Zeit ihres Lebens - Dirk Gieselmann - E-Book

Zeit ihres Lebens E-Book

Dirk Gieselmann

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Beschreibung

Die Liebe adelt jedes Leben. Auch jenes von Frieda und Georg, zwei Menschen, die sie nicht gesucht haben, aber von ihr gefunden wurden. Frieda ist Grundschullehrerin, Georg Vertreter für medizinische Geräte. Als sie sich das erste Mal unverhofft begegnen, ist Georg sich sicher: Diese unbekannte Schöne ist seine große Liebe – und nicht die Frau, die er auf seinen Handelsreisen jeden Abend pflichtschuldig anruft. Und auch Frieda kann sich den groß gewachsenen Mann nicht aus dem Kopf schlagen. Als sie einander nach fieberhafter Suche schließlich wiederfinden, unterbreitet Frieda Georg ihren Plan: Sie können zusammen sein – in einem Leben außerhalb des Lebens, in dem einzig die Gegenwart herrscht, keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nicht nur, um unentdeckt zu bleiben, sondern auch, um ihre Liebe so rein und schön zu halten wie im ersten Moment. Nur so, sagt sie, sei es möglich. Georg willigt ein, und ihre Geschichte beginnt. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeit ihres Lebens

DIRK GIESELMANN, geboren 1978, wurde für seine Texte mit dem Henri-Nannen- und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm sein Debütroman Der Inselmann. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Die Liebe adelt jedes Leben. Auch jenes von Frieda und Georg, zwei Menschen, die sie nicht gesucht haben, aber von ihr gefunden wurden. Als sie sich das erste Mal unverhofft begegnen, ist Georg sich sicher: Diese unbekannte Schöne ist seine große Liebe – und nicht seine Frau Anne, die er auf seinen Handelsreisen jeden Abend pflichtschuldig anruft. Und auch Frieda kann sich den groß gewachsenen Mann nicht aus dem Kopf schlagen. Nach fieberhafter Suche finden sie sich wieder, und sie unterbreitet ihm ihren Plan. Sie können zusammen sein – in einem Leben außerhalb des Lebens, in dem einzig die Gegenwart herrscht. Nicht nur, um unentdeckt zu bleiben, sondern auch, um ihre Liebe so rein und schön zu halten wie im ersten Augenblick. Nur so, sagt sie, sei es möglich. Georg willigt ein, und ihre Geschichte beginnt.

Dirk Gieselmann

Zeit ihres Lebens

Roman

Ullstein

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Gestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenCoverfoto: © plainpicture/BaertelsAutorenfoto: © Tobias Kruse

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ISBN 978-3-8437-3660-2

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Zeit ihres Lebens

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Cover

Titelseite

Inhalt

Zeit ihres Lebens

   

Drei Mal geschah an diesem Tag etwas, das nie zuvor geschehen war. Die ersten beiden Male kamen Frieda Brunner noch wie Missgeschicke vor. Später, als sie dann zum dritten führten, hielt sie es für eine Fügung. Für einen Traum, der sich endlich selbst erfüllen wollte. Denn so erzählen sich die Menschen die Geschichte ihres Lebens: vom Ende her, sodass sie einen Sinn ergibt, einen schlichten immerhin.

Es war ein Dienstagmorgen Ende März des Jahres dreiundachtzig. Frieda Brunner schlug die Augen auf, und am schon hellen Licht, das durch den Spalt des Vorhangs fiel, erkannte sie, dass der Tag vorangeschritten war. Sie sah den Wecker auf dem Nachttisch stehen, beklommen und leicht abgewandt, als hätte er was ausgefressen: Er hatte nicht geklingelt. Jetzt war es schon halb acht vorbei, und um acht begann die Schule. Fräulein Brunner, Lehrerin für Deutsch und für Musik, würde viel zu spät zum Unterricht erscheinen.

So ein Ärger, dachte sie.

In hellem Schreck trat sie die Decke von sich und schimpfte mit dem Wecker. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Beeilen, weil sie sonst doch immer pünktlich war, lief sekundenlang im Kreis und wusste nicht, wohin als Erstes. Sie beeilte sich so stümperhaft, dass sie mehr Zeit verlor als sparte. Dann stürzte sie ins Bad, riss mit der Bürste durch ihr langes, dunkles Haar, ohne Rücksicht auf das Ziepen, und band es nachlässig zum Dutt. Sie warf sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, schminkte sich so fahrig wie die Schlangenfrau in einem miserablen Zirkus, die in der nächsten Nummer schon der Clown sein muss, und sprang in ihre Kleider, die noch von gestern auf dem Hocker lagen. Dann hetzte sie hinaus, treppab, hinunter auf die Straße, ohne Frühstück.

»Wir sind aber spät dran heute«, rief die alte Nachbarin ihr nach. Dabei fegte sie wie jeden Tag mit vergrätzter Gründlichkeit die Stufen.

Was du nicht sagst, du dumme Krähe, dachte Frieda Brunner und rief doch nur: »Da haben Sie recht, Frau Schröder.«

Es regnete, zu allem Überfluss, und in der Eile hatte Frieda ihren Schirm vergessen. Auch das war vorher nie geschehen. So ein Ärger, dachte sie erneut und hielt es für das zweite Missgeschick des Tages. Sie fragte sich, ob sie den Schirm noch schnell aus ihrer Wohnung holen sollte, stand hin- und hergerissen auf dem Fleck und wurde dabei nass bis auf die Knochen. Dann lief sie einfach los, zur Straßenbahnstation, lief fluchend durch die Pfützen und war bald schon außer Atem.

Wind kam auf, der Regen wurde stärker. Die Wolken brachen, eine nach der anderen. Die Straßenbäume standen schwankend da wie zottige Kamele und planten ihren Rückzug. Die kleinen Häuser drückten sich, so eng sie eben konnten, an die großen. Der Bäcker blickte sorgenvoll auf die Markise seines Ladens, die unter ihrer Last zu bersten drohte. Dann drückte er, behutsam wie ein guter Arzt, mit dem Querholz eines Besens in die Wölbung, sodass das Wasser auf den Gehsteig klatschte, Frieda vor die Füße.

»Oh, Verzeihung«, sagte er.

»Das macht es auch nicht schlimmer«, sagte sie, rang sich noch ein kleines Lächeln ab und rannte dann rasch weiter.

Aus den Zeitungen im Ständer tropfte Druckerschwärze. Die Neuigkeiten dieses Tages flossen, aufgelöst im Regen, in den Rinnstein ab: ein neuer Kanzler, Kalter Krieg, am Morgen Niederschläge, stellenweise heftig. Rauschend fuhren Autos durch die Fluten, doch keines hielt aus Mitleid an, um Frieda Brunner mitzunehmen. Sie kämpfte tapfer mit den Tränen. Jetzt auch noch zu heulen, hier im Regen, kam ihr ziemlich übertrieben vor.

Was machen eigentlich die Vögel, wenn es regnet, dachte sie, als sie schnaufend durch die Straßen hetzte. Warum stürzen sie nicht ab? Sie sind doch viel zu schwer zum Fliegen, wenn ihr Gefieder nass wird, oder nicht?

Auch ihre Kleidung kam ihr wie aus Blei vor. Verflucht noch mal, sie hasste es zu rennen. Wann war sie denn zuletzt gerannt? Als junges Mädchen wohl und damals schon sehr ungern. Beim Dauerlauf war sie stets als Letzte angekommen, Minuten nach den anderen. »Frieda, Frieda, Frieda«, hatten sie gerufen, um sie anzufeuern, doch es hatte sie entmutigt. Sie hörte diese schrillen Kinderstimmen wieder: »Fräulein Brunner, Fräulein Brunner, Fräulein Brunner«, skandierten ihre Schüler jetzt von fern.

Wo war denn bloß die Straßenbahnstation? Hatte der Regen sie hinfortgespült? Die Keller liefen voll, die Gullys übergaben sich. Die ersten Vögel stürzten ab wie weiche Klötze, und Frieda Brunner brach den Weltrekord im Langsamrennen.

»Frieda, Frieda, Frieda.«

»Fräulein Brunner, Fräulein Brunner, Fräulein Brunner.«

Ihr Wettlauf mit der Uhr war so lachhaft wie vergeblich. Das Wasser quatschte in den Schuhen, ihre Oberschenkel brannten, sie hörte jeden Schritt in ihrem Schädel rumpeln.

Es musste jetzt gleich acht sein. Die Schüler saßen in der Klasse, im Trockenen und Warmen, doch ohne ihre Aufsicht. Brach die Ordnung schon zusammen? Flogen Gegenstände durch den Raum, brannte der Papierkorb, schrieb ein Witzbold Sprüche an die Tafel? Der Direktor würde bald den Lärm bemerken, eilig nach dem Rechten sehen und rufen: »Was in Teufelsnamen ist hier los? Wo ist denn Fräulein Brunner? Ihr glaubt, sie hat verschlafen? Das wäre ja noch nie geschehen.«

Doch das war es, so auch die Sache mit dem Schirm. Beides würde bald, sehr bald, zum dritten Male führen und sich fügen, zur Erfüllung eines Traums: Als Frieda endlich um die letzte Ecke bog, stand an der Station, die dalag wie eine Rettungsinsel in den Fluten, ein ihr noch unbekannter Mann unter seinem großen, schwarzen Schirm im Regen und blickte auf die Armbanduhr.

Georg Neumann war am Ende, und er wusste es. Er war um kurz nach sechs in Zimmer fünfzehn aufgewacht, in einer schmucklosen Pension zwei Straßen weiter, die »Zur guten Stube« hieß. Er hatte einen schönen Traum gehabt, der dann unter ihm im Schlaf versunken war, unaufhaltsam wie ein Stein in einem See. Er sah ihn noch, griff nach ihm aus, doch er war bereits der Traum von jemand anderem geworden.

Der Fernseher lief stur seit gestern Abend durch und zeigte jetzt ein Testbild. Der Messton fiepte leise und doch so penetrant, dass Georg Neumann es persönlich nahm. Die Decke bis ans Kinn gezogen, sah er den Morgen als ein kaltes, fahles Rechteck vor dem Fenster. Unten auf der Straße leerten Müllwerker die Abfalltonnen. Ihm fiel allmählich ein, in welcher Stadt er sich befand, und auch der Grund, warum er hier war. Er verfluchte seine Existenz und diesen Dienstag, erhob sich ächzend aus dem Bett und stellte fest, dass er noch immer Hemd und Hose trug. So war er am Abend vorher eingeschlafen.

Er zog die knitterigen Kleider aus, warf sie in den Reisekoffer, der in einem Winkel seines Zimmers stand, die Klappe an die Wand gelehnt, und ging fröstelnd ein paar Schritte auf und ab. Er drehte seinen linken Fuß und dann den rechten, die Gelenke knackten leise. Sein Körper war, so schien es ihm im kranichgrauen Licht, das durch das Fenster auf ihn fiel, den müden Mann in Feinrippunterwäsche, aus dem gleichen mangelhaften Holz gemacht wie das Bett, der Schrank, der Tisch und die zwei Stühle. Dies war Zimmer fünfzehn, eins von sieben auf dem Flur, kaum unterscheidbar von den anderen. Und Georg Neumann war bloß einer von den blassen Typen, die hier geschlafen hatten und schon jetzt, um kurz nach sechs am Morgen, nicht mehr wussten, wie es um Himmels willen weitergehen sollte: an diesem Tag, am Tag darauf und an allen, die noch folgen würden.

Überm Becken wusch er sich den Hals und dann die Achseln, rasierte sich und putzte sich die Zähne, gurgelte mit Pfefferminz, hauchte in die rechte Hand und prüfte seinen Atem. Dann kämmte er sein Haar so hin, dass es die kleine kahle Stelle an seinem Hinterkopf bedeckte, zog einen dunkelblauen Anzug, ein braunes Hemd und eine gemusterte Krawatte an, recht breit geschnitten, wie es damals Mode war und Fernsehstars es trugen. Er betrachtete sein Spiegelbild, befand es für genügend, schenkte sich ein aufgesetztes Lächeln und hob schlaff die Fäuste an: Georg Neumann, einundvierzig, Vertreter einer Firma für medizinische Geräte, Region Norden und Nordwesten.

Im Frühstücksraum, in stummer Gesellschaft dreier Männer, die sich tief in ihre Teller beugten, aß er zwei Scheiben Vollkornbrot mit Erdbeerkonfitüre, trank zwei Tassen schwarzen Kaffee und blätterte mäßig interessiert die Tageszeitung durch: ein neuer Kanzler, Kalter Krieg. Es werde heute Regen geben, wurde dort vorhergesagt.

Er blickte in den kleinen Innenhof, um zu sehen, ob es stimmte. Und das tat es: Triefend stand ein Marmorengel, Flöte blasend, auf dem moosbedeckten Sockel. Er wurde traurig von der Ödnis dieses Anblicks und schaute lieber in die Kaffeetasse vor sich. So vergingen zwei Minuten, vielleicht drei.

Georg Neumann überlegte, ob er wieder auf sein Zimmer gehen und sich schlafen legen sollte, bis der Regen aufhören würde. Vielleicht würde sich sein Traum doch weiterträumen lassen. Vielleicht war es das einzig Richtige an einem Tag wie diesem. Doch er trank dann nur den letzten, lauen Schluck aus seiner Tasse, stellte sie auf seinen leeren Teller, legte das Besteck dazu, fegte mit der Hand die Krümel von den Hosenbeinen und ging hinaus zum Parkplatz der Pension. Dort sprang sein Auto nicht mehr an.

»Das darf nicht wahr sein«, sagte er und schlug so fest aufs Armaturenbrett, dass das Handschuhfach sich öffnete und ein Stadtplan in den Fußraum fiel. Zehn, zwölf Mal drehte er den Schlüssel um, erst flehend, schließlich fluchend. Nach einer Pause, in der er auf ein Wunder hoffte, es zugleich jedoch für unwahrscheinlich hielt, seine Stirn aufs Lenkrad drückte, zur Beruhigung eine Zigarette rauchte und mit dem Gedanken spielte, einfach auszusteigen, aus dem kaputten Auto und dem Dasein als Vertreter für medizinische Geräte, Region Norden und Nordwesten, unternahm er noch drei weitere Versuche. Er hörte erst ein würgendes und dann ein erstickendes Geräusch, zog den Schlüssel ab, stieg aus und öffnete die Motorhaube, warf einen Blick auf Schläuche, Kolben und Zylinder, ohne dass er im Geringsten wusste, wonach er hätte suchen sollen, und schloss die Haube wieder. Dann ging er an den Kofferraum, steckte einen Stoß Prospekte in die Aktentasche, nahm seinen Schirm und lief, erfüllt vom Trotz, der seiner letzten Kraft entsprang, zu der Station, um die Straßenbahn zu nehmen.

Dort stand er jetzt, in großer Eile, dennoch tatenlos, und blickte auf die Armbanduhr: Es war schon kurz vor acht. Er würde viel zu spät an einem Ort ankommen, an dem er gar nicht sein wollte: In einer halben Stunde wurde er bereits erwartet, in der Praxis eines Urologen, um ihm Endoskope anzudrehen.

»Das darf nicht wahr sein«, sagte er erneut und wollte gegen eine Abfalltonne treten, ließ es aber lieber sein, aus Angst, sich zu verletzen.

Was war das für ein Leben? War ein anderes noch möglich? Wann kam die verdammte Bahn denn endlich? Und wer war diese Frau am anderen Bahnsteigende, ohne Schirm im Regen?

Der Regen fiel in einem fort auf alle Dinge, und auf Frieda Brunner, schien ihr, fiel am allermeisten. Ihr lief die Wimperntusche durchs Gesicht. Wie sah sie aus, was sollten bloß die Kinder von ihr denken? Sie wrang den Schoß des Kleids aus, es brachte gar nichts. Aber sie konnte doch nicht nichts tun, nur warten, auf die Straßenbahn und auf die Sonne, hier im Regen.

Dann kam plötzlich dieser Mann in ihre Richtung, vom anderen Bahnsteigende. Zu wem will der, dachte sie. Doch nicht zu mir? Aber sonst war ja niemand weit und breit zu sehen. Er sprang jetzt über eine breite Pfütze wie ein Star aus einem dieser alten Stepptanzfilme, die sie ganz gern mochte: elegant und doch ein bisschen geckenhaft, seinen großen, schwarzen Schirm weit aufgespannt. Für wen hält der Kerl sich bloß? Was hat er vor? Sie wünschte sich, dass er ihr seinen Schirm anböte, und zugleich nichts weniger als das. Was sollte sie dann sagen: Das ist aber nett, mein Herr? Wie entsetzlich peinlich. Der verrückte Stepptanzmann übersprang noch eine zweite Pfütze, eine dritte und war dann schon ganz nah bei ihr.

Warum er zu ihr lief, der fremden Frau im Regen, als zöge ihn ein unsichtbares Band dorthin, das wusste Georg Neumann selbst nicht so genau. Es war ja sonst nicht seine Art. Es sei um ihn geschehen gewesen: Das würden einmal seine Worte sein, als sie ihn später danach fragte. Er wusste es mit einem Mal, so wie alles Wissen plötzlich da ist: Etwas begann hier, und etwas anderes hörte auf.

»Darf ich?«, fragte er und bewegte seinen Schirm ein Stück in ihre Richtung.

Sie nickte zaghaft. »Ja, natürlich«, sagte sie.

Mit nassem Haar und nassem Kleid stand Frieda Brunner unter diesem großen, schwarzen Schirm, der Mann, dem er gehörte, sehr dicht neben ihr. Der Regen fiel, und beide sagten nichts, heimlich ein paar Worte sammelnd, die ihnen angebracht erschienen, in dieser Lage, die so neu war und so ungewohnt. Sie versuchte zu vermeiden, auch nur den Ärmel seines Mantels zu berühren. Das war allerdings unmöglich.

»Ich heiße Georg«, rief er.

»Frieda«, sagte sie, kaum hörbar, weil der Regen so laut prasselte.

»Sehr angenehm.«

»Ja, find ich auch.«

Es regnete und regnete, aber unterm Schirm war es irgendwie behaglich. Dieser Georg musste ein Geschäftsmann sein. Das machte sie an seiner Aktentasche fest, die er beschützend vor sich hielt wie ein Bote seine wichtige Depesche. Was er wohl dachte, wer sie war? Warum war er bloß gekommen? Wann fiel ihr endlich etwas Kluges ein? Übers Wetter konnten sie nicht sprechen: Es war ja offensichtlich, dass es regnete. Wo blieb denn nur die Straßenbahn? Hoffentlich würde sie so bald nicht kommen. Da bot der Mann ihr eine Zigarette an.

»Wenn man sich eine ansteckt«, sagte er, »kommt im nächsten Augenblick die Bahn. Es ist immer so. Ich habe das erforscht.«

Er lachte, und wie er lachte, riss sie hin: Ein Ausdruck des Gescheiterten lag auf seinem sonst so freundlichen Gesicht, eine Traurigkeit, die Trost verlangte, und zugleich auch die Keckheit eines Milchdiebs, der auf frischer Tat erwischt wird und behauptet, er sei es nicht gewesen.

»Nein, danke«, sagte sie. »Ich rauche nicht.«

Georg rauchte, sie sah ihm aus dem Augenwinkel dabei zu. Er könnte Schwede sein, so meinte sie, vielleicht auch Däne: das blonde Haar, zurückgekämmt, das starke Kinn, die blauen Augen. Dabei zog er an der Zigarette wie ein Sizilianer, so begierig und dabei eigentümlich melancholisch. Frieda hatte einen echten Sizilianer noch nie rauchen sehen, doch der Vergleich erschien ihr passend. Sie fror jetzt, und ihr war trotzdem warm. Sie standen dicht beisammen, Arm an Arm, der Mann, der Georg hieß, und Frieda.

»Dahinten«, sagte er, »wird der Himmel wieder blau.«

Er wies dabei in keine klare Richtung, und ringsherum war noch immer alles dunkelgrau und beinah schwarz. Es war ein frommer Wunsch, vielleicht auch eine schöne, unverschämte Lüge.

»Wenn Sie das sagen«, sagte Frieda.

»Wir sind ja nicht aus Zucker, außerdem.«

»Ja, das ist wahr.«

Aus den Rinnen stürzten Wassermassen. Zwei Katzen, die Pfoten unterm Bauch verborgen, die Augen halb geschlossen, saßen wie greise Philosophen im überdachten Eingang eines Hauses gegenüber und warteten ganz ungerührt, bis ihre Welt sich weiterdrehen würde.

Was, wenn es für immer regnet, dachte Frieda. Dann wäre ich mit diesem Mann gefangen, unter seinem großen, schwarzen Schirm. Dann müsste eine Arche kommen und uns aus dieser Sintflut retten. Zwei von jeder Art, je zwei Katzen, zwei Mäuse und zwei Hunde, den fremden Mann und mich. Uns beide.

Sie erschraken: Es schrillte hell, die Straßenbahn fuhr vor.

»Ich muss die andere Linie nehmen«, sagte Georg. »Leider.«

»Na dann, also«, sagte Frieda und trat jetzt in den Regen, als wäre mit dem Schrillen die Genehmigung erloschen, unter seinem Schirm zu stehen. Er schob ihn ihr noch hastig nach und wurde dadurch selber nass. Sie sahen einander an, durch klamme Wimpern, in tropfende Gesichter, der Schirm jetzt zwecklos zwischen ihnen. Georg lächelte und Frieda auch. Sie war in diesem Augenblick so schön, dass er es nie vergessen würde. Es prägte sich ihm ein, für immer, und wenn er später dann die Augen schloss, sah er sie wieder: die Frau im Regen, lächelnd.

Sie mochte seinen Mantel, seine blauen Augen und sein starkes Kinn. Den verblassten Schmiss auf seiner Oberlippe, die kleine Warze im Winkel seines rechten Nasenflügels und was es sonst noch alles zu entdecken gab an diesem völlig unbekannten, neuen Menschen. Seine Art zu rauchen und zu lachen. Seine etwas ungelenke Höflichkeit. Die Geschichte, die sie noch nicht kannte.

Georg wusste, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Er musste sehr bald etwas sagen, das Frieda in Erinnerung behalten würde. Einen wahren Satz, ein großes Wort, das in ihr widerhallen und das es ihr unmöglich machen würde, ihn jemals zu vergessen.

Auf den letzten Drücker, als die Türen sich schon öffneten, sagte er zu ihr: »Vielleicht sind Sie es doch.«

»Was denn?«, fragte Frieda, sich zum Gehen wendend.

»Aus Zucker«, sagte er, und als er selbst es hörte, merkte er, wie plump es klang. Aus Zucker, dachte er. Ich Vollidiot.

Frieda musste lachen, obwohl es nicht besonders lustig war. Rasch hob sie die rechte Hand vor ihren Mund, was den mädchenhaften Ausdruck noch verstärkte. Dann stieg sie eilig ein, zu eilig, wie er fand. Die Türen schlossen sich. Die Straßenbahn fuhr an.

»Wann sehen wir uns wieder?«, rief er noch.

Frieda hörte seine Worte dumpf, zuckte hinter nassen Scheiben mit den Schultern und dachte von da an beinah pausenlos an ihn.

Nur an den Wochenenden sah Georg seine Frau und seinen Sohn. Sie erschienen ihm oft seltsam fremd, als wäre er zu Gast bei ihnen. Er war ein Mann auf steter Durchreise, ein Vertreter seiner selbst, der nirgends so recht ankam, nicht einmal in seinem Eigenheim, am Ort, der sein Zuhause sein sollte.

Noch am Sonntagabend hatte er mit gewollter und deshalb plumper Zärtlichkeit seinem Sohn durchs dicke, blonde Haar gestreichelt, ihm eine gute Nacht gewünscht und gesagt, dass er ihn liebhabe.

»Ich dich auch, Papa«, hatte Christopher entgegnet.

Dass sein Vater ihn zu Bett brachte, am Abend vor der nächsten Reise, war für ihn kein eingeübtes Ritual: Es ereignete sich jedes Mal von Neuem.

»Ganz doll sogar«, hatte er hinzugesetzt.

Und Georg war bewusst geworden, dass die Liebe seines Sohnes reiner, größer, tiefer war als seine und dass ihn das hätte erschüttern müssen. Doch er saß nur da, am Bettrand, eine Hand auf der mit bunten Tiermotiven reich verzierten Zudecke, unter der die kleine Brust sich hob und senkte, hob und wieder senkte, und zählte mit aller Geduld, die er noch eben aufbringen konnte, die Atemzüge des allmählich einschlafenden Jungen. Zwei Mal begann er von vorn, weil Christopher gezuckt hatte und beinah wieder aufgewacht wäre. Die Spieluhr auf dem Nachttisch gab einen letzten, jämmerlich verschleppten Ton des Liedleins von sich, und dann verstummte sie.

Als Georg bei der Hundert angelangt war, erhob er sich, jeden noch so kleinen Laut vermeidend, als bräche er aus dem Gefängnis aus. Er trat sachte auf die von Legosteinen freien Stellen auf dem Teppich, die er sich zuvor im schwachen Schein der jetzt ausgeschalteten Lampe noch eben einprägt hatte, und schlich hinaus in der Hoffnung, dass sein Sohn sich nicht noch einmal aufrichten und sagen würde: »Ich hab dich lieb, Papa. Ganz doll sogar.« Und dass er nicht würde sagen müssen, ohne dem enormen Gefühl des Jungen gewachsen zu sein: »Ja, ich dich auch.«

Sein Herz kam ihm schon lange seltsam schwach vor. Nicht schwach aufgrund einer Krankheit, sondern schwach, weil ihm der Wille fehlte, stark zu sein. Es schlug im Takt, das schon, doch träge, unbeteiligt und so fadenförmig, dass er später, in der Küche stehend, als sein Sohn schon lange schlief und Anne, seine Frau, auf dem Sofa lag und fernsah, im Handgriff innehielt, als hätte er ein Geräusch oder eben keines vernommen. Er hatte ein Messer aus der Besteckschublade nehmen und sich damit eine Scheibe Brot gegen seinen späten Hunger abschneiden wollen, vergaß das Vorhaben jedoch und horchte jetzt danach, ob in ihm überhaupt noch etwas pulsierte.

Er war vom frühen Herbst an bis in den März hinein und vielleicht auch schon zuvor, das vermochte er nicht mehr zu sagen, kaum empfänglich für ein tieferes Gefühl gewesen, durch nichts recht zu erwärmen und von niemandem verwundbar. Gleichwohl sehnte er sich nach Wärme, wie nach etwas Unerreichbarem, einem fernen Land, einer glücklichen Kindheit und dem blauen Himmel. Sogar nach Verwundung sehnte Georg sich bisweilen. Er wollte leben, doch er war nur noch vorhanden: ein Statist in einem flauen Film, dem er selbst zusah.

Er hätte seine Sehnsucht jetzt aus sich herausbrüllen wollen, mit beiden Händen auf die Anrichte gestützt, den Kopf schwer zwischen seinen Schultern hängend, und blieb doch stumm, um seinen Sohn und seine Frau nicht zu erschrecken. Damit sie nicht zu ihm in diese Küche stürzen und ihn fragen würden, was um Himmels willen mit ihm los sei. Und damit er nicht würde sagen müssen, nichts sei los, wirklich gar nichts, meine Lieben, alles ist in Ordnung, ihr könnt jetzt wieder gehen. Dabei hätte es gestimmt: Mit ihm war gar nichts los, wirklich gar nichts, und das seit einer ganzen Weile schon.

Statt zu brüllen, schnaufte Georg also nur, und sein Herz, der Schwächling, es schlug weiter, regelmäßig zwar, doch träge nur und unbeteiligt. Er schnitt kein Brot mehr ab an diesem späten Sonntagabend, schloss nur die Besteckschublade wieder, stand noch eine Weile schnaufend da und ging dann zu seiner Frau ins Wohnzimmer hinüber.

Im Fernsehen lief schon die große Unterhaltungssendung. Ein Kandidat wusste alles über Meeressäuger: Pottwale, erklärte er, könnten drei Kilometer tief tauchen. Nachts schliefen sie mitunter senkrecht, wie im Stehen, dann ruhten beide Hälften ihres Hirns.

Es stimmte alles, was er sagte. Der Moderator gratulierte ihm und übergab ihm einen Scheck, der so groß war wie ein Ortsschild. Konfetti fiel herab auf den Gewinner, den Moderator und die beiden Konkurrenten, die, schon schemenhaft geworden, am Rande des Geschehens standen und nicht recht wussten, wohin mit sich in ihren schicken, neuen Anzügen, in denen sie verkleidet wirkten. Einer winkte linkisch, unklar, wem.

Anne sagte: »Da melde ich dich auch mal an.«