.

Die Klubloge verharrte darum in sichtbarer Spannung, während Sillerton Jackson das Opernglas Lawrence Lefferts zurückgab. Stumm betrachtete er einen Augenblick lang aus den von alten, geäderten Lidern überhangenen, verschleierten blauen Augen die aufmerksame Gruppe; dann drehte er nachdenklich an seinem Schnurrbart und sagte einfach: »Ich hätte nicht gedacht, daß die Mingotts das wagen würden.«

2

Dieses kurze Zwischenspiel hatte Newland Archer in eine merkwürdige Verlegenheit gestürzt.

Es war auch recht ärgerlich, daß die Loge, welche die ungeteilte Aufmerksamkeit der Männerwelt New Yorks auf sich zog, eben jene war, in der seine Auserwählte zwischen Mutter und Tante saß, und zunächst ahnte er nicht, wer die Dame in dem Empirekleid war und weshalb ihr Erscheinen solche Aufregung unter den Eingeweihten hervorgerufen hatte. Dann aber dämmerte es ihm, und im gleichen Augenblick überkam ihn eine Welle der Entrüstung. Wahrhaftig, niemand hätte gedacht, daß die Mingotts das wagen würden!

Aber sie hatten es gewagt, zweifellos; denn die leisen Bemerkungen hinter Archer bestätigten ihm, daß die junge Dame May Wellands Kusine war, dieselbe Kusine, die in Familiengesprächen immer »die arme Ellen Olenska« hieß. Archer wußte, daß sie vor ein oder zwei Tagen plötzlich aus Europa herübergekommen war. Er hatte sogar von Miss Welland – und nicht in unfreundlichem Ton – gehört, daß sie die arme Ellen besucht hatte, die bei der alten Mrs. Mingott wohnte. Areher war stets für Familiensolidarität, und eine der Eigenschaften, die er bei den Mingotts am meisten bewunderte, war ihr entschlossenes Eintreten für die wenigen schwarzen Schafe in dieser sonst tadellosen Zucht. Das Herz des jungen Mannes war frei von Enge oder Mißgunst, und er war froh, daß seine zukünftige Frau sich nicht von falscher Scham hindern ließ, gegen ihre unglückliche Kusine (privatim) freundlich zu sein; aber es war ein Unterschied, ob man die Gräfin Olenska im Familienkreis aufnahm oder ob man sie vor die Öffentlichkeit stellte, und vor allem hier, in der Oper, in ein und derselben Loge mit dem jungen Mädchen, dessen Verlobung mit ihm, Newland Archer, in wenigen Wochen angezeigt werden sollte. Nein, er empfand genau wie der alte Sillerton Jackson; er hätte nicht gedacht, daß die Mingotts das wagen würden!

Er wußte natürlich, daß die alte Mrs. Manson Mingott, das weibliche Oberhaupt der Familie, mindestens soviel wagte, wie nur irgendein Mann innerhalb der Möglichkeiten der Fifth Avenue wagen würde. Er hatte stets die großmächtige alte Dame bewundert, die nur eine Catherine Spicer von Staten Island gewesen war und trotz ihres auf undurchsichtige Weise anrüchigen Vaters, ohne genügend Geld und ohne eine gesellschaftliche Stellung, die das hätte vergessen lassen, dennoch das Haupt der reichen Familie Mingott erobert, dann zwei ihrer Töchter an »Ausländer« – einen italienischen Marquis und einen englischen Bankier – verheiratet und schließlich ihre kühnen Unternehmungen damit gekrönt hatte, daß sie in der unzugänglichen Wildnis nahe dem Central Park ein riesiges Haus in cremefarbenem Stein errichten ließ, und das zu einer Zeit, als brauner Sandstein noch ebenso selbstverständlich war wie ein Gehrock am Nachmittag.

Die europäischen Töchter der alten Mrs. Mingott waren in Vergessenheit geraten. Sie kamen nie zurück, um ihre Mutter zu besuchen, und diese war, wie viele Menschen mit Tatendrang und beherrschendem Willen, seßhaft und beleibt und blieb gleichmütig zu Hause. Das cremefarbene Haus aber, das angeblich den Privathäusern der Pariser Aristokratie nachgebildet war, stand da als ein sichtbarer Beweis ihres moralischen Mutes, und in der vorrevolutionären Einrichtung und zwischen den Andenken aus den Tuilierien Louis Napoleons, wo sie als reife Frau geglänzt hatte, thronte sie nun so gelassen, als sei es nichts Besonderes, jenseits der Vierunddreißigsten Straße zu wohnen oder französische Fenster zu haben, die sich wie Türen öffneten, anstatt der üblichen Schiebefenster.

Alle, einschließlich Sillerton Jackson, stimmten darin überein, daß die alte Catherine nie Schönheit besessen habe – eine Gabe, die in den Augen New Yorks jeden Erfolg rechtfertigte und gewisse Mängel aufwog. Böse Zungen behaupteten, sie sei wie ihre kaiserliche Namensschwester den Weg zum Erfolg nur durch Willensstärke, Hartherzigkeit, Hochmut und Rücksichtslosigkeit gegangen, Eigenschaften, die jedoch durch die äußerste Sittsamkeit und Würde ihres Privatlebens in gewissem Grade entschuldigt wurden.

Ihr Mann, Manson Mingott, war gestorben, als sie erst einundzwanzig war, und hatte, von dem allgemeinen Mißtrauen gegen die Spicers angesteckt, das Geld festgelegt. Aber die kühne junge Witwe ging unverzagt ihren Weg, pflegte großmütig Umgang mit Ausländern, verheiratete ihre Töchter in Gott weiß was für verderbte moderne Kreise, biederte sich mit Herzögen und Gesandten an, verkehrte mit Papisten, lud Opernsänger ein und war die Herzensfreundin von Madame Taglioni; und bei alledem war doch nie ein Schatten auf ihren Ruf gefallen, wie auch Sillerton Jackson stets als erster bezeugte; in dieser Hinsicht allein, so fügte er hinzu, unterscheide sie sich von der berüchtigten Katharina.

Es war Mrs. Manson Mingott längst gelungen, das Vermögen ihres Gatten frei zu bekommen, und sie hatte ein halbes Jahrhundert lang im Überfluß gelebt. Die Erinnerung an ihre einstige Notlage aber hatte sie äußerst sparsam gemacht, und wenn sie auch beim Kauf eines Kleides oder Möbelstücks Wert darauf legte, daß es vom Besten war, so brachte sie es doch nicht über sich, viel Geld für die vergänglichen Freuden der Tafel aufzuwenden. Deshalb war aus vollkommen anderen Gründen das Essen bei ihr genauso schlecht wie bei Mrs. Archer, und ihre Weine entschädigten einen durchaus nicht. Ihre Verwandten meinten, die Dürftigkeit ihres Tisches bringe den Namen Mingott, bei dem man stets an ein üppiges Leben gedacht hatte, in Verruf. Die Leute aber kamen weiter zu ihr trotz der »fertigen Gerichte« und des faden Sekts, und auf die Vorhaltungen ihres Sohnes Lovell, der den alten Ruf der Familie dadurch zurückzugewinnen versuchte, daß er den besten Koch New Yorks in seinen Diensten hatte, antwortete sie nur lachend: »Welchen Zweck hätten zwei gute Köche in einer Familie, wo ich doch die Mädchen verheiratet habe und Soßen nicht essen darf?«

Während Newland Archer darüber nachdachte, blickte er wieder zur Mingottschen Loge hinüber. Er sah, daß Mrs. Welland und ihre Schwägerin dem Halbkreis der Kritiker mit der Mingottschen Selbstsicherheit standhielten, die die alte Catherine all den Ihren mitgegeben hatte, und daß nur May Welland durch ein tieferes Rot – wohl weil sie sich von ihm beobachtet wußte – ein Gefühl für den Ernst der Situation verriet. Jene aber, die der Anlaß der Erregung war, saß, die Augen auf die Bühne gerichtet, in anmutiger Haltung in ihrer Logenecke und enthüllte, als sie sich vorbeugte, ein wenig mehr Schulter und Busen, als New York zu sehen gewohnt war, wenigstens bei Damen, die allen Grund hatten, sich unauffällig zu verhalten.

Für Archer gab es kaum etwas Schlimmeres als einen Verstoß gegen den »guten Geschmack«, jene fern thronende Gottheit, die in den »Formen« ihre sichtbaren Mittler und Statthalter besaß. Madame Olenskas bleiches, ernstes Gesicht empfand er als den Umständen und ihrer unglücklichen Lage angemessen; doch die Art, in der ihr miederloses Gewand von den zarten Schultern herabfiel, schockierte und beunruhigte ihn. Mit Mißbehagen sah er May Welland dem Einfluß einer jungen Frau ausgesetzt, die die Forderungen des guten Geschmacks so vernachlässigte.

»Aber«, hörte er einen der jungen Männer hinter sich beginnen – alle plauderten während der Szenen mit Mephisto und Marthe – »was ist denn eigentlich passiert?«

»Sie hat ihn verlassen; das kann ja wohl niemand leugnen.«

»Er ist doch ein richtiges Scheusal!« fuhr der junge Frager fort, ein aufrichtiger Thorley, der offenbar vorhatte, sich zum Ritter der Dame zu machen.

»Ein ganz schreckliches; ich habe ihn in Nizza kennengelernt«, versicherte Lawrence Lefferts. »Ein halbgelähmter, bleicher, hämischer Kerl – ein ziemlich stattlicher Kopf, aber die Augen mit zu vielen Wimpern. So einer, wißt ihr, der, wenn er nicht mit Frauen umginge, Porzellan sammelte. Zahlte jeden Preis für beides, nehme ich an.«

Ein allgemeines Gelächter folgte, und der junge Ritter sagte: »Und sie?«

»Und sie? Brannte mit einem Sekretär durch.«

»Ach so!« Der Ritter machte ein langes Gesicht.

»Das dauerte aber nicht lange; ein paar Monate später hörte ich, daß sie allein in Venedig lebe. Ich glaube, Lovell Mingott fuhr hin, um sie zu holen. Er sagte, sie sei verzweifelt und unglücklich. Na, meinetwegen – aber deswegen braucht man sie doch nicht in der Oper zur Schau zu stellen.«

Der junge Thorley meinte tapfer: »Vielleicht ist sie zu unglücklich, um zu Hause allein zu bleiben.«

Dies wurde mit respektlosem Gelächter aufgenommen, und der Jüngling errötete tief und versuchte so auszusehen, als habe er mit seinen Worten beabsichtigt, was Kenner ein »double entendre« nannten.

»Na, jedenfalls ist es sonderbar, daß man Miss Welland mitgenommen hat«, sagte jemand leise mit einem Seitenblick auf Archer.

»Ach, das gehört doch zum Kriegsplan«, lachte Lefferts. »Befehl von Großmama, kein Zweifel! Wenn die alte Dame was unternimmt, dann tut sie’s gründlich.«

Der Akt ging zu Ende, und in der Loge begann eine allgemeine Bewegung. Newland Archer fühlte sich plötzlich zu einem entscheidenden Schritt getrieben. Der Wunsch, als erster Mrs. Mingotts Loge zu betreten, der wartenden Gesellschaft seine Verlobung mit May Welland anzuzeigen, ihr durch alle Schwierigkeiten hindurchzuhelfen, in welche sie die ungewöhnliche Lage ihrer Kusine gebracht haben konnte – dieser Drang hatte auf einmal alle Bedenken, alle Skrupel besiegt und ließ ihn durch die roten Wandelgänge an das andere Ende des Hauses eilen.

Als er die Loge betrat, begegneten seine Augen denen von Miss Welland, und er sah, daß sie ihn sofort verstanden hatte, obwohl ihr die Würde der Familie, die beide so sehr schätzten, nicht gestattete, es ihm zu sagen. Die Menschen ihrer Welt lebten in einer Atmosphäre leisen Einvernehmens und zarter Rüchsichtnahme, und die Tatsache, daß sie beide sich ohne ein Wort verstanden, brachte sie in den Augen des jungen Mannes einander näher, als es jede Erklärung vermocht hätte. Ihr Blick sagte: »Du siehst, warum Mama mich mitgenommen hat«, und seiner antwortete: »Du hättest um nichts auf der Welt wegbleiben dürfen.«

»Sie kennen meine Nichte, die Gräfin Olenska?« fragte Mrs. Welland, als sie ihrem zukünftigen Schwiegersohn die Hand reichte. Archer machte eine stumme Verbeugung, wie sie der Brauch bei einer solchen Vorstellung vorschrieb, und Ellen Olenska neigte leicht den Kopf, während ihre hellbehandschuhten Hände über dem großen Fächer aus Adlerfedern gefaltet blieben. Nachdem er Mrs. Lovell Mingott, eine korpulente Blondine in knisterndem Satin, begrüßt hatte, ließ er sich neben May Welland nieder und sagte leise: »Ich hoffe, du hast Madame Olenska erzählt, daß wir verlobt sind? Jeder soll es wissen – bitte laß es mich heute abend auf dem Ball bekanntgeben.«

Miss Wellands Gesicht wurde rosig wie der Schein der Morgendämmerung, und sie sah ihn strahlend an. »Wenn du Mama überreden kannst«, sagte sie. »Doch warum sollten wir unsere Pläne ändern?« Er antwortete ihr nur mit einem Blick, und sie setzte zuversichtlich lächelnd hinzu: »Sag es meiner Kusine selbst. Sie sagt, ihr hättet als Kinder zusammen gespielt.«

Sie machte ihm Platz, indem sie ihren Stuhl zurückschob, und sofort ließ er sich ein wenig ostentativ und mit dem Wunsch, das ganze Haus möge ihn dabei beobachten, neben der Gräfin Olenska nieder.

»Wir haben doch miteinander gespielt, nicht wahr?« fragte sie und richtete ihre ernsten Augen auf ihn. »Sie waren ein schrecklicher Junge und haben mich einmal hinter einer Tür geküßt; aber verliebt war ich in Ihren Vetter Vandie Newland, der mich kein einziges Mal angesehen hat.« Ihr Blick überflog die Hufeisenform der Logen. »Ach, wie mir das hier alles wieder in Erinnerung bringt – ich sehe jeden hier noch in Knickerbockern und Spielhöschen«, sagte sie mit dem schleppenden, ein wenig fremdländischen Tonfall, während ihre Augen zu ihm zurückkehrten.

So angenehm ihr Ausdruck den jungen Mann auch berührte, so sehr verletzte es ihn doch, daß sie so ein unpassendes Bild von dem erhabenen Gerichtshof aufnahmen, vor dem ihr Fall eben jetzt verhandelt wurde. Nichts konnte geschmackloser sein als eine unangebrachte Keckheit, und er antwortete etwas steif: »Ja, Sie sind sehr lange fortgewesen.«

»Ach, Jahrhunderte lang; so lange«, sagte sie, »daß ich glaube, ich bin schon tot und begraben, und dies hier ist der Himmel«, was Newland Archer aus ihm nicht ganz klaren Gründen als einen noch respektloseren Versuch empfand, die New Yorker Gesellschaft zu kennzeichnen.

3

Jedes Jahr wiederholte sich das gleiche.

Mrs. Julius Beaufort versagte es sich nie, am Abend ihres Jahresballes in der Oper zu erscheinen; ja sie gab ihren Ball stets an einem Opernabend, um zu zeigen, daß sie über Haushaltssorgen völlig erhaben sei und über Dienstboten verfüge, die auch in ihrer Abwesenheit jedes Fest organisieren konnten.

Das Haus der Beauforts war eines der wenigen in New York, das einen Ballsaal hatte (es hatte ihn schon vor Mrs. Manson Mingott und den Headley Chiverses), und das zu einer Zeit, da anfing, es für »provinziell« zu halten, wenn man das Wohnzimmer ausräumte und die Möbel nach oben schaffte. Dieser Besitz eines Ballsaals, der zu keinem anderen Zwecke diente und mit seinen vergoldeten Stühlen, die in der Ecke aufgestapelt waren, und dem in einem Überzug steckenden Kronleuchter an dreihundertvierundsechzig Tagen des Jahres verdunkelt blieb – diese unzweifelhafte Überlegenheit wog alles auf, was an der Vergangenheit der Beauforts zu bedauern war.

Mrs. Archer, die ihre gesellschaftliche Weisheit gern in Axiome kleidete, hatte einmal gesagt: »Wir alle haben unsere lieben einfachen Leute –«, und obgleich das Wort gewagt war, wurde seine Wahrheit insgeheim von vielen Exklusiven zugegeben. Aber die Beauforts waren eigentlich keine einfachen Leute; mancher sagte, sie seien viel schlimmer. Mrs. Beaufort entstammte einer der angesehensten Familien Amerikas: sie war die schöne Regina Dallas aus dem Zweig in South Carolina gewesen, aber arm wie eine Kirchenmaus, die von ihrer Kusine, der unbedachtsamen Medora Manson, die aus einem richtigen Antrieb stets das Falsche tat, in die New Yorker Gesellschaft eingeführt worden war. Wenn man mit den Mansons und den Rushworths verwandt war, besaß man in der New Yorker Gesellschaft ein »droit de cité«, wie Sillerton Jackson, der oft in den Tuilerien gewesen war, es nannte; verscherzte man es sich aber nicht, wenn man Julius Beaufort heiratete?

Es fragte sich, wer Beaufort eigentlich war. Er galt als Engländer, war eine angenehme, stattliche Erscheinung, launisch, gastfreundlich und geistreich. Er war mit Empfehlungsbriefen des englischen Schwiegersohns der alten Mrs. Manson Mingott, des Bankiers, nach Amerika gekommen und hatte sich in der Gesellschaft schnell eine wichtige Stellung erobert; aber er führte ein ausschweifendes Leben, neigte zu beißender Ironie, und sein Vorleben blieb im Dunkeln. Und als Medora Manson die Verlobung ihrer Kusine mit ihm anzeigte, sah man darin nur eine neue Dummheit der armen Medora mit ihrer langen Liste unvorsichtiger Handlungen.

Die Dummheit aber wird ebensooft in ihren Kindern gerechtfertigt wie die Klugheit, und zwei Jahre nach der Hochzeit der jungen Mrs. Beaufort gab jeder zu, daß sie das vornehmste Haus in New York besaß. Niemand wußte genau, wie das Wunder sich vollzogen hatte. Sie war schlaff und untätig, die Bissigen nannten sie sogar langweilig. Sie aber thronte wie ein Götzenbild, mit Perlen behängt, jedes Jahr jünger, blonder und schöner, in Beauforts wuchtigem Sandsteinpalast und zog alle dahin, ohne auch nur den juwelengeschmückten kleinen Finger zu krümmen. Die Wissenden sagten, es sei Beaufort selbst, der die Dienstboten erziehe, dem Koch neue Gerichte beibringe, den Gärtnern sage, welche Treibhausblumen sie für die Tafel und die Wohnzimmer ziehen sollten, der die Gäste auswähle, den Abendpunsch braue und seiner Frau die Briefchen an ihre Freunde diktiere. Wenn das der Fall war, so verrichtete er diese häuslichen Tätigkeiten im stillen; der Welt dagegen bot er den Anblick eines sorglosen, gastlichen Millionärs, der mit der Unbefangenheit eines Gastes in sein eigenes Wohnzimmer schlendert und sagt: »Die Gloxinien meiner Frau sind ein wahres Wunder, nicht? Ich glaube, sie hat sie aus dem Kew.«

Beauforts Geheimnis lag nach einstimmiger Ansicht in der Art, wie er mit allem fertig wurde. Man mochte noch so viel tuscheln, daß ihm das internationale Bankhaus, in dem er beschäftigt gewesen war, von England »fortgeholfen« habe; er wurde mit dem Gerücht so leicht wie mit allem übrigen fertig, obwohl das Geschäftsgewissen New Yorks nicht weniger empfindlich war als seine moralischen Grundsätze. Er brachte alles fertig, schleppte ganz New York in sein Haus, und seit zwanzig Jahren sagte man sich mit so ruhiger Stimme, man »gehe zu den Beauforts«, als heiße es »zu den Manson Mingotts«, nur mit dem Unterschied, daß man sich auf frische Kanevasente und einen guten Jahrgang freuen konnte anstatt auf lauwarmen, jahrganglosen Veuve Cliquot und aufgewärmte Fleischklöße aus Philadelphia. Mrs. Beaufort war also wie üblich gerade vor der Schmuckkästchenarie in ihrer Loge erschienen, und als sie sich wie üblich am Ende des dritten Akts erhob, den Opernmantel um die schönen Schultern zog und verschwand, wußte New York, daß der Ball eine halbe Stunde darauf beginnen würde.

Das Beaufortsche Haus war etwas, was die New Yorker mit Stolz den Fremden zeigten, besonders am Abend des Jahresballes. Die Beauforts waren in New York unter den ersten gewesen, die einen roten Samtläufer besaßen, der von eigenen Dienern unter dem eigenen Zeltdach über die Freitreppe gerollt wurde, anstatt ihn zusammen mit den Stühlen für das Festessen und den Ballsaal zu mieten. Sie hatten auch eingeführt, daß die Damen ihre Mäntel in der Diele ablegten, statt in das Schlafzimmer der Dame des Hauses hinauszuschlurfen und sich das Haar mit der Brennschere aufzufrischen; Beaufort sollte gesagt haben, daß alle Freundinnen seiner Frau doch wohl Mädchen hätten, die dafür sorgten, daß sie beim Verlassen des Hauses richtig coiffées seien.

Das Haus mit dem Ballsaal war großzügig geplant worden, so daß man sich nicht (wie bei den Chiverses) durch einen schmalen Gang hineindrängen mußte: feierlich durchschritt man die hintereinanderliegenden Wohnzimmer – das meergrüne, das karmesinrote und das bouton d’or – und sah schon von weitem die vielarmigen Leuchter auf dem polierten Parkett sich spiegeln und im Hintergrund den Wintergarten, wo Kamelien und Baumfarne ihr herrliches Laub über Bänke von schwarzlackiertem Bambus wölbten.

Newland Archer kam erst spät, so wie es seine gesellschaftliche Stellung verlangte. Er hatte seinen Mantel den Lakaien mit den Seidenstrümpfen gereicht – die Strümpfe waren eine der wenigen Geschmacklosigkeiten Beauforts –, war durch die mit Saffianleder ausgeschlagene Bibliothek geschlendert, wo einige Herren zwischen den perlmutter- und malachitgeschmückten Möbeln sich plaudernd die Handschuhe zum Tanz anzogen, und hatte sich endlich unter die Reihe der Gäste gemischt, die Mrs. Beaufort auf der Schwelle des roten Zimmers begrüßte.

Archer war sichtlich nervös. Er war nach der Oper nicht in den Klub zurückgefahren, wie es die vornehme Jugend gewöhnlich tat, sondern war in der schönen Abendluft die Fifth Avenue ein Stück hinaufspaziert, bevor er den Weg zum Beaufortschen Haus einschlug. Er fürchtete wirklich, daß die Mingotts zu weit gingen, ja, daß Großmama Mingott womöglich befohlen habe, die Gräfin Olenska zum Ball mitzunehmen.

Aus dem Ton in der Klubloge hatte er entnehmen können, ein wie schwerer Fehler das wäre, und obgleich er unbedingt entschlossen war, sein Versprechen zu halten, empfand er nach ihrem kurzen Gespräch in der Oper doch nicht mehr den gleichen Eifer wie vorher, für die Kusine seiner Verlobten einzutreten.

Als er eben in das goldene Zimmer trat, wo Beaufort kühn die »Sieghafte Liebe«, den heftig umstrittenen Akt Bouguereaus, aufgehängt hatte, fand er Mrs. Welland und ihre Tochter nahe an der Tür zum Ballsaal. Schon glitten drüben Paare über die Tanzfläche; das Licht der Wachskerzen fiel auf wirbelnde Tüllkleider, auf Mädchenköpfe im Schmuck schlichter Blütenkränze, auf fesche Reiherfedern und Diademe in den Frisuren junger Frauen, auf hellschimmernde Frackhemden und neue Glacéhandschuhe.

Offenbar im Begriff, in den Ballsaal zu gehen, zögerte Miss Welland auf der Schwelle; sie hielt die Maiglöckchen in der Hand (sie trug nie andere Blumen); das Gesicht war ein wenig blaß, die Augen brannten vor innerer Erregung. Sie war von einer Gruppe junger Männer und Mädchen umgeben, man schüttelte sich die Hand, lachte und scherzte, worüber die ein wenig abseits stehende Mrs. Welland die Strahlen milder Zustimmung ergoß. Miss Welland war offensichtlich im Begriff, ihre Verlobung bekanntzugeben, und ihre Mutter zeigte das Gesicht elterlichen Widerstrebens, das man bei solcher Gelegenheit von ihr erwartete.

Archer blieb einen Augenblick stehen. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch sollte die Bekanntgabe erfolgen, und doch hätte er sich die Umstände anders gewünscht. Sein Glück in der Hitze und dem Lärm eines überfüllten Ballsaals ausrufen, das hieß, ihm den zarten Schmelz des Privaten nehmen, den alles ihm am Herzen Liegende haben sollte. Seine Freude war zwar so tief, daß diese Trübung der Oberfläche sie im Innern unberührt ließ; doch hätte er lieber auch die Oberfläche rein gehalten. Es gewährte ihm eine gewisse Befriedigung zu sehen, daß May Welland seine Empfindungen teilte. Flehend eilten ihre Blicke zu ihm und sprachen: »Denk daran, wir tun dies, weil es sich so gehört.«

Keine Bitte hätte in Archers Herzen eine schnellere Antwort finden können; aber er wünschte, die Erfüllung der Formalitäten wäre durch einen idealen Grund erzwungen worden und nicht einfach durch die Rückkehr der armen Ellen Olenska. Die Gruppe um Miss Welland machte ihm bedeutungsvoll lächelnd Platz, und nachdem auch er von allen Seiten Glückwünsche entgegengenommen hatte, führte er seine Braut mitten auf die Tanzfläche und legte ihr den Arm um die Taille.

»Nun brauchen wir nicht mehr zu reden«, sagte er und lächelte ihr in die aufrichtigen Augen, während sie auf den sanften Wellen der »Schönen blauen Donau« dahinschwebten.

Sie antwortete nicht; sie lächelte mit zitternden Lippen, doch ihre Augen blieben fern und ernst, als seien sie auf eine unaussprechliche Erscheinung gerichtet. »Liebes«, flüsterte Archer und preßte sie an sich. Ihm war, als müßten die ersten Stunden des Verlobtseins an sich etwas Feierliches, Heiliges haben, selbst wenn man sie in einem Ballsaal verbrachte. Was für ein neues Leben sollte es werden mit dieser Reinheit, Helle, Güte an seiner Seite!

Nach dem Tanz gingen die beiden, wie es Verlobten geziemte, in den Wintergarten. Hinter den hohen Baumfarren und Kamelien ließen sie sich nieder, und Newland drückte ihre behandschuhte Linke an seine Lippen.

»Du siehst, ich habe getan, was du wünschtest«, sagte sie.

»Ja; ich konnte nicht länger warten«, erwiderte er lächelnd. Nach einem Augenblick setzte er hinzu: »Ich wünschte nur, es hätte nicht auf einem Ball sein müssen.«

Ihr Blick sagte ihm, daß sie ihn verstand. »Aber – auch hier sind wir beide schließlich doch allein, nicht wahr?«

»Ja, Liebste – immer!« antwortete er.

Offenbar verstand sie ihn stets; in allem fand sie das richtige Wort. Diese Entdeckung brachte den Becher seines Glücks zum Überfließen, und er fuhr fröhlich fort: »Das schlimmste ist, daß ich dich küssen möchte und nicht darf.« Währenddessen blickte er sich rasch im Wintergarten um, sah, daß gerade niemand da war, riß sie an sich und drückte flüchtig seinen Mund auf ihre Lippen. Nach der unerhörten Kühnheit dieses Schrittes führte er sie zu einer Bambusbank in einem weniger versteckten Teil des Wintergartens, setzte sich neben sie und nahm ein Maiglöckchen aus ihrem Strauß. Sie saß schweigend da, und die Welt lag wie ein besonntes Tal zu ihren Füßen.

»Hast du es meiner Kusine Ellen gesagt?« fragte sie plötzlich, als spräche sie im Traum.

Er fuhr auf und erinnerte sich, daß er es nicht getan hatte. Eine unüberwindliche Hemmung, von solchen Dingen zu der seltsamen Fremden zu sprechen, hatte die Worte nicht über seine Lippen gelassen.

»Nein – ich hatte noch keine Gelegenheit«, log er hastig.

»Ach.« Es klang enttäuscht; doch sie ließ ihr Ziel nicht aus den Augen und bohrte behutsam weiter. »Tu es bitte. Ich habe es nämlich auch nicht getan; und ich möchte nicht, daß sie denkt –«

»Natürlich nicht. Aber ist das nicht eigentlich deine Sache?«

Sie dachte nach. »Wenn ich es rechtzeitig getan hätte, ja. Jetzt aber, wo es zu spät ist, müßtest du vielleicht erklären, daß ich dich in der Oper bat, es ihr zu sagen, bevor wir es hier allen mitteilten. Sie könnte sonst glauben, ich hätte sie vergessen. Sie gehört doch zur Familie, verstehst du, und sie war so lange fort, daß sie ein bißchen – empfindlich ist.«

Archer sah sie mit glühendem Blick an. »Du lieber gütiger Engel! Natürlich werde ich es ihr sagen.« Mit leichter Besorgnis deutete er auf die Menge im Ballsaal. »Aber ich habe sie noch nicht gesehen. Ist sie hier?«

»Nein. Im letzten Augenblick beschloß sie, nicht mitzukommen.«

»Im letzten Augenblick?« wiederholte er in seinem Schrecken darüber, daß sie überhaupt an so eine Möglichkeit gedacht hatte.

»Ja. Sie tanzt furchtbar gern«, anwortete das junge Mädchen einfach. »Plötzlich aber behauptete sie, ihr Kleid sei nicht elegant genug für den Ball, obwohl wir es herrlich fanden; darum mußte meine Tante sie heimbringen.«

»Aha«, meinte Archer befriedigt. Nichts gefiel ihm an seiner Verlobten mehr als ihre feste Entschlossenheit, dieses Ritual, zu dem sie beide erzogen waren, bis aufs äußerste zu erfüllen: alles »Peinliche« zu ignorieren.

»Sie weiß genausogut wie ich«, überlegte er, »warum ihre Kusine wirklich weggeblieben ist; aber ich werde ihr niemals auch nur das geringste Zeichen geben, daß ich den leisesten Schatten auf Ellen Olenskas Ehre wahrnehme.«

4

Im Laufe des nächsten Tages wurden die ersten der üblichen Verlobungsbesuche abgestattet. Die New Yorker gesellschaftlichen Vorschriften waren in dieser Hinsicht genau und streng; und so machte Newland Archer zunächst mit Mutter und Schwester Mrs. Welland seine Aufwartung, worauf er, Mrs. Welland und May zur alten Mrs. Manson Mingott hinausfuhren, um den Segen der ehrwürdigen Ahne zu empfangen.

Ein Besuch bei Mrs. Manson Mingott bedeutete für den jungen Mann stets ein Vergnügen. Das Haus selbst war schon ein historisches Zeugnis, wenn es natürlich auch nicht so ehrwürdig war wie gewisse alte Familienhäuser am University Place und an der unteren Fifth Avenue, die vom reinsten 1830er Stil waren, in welchem mit Zentifoliengirlanden geschmückte Teppiche, Rosenholzschnitzwerk, rundbogige Kamine mit schwarzmarmornen Simsen und riesige polierte Bücherschränke aus Mahagoni einen düsteren Zusammenklang ergaben. Dagegen hatte Mrs. Mingott, deren Haus später erbaut war, die schweren Möbel ihrer Jugendzeit eigenhändig hinausgeworfen und unter die Mingottschen Erbstücke die leichtfüßigen Polstermöbel des Zweiten Kaiserreichs gemischt. Gewöhnlich saß sie unten an einem Fenster ihres Wohnzimmers, als warte sie gelassen darauf, daß Leben und Welt nordwärts in ihre einsamen Wände fluteten. Sie schien es damit nicht eilig zu haben, denn ihre Geduld kam ihrer Zuversicht gleich. Sie war überzeugt, daß bald die Zäune, die Steinbrüche, die einstöckigen Kneipen, die hölzernen Treibhäuser in unordentlichen Gärten und die Felsen, von denen herab Ziegen die Gegend überschauten, vor den neuen Wohnhäusern weichen müßten, die ebenso stattlich wie das ihre wären, ja vielleicht – denn sie war unvoreingenommen genug – noch stattlicher; und daß die Pflastersteine, über welche die alten klapprigen Omnibusse holperten, von glatten Asphalt verdrängt würden, wie es ihn in Paris schon geben sollte. Vorläufig aber litt sie nicht unter ihrer geografischen Isolierung, denn jeder, den sie gern sah, kam zu ihr heraus, und sie konnte ihr Haus genauso mühelos füllen wie die Beauforts, ohne der Speisekarte ihres Abendessens auch nur einen Gang hinzufügen zu müssen.

Die ungeheuren Fleischmassen, die sie in der Mitte ihres Lebens überschwemmt hatten wie Lava eine zum Untergang verurteilte Stadt, hatten aus einer drallen aktiven kleinen Frau mit zierlich geformtem Fuß und Knöchel etwas so Gewaltiges und Erhabenes wie eine Naturerscheinung gemacht. Sie hatte diese Überflutung wie alle anderen Prüfungen stoisch hingenommen und wurde jetzt im hohen Alter dadurch belohnt, daß ihr der Spiegel eine feste Masse rosaweißen Fleisches fast ohne Runzeln zeigte, in dessen Mitte noch die Spuren eines kleinen Gesichts standen, als warte es darauf, ausgegraben zu werden. Doppelkinn auf Doppelkinn führte sanft hinab in die schwindelnden Tiefen eines noch immer schneeweißen Busens, den schneeweiße Musselintücher umhüllten, die von einem Miniaturbildnis des seligen Mr. Mingott zusammengehalten wurden. Seitwärts aber und abwärts ergoß sich Woge auf Woge schwarzer Seide über den Rand eines geräumigen Lehnstuhls, und dazwischen ruhten zwei winzige weiße Hände wie Möwen auf Wellenkämmen.

Die Fleischesbürde hatte es Mrs. Manson Mingott schon lange unmöglich gemacht, die Treppen hinauf- und hinunterzusteigen, und mit der ihr eigenen Freiheit hatte sie ihre Empfangsräume nach oben verlegt und sich selbst – in flagranter Verletzung aller New Yorker Sitten – im Erdgeschoß ihres Hauses eingerichtet; so daß jeder, der bei ihr am Wohnzimmerfenster saß, durch eine stets offene Tür und einen zurückgeschlagenen gelben Damastvorhang unerwartet in ein Schlafzimmer, auf ein mächtiges niedriges Bett, das wie ein Sofa gepolstert war, und auf einen Toilettentisch mit frivolen Spitzenvolants und einem goldgerahmten Spiegel blickte.

Ihre Besucher waren verwirrt und fasziniert von der Fremdheit dieser Einrichtung, die an gewisse Szenen in französischen Romanen erinnerte, und von diesen zur Unmoral verführenden architektonischen Reizen, die einem ehrbaren Amerikaner auch nicht im Traum eingefallen wären. So lebten Frauen mit Liebhabern in der verderbten alten Gesellschaft, in Wohnungen, deren Zimmer alle in einem Stockwerk lagen und in denen alles Unanständige, das ihre Romane beschrieben, nahe zur Hand war. Es belustigte Newland Archer (der sich insgeheim die Liebesszenen des »Monsieur de Camors« in Mrs. Mingotts Schlafzimmer vorstellte), sich ihr untadeliges Leben im Bühnendekor des Ehebruchs auszumalen; aber er gestand sich auch voller Bewunderung: Hätte diese furchtlose Frau einen Geliebten gewollt, sie hätte ihn sich auch genommen.

Zur allgemeinen Erleichterung befand sich die Gräfin Olenska bei dem Besuch der Verlobten nicht im Wohnzimmer ihrer Großmutter. Mrs. Mingott sagte, sie sei ausgegangen. So unpassend das nun auch im hellen Sonnenlicht und zur »Einkaufszeit« zu sein schien, es ersparte ihnen doch die Verlegenheit und den leisen Schatten, den die unglückliche Vergangenheit dieser Frau vielleicht auf ihre leuchtende Zukunft werfen konnte. Der Besuch verlief glänzend, wie zu erwarten gewesen. Die alte Mrs. Mingott war entzückt von der Verlobung, die von wachsamen Verwandten lange vorausgesehen und im Familienrat sorgfältig besprochen worden war; und der Verlobungsring, ein großer, dikker, unsichtbar gefaßter Saphir, fand ihre uneingeschränkte Bewunderung.

»Es ist eine neue Fassung; der Stein kommt darin zwar zu voller Wirkung, aber es sieht für altmodische Augen doch ein bißchen kahl aus«, erklärte Mrs. Welland mit einem gewinnenden Seitenblick auf ihren künftigen Schwiegersohn.

»Altmodische Augen? Damit meinst du hoffentlich nicht meine. Ich habe alle Neuheiten gern«, sagte die Ahne und hob den Stein an ihre kleinen hellen Augen, die nie eine Brille verunstaltet hatte. »Sehr hübsch«, setzte sie hinzu, als sie das Juwel zurückreichte; »sehr großzügig. Zu meiner Zeit war man mit einer in Perlen gefaßten Kamee zufrieden. Aber schließlich ist es ja die Hand, die den Ring zur Wirkung bringt, nicht wahr, mein lieber Mr. Archer?«, und sie schwenkte ihre winzige Hand mit den schmalen spitzen Nägeln und den Fettwülsten, die das Handgelenk wie Elfenbeinreifen umschlossen. »Meine hat der große Ferrigiani in Rom modelliert. Sie sollten Mays Hand abformen lassen – er wird es gewiß tun, mein Kind. Die Hand ist groß – das macht der moderne Sport, der die Gelenke weitet –, aber die Haut ist weiß. – Und wann soll die Hochzeit sein?« brach sie ab und heftete die Augen auf Archers Gesicht.

»Oh«, murmelte Mrs. Welland, während der junge Mann seine Braut anlächelte und erwiderte: »So bald wie möglich, wenn Sie mich nur unterstützen würden, Mrs. Mingott.«

»Wir müssen ihnen Zeit lassen, sich ein bißchen besser kennenzulernen, Mama«, schaltete Mrs. Welland ihren gut gespielten Widerstand ein, worauf die Ahne entgegnete: »Kennenlernen? Papperlapapp! Jeder kennt jeden in New York. Laß dem jungen Mann seinen Willen, meine Liebe; warte nicht, bis der Wein ausgeschäumt hat. Laß sie vor der Fastenzeit heiraten; ich könnte mir jetzt jeden Winter eine Lungenentzündung holen, und ich will doch das Hochzeitsfrühstück geben.«

Diese Worte wurden mit den angemessenen Bekundungen von Vergnügen, Ungläubigkeit und Dankbarkeit aufgenommen, und als dann der Besuch in heiterer Stimmung aufbrach, öffnete sich die Tür vor der Gräfin Olenska, die in Häubchen und Mantel eintrat, gefolgt von der unerwarteten Erscheinung Julius Beauforts.

Kusinenhaft erfreut begrüßten sich die Damen, und Mrs. Mingott streckte dem Bankier das Modell Ferrigianis entgegen. »Sieh da, Beaufort, das ist aber eine seltene Gunst!« Sie hatte die sonderbare ausländische Gewohnheit, Männer einfach bei ihrem Namen zu nennen.

»Danke. Ich wollte, es geschähe häufiger«, sagte der Besucher leichthin in seiner anmaßenden Art. »Ich bin gewöhnlich so beschäftigt. Aber ich traf die Gräfin Ellen auf dem Madison Square, und sie war so ungewöhnlich gütig, sich von mir nach Hause begleiten zu lassen.«

»Ach – hoffentlich wird’s im Haus nun lustiger, wo Ellen hier ist!« rief Mrs. Mingott in köstlicher Rücksichtslosigkeit. »Setzen Sie sich, Beaufort, setzen Sie sich; rücken Sie sich den gelben Sessel heran; da ich Sie nun mal hierhabe, möchte ich mit Ihnen auch ein bißchen plaudern. Ihr Ball soll ja großartig gewesen sein; ich habe gehört, Sie haben Mrs. Lemuel Struthers eingeladen? Na – ich platze vor Neugier, die Frau selber zu sehen.«

Sie hatte ihre Verwandten vergessen, die unter Ellen Olenskas Führung in die Diele verschwanden. Die alte Mrs. Mingott hatte stets eine große Bewunderung für Julius Beaufort bekundet, und es lag etwas Verwandtes in ihrem kühlen herrischen Wesen und in ihrer Art, gesellschaftliche Vorschriften abzukürzen. Jetzt war sie furchtbar neugierig zu erfahren, was die Beauforts bewogen hatte, Mrs. Lemuel Struthers (zum erstenmal) einzuladen, die Witwe von Mr. Struthers, dem Schuhkremfabrikanten, die im vergangenen Jahr von dem unerläßlichen langen Europaaufenthalt zurückgekehrt war, um die starke kleine Festung New York zu belagern. »Wenn Sie und Regina sie einladen, ist die Sache natürlich entschieden. Na, wir brauchen neues Blut und neues Geld – und sie soll ja noch immer sehr gut aussehen.«

Als Mrs. Welland und May sich in der Diele ihre Pelze anzogen, sah Archer, daß die Gräfin Olenska ihm leise fragend zulächelte.

»Sie wissen es natürlich schon – das von May und mir«, beantwortete er ihren Blick mit einem scheuen Lachen. »Sie hat mich ausgescholten, weil ich es Ihnen nicht gestern abend in der Oper gesagt habe; sie hatte mich beauftragt, Ihnen unsere Verlobung mitzuteilen – aber ich konnte es nicht, in der Menge.«

Das Lächeln der Gräfin Olenska ging von den Augen auf die Lippen über; sie sah nun jünger aus, mehr wie die verwegenene braune Ellen Mingott aus seiner Knabenzeit. »Natürlich weiß ich es. Und ich freue mich. Sicher redet man in einer Menschenmenge nicht gern darüber.« Die Damen standen an der Tür, und sie hielt ihm die Hand hin.

»Auf Wiedersehen. Und besuchen Sie mich mal«, sagte sie, den Blick noch immer auf Archer gerichtet.

Als sie in der Kutsche die Fifth Avenue hinunterfuhren, sprachen sie nur von Mrs. Mingott, ihrem Alter, ihrer Lebendigkeit, von all ihren wunderbaren Eigenschaften. Niemand erwähnte Ellen Olenska; aber Archer wußte, daß Mrs. Welland dachte: »Es ist ein Fehler, daß sich Ellen gleich am Tage nach ihrer Ankunft zur belebtesten Stunde mit Julius Beaufort auf der Fifth Avenue sehen läßt –«, und der junge Mann fügte selbst in Gedanken hinzu: »Und sie sollte wissen, daß ein Neuverlobter seine Zeit nicht damit verbringt, verheiratete Frauen zu besuchen. Aber bei den Leuten, unter denen sie gelebt hat, ist das üblich – sie tun überhaupt nichts anderes.« Und trotz der freien, weltmännischen Ansichten, auf die er so stolz war, dankte er dem Himmel, daß er ein New Yorker war und sich mit einer Frau seinesgleichen verbinden würde.

5

Am folgenden Abend kam der alte Sillerton Jackson zu den Archers zum Abendessen.

Mrs. Archer war eine scheue Frau und ging Gesellschaften aus dem Wege; aber sie wollte doch gern immer auf dem laufenden bleiben. Ihr alter Freund Sillerton Jackson verwandte die Geduld eines Sammlers und die Wissenschaft eines Naturforschers auf das Studium der Verhältnisse seiner Bekannten; und seine Schwester, Miss Sophy Jackson, die bei ihm wohnte und von all denen eingeladen wurde, die ihres vielbegehrten Bruders nicht habhaft werden konnten, brachte hie und da Klatsch mit heim, mit dem er die Lücken in seinem Bilde stopfte.

Wenn es also etwas Neues gab, worüber Mrs. Archer Bescheid wissen wollte, lud sie Mr. Jackson zum Abendessen ein; und da sie nur wenige mit ihren Einladungen beehrte und sie und ihre Tochter Janey ausgezeichnete Zuhörerinnen waren, kam Mr. Jackson meist selbst, anstatt seine Schwester zu schicken. Wenn er die Bedingungen hätte vorschreiben können, dann hätte er die Abende gewählt, an denen Newland ausgegangen war; nicht weil der junge Mann ihm unsympathisch gewesen wäre – im Klub kamen sie prächtig miteinander aus –, sondern weil der greise Anekdotenkrämer bei Newland manchmal eine Neigung verspürte, seine Glaubwürdigkeit zu überprüfen, was bei den Damen der Familie nie der Fall war.

Wenn Vollkommenheit auf Erden erreichbar wäre, hätte Mr. Jackson Mrs. Archer gebeten, für etwas besseres Essen zu sorgen. Aber New York war schon immer, soweit man zurückdenken konnte, in zwei große Hauptgruppen geteilt gewesen: die Mingotts und Mansons samt allen ihren Anverwandten mit ihrer Liebe zu Essen, Kleidern und Geld, und die Archer-Newland-van-der-Luyden-Sippe, die sich den Reisen, der Gartenpflege und der besten Literatur widmete und auf die gröberen Genüsse herabsah.

Man konnte schließlich nicht alles auf einmal haben. Wenn man bei den Lovell Mingotts speiste, gab es Kanevasente, Schildkröte und einen guten Tropfen; bei Adeline Archer dagegen konnte man über Alpenlandschaften und den »Marmorfaun« reden; aber der Madeira bei Archers war zum Glück wirklich alt. Wenn also eine freundliche Aufforderung von Mrs. Archer kam, sagte Mr. Jackson, der das Gute nahm, wo er es fand, gewöhnlich zu seiner Schwester: »Seit dem letzten Essen bei den Lovell Mingotts habe ich etwas Gichtschmerzen – die Diät bei Adeline wird mir guttun.«

Mrs. Archer, die schon lange verwitwet war, wohnte mit Sohn und Tochter in der Achtundzwanzigsten Straße West. Eines der oberen Stockwerke war ganz für Newland reserviert, während sich die beiden Frauen mit engeren Räumen in der unteren Etage begnügten. In heiterem Einklang von Geschmack und Interessen zogen sie in besonderen Kästen Farne, knüpften Makraméspitzen, stellten Wollstickereien auf Leinen her, sammelten Glasurwaren aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, hatten »Good Words« abonniert und lasen Ouidas Romane wegen deren italienischer Atmosphäre. (Sie bevorzugten diejenigen über das bäuerliche Leben wegen der Landschaftsbeschreibungen und der im ganzen erfreulicheren Grundstimmung; sonst aber lasen sie lieber Gesellschaftsromane, deren Handlungen und Anschauungen ihnen verständlicher waren; sie urteilten streng über Dickens, der »nie einen Gentleman gestaltet« habe, und Thackeray war für sie in der großen Welt weniger zu Hause als Bulwer – der freilich allmählich als altmodisch galt.)

Mrs. Archer und ihre Tochter schwärmten für die Natur, und darum vor allem unternahmen sie ihre gelegentlichen Auslandsreisen, während Architektur und Malerei ihrer Meinung nach für Männer da waren, besonders für so gebildete Leute, die Ruskin lasen. Mrs. Archer war eine geborene Newland, und Mutter und Tochter, die sich wie Schwestern glichen, waren beide, wie man von ihnen sagte, »echte Newlands«: schlank, blaß, ein wenig rundschultrig, mit langer Nase, süßem Lächeln und einer müden Vornehmheit, wie man sie auf einigen alten Bildnissen Reynolds’ findet. Ihre äußere Ähnlichkeit wäre vollkommen gewesen, wenn Mrs. Archers schwarzen Brokat nicht der Embonpoint des fortgeschrittenen Alters geweitet hätte, während Miss Archers braune und violette Popelinkleider mit fortschreitenden Jahren immer loser um ihre jüngferliche Gestalt hingen.