Zeit der Wildrose - Angelika Monkberg - E-Book

Zeit der Wildrose E-Book

Angelika Monkberg

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Beschreibung

Stürmische Zeiten für Belfort Castle …
Die schicksalshafte Familiensaga im wildromantischen Schottland

Schottland, 1890: Seit jeher arbeitet Josephine im Gasthaus an der Straße nach Baldorran und Castle Belfort. Ehemals war es eine prachtvolle Gegend, aber seit dem Tod des letzten Herzogs von Belfort verirrt sich kaum ein Reisender mehr hierher, denn die Straße gilt nach etlichen Überfällen als gefährlich. Doch das Auftauchen eines attraktiven Fremden soll alles ändern: Karim Said hat es sich in den Kopf gesetzt, die Gegend wieder sicherer zu machen. Doch als er Phine als Dienstmädchen mitnimmt, beginnt sie sich zu fragen, ob er nicht ein falsches Spiel spielt. Viel zu spät merkt Phine, dass sie bereits mitten in einer Intrige um Reichtum und Macht steckt – kann sie das Geheimnis lüften, ohne dabei ihr Herz zu verlieren?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das verlorene Herz von Belfort.

Erste Leser:innenstimmen
„Spannend und romantisch zugleich – großartig!“
„Die historischen Hintergründe sind wirklich gut recherchiert, weswegen das Lesen ein Genuss war.“
„Ein Liebesroman voller Geheimnisse und überraschender Wendungen.“
„Die Geschichte von Phine wird packend und mitreißend erzählt, klare Empfehlung!“

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Seitenzahl: 384

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Über dieses E-Book

Schottland, 1890: Seit jeher arbeitet Josephine im Gasthaus an der Straße nach Baldorran und Castle Belfort. Ehemals war es eine prachtvolle Gegend, aber seit dem Tod des letzten Herzogs von Belfort verirrt sich kaum ein Reisender mehr hierher, denn die Straße gilt nach etlichen Überfällen als gefährlich. Doch das Auftauchen eines attraktiven Fremden soll alles ändern: Karim Said hat es sich in den Kopf gesetzt, die Gegend wieder sicherer zu machen. Doch als er Phine als Dienstmädchen mitnimmt, beginnt sie sich zu fragen, ob er nicht ein falsches Spiel spielt. Viel zu spät merkt Phine, dass sie bereits mitten in einer Intrige um Reichtum und Macht steckt – kann sie das Geheimnis lüften, ohne dabei ihr Herz zu verlieren?

Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits erschienenen Titels Das verlorene Herz von Belfort.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-607-5 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-635-8

Copyright © 2021, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2021 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Das verlorene Herz von Belfort (ISBN: 978-3-96817-404-4).

Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Friedberg, © Reimar, © Ortis, © lovelyday12, © Prithu shutterstock.com: © KathySG, © Ortis, © Artiste2d3d © Kirill.Veretennikov Lektorat: Astrid Rahlfs

E-Book-Version 06.02.2024, 11:33:21.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Zeit der Wildrose

Vorwort zur Neuausgabe

Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, wie wenig Freiheit die Gesellschaft Frauen und Mädchen noch gegen Ende des Viktorianischen Zeitalters gestattete. Das Leben war zwar um einiges komfortabler geworden: Man reiste mit der Eisenbahn, es gab Dampfmaschinen, auch erste Haushaltsgeräte. Aber die allgemeine Schulpflicht von 1880 bedeutete nicht, dass Mädchen und Jungen die gleiche Bildung erhielten. Söhne gingen nach Eton oder Harrow, Töchter wurden zu Hause unterrichtet. Sie lernten Fremdsprachen, Malen, Musik und Nähen. Fächer wie Latein und Mathematik, unabdingbare Voraussetzung für ein Universitätsstudium blieben ihnen verschlossen. Elizabeth Garrett Anderson, die 1862 als erste Frau in England als Ärztin zu praktizieren begann, musste sich ihr Wissen durch private Studien aneignen.

Frauen besaßen kein Recht darauf, vor Gericht zu klagen, kein Recht auf eigenen Besitz und sie durften erst ab 1918 wählen. Gleichzeitig liebten viele Väter ihre Töchter innig. Sie taten oft alles, was in ihren Kräften stand, … um sie gut zu verheiraten. Ehe und Mutterschaft galten als heiligste Aufgabe der Frau und einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Diese Verhältnisse wollte ich gerne darstellen. Ich wollte aber auch die Feste dieser Zeit wieder wachrufen, das Leben in großen Häusern, wie sich Liebende auch gegen Widerstände fanden und natürlich die schönen Kleider.

Teil 1: Das Dienstmädchen

Kapitel 1

Der Märzregen verwandelte die Dorfstraße in Schlamm und natürlich klebte er jedem, aber auch wirklich jedem an den Stiefeln, der George Fletcher’s Inn an diesem Morgen betrat. Zuerst, in aller Frühe, kam Brewster. Was der Kammerdiener des Barons von ihrem Ziehvater wollte, hörte Phine nicht, weil beide Männer ins Kontor gingen. Sie reimte sich aber zusammen, dass Newberry wahrscheinlich wieder einmal Gäste zum Dinner in den Gasthof eingeladen hatte. Phine packte Eimer und Lappen, beseitigte alle Fußspuren und hoffte, dass die schönen Schachbrettfliesen im Flur vor Gaststube und Herrenzimmer jetzt eine Weile sauber blieben. Aber schon fünf Minuten später trug Ned Hunter, der beste Freund ihres Ziehvaters, neuen Schmutz herein.

„Josephine, wo ist der Wirt? Im Kontor? Du brauchst mich nicht anzumelden.“ Er marschierte mit grimmiger Miene an ihr vorbei und verteilte eine Spur aus Lehm und Pferdemist einmal quer durchs ganze Haus. Phine seufzte und machte sich erneut ans Werk.

Als sie eine halbe Stunde später das Wischwasser in die Büsche vor dem Hühnerstall kippte, kamen auch die Männer nach draußen und jetzt wirkte Hunter bester Laune. Er winkte sie näher.

„Josephine, George Fletcher und ich, wir können einen Whisky gebrauchen.“

„Jawohl, Mister Hunter. Zu Diensten.“

Sie knickste. Von der Straße her drangen die Hufschläge eines Reitpferdes in den Hof. Nun, sie hätte sich denken können, dass es das heute mit dem Putzen nicht gewesen war. Außerdem durfte sie jetzt auch noch den Unwillen der Tante Wirtin ertragen, wenn sie um die Flasche und Gläser bitten musste. Ihre Ziehmutter hielt die Kriegskameraden ihres Mannes durch die Bank für Schnorrer und dabei wusste sie längst nicht die Hälfte von dem, was ihnen der Onkel Wirt alles zusteckte. Erst letzten Monat hatte ihr Ziehvater wieder jedem der Männer beim Verlassen der Gaststube einen handlichen, aber schweren Lederbeutel in die Hand gedrückt. Sie nahm nicht an, dass sie Kieselsteine darin nach Hause trugen. Phine kehrte zum Hintereingang des Gasthofs zurück und prallte dort fast mit ihrer Ziehmutter zusammen.

„Oh Verzeihung, Tante Wirtin.“

„Schon gut! Stell den Eimer hin und sag Fletcher, dass mein Bruder gekommen ist. Wir erwarten ihn im Kontor.“

„Der Squire ist da? Weiß Suzan …?“

„Nein.“ Ihre Ziehmutter wehrte ab. „Und du hältst gefälligst auch den Mund. Sie erfährt es noch früh genug. Wenn sie von oben herunterkommt, richtest du ihr aus, dass sie in der Küche das Silber putzen soll. Davon abgesehen bleibt meine Nichte für dich immer noch Miss Suzan und dass du meinen Bruder einfach den Squire nennst statt Sir John, wie es sich für dich gehört, will ich nicht noch einmal hören!“

„Nein, Tante Wirtin. Ich bitte um Verzeihung.“

„Das will ich dir aber auch geraten haben! Jetzt geh!“

„Zu Diensten, Tante Wirtin.“

Phine knickste. Sie wunderte sich, was der Squire im Gasthof wollte, er kam doch sonst nie unter der Woche. Ned Hunter lachte laut heraus, als sie die Botschaft ausrichtete.

„Tja, George, dann wird es wohl nichts mit dem Whisky! Viel Glück mit dem Squire. Oder sollte ich lieber sagen: mit seiner Schwester?“

Er schlug dem Onkel Wirt auf den Rücken und verließ, immer noch lachend, den Hof. Phine hörte, wie er draußen auf der Straße den Pferden seines Fuhrwerks pfiff. Wenigstens einer, der ihr nicht noch einmal Schmutz ins Haus trug! Sie ließ ihrem Ziehvater den Vortritt und schloss die Tür.

Draußen klarte es langsam auf. Vorne im schönen Flur brach helles Licht durch die bunten Glasscheiben im Bogenfeld über der Haustür. Leuchtend rote, blaue und grüne Sonnenflecken verwandelten das Schachbrettmuster in Porphyr, Lapislazuli und Malachit. Kleine Stücke davon hatte ihr Ziehvater aus dem Anglo‑Afghanischen Krieg mitgebracht. Sie wischte feucht nach hinten zum Dienstboteneingang durch und von dort noch einmal nach vorn. Dabei klapperte sie absichtlich laut mit dem Eimer, ein geheimes Zeichen zwischen ihr und Miss Suzan, damit diese in der Küche blieb.

Heute kam Phine dadurch allerdings dem Befehl der Tante Wirtin nach und verschaffte damit Sir John freie Bahn. Der Squire verließ das Kontor schweigend, bedeutsam einen Finger auf die Lippen gelegt, und ging zum Hinterausgang. Sie machte stumm einen höflichen Knicks. Wenn ihn Suzan jetzt durch das Küchenfenster aus dem Hof gehen sah, konnte sie niemand dafür verantwortlich machen. Phine putzte wieder den hinteren Flur und brachte den Eimer in den Hof, dankbar für die Atempause.

Dort blies der Wind neue Regenwolken zu den Bergen. Es war für die Jahreszeit noch fast zu kühl. Aber die Spatzen, die rund um die Pfützen hüpften, kümmerte das nicht. Sie balzten.

Phine leerte das Schmutzwasser an den Holunderstrauch. Sie hoffte, dass ihre Ziehmutter langsam ein Einsehen haben, endlich das Schild geschlossene Gesellschaft ins Fenster hängen und sie damit von der fruchtlosen Putzerei erlösen würde. Bis zum Eintreffen des Barons und seiner Gäste blieb im Haus schließlich noch genug zu tun.

Aber die Tante Wirtin fand eine andere Aufgabe. „Du bringst jetzt mit Suzan die jungen Gänse auf die Weide. Geschwind, in der nächsten Stunde will ich keine von euch beiden hier im Gasthof sehen!“

Ihre Ziehmutter hatte es so eilig, sie aus dem Haus zu scheuchen, dass ihr nicht einmal Suzans gutes seidenes Schultertuch und die neuen Knopfstiefelchen auffielen.

„Seit wann schickt mich Tante Wilhelmina mit dir zum Gänsehüten?“

Phine zuckte mit den Schultern. Es ging sie nichts an, aber sie machte sich Sorgen. Zuerst der Besuch des Squires und nun dieser plötzliche Befehl ihrer Ziehmutter ‒ das roch verdächtig danach, dass Sir John und Lady Gilbert einen passenden Bräutigam für Suzan gefunden hatten. Das Pferdegespann, das sie in diesem Augenblick auf der Straße vor George Fletcher’s Inn traben hörte, gehörte schon einmal nicht dem Baron. Newberry ließ seinen Kutscher immer mit der Peitsche knallen, damit auch ja niemand seine Ankunft überhörte. Außerdem kam er nie vor Sonnenuntergang.

Arme Suzan! Sie wollte mit dem Seidentuch und den neuen Stiefelchen sicher Ruben gefallen, dem Schankknecht ihres Onkels. Er kam nur leider überhaupt nicht infrage. Ruben war ein armer Schlucker, sie dagegen Miss Gilbert. Es stimmte zwar, dass Wolle nicht mehr das einbrachte wie früher. Aber Sir John hatte neben der Schafzucht schon früh mit dem Anbau von Früchten und Gemüse unter Glas begonnen und verkaufte heute Erdbeeren, Ananas und Artischocken bis nach Glasgow und Edinburgh. Darüber hinaus sollte Suzan später einmal den Gasthof erben. Phine schätzte, dass der Squire mindestens auf einen Viscount als Schwiegersohn zielte. Ruben schlug sich Suzan also besser aus dem Kopf.

Er wuchtete gerade ein volles Fass die steile Kellertreppe hinauf, als sie mit rauschenden Röcken an ihm vorbei durch den hinteren Flur zum Dienstbotenausgang ging. Phine fand es gemein, sie sah seinen waidwunden Blick. Aber er blieb stumm. Ruben wusste, dass er es niemals wagen durfte, auch nur den Blick auf Suzan zu richten. Er war der Tante Wirtin seit dem Tag, da ihn der Onkel als Schankknecht geholt hatte, ein Dorn im Auge. Weil er, genau wie Phine, seinen Vater nicht nennen konnte. Ruben konnte nur ebenso wie sie den Mund halten und beten, dass ihrer Ziehmutter Suzans Schwärmerei für ihn nicht eines Tages doch noch auffiel.

„Josephine! Wo bleibst du?“

Suzans blondes Haar leuchtete in der Sonne. Sie wartete im offenen Hinterausgang. Es zog furchtbar, der Wind jammerte wie eine gefangene Banshee durch den Flur und die Tante Wirtin riss die Küchentür auf.

„Seid ihr immer noch da? Jetzt aber flott, Josephine!“

„Auweia!“ Suzan wurde ein bisschen rot.

Phine schlüpfte eilig vor der Waschküche aus den Strohpantoffeln in die Holzschuhe, wickelte sich in ihr eigenes, weit schlichteres Schultertuch aus Wolle und folgte Suzan in den Hof.

Dort waren früher Postkutschen und die vier‑ bis sechsspännigen Kutschen der Vornehmen eingefahren, aber das wusste Phine nur aus Erzählungen. Die Mautstraße, die in Bailersgate begann, war lange Zeit die kürzeste und im Westen auch die einzige Verbindung nach Baldorran, dem Stammsitz der Herzöge von Belfort gewesen. Die Reise dauerte mit Kutsche oder Fuhrwerk nach wie vor mindestens einen halben Tag, darum hatte früher jedermann in George Fletcher’s Inn Station gemacht, bis die Stallburschen ihres Ziehvaters die Pferde gewechselt hatten. Manchmal war für das anstrengende Steilstück bis zur Fuhrmannshöhe hinauf sogar noch ein zusätzliches Paar Zugtiere eingespannt worden.

Aber seit dem Tod des letzten Herzogs lag die Residenz im Hochland im Dornröschenschlaf. Die Mautstraße war durch die vielen Überfälle auf die Goldtransporte in Verruf geraten und zuletzt hatte der Bau der Eisenbahnstrecke bis nach Baldorran dem Gasthof ihres Ziehvaters fast den Gnadenstoß versetzt. Stallungen und Remise standen schon seit Phines frühester Kindheit leer und wenn doch einmal frische Zugtiere gebraucht wurden, borgte sie Ned Hunter vom Squire.

Viele im Dorf hofften jetzt, dass wenigstens die Händler nach der Fertigstellung des letzten Teilstücks der Eisenbahntrasse wieder den Weg durch Bailersgate nehmen würden. Die Schienen sollten bis direkt zu den Goldminen hinaufführen und die Mautstraße damit wieder sicher machen. Aber Phine glaubte nicht daran. Sie lockte die jungen Gänse, die alle noch das gelbe Daunenkleid trugen, über den Hof und auf die Bleichwiese am Ende des Dorfs.

Dort stand auch das Epitaph für den letzten Herzog von Belfort. Das Unglück, mit dem sein Geschlecht erloschen war, hatte sich an der Fuhrmannshöhe über dem Dorf ereignet. Gerald St. Martin war nach Bailersgate gekommen, weil er von dort aus mit einem Heißluftballon aufsteigen wollte, um seiner jungen Gemahlin seine Ländereien zu zeigen. Dabei war das hohe Paar dann umgekommen. Einige im Dorf sagten, der Ballon des Herzogs habe Feuer gefangen. Andere behaupteten, die Zugpferde seiner Kutsche wären vom Schuss eines Wilderers erschreckt durchgegangen und hätten St. Martin überrannt.

Sein Bronzeprofil blickte auf alle Fälle für immer zur Mautstraße, voller Sehnsucht, wie die Tante Wirtin sagte. Denn der Leichnam der persischen Prinzessin, die der Herzog erst wenige Tage zuvor auf sein Stammschloss Belfort Castle heimgeführt hatte, war niemals gefunden worden. Phine schlug ein Kreuz und wischte sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Suzan bibberte neben ihr im kalten Wind.

„Warum müssen wir die Gänse gerade heute an das Weiden gewöhnen? Es ist doch noch viel zu früh dafür.“ Sie schlang das Seidentuch enger um sich.

„Ich weiß nicht. Vielleicht weil Brewster heute schon in aller Frühe hier war.“ Phine sprach ihre wirkliche Befürchtung eines Bewerbers um Suzans Hand lieber nicht aus.

„Na schön, der Baron kommt. Und?“

„Sir Francis ist bereits hier.“

„Stimmt, wenn Newberrys Kammerdiener bei Onkel George war … sag nicht, Rubens Mutter konnte wieder einmal nicht zahlen …“

Phine verschlug es die Sprache. Suzan glaubte scheinbar wirklich, dass der Baron wegen der paar Schillinge Pacht höchstpersönlich bei der Hebamme anklopfte. Dabei wusste das ganze Tal, was Sir Francis wirklich in ihre Kate zog ‒ und nicht nur ihn. Die Tante Wirtin hielt sich zurück, wenn ihre Nichte in Hörweite war, aber wenn sie mit Phine in der Küche allein war, nahm sie kein Blatt vor den Mund und nannte Rubens Schwester Martha eine Hure.

Wie die Mutter, so die Tochter.

Dabei blieb Catriona Selkirk kaum eine Wahl. Die Wochenbetten der Pächterfrauen allein hätten Rubens Mutter nicht über den Winter gebracht und er trug als Schankknecht auch keine Reichtümer mit nach Hause. Sie war auf jeden Sack Mehl oder Kartoffeln und die Schillinge angewiesen, die Marthas Kunden bei ihr ließen.

Die meisten waren Offiziere der Garnison in Baldorran, aber leider nicht nur. Phine musste frühmorgens oft zum Müller, um feines Mehl für Scones oder andere Backwaren zu holen. Die Kate der Hebamme lag direkt neben der Mühle und sie konnte nicht mehr zählen, wie viele Male sie schnell hinter der Hecke verschwunden war, um nicht einem der Männer aus dem Dorf zu begegnen. Einmal war sie zu ihrem größten Schrecken sogar beinahe Suzans Vater in die Arme gelaufen. Aber das hätte sie ihr nie im Leben verraten.

Phine nahm ein Gänschen hoch, das auf einem Fuß hinkte, und hörte Suzan nur mit einem Ohr zu.

„Also, ich verstehe nicht, warum wir unbedingt aus dem Haus mussten. Sonst hat uns die Tante doch auch einfach in die Küche befohlen, wenn Newberry kam. Einmal durften wir sogar vor dem Baron knicksen.“

„Da warst du zehn und hast noch einen kurzen Rock getragen.“

„Oh …“ Auf der Wiese entstand eine unbehagliche Pause.

Suzan stieg Röte in die Wangen. Scheinbar wusste sie doch, welch üblen Ruf der Baron in Bailersgate und den Nachbardörfern genoss. Dass er mehr als einer Tochter eines Pächters einen dicken Bauch gemacht hatte.

Suzan sah zu Boden. „Ich müsste dann wohl einen Soldaten zum Mann nehmen. Oder einen Witwer, was glaubst du?“

Phine zuckte mit den Schultern. Wenn Ruben Suzan wirklich liebte, gab er ihr auch im Unglück seinen Namen und zog ihr Kind als seines groß. Er war stark und geschickt und verstand sein Geschäft. Sie hätte mit ihm einen guten Wirt für den Gasthof bekommen. Während irgendein feiner Gentleman aus Baldorran zweifellos nur ihre Mitgift sehen, den Gasthof verpachten und dann über den mageren Profit stöhnen würde.

Suzan seufzte. „Weißt du, ich wünschte … Vater sagt immer, Newberry solle seine Gäste lieber in sein Herrenhaus in Port Belfort einladen, statt immer Tante Wilhelmina Arbeit zu machen. Aber der Baron kann es wahrscheinlich deshalb nicht tun, weil seine Frau spinnt.“

„Wie bitte?“

„Ja. Alle sagen, dass sie geistesgestört ist. Deshalb sind die Fenster des Haupthauses auch vergittert. Bis hinauf in die Mansarden! Unser Kutscher hat es selbst gesehen.“

Suzan rückte näher. „Lady Newberry soll sehr schön sein und stumm. Aber so verrückt, dass sie ganze Briefe mit Kringeln vollkritzelt, die kein Mensch entziffern kann.“ Suzan ergriff Phines Arm. „Einmal soll sie sogar versucht haben, ihr Geschreibsel aus dem Haus zu schmuggeln. Stell dir vor! Wie fürchterlich peinlich für den Baron!“

Zwanzig junge Gänse konnten nicht so viel schnattern wie Suzan, wenn sie einmal ihrer Zunge freien Lauf lassen durfte. Im Gasthof erlaubte ihre Tante bei der Arbeit höchstens Singen und Phine musste ganz schweigen. Sie sang entweder zu tief oder viel zu hoch und als Findelkind hatte sie ohnehin nichts zu sagen. Aber sie konnte lesen, schreiben und sehr gut rechnen. Suzans Erbe würde nicht so großartig ausfallen, wie der Squire wahrscheinlich hoffte. Phine wusste, wie dringend ihre Ziehmutter die rund zehn Pfund Sterling brauchte, die sie aus zwanzig im Herbst geschlachteten Gänsen erlösen würde. Es stand schlecht um den Gasthof und wenn Newberry nicht immer wieder Gäste dorthin eingeladen hätte, hätte es noch schlechter ausgesehen.

Aber auch der Baron merkte als Eigentümer der Mautstraße, dass Kaufleute und andere Reisende, die sich die Fahrt mit der Eisenbahn nicht leisten konnten, jetzt lieber den Umweg um das Moor auf der anderen Seite des Roten Berges in Kauf nahmen. Ned Hunter, der oft in Baldorran zu tun hatte, war beinahe der einzige der Pächter des Barons, der noch regelmäßig mit seinem Fuhrwerk die Passstrecke benutzte.

Das aufgeregte Gackern einer jungen Gans, die eifrig an den schwarzen Lederknöpfen von Suzans rechtem Stiefel knabberte, brachte Phine in die Gegenwart zurück. Sie bückte sich und schob den dunklen Schnabel fort. „Die mag dich, Suzan.“

„Deshalb werden wir sie im Herbst auch schlachten und rupfen.“

„Du nicht, Miss Suzan. Seit wann macht sich die Tochter des Squires die Finger mit nassen Federn schmutzig?“ Phine musste lachen.

„Reib mir das auch noch unter die Nase! Ich habe mir das Bett nicht ausgesucht, in dem ich geboren wurde!“

Phine sah Suzan nur an.

Diese legte erschrocken eine Hand auf den Mund. „Oh, Gott … entschuldige! Sei mir bitte nicht böse. Ich habe es nicht so gemeint.“

Sie sah so kläglich drein, dass Phine ihr den Arm um die Taille legte und sie drückte. Als Findelkind musste sie für alles dankbar sein. Ob es nun Suzans abgelegte Kleidung war oder der Verschlag auf dem Dachboden des Gasthofs, in dem sie schlief. Im Sommer herrschte dort oft brütende Hitze, während sie im Winter manchmal mit Reif auf dem Federbett erwachte. Aber es hätte schlimmer kommen können. Sie hätte auch verhungern können.

Damals, im Wald.

„An was denkst du, Phine? Du bist so still.“

„Dass die Gänseküken frieren.“

„Komm, wir kehren um. Mir egal, was Tante Wilhelmina sagt.“

Suzan hatte recht, die jungen Gänse drängten sich unter Phines Rock eng um ihre Knöchel und die am Rand der Schar reckten leise klagend die Hälse Richtung warmen Stall. Außerdem war das ein klarer Befehl, auf den sie sich zur Not herausreden konnte. Phine hielt es ohnehin für ungefährlich, dass sie zurückkehrten. Das Gespann, das sie vorhin gehört hatte, stand nicht im Hof und wenn der Baron doch früher gekommen wäre, hätten sie seinen Kutscher durch das halbe Dorf mit der Peitsche knallen gehört. Sollte Suzans künftiger Bräutigam dagegen zu Fuß gekommen sein, war das natürlich Pech. Aber welcher Mann aus gutem Haus tat das schon. Phine stellte sich vor, dass Suzans Bräutigam mindestens ein Reitpferd besitzen musste.

„Und dafür hat uns die Tante nun in die Kälte gejagt! Du mit deinen Holzpantinen hast es natürlich gut. Aber mir frieren in den Knopfstiefeln langsam die Zehen ab.“

Das brachte auch nur Suzan fertig, in Seidenstrümpfen und Knopfstiefelchen auf derbe Wollsocken und Holzpantinen neidisch zu sein. Phine musste lachen.

„Geh schon voraus. Ich schaffe es mit den jungen Gänsen auch allein.“

Sie trieb die Küken durch den Hof, verfrachtete die ganze Schar in den Stall und wechselte auf der Schwelle zum Gasthof wieder in die Strohpantoffeln. Phine hatte schon die Hand auf der Türklinke der Küche, um sich bei ihrer Ziehmutter zurückzumelden, als sie vom schönen Flur her eine fremde Männerstimme hörte.

„Hallo? Bedienung? Ist hier jemand?“

Phine lauschte. Ihr Ziehvater schien nicht in der Nähe zu sein. Er wäre sonst längst aus dem Kontor getreten, um den Gast zu begrüßen. Auch die Küche war leer. Wahrscheinlich war Suzan beim Hereinkommen ihrer Tante in die Arme gelaufen und durfte sich nun im ersten Stock eine Strafpredigt wegen des Seidentuchs anhören. Phine glaubte, dass von oben wirklich schwach die ärgerliche Stimme ihrer Ziehmutter herunterdrang. Arme Suzan, doch was sollte sie mit dem Gast tun? Sie rieb die kalten Zehen unter dem Rock am Bein.

Suzan und ihr war es eigentlich nicht erlaubt, die Gaststube zu betreten. Die war das Reich ihres Ziehvaters oder höchstens noch von Ruben. Aber wie es das Schicksal wollte, schien der Schankknecht auch unterwegs zu sein und irgendwer musste den Fremden willkommen heißen. Phine durfte ihn nicht ohne Bedienung auf den schwarz‑weißen Fliesen vor der Gaststube stehen lassen. Der Onkel Wirt hätte ihr das niemals verziehen.

Sie ging in die Küche und von dort in den angrenzenden Schankraum. Wenn sie hinter der Theke stehen blieb, konnte sie von dort aus durch das Schankfenster in den schönen Flur blicken, ohne dass sie der Gast sofort bemerkte. Tatsächlich wartete vor der Gaststube ein Mann in einem eleganten, dunklen Anzug. Ob das Suzans künftiger Bräutigam war? Phine holte tief Luft, ging zum Schankfenster und schob es hoch.

„Guten Tag, der Herr. Was wird gewünscht?“

Sie sah zuerst nur die Tressenschnüre auf seinem schwarzen Rock und dachte sofort an eine fremde Uniform. Es gab aber im ganzen Hochland kein ausländisches Regiment. Jedenfalls nicht dass sie wusste.

„Bonjour, Mademoiselle.“

Der Fremde lüpfte lächelnd einen modisch hohen Biberhut. Doch kein Soldat, aber bestimmt ein Ausländer. Phine verwarf, dass er der Bräutigam für Suzan war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Squire etwas anderes als einen Schotten für seine einzige Tochter akzeptiert hätte. Sie musterte den Fremden verstohlen. Sein Haar war noch dunkler als ihres, kohlschwarz, und er trug es sehr kurz, als hätte er erst vor kurzem Typhus überstanden oder Kopfläuse gehabt. Er war auch vollkommen glatt rasiert, obwohl die gängige Mode für Herren mindestens einen Schnurrbart und lange Koteletten verlangte. So stand es wenigstens in dem Journal, das Lady Gilbert monatlich bezog und an Phines Ziehmutter weiterreichte, wenn sie mit der Lektüre fertig war.

„Nun, Mademoiselle, ich hätte gerne den Wirt gesprochen, George Fletcher heißt er wohl.“ Der Fremde zwinkerte ihr aus dunklen Augen zu. Er besaß einen angenehmen Bariton und sprach sehr gepflegt, wie ein Adeliger. Er konnte natürlich trotz allem Engländer sein, aber sie glaubte es eigentlich nicht.

Hoffentlich hatte ihn nicht die Hohe Pforte in Istanbul nach Baldorran geschickt. Es war schon einmal ein Emissär des Osmanischen Reichs gekommen, um die herzoglichen Goldminen zu inspizieren, deren Besitzverhältnisse kompliziert waren und verhinderten, dass das vakante Herzogtum, wie in solchen Fällen sonst üblich, an die Krone überging. Phine unterdrückte ein Seufzen. Ausgerechnet jetzt musste der Onkel Wirt nicht da sein, um den Fremden würdig zu empfangen. Sie knickste.

„Sehr wohl, der Herr. Ich werde den Herrn Onkel, den Wirt, sogleich holen. Möchtet Ihr einstweilen in die Gaststube eintreten? Äh … bitte, mich zu entschuldigen. Ich müsste …“

Sie knickste erneut.

„Natürlich, Mademoiselle. Sie hat meine Erlaubnis, Ihren Herrn Onkel zu suchen. Ich nehme einstweilen mit mir selbst vorlieb.“ Der Fremde lachte leise.

Es war ein schönes Lachen, das in Phines Bauch ein ganz merkwürdiges Kribbeln auslöste. Sie flog in den Schankraum, öffnete die Küchentür – und landete in den Armen ihrer Ziehmutter. Die war einen Kopf kleiner als sie, aber doppelt so breit. Die Tante Wirtin packte sie hart.

„Was hast du hier zu suchen?“

„Nichts! Ich habe nichts Unrechtes getan.“

Wilhelmina Fletcher schüttelte sie. „Lüg nicht! Wer hat dir erlaubt, mit einem fremden Mann zu sprechen? Dass du dich nicht schämst!“

Sie versuchte, ihrer Ziehmutter Zeichen zu geben. Der Gast war inzwischen durch die Tür der Gaststube eingetreten und stand nun vor dem Schanktisch. Aber da lüftete er schon wieder den Hut. „Guten Tag! Sie ist Mrs Fletcher, nehme ich an?“

Der Fremde wirkte unter der niedrigen Zimmerdecke der Gaststube fast noch größer als draußen im Flur.

„Was geht hier vor?“ Endlich trat auch Phines Ziehvater ein. Er verbeugte sich.

„Bitte um Vergebung, Euer Gnaden. Womit können wir dienen?“

„Mit einer Auskunft.“

Der Unterschied zwischen ihrem rothaarigen, stämmigen Ziehvater und dem hochgewachsenen Fremden hätte nicht deutlicher sein können. Sein Gesicht und seine Hände wirkten durch ihre tiefe Bräune wie die eine Bronzestatue und der schwarze, mit eisengrauer Kordel verschnürte Gehrock verstärkte den Eindruck noch. Der Gast hüstelte. „Will er mir die junge Dame hinter der Theke nicht vorstellen, Herr Wirt?“

„Das ist nur unser Mädchen für alles – Josephine.“ Ihre Ziehmutter zog sie halb hinter sich.

„Ein sehr schöner Name für ein schönes Mädchen.“ Der Fremde lächelte.

Phine blickte zu Boden. Es klang in ihren Ohren jedes Mal falsch, wenn sie die Tante Wirtin Josephine rief. Phine, wie sie der Onkel Wirt nannte, wenn sie allein waren, gefiel ihr weit besser. Sie hörte es nur in letzter Zeit immer seltener. Darauf, dass ihr keine Muße blieb, zum Beispiel mit dem Onkel Wirt in den Wald zu gehen, sah schon ihre Ziehmutter. Sie presste die Hand unbarmherzig auf ihren Rücken.

„Der Herr entschuldigt uns nun bitte. Für heute Abend ist ein Dinner bestellt und wir haben noch viel zu richten.“

Sie schob Phine grob durch die offene Tür in die Küche, wo Suzan mit rotgeweinten Augen am Tisch saß und Kartoffeln schälte.

Kapitel 2

Sie hätte Suzan gern getröstet und natürlich bei der Gelegenheit auch erfahren, ob ihre Vermutung von einer bevorstehenden Verlobung stimmte. Aber ihr schien, dass die Tante Wirtin jedes Gespräch unter vier Augen verhindern wollte. Zuerst schickte sie Phine zum Müller, der auch zwei Kühe besaß, nach frischem Rahm und nach ihrer Rückkehr musste sie sofort hinauf in den ersten Stock, wo die Gästezimmer lagen.

„Phine, du putzt jetzt oben alles auf Hochglanz, verstanden? Brewster wird überall mit weißen Baumwollhandschuhen entlangfahren. Wenn er auch nur die geringste Staubspur findet, ziehe ich dir das Fell über die Ohren. Wir wissen zwar nicht, ob sich Sir Francis herablässt, bei uns zu übernachten. Aber für den Baron muss alles blitzsauber sein.“

„Sehr wohl, Tante Wirtin.“ Sie knickste.

„Denk daran, auch die Waschkrüge von oben herunterzubringen. Sobald du oben fertig bist, musst du außerdem unsere Taschen packen. Das Übliche: Nachtgewand, Häubchen, frische Strümpfe. Du hast Zeit, bis ich zum Fünf-Uhr-Tee rufe.“

„Sehr wohl, Tante Wirtin.“ Phine knickste noch einmal.

Es hatte sich in den letzten beiden Jahren eingebürgert, dass ihre Ziehmutter nach jedem Abendessen des Barons mit Suzan zu ihrem Bruder fuhr. Beide blieben dann über Nacht auf Falcon Manor und kehrten erst am nächsten Tag wieder zurück. Eine Vorsichtsmaßnahme, die Phine übertrieben fand. Der Gasthof war so gebaut, dass zwischen den Gästezimmern im Vorderhaus und den Gesindekammern keinerlei Verbindung bestand. Der Baron hätte zu nachtschlafender Zeit über die Herrschaftstreppe in den Gewölbeflur heruntersteigen, durch den hinteren Flur gehen und die laut knarrende Dienstbotenstiege wieder hinaufsteigen müssen, um zu Suzan zu gelangen. Spätestens davon wären die Wirtsleute aufgewacht.

Phine holte das Putzzeug zum zweiten Mal an diesem Tag aus der Waschküche, stieg in die Gästeetage hinauf und machte sich ans Werk. Ohne Suzan, der immer tausend Dinge einfielen, die Phine von der Arbeit abhielten, kam sie zügig voran. Sie kehrte sogar eine halbe Stunde früher als befohlen mit den Waschkrügen nach unten zurück.

„Sehr gut!“ Ihre Ziehmutter nahm gerade eine Forelle aus.

Sie zeigte mit dem Messer auf Suzan. „Du, wasch die Krüge. Josephine geht ins Herrenzimmer und deckt den Tisch. Drei Personen. Suppe, Fisch‑ und Fleischgang, Nachtisch, Rotwein-, Weißwein- und Sherrygläser. Trödle nicht, Phine, und melde dich anschließend wieder hier, damit ich alles begutachten kann.“

„Sehr wohl, Tante Wirtin.“ Sie knickste und machte sich ans Werk.

Dass heute sie die Gedecke auflegen durfte, war ein Vertrauensbeweis. Doch Phine hätte sich mehr darüber gefreut, wenn dadurch nicht der armen Suzan alle niederen Arbeiten zugefallen wären. Ihre Augen waren nicht mehr gerötet, aber sie schnitt mit so grimmigem Gesicht Karotten, dass man Angst bekommen konnte, sie wollte das Wurzelwerk stellvertretend für jemand anderen ermorden.

Im Herrenzimmer prasselte der Kachelofen schon munter. Phine legte das Damasttuch auf und bügelte es mit den beiden Plätteisen glatt, die sie zu diesem Zweck abwechselnd im Backrohr des Kachelofens erhitzte. Suzan würde nachher schwitzen, wenn sie direkt daneben hinter dem Paravent stand und dem Onkel Wirt beim Servieren für die Herren assistierte. Aber der Raum war groß und der runde Tisch stand genau in seiner Mitte. Da musste man für die Herren tatsächlich gut einheizen.

Phine zog die schweren Samtvorhänge gegen den kalten Luftzug zu, der von den Fenstern her kam, und zündete die Tischlampe an. Draußen fiel langsam Dämmerung ein.

Sie holte alles nötige Geschirr aus dem Schrank und stapelte es auf dem Serviertisch hinter einem Paravent. Die Stellwand sollte die Dienenden verbergen, tat das aber nur, wenn die Herren am Tisch saßen. Wenn sie den Raum vom Flur her betraten, sahen sie Suzan bequem dort stehen. Sie konnte nur so tun, als hätte sie ihr Kommen nicht gehört und ihnen den Rücken zukehren.

Phine legte das silberne Essbesteck und Servietten aus. Sie arrangierte gerade die Sherrygläser für den Zwischengang nach der Suppe, als die Tür aufging. Die Tante Wirtin trat ein.

„In Ordnung.“ Sie nickte. „Du gehst jetzt in den Keller und holst diesen Schankburschen. Ich habe Suzan und dir eine Ankündigung zu machen.“

Phine erschrak. Sie hätte Suzan am Mittag nicht unbegleitet in den Gasthof hineingehen lassen dürfen, während sie noch mit den Gänschen beschäftigt gewesen war. Andererseits konnte die Tante Wirtin Suzan und Ruben eigentlich kaum zusammen erwischt haben. In diesem Fall hätte es auf der Stelle ein Donnerwetter für sie gegeben. Es sah ihrer Ziehmutter nicht ähnlich, bis zum Abend damit zu warten.

Phine knickste und lief mit Herzklopfen eilig in den Keller. Dort roch es nach Wein. Ruben zog ihn aus dem Fass in Flaschen. Zweifellos für den Baron und seine Gäste.

„Du sollst in die Küche zur Tante Wirtin kommen.“

„Nanu? Weißt du, warum?“

„Nein.“

Er ließ ihr die Treppe hinauf den Vortritt und klopfte höflich an, bevor er auf der Schwelle zur Küche stehen blieb.

Die Tante Wirtin würdigte ihn keines Blickes. Sie führte nur Suzan vom Spülstein um den Herd herum, sodass sie Ruben und Phine gegenüberstand.

„Wir haben heute nicht nur die Ehre, Baron Francis Newberry zu begrüßen. Sondern auch einen fremden Herrn Ingenieur, der im Auftrag Ihrer Majestät, der Königin Victoria …“, die Tante Wirtin deutete einen Hofknicks an, „… und Emil Morak Paschas, des Botschafters der Hohen Pforte in London, von Baldorran aus diese neue Eisenbahnstrecke zu den Goldminen hinauf baut. Damit die Überfälle endlich ein Ende finden. Darüber hinaus begleitet beide Gentlemen aber auch Captain Simon Ogilvie.“

Der Viscount gehörte den Horse Guards an, hatte aber nicht im Feld gedient, sondern eine große Bestandsaufnahme der Krone über die Goldvorkommen in Schottland geleitet. Das Gebiet um Bailersgate hatte sich dabei leider als unergiebig herausgestellt, was ihm aber jeder im Dorf schon vorher hätte sagen können. Doch Ogilvies Misserfolg konnte nicht der Grund für die bedeutungsschwangere Pause sein, in der die Tante Wirtin nacheinander sie und Ruben anblickte.

„Kurz und gut: Sir Simon hat gestern meinem Bruder und meiner Schwägerin die große Ehre erwiesen, bei ihnen um Suzans Hand anzuhalten.“

In der Stille danach hätte man den Flügelschlag eines Schmetterlings vernehmen können. Dann lachte Suzan schrill.

„Was – der Zwerg?“

Die Tante Wirtin ohrfeigte sie. „Du wirst deinem Verlobten mit Respekt begegnen. Viscount Ogilvie mag zwar klein gewachsen sein, aber er ist von altem Adel und hat Verbindungen bis ins Königshaus. Du steigst als seine Gattin weit höher auf, als du es verdienst!“

Phine sah aus den Augenwinkeln, dass Ruben sehr bleich geworden war. Suzans Wange färbte sich dagegen langsam feuerrot.

Die Tante Wirtin schickte sie mit einer herrischen Geste zum Spülbecken. „Wasch dir das Gesicht, Suzan. Du wirst deinen künftigen Bräutigam heute noch nicht sehen, sondern hier bei mir in der Küche bleiben. Josephine geht an deiner Stelle, sie wird im Herrenzimmer hinter dem Paravent stehen und geräuschlos die Teller füllen, die der Wirt dann Brewster übergibt, der sie zu Tisch tragen und den Herren servieren wird. Es ist eine gute Übung für sie, denn auch sie wird uns bald verlassen.“

Ruben verbeugte sich stumm. Er drehte sich auf dem Absatz um, und stieß dabei fast mit dem Onkel Wirt zusammen, der in diesem Augenblick die Küche betreten wollte. Ihr Ziehvater deutete die Versammlung und ihren Grund offenbar mit einem Blick richtig. „Du konntest wohl nicht warten! Musste das sein, Wilhelmina?“

„Es muss ein Ende hergehen, George! Auch mit Josephine.“

„Langsam, Wilhelmina …“

„George! Wir können sie nicht ewig durchfüttern!“

Sie wandte sich an Phine. „Schluss jetzt! Du borgst dir alles, was du zum Servieren brauchst, oben aus Suzans Schrank. Weiße Schürze, Handschuhe, Häubchen. Kämme dich, zieh eine weiße Bluse und deinen Sonntagsrock an.“

„Sehr wohl, Tante Wirtin.“

Phine vermied es, Suzan ins hochrote Gesicht zu blicken. Die Neuigkeit war auch für sie ein Schock, obwohl die Tante Wirtin dem Onkel Wirt schon lange damit in den Ohren lag, dass sie anderswo in Stellung gehen müsse. Ihre Ziehmutter war damit aber bisher bei ihm immer auf Ablehnung gestoßen.

„Phine, vergiss nicht, dass du mir noch die Rechnung für Newberry ausstellen musst.“ Ihr Ziehvater berührte sie kurz am Ellenbogen, als sie aus der Küche schlüpfen wollte.

„Gewiss nicht, Onkel Wirt.“

Sie knickste und eilte die Dienstbotenstiege hinauf. Der Onkel Wirt hatte eine rechte Sauklaue, deshalb erledigte sie seit Jahren alle Schreibarbeiten für ihn. Sie führte ihm auch das Rechnungsbuch, in dem die Kosten der Dinner für den Baron immer viel niedriger angegeben waren als auf dem Blatt, welches der Onkel Wirt nachher Newberrys Kammerdiener Brewster überreichte. Der Baron zahlte jedes Mal anstandslos. Aber der erschwindelte Betrug half dem Gasthof auch nicht aus den roten Zahlen. Das ganze schöne Geld floss jedes Mal wieder wie Wasser aus dem Haus, wenn die Tante Wirtin ihren Bruder besuchte. Die Regimentskameraden ihres Ziehvaters kamen dann sehr früh am Morgen auf ein, zwei Schnäpse, bei denen nie viele Worte gewechselt wurden, und gingen wieder. Mit vollen Beuteln.

Phine stieg auch die zweite, viel steilere Stiege zum Dachboden hinauf und schlüpfte oben in dem Bretterverschlag, wo auch ihr Bett stand, aus dem Arbeitsgewand. Sie konnte sich die Sache nur so erklären, dass ihr Ziehvater im Bund mit dem Baron bedürftige Veteranen unterstützte. Aber warum sie das fromme Werk mit überzogenen Rechnungen für dessen Dinner bemäntelten, erschloss sich ihr nicht. Vielleicht, weil die Tante Wirtin gegen wirklich jede Ausgabe wetterte ‒ aus gutem Grund.

Phine zog sich hastig um. Sie war sehr schlank, man konnte auch sagen dünn, und konnte darum Suzans letzthin abgelegten Sonntagsstaat wunderbar auftragen. Miss Gilbert naschte gern, Rock und Bluse waren ihr zu eng geworden. Doch es war immer noch guter Stoff, nicht geflickt oder zerschlissen, in dem sie sich auch in der Kirche sehen lassen konnte. Phine kämpfte einen Augenblick mit den Schürzenbändern, die vor Stärke knisterten. Sie setzte das Servierhäubchen auf die dunklen Locken und sprang die beiden knarrenden Stiegen zur Küche hinunter.

Die Tante Wirtin schüttelte den Kopf. „Pünktlich ist immer zu spät und ein gutes Dienstmädchen rauscht auf der Treppe weder mit den Röcken, noch hört man ihre Schritte. Du bist und bleibst ein Zigeunerkind. Hier, lies die Speisenfolge vor, damit ich weiß, dass du verstanden hast, in welcher Reihe die einzelnen Gerichte kommen.“

„Mulligatawny-Suppe und als Entree Forelle in Aspik. Dazu Sherry. Zum ersten Gang gebratene Seezunge mit Estragonsoße und Dampfkartoffeln, dazu Weißwein.“

„Hockenheimer, Josephine! Den trinkt auch Ihre Majestät.“

„Als Hauptgang Hammelbraten mit Bohnen, Rotwein. Hummer in Curry mit Butterreis und Chutney, wieder Sherry. Trifle und Käsekuchen zum Dessert, Portwein.“

Vor dem Haus ertönte ein Hornsignal.

„Der Wagen des Barons! Geschwind an deinen Platz!“

Phine huschte durch den Gewölbeflur, wo der Onkel Wirt in seiner besten Jacke stand und in der offenen Eingangstür den Begrüßungstrunk präsentierte. Ruben wartete knapp hinter ihm mit einem Tablett mit Gläsern. Von den Stufen des Gasthofs her erklang Newberrys näselnde Stimme.

„Tretet ein, Wertester!“

Der Baron ließ scheinbar dem fremden Ingenieur den Vortritt. Phine konnte ihn vom Herrenzimmer aus nicht sehen und der Hall im Gewölbeflur verzerrte alles. Aber die Stimme des Mannes klang nicht wie die des hochgewachsenen Fremden vom Mittag. Außerdem war es sicher zu viel gehofft gewesen, dass es sich bei diesem um den Eisenbahn‑Ingenieur handelte, von dem die Tante Wirtin gesprochen hatte.

Sie nahm die silberne Fleischplatte vom Serviertisch und schlich damit zur Tür des Herrenzimmers. Die polierte Fläche gab einen leidlichen Spiegel ab, der ihr verwaschen den Baron und Viscount Ogilvie zeigte, der Newberry zuprostete. Sir Simon sah im blauen Rock der Horse Guards untadelig aus und er war auch bestimmt kein Zwerg. Höchstens etwas klein geraten. Ruben oder gar der dunkle Fremde hätten ihn weit überragt. Aber wenn Suzan im Brautschmuck neben ihm vor dem Traualtar stand, würden sie trotzdem ein schönes Paar abgeben. Phine glaubte nur nicht, dass der Gedanke Miss Gilbert sonderlich trösten würde.

Francis Newberrys gackerndes Lachen klang durch den Gewölbeflur. Die Schritte der Herren näherten sich und Phine verzog sich schleunigst auf ihren Platz hinter dem Paravent.

„Nehmt doch bitte Platz, Sir Simon.“

Am Herrentisch wurden Stühle gerückt.

„Schade, dass Mr Marchmont absagen musste. Was, sagtet Ihr noch, war der Grund?“

„Ein schwerer Unfall bei den Gleisbauarbeiten, Sir Francis, und der Name lautet Marchant.“

Der Baron hatte heute Abend also nur einen Gast. Phine schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung. Sie hätte wirklich gern gewusst, wer der dunkle Fremde vom Mittag gewesen war. Sie bekam jedes Mal Herzklopfen, wenn sie an ihn dachte. Ein Eisenbahn-Ingenieur war längst nicht so interessant.

Aber schon wurde die Tür des Herrenzimmers erneut geöffnet. Der Onkel Wirt brachte die Suppenterrine und bedeutete ihr stumm, beiden Herren je einen Schöpflöffel Mulligatawny-Suppe in tiefe Teller zu füllen. Er reichte sie an den Kammerdiener des Barons weiter, der sie zu Tisch trug. Es wurde kein Gebet gesprochen, auch nicht guten Appetit gewünscht. Leises Löffelklappern und Stille verrieten, dass beide Herren aßen.

„Hören Sie, Sir Simon, wie ist Seine Lordschaft eigentlich ausgerechnet auf diesen Mr Marchmont gekommen?“

„Mr Marchant hat hier Eisenbahningenieurwesen studiert und bringt ausgezeichnete Referenzen mit, Sir Francis. Außerdem hat er die Billigung der Hohen Pforte.“

„Natürlich.“

„Es ist London und Konstantinopel ein gemeinsames Anliegen, dass die Bahnstrecke möglichst rasch fertiggestellt wird. Panzerwaggons mit neuartigen Sicherheitsschlössern werden Überfälle unmöglich machen.“

Die Stimme des Viscounts klang tief und voll wie eine Glocke. Suzan bekam einen ruhigen, vielleicht sogar gütigen Gatten, wenn dieser warme Bass hielt, was er versprach. Doch der samtige Bariton des Fremden gefiel Phine trotzdem besser.

Ein Klappern und Schritte verrieten, dass Newberrys Kammerdiener die Suppenteller abservierte. Gleichzeitig ging der Onkel Wirt in die Küche und kehrte mit den gebratenen Seezungen zurück. Eine für jeden Gast; Phine setzte die Platte auf das Rechaud und zündete den Spiritusbrenner an. Am Tisch klangen Gläser gegeneinander.

„Prosit, Sir Simon! Sind die Verluste des Herzogtums wirklich so beträchtlich?“

„Jedes entwendete Körnchen Gold ist eines zu viel, Sir Francis.“

„Freilich.“ Der Baron lachte gackernd.

Der Onkel Wirt ging und brachte nacheinander die Beilagen: Erbsen, Dampfkartoffeln und die Estragonsoße. Sie duftete gut ‒ feinsäuerlich nach Wein. Phine füllte sie in die gute Sauciere der Tante Wirtin, damit sie Brewster direkt auf den Tisch stellen konnte.

„Ihr nehmt die Überfälle offenbar auf die leichte Schulter, Sir Francis.“

Der Kammerdiener räusperte sich diskret vor dem Paravent. Phines Ziehvater reichte Brewster die Schüsseln mit den Beilagen und dieser schritt damit zum Tisch.

„Aber Captain Ogilvie! Wir wissen doch beide, dass der Marquis von Salisbury nur zu gerne die Ansprüche weiland des Herzogs von Belfort Mutter, seiner hohen Frau Kusine, durchsetzen würde.“

Am Tisch der Herren floss Wein in ein Glas.

„Sie vergessen die Frage der jungen Gemahlin des Herzogs. Die Dame de Resht gilt nach wie vor als verschollen.“

„Nach all diesen Jahren dachte ich, man ginge inzwischen davon aus, dass damals auch die erlauchte Gattin des Herzogs umgekommen ist. Freilich, ohne Beweise … wenn man wenigstens ein paar Knochen fände …“

„Verzeiht, Sir Francis, das ist wohl kaum Tischgespräch. Außerdem ‒ nennt die Dame de Resht nicht Erlaucht. Sie war oder vielmehr ist, denn ich hoffe, dass sie noch lebt, Ihre kaiserliche Hoheit, Maryam Khanum. Eine Tochter Nasreddin Schahs von Persien.“

„Natürlich. Eine von hundert Töchtern, wie man hört.“

„Wollt Ihr den Adel der Dame in Abrede stellen, Sir Francis?“

„Nichts läge mir ferner, Captain.“

Phine stand hinter dem Paravent wie blind, doch ihre Ohren verrieten ihr, dass der Baron ungeniert die Mittelgräte seiner Seezunge aussaugte.

„Fletcher?“

Der Onkel Wirt verließ ihre Seite und trat ins Herrenzimmer hinein.

„Ihr wünscht, Sir Francis?“

„Sag Er seiner Frau, dass mir ihre Küche auch heute wieder vortrefflich mundet.“

„Verbindlichsten Dank! Ich werde es gerne ausrichten, Sir Francis.“

„Wollen wir mit dem Hammelbraten fortfahren, Ogilvie?“

„Gerne, Sir Francis.“

Phine verharrte an ihren Platz, das Gesicht zum Paravent gewandt, während knarrendes Parkett, leises Tellerklappern und der Luftzug verrieten, dass der Onkel Wirt und der Kammerdiener des Barons den Tisch abräumten.

„Sagt, Sir Francis …“ Die Worte begleitete der seltsame, halb pfeifende, halb singende Ton, der entstand, wenn ein befeuchteter Finger ein Weinglas zum Klingen brachte.

„Sagt mir genau, wie viele Dörfer umfasst Eure Baronie?“

„Nur diese paar schäbigen Katen, das wisst Ihr doch, Ogilvie. Dazu kommen nur noch die Einnahmen aus der Mautstraße. Falls sie tatsächlich einmal jemand benutzt.“

„Ich dachte nicht, dass Ihr auf diese Einnahmen angewiesen seid. Oder überhaupt auf die aus Eurer Baronie.“

Sir Simons Finger spielten immer noch mit dem Rand des Weinglases. Phine ging das Geräusch durch Mark und Bein.

„Darf ich Euch übrigens zur Eurer schönen Viktoria gratulieren, Sir Francis? Habt Ihr den Landauer neuester Bauart von Cooper, dem Wagenbauer Ihrer Majestät? War sicherlich nicht wohlfeil.“

„Was wird das, Ogilvie? Ein Verhör?“

„Aber nein, Sir Francis. Mich treibt die reine Neugier.“

„Die ich jederzeit zu befriedigen bereit bin. Könnt Ihr nicht endlich damit aufhören, auf dem Glasrand herumzufahren? Dieses Gejaule bereitet mir Zahnschmerzen! Wenn ihr es denn unbedingt wissen müsst: Ich habe geerbt.“

„Dann gratuliere ich Euch, Sir Francis.“ Das Pfeifen hörte abrupt auf.

„Ich danke bestens.“ Das Näseln verriet, dass jetzt wieder Newberry sprach. „Auf Tante Claires seliges Angedenken.“

Ein Glas wurde hart auf dem Tisch abgesetzt. „Sie war die Witwe eines Kaufmanns ‒ Kolonialwaren. Da kam ein hübscher Batzen zusammen. Und nun entschuldigt mich bitte einen Augenblick, Viscount.“

„Selbstverständlich, Baron.“

Phine drehte sich hastig mit dem Gesicht zum Kachelofen, damit Newberry nur ihren Hinterkopf sah. Falls es ihn ankam, dass er hinter den Paravent lugte.

Tatsächlich blieb der Baron für die Dauer eines Atemzugs bei der Tür stehen. Sie fing an zu schwitzen, aber er riss die Tür dann doch auf und begab sich forschen Schrittes in den Flur hinaus, wo er dumpf mit jemandem zusammenprallte.

„Kreuzhimmeldonnerwetter, George, kannst du nicht aufpassen! Jetzt habe ich die ganze Soße auf dem Rock!“

Nanu, seit wann duzte der Baron den Onkel Wirt?

„Bitte vielmals um Entschuldigung, Sir Francis! Es ist mir außerordentlich peinlich.“

„Schon gut, schick Er Brewster zu mir in die Garderobe! Vielleicht kann mein Kammerdiener den Rock retten.“

Neue Schritte eilten am Paravent vorbei nach draußen. Der Kammerdiener gesellte sich zu seinem Herrn.

Der Onkel Wirt brachte den Braten, Phine hob den Deckel des Rechauds und legte ihn wieder auf, um die Hammelkeule warmzuhalten. Am Herrentisch klopfte der Captain gegen sein Glas.

„Auf ein Wort, Fletcher …“

Ihr Ziehvater runzelte überrascht die Stirn und verließ sie.

„Womit kann ich dienen, Sir Simon?“

„Weiß Er, wie Newberrys Tante mit Familiennamen hieß?“

„Nein, Mylord, ich höre heute zum ersten Mal von dieser Dame.“

„Ach? War Er nicht im Russisch-Persischen Krieg Newberrys Bursche? Eine andere Frage: Wie viele Bauernhöfe hat dies Dorf?“

„Nun, da sind die des Müllers, des Schlachters, des Schmieds und natürlich der Pfarrhof. Alle anderen sind Pächter.“

„Veteranen, die mit Newberry in Afghanistan waren, nehme ich an. Genau, wie Er. Gut, danke. Ich verlasse mich darauf, dass Er meine Fragen vertraulich behandelt.“

Phine hörte, dass etwas auf den Tisch fiel. Es hörte sich wie ein Geldstück an. Gleichzeitig wurde die Tür geöffnet.

„Wirt, bring Er mir bitte eine neue Serviette.“ Der Viscount sprach auf einmal sehr laut.

„Selbstverständlich, Sir Simon.“

Der Baron und sein Kammerdiener betraten das Herrenzimmer, während es der Onkel Wirt verließ.

„Nanu, Fletcher, wohin so eilig?“

Der Captain lachte. „Sir Francis, könnt Ihr Euch die Ungeschicktheit vorstellen? Ich habe meine Serviette fallen lassen und bin mit dem Stiefel darauf gestiegen. Sollen wir Euren Kammerdiener den Hammelbraten kurz in die Küche zurücktragen lassen?“

„Papperlapapp! Brewster kann ihn aus den Händen der Haustochter empfangen.“ Newberry klang verschnupft. „Geh Er schon. Lass Er uns sehen, was Er zustande bringt, Brewster!“

Phine hielt vor Schreck die Luft an. Sie stand stocksteif, doch in diesem Augenblick kam Gott sei Dank der Onkel Wirt.

„Bitte sehr, Brewster, hier – die frische Serviette für Sir Simon. Ich mache das hier schon.“

Ihr Ziehvater neigte sich ganz nah zu ihr und raunte: „Du kannst jetzt ins Kontor gehen und die Rechnung schreiben. Bleib dort, bis ich dich zum Putzen hole.“

Kapitel 3