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Eine böhmische Familiengeschichte - fesselnd, berührend und voller Zuversicht
Längst hat Erika mit ihrer Familie in Wien ein neues Zuhause gefunden, und die Schrecken der Vertreibung aus ihrer böhmischen Heimat Hohenfurth liegen weit zurück. Die Ehe mit Erich hat ihren Glanz verloren, doch für ihre Kinder hält sie die Fassade aufrecht. Sie ist dankbar für die Freundschaft ihrer treuen Gefährtin Emmi und flüchtet sich in die Arbeit bei einer Werbeagentur, wo sie ihr künstlerisches Talent entfalten kann. Als ein persönliches Schicksal ihre Jugendliebe Jakub nach Wien führt, steht für Erika plötzlich der Himmel offen. Doch ehe sie eine weitreichende Entscheidung treffen kann, erwartet ihre Tochter Billie sie mit ungeahnten Neuigkeiten. Neuigkeiten, die Erika wehmütig nach Hohenfurth zurückblicken lassen und zugleich eine hoffnungsfrohe Zukunft versprechen, in der Bande neu verknüpft werden, die viel zu lange getrennt waren.
Gabriele Sonnbergers warmherzige Saga um ihre starke Heldin Erika erzählt davon, wie es war, als Sudetendeutsche nach dem Krieg eine neue Heimat zu finden - eine mitreißende Geschichte über Lebensträume, Liebe, Solidarität und die Macht der Hoffnung
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Seitenzahl: 921
Veröffentlichungsjahr: 2022
Eine böhmische Familiengeschichte – fesselnd, berührend und voller Zuversicht
Längst hat Erika mit ihrer Familie in Wien ein neues Zuhause gefunden, und die Schrecken der Vertreibung aus ihrer böhmischen Heimat Hohenfurth liegen weit zurück. Die Ehe mit Erich hat ihren Glanz verloren, doch für ihre Kinder hält sie die Fassade aufrecht. Sie ist dankbar für die Freundschaft ihrer treuen Gefährtin Emmi und flüchtet sich in die Arbeit bei einer Werbeagentur, wo sie ihr künstlerisches Talent entfalten kann. Als ein persönliches Schicksal ihre Jugendliebe Jakub nach Wien führt, steht für Erika plötzlich der Himmel offen. Doch ehe sie eine weitreichende Entscheidung treffen kann, erwartet ihre Tochter Billie sie mit ungeahnten Neuigkeiten. Neuigkeiten, die Erika wehmütig nach Hohenfurth zurückblicken lassen und zugleich eine hoffnungsfrohe Zukunft versprechen, in der Bande neu verknüpft werden, die viel zu lange getrennt waren.
Gabriele Sonnbergers warmherzige Saga um ihre starke Heldin Erika erzählt davon, wie es war, als Sudetendeutsche nach dem Krieg eine neue Heimat zu finden – eine mitreißende Geschichte über Lebensträume, Liebe, Solidarität und die Macht der Hoffnung
Gabriele Sonnberger, geboren in Wien, ist studierte Lehrerin und Grafikdesignerin. ZEITEN NEUER HOFFNUNG ist der dritte Band ihrer Trilogie um das Schicksal zweier Familien aus Hohenfurth. Die Saga ist inspiriert von der bewegenden Geschichte ihrer Mutter, die 1945 aus ihrer böhmischen Heimat vertrieben wurde. Gabriele Sonnberger ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt als freie Schriftstellerin im Herzen von Wien.
GABRIELESONNBERGER
ZEITEN
NEUER
HOFFNUNG
Eine böhmische Familiengeschichte
Roman
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Susanne George, Bergisch Gladbach
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Umschlagmotiv: © shutterstock/sl_photo, © PGMart/shutterstock, © arcangel/Joanna Czogala, © Arcady/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-1672-7
luebbe.de
lesejury.de
Für Hannes,
meinen Fels in der Brandung
Und für meine Eltern Erika und Erich,
die 68 Jahre miteinander gelebt,
gegen die Fallstricke ihrer Zeit gekämpft
und einander und ihre Kinder geliebt haben,
so gut sie es konnten.
Niedergeschrieben,
was in der Stille der Nächte,
im Kampf
mit den inneren Schwächen,
Seele und Geist
mir bewegt.
Was mich beschäftigt
nach arbeitserfüllten Tagen,
was mir in Mußestunden
so einfällt,
wenn von der Zukunft
und von Erinn’rung
ich träume.
Erika Liedl
Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Die Wehen kamen jetzt bereits im Drei-Sekunden-Takt.
»Nicht pressen! Der Arzt ist noch nicht da!«
Die Hebamme nahm die Oberarme der Gebärenden in den Schraubstock ihrer kräftigen Finger und fing ihren Blick ein. Erika biss sich auf die Lippen. Dann hechelte sie folgsam gegen den Schmerz, der an ihrem Leib riss, als wollte er sie in alle Einzelteile zerlegen. So schlimm hatte sie es nicht in Erinnerung gehabt. Obwohl klar war, dass eine Geburt kein Zuckerschlecken ist, hatten die drei vorangegangenen sie nicht dermaßen an ihre Grenzen getrieben.
»Bitte. Es geht … nicht mehr. Ich muss … pressen.« Das schweißnasse Spitalshemd klebte an Erikas hochgewölbtem Körper. Salziger Durst füllte ihre Mundhöhle.
»Nein! Nicht pressen! Da stimmt was nicht.« Ein scharfer Atemzug begleitete den Ruck, mit dem die Hebamme sich aufrichtete. Sie stemmte sich mit der Schulter gegen Erikas aufgestellte Beine und presste eine Hand gegen den vollständig geöffneten Muttermund. »Jetzt nicht erschrecken. Entspannen Sie sich, so gut es geht. Ich muss eine Wendung versuchen.«
Bevor Erika verstanden hatte, was die Frau damit sagen wollte, tobte ein apokalyptischer Dämon mit feurigem Ritt durch ihren Unterleib. In tonlosem Entsetzen riss sie Mund und Augen auf. Der Schmerz erreichte die Stimmbänder erst, als die Hebamme ihre Hand bereits wieder aus ihr herausgezogen hatte.
»Jetzt dürfen Sie pressen.« Die Hebamme schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Wenige Augenblicke später glitt der kleine Körper aus Erika heraus. Plötzliche Hektik löschte die Fröhlichkeit aus dem Gesicht der Hebamme. »Schwester Elisabeth! Kommen Sie! Rasch!«
Helfende Hände drehten das stumme Neugeborene um die eigene Achse. Immer und immer wieder. Mit einem weichen Tuch rieb Schwester Elisabeth über die blau gefärbte Haut.
Die Tür flog auf, und atemlos stürzte der Arzt herein. »Was ist hier los? Sie sollten mich doch sofort rufen, wenn es in die Endphase geht.« Jetzt beugte auch er sich besorgt über das verkniffene Gesichtchen.
Schwester Elisabeth zog die Brauen zusammen, ohne die Massage zu unterbrechen. »Keine Zeit, sie wollte nicht warten – als hätte sie gewusst, dass es auf jede Minute ankommt.«
Niemand kümmerte sich um Erika. Was passierte da nur? Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte aufstehen, zu dem Wesen hinlaufen, das sie gerade aus sich herausgepresst hatte und das nun keinen Laut von sich gab. Aber sie hatte nicht einmal genug Energie, um nach Worten zu suchen.
Und dann hörte sie es. Erst leise, wie eine Vorübung. Und dann aus vollen Lungen. Protestgeschrei. Gegen die grobe Behandlung? Oder die Tatsache, dass es aus der warmen Geborgenheit gezwungen worden war? Die Stimme war auf jeden Fall nicht zu überhören, und Erika liefen Tränen der Erleichterung über die Wangen.
»Gratuliere, liebe Frau Lehner! Die kleine Prinzessin hier hat uns aber einen ordentlichen Schrecken eingejagt.« Mit einem breiten Lächeln legte ihr der Arzt das strampelnde Wesen in den Arm.
Verwirrt schaute Erika zur Schwester, die bei dem Behandlungstisch stehen geblieben war.
Prinzessin? Es war tatsächlich ein Mädchen?
Erika weinte noch immer, während sie vor Freude zu lachen begann.
»Schau dir nur diesen Gesichtsausdruck an – als könnte sie dir den Sinn des Lebens erklären. Falls sie denn Lust dazu hätte.«
Erich konnte vom Anblick seiner Tochter nicht genug bekommen. Dabei war das runzelige Gesicht immer noch leicht bläulich angelaufen, und das dunkle Haar stand wirr vom Kopf ab, obwohl die Schwestern sich redlich um eine niedliche Haartolle bemüht hatten. Die gepolsterten Fingerchen mit den perfekt geformten Nägeln lugten aus dem Steckkissen hervor und ballten und spreizten sich, als wollten sie eine Symphonie dirigieren.
»Weißt du, was mir gerade durch den Kopf geht?« Erich strich vorsichtig mit dem Zeigefinger die winzige Wange entlang und lachte verzückt, weil die Berührung dem Säugling ein Schmunzeln entlockte. »Ich denke, der liebe Gott hat uns das kleine Mädchen zurückgebracht, das vor fünf Jahren nicht bei uns bleiben durfte.«
Ein tief verborgener Kummer strömte mit einem Seufzer über Erikas Lippen. Auch ihr war dieser Gedanke schon gekommen. Und er hatte eine Erinnerung mitgebracht, die sie in den hintersten Winkel ihrer Seele verbannt hatte. Vor fünf Jahren hatte sie ein Kind verloren. Nur wusste Erich nicht alles darüber. Das Mädchen war im Bauch seiner Mutter gestorben, nachdem sein wahrer Vater Selbstmord begangen hatte. Robert hatte ihr die Welt zu Füßen legen wollen, doch Erika hatte sich gegen ihn und für ein Leben mit Erich entschieden. Mit ihrem Entschluss hatte sie damals Roberts Träume zerstört und ihrem Mann seinen besten Freund genommen – und die Tochter, von der er bis heute glaubte, dass sie von ihm gewesen sei.
Dass dieses kleine Ding, das nun friedlich neben ihr schlummerte, sich die Nabelschnur um Hals und Körper gewickelt und sich damit beinahe erwürgt hätte, jagte Erika einen Schauer über den Rücken. Robert war damals erhängt in seiner Wohnung gefunden worden.
Schnell vertrieb sie das grausame Bild, das vor ihrem inneren Auge stand. »Du hast recht. Ich glaube auch, dass sie ein Geschenk des Himmels ist. Und sie ist nicht zufällig hier.« Erika steckte ihre Nase in den schwarzen Flaum über dem faltigen Gesicht und sog den einzigartigen Duft von Glück und Vollkommenheit ein, den jedes Neugeborene verströmte. »Sie hat einen besonderen Auftrag für diese Welt. Davon bin ich überzeugt.« Sie hob den Kopf und suchte Erichs Blick. »Deswegen soll sie den Namen Sibylle bekommen. Die göttliche Seherin.«
Erich zögerte kurz, dann nickte er. »Wie in den griechischen Sagen. Sibylle. Eine Prophetin, die in die Zukunft blickt.« Vorsichtig setzte er sich zu Erika auf die Bettkante. Unter seinem Gewicht senkte sich die Matratze, und der Säugling rutschte gegen seinen Oberschenkel. Erich schob schützend seine Hand darunter. »Mein kleiner Schatz, welches Leben steht dir bevor? Was werden wir wohl von dir lernen dürfen? So lange wir Menschen auf Erden sind, suchen wir doch alle nach dem Glück. Wirst du es für dich finden? Dürfen wir dich dabei begleiten? Uns hast du es auf jeden Fall schon einmal gebracht. Und du sollst wissen, kleine Prophetin, dass ich dich immer beschützen und bei allen deinen Aufgaben unterstützen werde. Ich wünsche dir eine Zukunft, in die du voller Vorfreude schauen kannst.«
Als hätte sie genau verstanden, was ihr Vater gerade gesagt hatte, öffnete das Mädchen die Augen und musterte ihn mit ihrem Kornblumenblick, in dem sich ihre ganze Welt befand.
Das ist meins!«
Billies kleine Hand langte blitzschnell über den Tisch zur Servierplatte, auf der das letzte Marmeladekipferl lag. Drei Bleche voll hatte Erika für die Familie gebacken. Die vier Kinder konnten nie genug davon bekommen. Zum Glück war es ein einfaches Rezept, das ihr Tante Mimi schon als Kind gezeigt hatte. Nun war es Billie, die ihr dabei eifrig zur Hand gegangen war. Mit einem Teelöffel hatte sie Marillenmarmelade auf die vielen Teigdreiecke getupft, bevor sie sie eingerollt und an den Enden festgedrückt hatte. Jetzt stopfte sie sich das Gebäck in den Mund und grinste Bernhard zahnlückig an. »Hättest halt auch mitgeholfen.« Nur schwer waren ihre Worte zwischen dem Riesenbissen in ihrem Mund zu verstehen, doch in ihren Augen blitzte vergnügte Schadenfreude, dass sie schneller gewesen war als ihr ältester Bruder.
»Sibylle Lehner! Du freche kleine Kröte! Das wirst du büßen!« In gespieltem Zorn stieß Bernhard seinen Stuhl zurück und umrundete den langen Holztisch.
Billie reckte das Kinn hoch. »Glaubst du, ich fürchte mich vor dir? Ich bin stark, schau nur!« Sie schob den Ärmel ihres Wollkleides hoch und spannte den Muskel an.
Bernhard drohte ihr mit dem Finger. »Nur weil ich fürs Bundesheer zu kurzsichtig bin, heißt das nicht, dass ich nicht mit dir fertigwerde. Und außerdem hab ich den Leo an meiner Seite. Das hast du wohl vergessen, Fräulein Naseweis!«
Aufs Stichwort schnappte Leo sie um die Mitte und hob sie aus dem Stuhl hoch, als hätte sie kein Gewicht. Billie kreischte und strampelte mit den Beinen, aber Leo lachte nur. Rasch wich Bernhard einen Schritt zurück, um vor Billies Fußtritten sicher zu sein.
»Warte nur, du Wildkatze, das merke ich mir! In drei Wochen hab ich Geburtstag. Da kriegst du von meiner Torte bestimmt kein einziges Stück!«
Solange es nach Spaß aussah, beobachtete Erika die Szene nur, ohne sich einzumischen. Jetzt kicherte sie durch die Nase. »Bist du sicher, dass es eine Geburtstagstorte geben wird? Du bist doch schon viel zu erwachsen für so Kinderkram.«
Bernhard riss die Augen auf, und Leo entließ Billie aus dem Schwitzkasten.
»Was? Es gibt keine Torte mehr? Nur weil Bernhard neunzehn wird? Das geht doch nicht!« Mit gerunzelter Stirn fixierte er erst Erika und dann seinen Bruder, der nur vierzehn Monate älter war als er. »Hast du gesagt, dass du Geburtstage kindisch findest? Ich jedenfalls nicht!« Normalerweise waren die beiden ein eingeschworenes Team, doch in diesem Fall teilte Leo Bernhards Ansicht nicht. Bernhard schüttelte vehement den Kopf. »Hab ich nie gesagt! Keine Ahnung, was Mama da reitet!«
»Jössas, ihr zwei seid echte Deppen. Euch kann man wirklich leicht veräppeln. Mama nimmt euch doch nur auf den Arm.« Matthias grinste und strich seiner Schwester fürsorglich eine Haarsträhne aus dem roten Gesicht. »Sogar Billie hat das schon durchschaut, stimmt’s, kleine Schnecke?«
Ganz sicher war Billie sich nicht gewesen, obwohl Erika ihr verschmitzt zugeblinzelt hatte. Nun lachte sie erleichtert auf. »Klar! Das weiß doch jeder! Für eine Torte ist man nie zu alt, gell, Papa?«
Entrüstet streckte Erich den Rücken durch. »Warum schaust du mich dabei an? Ich bin doch kein Greis! Ich bin nur zwei Monate älter als deine Mutter – und sieh dir das junge Pupperl an! Sie würde glatt als deine ältere Schwester durchgehen.«
»Du spinnst ja.« Erika machte eine wegwerfende Handbewegung, lachte ihn dabei aber geschmeichelt an.
»Papa, echt, du bist so was von peinlich!«
Bernhard ignorierte die Tatsache, dass er auf einen Scherz hereingefallen war, und verdrehte die Augen. Sofort pflichtete Leo ihm bei. »Mit solchen Sprüchen hast du vielleicht nach dem Krieg was gerissen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute kannst du Frauen mit so einer billigen Anmache nicht mehr beeindrucken.«
»Genau! Eine moderne Frau lässt es sich nicht gefallen, dass ein Mann sie als Pupperl bezeichnet.«
Bernhard nickte Leo zu. So verschieden die beiden Brüder aussahen, so einig waren sie sich darin, den Eltern zu widersprechen. Wenn sie so nebeneinanderstanden, hätte man sie nicht für Geschwister gehalten. Bernhard wirkte zartgliedrig und schmal. Er war einen Kopf kleiner als Leo, der sich letztes Jahr zu seinem siebzehnten Geburtstag Boxhandschuhe, einen Sandsack und Hantelstangen gewünscht und sich im Keller eine Kraftkammer eingerichtet hatte. Während Bernhard sich für alles interessierte, was auf der Welt passierte, und er sämtliche Nachrichten aufsaugte, die er aus Fernsehen, Zeitung oder Radio bekommen konnte, zog Leo sich lieber in sein Zimmer zurück und malte oder zeichnete – wenn er nicht gerade im Keller trainierte.
Die steile Falte zwischen Erichs Augen sprach von einem Anflug Verärgerung. »Von euch beiden brauch ich mir wirklich nicht sagen lassen, wie ich mit Frauen zu reden habe. Damit hab ich noch nie ein Problem gehabt, stimmt’s, Mutzile?« Er ignorierte Erikas Blick, den sie zur Decke drehte. »Brauchst nur die Wilma oder die Lorly fragen. Oder die Helene. Denen gefällt meine Art überaus. Aber was rechtfertige ich mich überhaupt vor euch Grünschnäbeln. Hauptsache, ihr seid euch wieder einmal einig, wie man sich richtig zu verhalten hat.« Er knurrte missmutig. »Da reden die Richtigen. Der eine weiß vor lauter Gescheitheit nicht, was er studieren will, und der andere schafft es grad mit Müh und Not durch die Schule. Vielleicht konzentriert ihr euch lieber mal auf euch selbst, bevor ihr euch ein Urteil darüber anmaßt, wie ich mit Frauen rede.«
Bernhard zuckte nur mit den Schultern, doch Leo schoss Röte ins Gesicht. »Wenn ich die Matura nicht brauchen würde, damit ich an die Akademie gehen kann, hätte ich die blöde Schule längst hingeschmissen.« Das Zucken seiner Wangenmuskeln spiegelte wider, wie aufgewühlt er war. »Doch wie es mir geht, interessiert hier ja ohnehin niemanden.«
Erschrocken schnappte Erika nach Luft. »Aber Leo, wie kannst du so etwas sagen? Papa und ich wollen immer nur das Beste für euch Kinder!«
Bernhard zog die Brauen hoch. »Weil ihr immer so genau wisst, was das Beste für uns ist …« Er schlug die Zeitung auf, die Erich vor dem Essen gelesen und auf dem Tisch neben dem Lehnstuhl abgelegt hatte. »Das glauben die Leute auch, die auf Studenten einprügeln, die nicht länger in einem reaktionären System leben wollen und deswegen auf die Straßen gehen. Hauptsache, es bleibt alles so, wie es immer schon war. Weil der alte Mief ja so toll ist.«
Erich schüttelte den Kopf. »Du siehst auch nur, was dir in den Kram passt. Wir sind bei Gott nicht gegen alles! Ich wünsche dir nicht, dass du dort sein müsstest, wo die Menschen wirklich unfrei sind und ihre Meinung nicht sagen dürfen – wie zum Beispiel bei unseren Nachbarn, den Tschechen. Wenn die auf die Straße gehen, haben sie wirklich ein essenzielles Anliegen. Aber diesem Geschrei nach Freiheit und der Zerstörungswut kann ich nichts abgewinnen.«
Er ignorierte Bernhards scharfes Luftholen und schaute zu Erika. »Hast du das mitbekommen? Gestern hat der tschechische Parteichef Novotný zurücktreten müssen. Ich bin gespannt, ob sich die slowakische nationale Bewegung unter Dubček weiter durchsetzen wird. Diesmal geht es um einen entscheidenden Schritt hin zu mehr Meinungsfreiheit und Liberalisierung unseres Nachbarlandes.« Seine Augen hinter den Brillengläsern funkelten. »Wenn Dubček und seine Leute weiter gegen die Kommunisten an Boden gewinnen, könnte das auch für uns von großer Bedeutung sein. Denk nur, wenn die Beneš-Dekrete endlich außer Kraft gesetzt würden. Dann könntest du auch wieder nach Hohenfurth fahren.« Er griff über den Tisch nach Erikas Hand. »Würdest du das nicht auch spannend finden, noch einmal zu deinem früheren Zuhause zu kommen?«
Erika presste die Lippen zusammen. Erst nach einem Moment der Stille holte sie tief Luft, bevor sie Erich antwortete. »Es wäre schon schön, noch einmal das Haus zu sehen, in dem ich aufgewachsen bin.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Der verträumte Zug um ihren Mund verschwand wieder, und sie zuckte mit den Schultern. »Aber wer weiß, wie es jetzt dort aussieht. Was werde ich dort noch finden? Die Kommunisten sind mit unserem schmucken Städtchen bestimmt nicht gerade sorgsam umgegangen. Ich weiß nicht, ob ich das mit eigenen Augen sehen will.«
Noch einmal versuchte Bernhard, sich Gehör zu verschaffen. »Ihr könnt doch auch nichts anderes, als ständig über den Kommunismus herzuziehen. Ihr kapiert eben die Idee dahinter nicht. Ich wünsche mir eine Welt, in der es endlich eine gerechte Verteilung der Güter gibt, in der nicht eine kleine, reiche Minderheit über die Mehrheit der schuftenden Arbeiterschaft bestimmt, sondern in der jeder Mensch das gleiche Recht auf Besitz und Wohlstand hat – das ist ein Idealzustand, für den man kämpfen sollte.« Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch seine dichten Locken, die ihm beinahe bis zu den Schultern reichten. Dabei nickte er Leo zu, der an den Lippen seines Bruders hing.
»Wenn das alles so super wäre, warum gehen dann die Menschen in der Tschechoslowakei gegen dieses System auf die Straße? Da sind übrigens auch viele Studenten dabei. Und die sind doch alle so schlau, sagst du immer.« Weil Bernhard nur den Kopf schüttelte, krachte Erichs flache Hand auf die Tischplatte. »Du hast doch nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, hart zu arbeiten. Wie schwer wir es gehabt haben, um uns diesen kleinen Wohlstand zu verdienen, in dem übrigens auch du nur zu bequem wie die Made im Speck lebst.« Er tippte mit dem Zeigfinger gegen Bernhards schmale Brust. »Bring du erst einmal was auf die Reihe, bevor du meinst, Revolution machen zu können. Du machst rein gar nichts aus deinen Talenten. Außer große Reden zu schwingen fällt dir nichts ein. Oder hast du schon irgendwas für die Gesellschaft geleistet?«
Bernhard deutete eine wegwerfende Handbewegung an. »Was gebe ich mich mit euch Reaktionären überhaupt ab.«
Er murmelte nur, doch Erich verstand, was er sagte, und es versetzte ihn in Rage. Völlig unerwartet klatschte eine flache Hand gegen Bernhards Wange. Sofort baute Leo sich vor seinem Bruder auf und reckte Erich das Kinn entgegen.
»Genau das hat Bernhard vorhin gemeint! So war es immer schon. Was anderes als schlagen fällt euch nicht ein.« Seine Stimme zitterte, und in seinen Augen glitzerten Tränen der Wut.
Auch Erika war über Erichs harte Reaktion erschrocken, mehr aber noch über das, was Leo gesagt hatte. »Was soll denn das heißen? Wir haben euch doch nicht ständig verprügelt! Papa ist die Hand ausgerutscht. Bernhard hat ihn aber auch wirklich provoziert.« Beruhigend legte sie ihm eine Hand auf den Arm, doch Leo fuhr herum und funkelte nun seine Mutter wütend an.
»Lass das! Wenn du dich nicht mehr erinnern kannst – ich kann es! Ich weiß genau, wie wir auf unseren Betten gesessen und darauf gewartet haben, dass der Papa zu uns ins Zimmer kommt. Aber nicht, weil er uns Gute Nacht sagen wollte. Natürlich nicht! Du hast ihn raufgeschickt, damit er uns bestraft. Für irgendwas, das wir wieder mal angestellt hatten.« Aus seinen Augen sprühte heißer Zorn. »Das hast du vergessen? ›Wartet nur, bis der Papa nach Hause kommt‹, hast du uns gedroht. Dir waren wir doch immer nur lästig. Wann hast du mich in die Arme genommen? Wann hast du mich gefragt, was ich mir wünsche? Onkel Robert war der Einzige, der mich wirklich verstanden hat. Seit er tot ist, habe ich hier niemanden mehr, der sich für mich interessiert.«
Erika schluckte an dem Kloß in ihrer Kehle. »Aber Leo, wie kannst du so was sagen? Das stimmt doch gar nicht. Weißt du denn nicht, wie lieb ich dich habe?« Aufgewühlt ging ihr Blick in die Runde und suchte die Gesichter ihrer Kinder. »Euch alle?«
Matthias kaute an seiner Lippe, und Billies blaue Augen füllten sich mit Tränen. Sie stürmte auf ihre Mutter zu und drückte sich an sie. »Ich hab dich auch lieb, Mama!« Die Worte stolperten aus ihr heraus, und sie hustete. »Euch alle hab ich lieb!« Dabei hob sie das nasse Gesicht und fixierte erst Bernhard und dann Leo, bis sich die zornige Falte zwischen seinen Augen glättete und er verlegen zu Boden schaute. Abrupt drehte er sich um und stürmte aus dem Zimmer. Bernhard verharrte kurz und schaute Billie nachdenklich an, bevor er seinem Bruder folgte. Gleich darauf knarrte die Haustür, und ein kalter Lufthauch wehte ins Wohnzimmer, bevor sie wieder ins Schloss fiel.
Matthias kniete sich vor seine kleine Schwester und legte einen Arm um ihre zuckenden Schultern. »Lass die Großen spinnen, die kriegen sich schon wieder ein. Und mach dir keine Sorgen. Sie haben dich bestimmt auch sehr lieb. Sie können es halt gerade nur nicht so gut zeigen.«
Dabei suchte er im Gesicht seiner Mutter nach Unterstützung. Erika aber saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Mechanisch strich sie mit den Händen über Billies schmalen Rücken, während sie in ihrer Brust Eisnadeln spürte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr Leo seinen Patenonkel vermisste. Stimmte es, was er ihr vorgeworfen hatte? Hatte sie ihrem sensiblen Jungen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet?
Erschrocken schaute sie Erich an. »Findest du, dass wir zu streng mit den Buben gewesen sind?«
Erich schob die Brauen zusammen. »Ich lass mir doch nicht von diesen zwei Rotzlöffeln vorwerfen, ich hätte sie ständig verprügelt! Eine gute Erziehung hat noch niemandem geschadet.« Sein Blick schoss zu Matthias, der immer noch vor Billie auf dem Boden hockte. »Anständige Menschen haben wir aus euch gemacht, oder siehst du das anders?«
Matthias zog den Kopf zwischen die Schultern. »Lasst mich da raus. Das müsst ihr schon selbst mit Leo und Bernhard ausmachen.« Er rappelte sich auf und verdrückte sich in sein Zimmer. Gleich darauf wummerten dumpfe Bassklänge aus dem ersten Stock.
Erika schaute ihm verdattert nach. Wusste sie, wie es in Matthias ausschaute, ihrem kleinen Schmarnderle, der immer so unauffällig mitgelaufen war? Er war inzwischen fünfzehn. Was ging hinter dieser Stirn vor, in die blonde Haarsträhnen fielen, die er immer mit einer ungeduldigen Handbewegung hinters Ohr schob? Wieder machte ihr dieser schreckliche Kloß den Hals eng.
»Ich versteh nicht, was Leo von mir erwartet. Die Tante hat mich auch nie in den Arm genommen. Deswegen hab ich trotzdem gewusst, dass sie mich gernhat.«
Auch Erich fixierte die Tür, durch die sein Sohn verschwunden war, dann schüttelte er den Kopf und steuerte seinen Lehnstuhl an. »Ich hab mir nichts vorzuwerfen. Was bei euch zu Hause los war, während ich in der Schule war, weiß ich nicht.«
»Was willst du damit sagen? Ich bin doch nur deswegen streng mit den Kindern, weil ich sie lieb habe. Weil ich will, dass sie stark sind, wenn es darauf ankommt. Dafür ist Erziehung doch da! Was hätte ich sonst tun sollen?«
Erich brummte nur und zog die Zeitung vor sein Gesicht.
Feuchtwarme Hände legten sich um Erikas Wangen. »Mama, wollten wir heute nicht den Christbaum abräumen?«
Billies zaghafte Stimme verdrängte Erikas Frage, die unbeantwortet zwischen den Eheleuten hing. Erika holte tief Luft und sah ihre Tochter mit einem angestrengten Lächeln an. »Stimmt, mein Schatz. Frag deinen Bruder, ob er die Affenmusik abstellen und uns helfen kann, dann machen wir uns gleich an die Arbeit.«
Billie nickte begeistert. Die Glaskugeln in die Weihnachtskisten zu packen war eine heikle Aufgabe. Bisher hatte sie nur die unzerbrechlichen Dinge, wie die Kerzenhalter oder die goldenen Girlanden, anfassen dürfen. Doch dieses Mal hatte Mama versprochen, ihr auch das Abnehmen der wertvollen Kugeln und Glasfiguren anzuvertrauen. Schließlich war sie seit vergangenem September ein Schulkind, das mehr Verantwortung übernehmen konnte.
Sofort trappelte sie in den ersten Stock, und gleich darauf brach das Wummern ab, und Matthias’ jungenhafter Tenor mischte sich in ihr aufgeregtes Schnattern.
»Komm, kleine Schnecke, hol mit mir die Kisten vom Dachboden.« Matthias lenkte das zappelige Mädchen zu einer Tapetentür, hinter der man über eine schmale Treppe auf den Dachboden gelangte. Die Holzstufen knarrten unter Matthias’ Tritten, und Billie klammerte ihre Finger um den Handlauf, während sie hinter ihrem Bruder hinaufstieg. Oben auf dem Absatz waren zwei Türen. Die rechte führte in eine gemütliche Kammer unter den Dachschrägen, in der Erich bis zum Umbau vor einem Jahr sein Arbeitszimmer hatte. Nun stand sie leer, und Billie liebte es, auf der durchgesessenen, alten Couch zu lümmeln und ungestört in ihren Büchern zu schmökern.
Matthias öffnete die niedrige Tür daneben und knipste die Glühbirne an, die nackt in einer Fassung vom Dachbalken baumelte. Das schwache Licht fiel auf unzählige Pappkartons, alte Möbelstücke und anderes ausgedientes Zeug, das zu schade zum Wegwerfen war, doch irgendwann dort oben in Vergessenheit geriet. Zielstrebig steuerte Matthias die großen braunen Kartons an, die in einer Ecke abgestellt waren. Mama behauptete zwar, dass das Christkind und die Engelein die Kiste in der Nacht vor dem 24. Dezember vom Dachboden holen und den Baum schmücken würden, doch Billie wusste inzwischen, dass es Papa war, dessen schwere Schritte sie auf der Holztreppe hörte, wenn sie in der Nacht vor Heiligabend vor Aufregung nicht einschlafen konnte. Nun standen die Kisten also bereit, wieder gefüllt zu werden, bevor sie hier oben auf das nächste Weihnachtsfest warteten.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, war Erich im Lehnstuhl eingeschlafen, und die Zeitungsseiten, die auf seinen Schoß gesunken waren, zitterten unter seinem leisen Schnarchen. Erika hatte inzwischen die große Leiter aufgestellt und war hinaufgestiegen, um die goldene Spitze abzunehmen. Sie reichte das gläserne Kunstwerk nach unten, wo Matthias es entgegennahm, in Seidenpapier einschlug und in die passende Schachtel packte.
»Du kannst den Schmuck dort abräumen, wo du gut hinreichst.«
Erika nickte Billie aufmunternd zu, die sich gleich ans Werk machte. Vorsichtig nahm sie als Erstes den Engel mit den goldenen Flügeln ab und legte ihn auf den Tisch. Daneben kamen das Häuschen mit dem roten Dach, der Clown in seinem bunten Gewand, die silberne Glocke, die richtig bimmeln konnte, und die rote Kugel, die mit schneebedeckten Bäumen und einem Reh bemalt war. Immer mehr der kostbaren Stücke sammelten sich auf dem Tisch und warteten darauf, in die passenden Fächer der Schachteln gesteckt zu werden. Ehrfürchtig strich Billie über einen Zapfen, der mit Goldglitter überzogen war.
»Den habe ich von deiner Großi, der Tante Mimi, zu unserem ersten Weihnachten in Wien geschenkt bekommen.« Unbemerkt war Erika dazugekommen und legte nun selbst einen Finger auf das filigrane Glaskunstwerk.
»Schade, dass die Großi und Tante Maria diesmal zu Weihnachten nicht zu uns gekommen sind. Sonst haben wir immer zusammen gefeiert.« Billie drehte sich um und schaute ihre Mutter an.
Ein Schatten huschte über Erikas Gesicht. »Ja, aber ich habe dir ja erzählt, dass es ihr gerade nicht so gut geht. Sie hat eine Lungenentzündung gehabt und bekommt nur schlecht Luft. Deshalb wollten sie und Tante Maria die lange Zugfahrt nach Wien lieber nicht unternehmen.« Mitfühlend drückte Billie eine Hand auf ihre Brust, und Erika nickte. »Weißt du noch, wie wir sie letzten Sommer in ihrem neuen Haus in Weilheim besucht haben? So lange im Zug zu sitzen war ganz schön anstrengend, erinnerst du dich?« Erika strich ihrer Tochter liebevoll über den dunklen Scheitel. »Im April, zu deinem Geburtstag, wird sie aber bestimmt wieder gesund sein.«
Matthias wickelte gerade die Krippenfiguren ein. Nun hielt er inne und suchte Billies Blick. »Du und die Großi – ihr mögt euch sehr, gell?« Jetzt flackerte es kurz in seinen Augen. »Zu uns Buben war sie immer ziemlich streng. Stimmt’s, Mama?«
Erika zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Dann nickte sie zögernd. »Tante Mimi war mit allen streng.« Dann lachte sie, als wäre sie von dem Gedanken selbst am meisten überrascht. »Nur mit Billie nicht. An ihr hat sie einen Narren gefressen.«
Billie legte den Kopf schief. »Die Großi ist eine alte Frau, die will, dass man sie lieb hat. Das ist doch ganz einfach.«
Überraschend meldete sich Erich vom hinteren Ende des Zimmers. Wie lange er schon mitgehört hatte, war nicht ganz klar, aber jetzt mischte er sich in das Gespräch ein. »Die Tante Mimi ist eine alte Frau. Da stimme ich dir zu. Aber was du dabei so einfach findest, versteh ich nicht – die Mimi war alles Mögliche, aber bestimmt noch nie einfach.«
Erika zuckte mit den Schultern. »Billie sieht offenbar etwas in ihr, das uns bisher verborgen geblieben ist.« Sie lächelte sanft. »Ich gönne es Mimi wirklich von Herzen. Sie hat es sich nie leicht gemacht im Leben.«
»Uns aber auch nicht.« So schnell wollte Erich sich nicht geschlagen geben. Doch Erika winkte ab. »Lass gut sein. Freuen wir uns darüber, dass unser kleines Mädchen einer alten Frau den Lebensabend schön macht.«
Billies Interesse an dem Gespräch ihrer Eltern war von einer bunten Schachtel abgelenkt worden, die sie in einer der Weihnachtskisten entdeckt hatte. Neugierig fischte sie sie heraus und hielt sie ihrer Mutter hin. »Was ist denn dadrinnen? Darf ich mal schauen?«
Erika strich über den Deckel der Metalldose. »Na so was! Was machen denn Mimis Tarotkarten bei dem Weihnachtsbaumschmuck?«
Billie drängte sich an sie und lugte über ihren Arm auf den bunten Deckel. »Ta-rot Clas-sic«, las sie laut vor und schaute erwartungsvoll zu ihrer Mutter hoch. »Was ist denn ein Tarot?«
Erika hob den Deckel an, und ein Satz Karten kam zum Vorschein. Obenauf lag eine Karte mit einem Mann vor einem Tisch, auf dem allerlei seltsame Dinge lagen: Werkzeuge, Glaszylinder und runde Scheiben, die wie Münzen aussahen.
»Der Ma-gi-er.« Wie immer, wenn Billie sich besonders konzentrierte, tauchte ihre Zungenspitze im Mundwinkel auf, während sie mit dem Zeigefinger die Buchstaben entlangfuhr, die über dem Bild geschrieben standen. »Was ist das?«
Sie wiederholte ihre Frage, und auch Matthias beugte sich interessiert vor. »Ich wusste gar nicht, dass die Großi sich für okkulte Sachen interessiert hat.«
Erika lachte auf. »So würde ich das auch nicht bezeichnen. Das Kartenspiel hat eigentlich Fanny gehört, Mimis Freundin, die mit uns in Hohenfurth gewohnt hat. Nach ihrem Tod habe ich die Tante ein paarmal beobachtet, wie sie die Karten auf dem Küchentisch ausgelegt hat. Aber ich hab mich nie getraut, sie zu fragen, was das zu bedeuten hat, was sie da tut.« Sie wiegte den Stapel Karten in ihren Händen, als wollte sie sich mit ihnen gut stellen. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber irgendwann hat sie mich an der Tür entdeckt und zu sich in die Küche gewunken. Ich weiß noch, dass ich es so spannend gefunden habe, was sie mir erzählt hat, dass ich eine Zeit lang in der Bibliothek nach Büchern über das Legen von Tarotkarten gesucht habe.«
»Du weißt also, was die Karten bedeuten?« Billie bekam vor Aufregung rote Wangen. »Zeigst du es mir auch?«
»Ich weiß nicht, ob ich es noch kann.« Zweifelnd betrachtete Erika die bunten Bilder.
Billie hängte sich an ihren Arm. »Bitte, Mama! Für mich!«
»Geh, Erika, lass das. Das ist doch alles Humbug.«
Erich knurrte unwillig, kam aber dann doch näher, während Erika die Karten mit der Bildseite nach unten auf dem Tisch ausbreitete und Billie aufforderte, sie mit beiden Händen zu mischen.
»Während du mischst, überlegst du dir eine Frage und denkst ganz fest an sie.«
Billie befolgte Erikas Anweisungen genau, und nachdem sie schließlich die Karten auf einen Stapel zusammengeschoben hatte, richtete sie den Blick auf ihre Mutter. »Ich will wissen, ob ich, wenn ich groß bin, reich und glücklich sein werde.«
Erika lachte hell auf. »Na, du gibst dich ja nicht gerade mit Kleinigkeiten ab. Von wem hat sie das wohl?« Mit einem verschmitzten Lächeln suchte sie Erichs Blick. Der hob die Hände, konnte sich aber ebenfalls ein Lachen nicht verkneifen. »Sie weiß eben, worauf es im Leben ankommt. Ich denke, um sie müssen wir uns keine Sorgen machen.«
Erika nahm die obersten zehn Karten von dem Stapel und begann sie mit der Bildseite nach oben in einem Kreuz auf den Tisch zu legen. »Das nennt man ›Keltisches Kreuz‹«, erklärte sie Billie, die mit roten Wangen dasaß und jede Handbewegung genau verfolgte. Erika stützte das Kinn in eine Hand. »Ah, interessant. Sehr schön«, murmelte sie und deutete auf die Karten in der Mitte. »Der ›Stern‹ ist eine ganz besondere Glückskarte, und dass quer darüber die ›Welt‹ liegt, könnte gar nicht besser sein.« Ihr Finger folgte im Uhrzeigersinn den vier Karten, die sie in einem Kreis um die beiden in der Mitte gelegt hatte.
Forschend betrachtete Billie die Bilder: ein Mann mit einer Krone, eine Karte mit einer riesigen Münze, ein Junge mit einem Wanderstab und ganz oben eine Frau in einem weiten Umhang, die einen Schild und ein Zepter in den Händen hielt.
»Der Herrscher, Ass der Münzen, Bube der Stäbe, die Herrscherin«, las Erika vor.
Billie zappelte aufgeregt mit den Beinen. »Was bedeutet das, Mama?«
»Warte, nicht so ungeduldig, Schätzchen. Ich bin ja noch gar nicht fertig.« Erika lachte, während sie rechts daneben drei weitere Karten untereinanderlegte.
»Der Narr«, »Der Magier«, »Die Liebenden«.
Als Erika die letzte Karte in ihrer Hand betrachtete, zögerte sie, sie auf den Tisch zu legen, doch Billie hatte das Bild schon gesehen. Über ein schwarzes Feld, auf dem Knochen und abgeschnittene Gliedmaßen verstreut lagen, schritt ein Gerippe und schwang seine Sense. In Großbuchstaben stand »Der Tod« darüber geschrieben.
Erschrocken riss Billie die Augen auf. »Muss ich sterben?«
Bevor Erika etwas antworten konnte, hievte Erich seine Tochter auf seinen Arm und trug sie vom Tisch weg. »Aber nein, mein Engelchen. Mach dir keine Sorgen, das ist doch alles nur Unsinn.« Er warf Erika einen wütenden Blick zu. »Wollen wir nicht lieber Mensch ärgere dich nicht spielen? Das letzte Mal hast du mich ja ganz fürchterlich in die Pfanne gehauen. Ich will unbedingt eine Revanche.«
Er verschwand mit Billie in sein Büro, das er vor einem Jahr an das Wohnzimmer hatte anbauen lassen. Nachdem er Direktor des Akademischen Gymnasiums geworden war, an dem er schon seit vielen Jahren Deutsch und Geschichte unterrichtete, verdiente er genug, um sich endlich die Verwirklichung seines Traums leisten zu können. Damals hatte er ihn schon vor sich gesehen – genau so, wie er jetzt entstanden ist. Der fünf Meter hohe, lichtdurchflutete Raum mit einer Glasfront zum Garten hin, oben von einer Glaskuppel gekrönt und von einer Galerie gesäumt, in dem er die unzähligen Bücher, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, in Regale stellen konnte. Hier war sein eigenes Reich, in dem er nicht nur die Schularbeiten korrigieren, sondern auch ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Kein Kinderlärm, kein Streitgeschrei, keine Nörgeleien und Aufforderungen von Erika erreichten ihn in seinem Refugium. Nur in Ausnahmefällen erlaubte er jemandem aus der Familie den Zutritt. Dass er Billie nun in sein Büro mitnahm, kam mehr als überraschend.
Erika und Matthias schauten sich verdattert an.
»Was ist denn mit Papa los? Billie hätte bestimmt kapiert, dass das nur ein Spiel ist.« Versonnen tippte Matthias auf die Karten. »Aber trotzdem … Kannst du mir sagen, was das hier zu bedeuten hat?«
Erika blickte wieder auf den Tisch. »Wenn ich mich richtig erinnere an das, was Tante Mimi mir damals über die Bedeutung der Karten gesagt hat, ist unsere Billie ein besonderes Glückskind, dem die Welt offensteht. Sie wollte wissen, ob sie reich und glücklich sein wird, und so wie es ausschaut, wird sie das.«
»Aber was hat das mit dem Tod auf sich, der da liegt?« Fast scheu tippte Matthias auf die Karte mit dem Gerippe. »Und der Narr scheint mir auch nicht gerade ein gutes Omen zu sein.«
Erika knetete ihre Finger, dass die Knöchel knackten. »Der Narr ist eigentlich eine feine Karte. Er lässt dich frei sein und die Dinge des Lebens von der heiteren Seite sehen. Billie hat so viel Fantasie, damit wird sie gut durchs Leben kommen, auch wenn es vielleicht nicht immer so leicht ausschaut. Aber diese Karte da …« Mit spitzen Fingern näherte sie sich dem Tod, ohne den Karton zu berühren. »… die hätte ich lieber nicht hier liegen gehabt. Etwas wird ihr genommen, das ihr sehr wichtig ist, und dieser Verlust wird sie beinahe aus der Bahn werfen.« Sie seufzte tief. »Aber die Liebe wird den Tod besiegen.«
Mit einer raschen Handbewegung schob sie die Karten zusammen. Dann lachte sie unsicher auf und schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat schon recht. Das ist doch nur Humbug, und ich hoffe, ich habe Billie jetzt keinen Schrecken eingejagt.«
Sie legte die Dose in eine der Weihnachtskisten zurück. Gemeinsam packten sie den restlichen Schmuck ein und trugen die Kartons auf den Dachboden.
Wie ein Wirbelwind stürmte Billie zur Tür herein und warf ihre Schultasche auf den Boden. »Mama, darf Ulla heute bei uns essen? Wir wollen am Nachmittag zusammen spielen.« Sie schüttelte die Stiefel von den Füßen und hüpfte auf Socken zu Erika in die Küche.
Erika wischte sich die Hände an der Schürze ab und musste in sich hineinlachen. Billie erinnerte sie so sehr daran, wie sie selbst damals in Hohenfurth Tante Mimis beschauliches Leben durcheinandergewirbelt hatte.
»Aber sicher, mein Schätzchen. Ihr müsst nur zuerst eure Hausaufgaben machen.« Sie ließ Billies wilde Umarmung über sich ergehen und ging hinaus in die Diele, wo Ulla abwartend stehen geblieben war.
»Deine Freundin ist hier immer willkommen. So oft, wie du bei der Familie Wolff zu Gast bist, bin ich ihnen noch viele Mittagessen schuldig.«
Sie nahm Ulla an der Hand und war von deren festem Griff überrascht. Das Mädchen war für sein Alter schon recht groß. Die kohlrabenschwarzen Haare reichten bis zum Kinn und rahmten Stirn und Wangen des herzförmigen Gesichts schnurgerade ein. Auch die dichten Brauen waren schwarz und tanzten zu jedem Wort auf und ab. In den türkisgrünen Augen blitzte Schalk, und wenn sie lachte, kräuselte sich ihre kleine Nase. Beide vorderen Milchzähne waren gleichzeitig ausgefallen, und die mächtige Zahnlücke ließ sie noch schelmischer aussehen.
»Ich habe Spaghetti gekocht. Die magst du doch sicher, oder?«
Ulla nickte heftig, und ihre Augen leuchteten. »Meine Mama sagt, ich bin ein dankbarer Esser. Mir schmeckt alles. Aber mein Bruder meckert oft. Georg ist beim Essen eine Prinzessin auf der Erbse, sagt Mama immer.« Ulla kicherte. »Dabei mag er Erbsen überhaupt gar nicht. Er würde am liebsten jeden Tag Schnitzel mit Pommes frites essen. Oder Hackbraten mit Püree. Spaghetti mag er aber auch.«
Erika schmunzelte. Es war dem Mädchen anzusehen, dass sie gerne aß. Aber die kleinen Pölsterchen würden bestimmt verschwinden, wenn sie erst einmal ein Teenager war.
»Ist dein Bruder älter oder jünger als du?«
»Georg wird im August neun. Und wenn er groß ist, will er Arzt werden, wie Papa.« In Ullas Stimme schwang Stolz auf ihren großen Bruder mit, und Erika zeigte gebührende Bewunderung.
»Na, dann hat er ja noch Zeit, seinen Speiseplan zu erweitern. Auch der Geschmackssinn wächst mit, wenn man älter wird.«
Eigentlich hatte Erika vorgehabt, nach dem Mittagessen den Wäscheberg anzugehen, doch die fröhliche Gesellschaft der Mädchen hatte Erinnerungen an ihre eigene Kindheit geweckt, und als sie fragte, ob sie Lust hätten, mit ihr gemeinsam alte Fotos anzuschauen, waren sie sofort Feuer und Flamme. Billie schleppte die Alben heran, und Erika genoss es, wie sich die beiden links und rechts an sie schmiegten und alles ganz genau wissen wollten.
»Wer ist denn dieses Mädchen neben dir? Hast du in der Schule auch eine beste Freundin gehabt?«
»Bist das du? Wie alt warst du da? Und ist das neben dir die Großi? Da schaut sie aber noch jünger aus.«
Aufgeregt plapperten die beiden Freundinnen durcheinander, und Erika hatte Mühe, zwischen dem Stakkato ihrer Fragen ausreichend Zeit für ihre Antworten zu finden. Sie war noch beim ersten Foto, auf dem sie als Schulkind mit Emmi zu sehen war, und erklärte gerade, dass Billies Taufpatin immer noch ihre beste Freundin sei, als Billie schon weiterblätterte. Beim Anblick des Wohnzimmers in Hohenfurth vergaß Erika, was sie sagen wollte. Ihr Blick glitt zum alten Lehnsessel, in dem Großmama Fanny immer nach dem Mittagessen ihr Schläfchen gehalten hatte, und verharrte schließlich bei den herrlichen Gemälden, die an der Wand hingen. So lange hatte sie nicht mehr an ihr früheres Zuhause gedacht, aber die Fotos riefen eine Sehnsucht in ihr wach, die sie längst vergessen geglaubt hatte.
»Mama, bist du traurig?«
Billies kleine Hand schob sich in ihre, und Erika schüttelte das Gefühl ab, bevor es sie überwältigen konnte.
»Nein, bin ich nicht, meine Kleine. Ich wüsste nur zu gerne, wo alle diese Bilder jetzt sind.« Zärtlich strich sie über das Foto, auf dem auch jenes Selbstporträt zu sehen war, vor dem sie als Kind bewundernd gestanden hatte. »Dieses Bild hier ist von Tante Mimis Großtante. Sie war eine berühmte Malerin und hat sich hier selbst gemalt. Antonietta Brandeis hat sie geheißen, und deine Großi war immer sehr stolz darauf gewesen, dass sie einige Bilder von ihr besessen hat. Die sind wirklich sehr viel wert, und es macht mich traurig, dass sie womöglich kaputtgegangen sind oder irgendjemand sie hat, der gar nicht weiß, wie wertvoll sie sind.«
Wie Dämonen aus einem Albtraum fielen die Erinnerungen an die schrecklichen Stunden der Vertreibung über Erika her, und sie sah sich selbst wieder hektisch die Leinwände aus den Rahmen schneiden und zwischen den Kleidern verstecken – nur um sie am Ende doch noch an die widerlichen Soldaten zu verlieren. Rasch blätterte sie auf die nächste Seite. Wieder waren Fotos von Tante Mimis Wohnung zu sehen, doch sie waren älter und stammten aus einer Zeit, als Erika noch nicht bei ihr gelebt hatte. Ihr Blick wurde von einem Gemälde eingefangen, das neben Antoniettas Selbstporträt hing und an das sie sich gar nicht erinnern konnte.
»Billie, bist du so lieb und holst mir mal die Lupe? Sie liegt in der obersten Schublade der Kommode.« Als Billie gleich darauf damit zurückkam, kniff sie ein Auge zu und hielt das Vergrößerungsglas über die Fotografie. »So genau habe ich mir die Fotos offenbar noch nie angesehen. Ich hab gar nicht gewusst, dass es neben Tante Tonis Selbstporträt auch noch das Bild eines Mannes gegeben hat.« Nur zögernd gab Erika den Kindern den Blick frei. »Lass mich nicht vergessen, dass ich die Großi das nächste Mal danach frage, wenn wir sie sehen. Ja, Billie?«
Draußen in der Diele ertönte ein fröhliches Pfeifen. Rasch schob Erika das Album vom Schoß.
»Meine Güte, wir haben uns vertrödelt. Die Zeit ist viel zu schnell vergangen, und jetzt ist Papa schon da und will sein Essen auf dem Tisch haben.« Sie lief Erich entgegen und hielt ihm die Wange zu einem Begrüßungskuss hin.
»Denk nur, Mutzile, wir haben von Wilma zwei Karten für Don Giovanni heute Abend in der Oper bekommen. Lorly und Helene kommen auch. Ist das nicht großartig?«
Erika zog kurz die Brauen zusammen, bevor sie lächelnd nickte. Seit über zwanzig Jahren kannte sie Erichs Studienfreundinnen nun schon, doch immer noch gab es ihr einen kleinen Stich, wenn Erich von ihnen sprach. Als sie frisch in Wien angekommen war und Erich gerade erst kennengelernt hatte, war sie nicht gerade herzlich von ihnen aufgenommen worden. Helene war sogar bis heute davon überzeugt, dass Erika ihr den Mann ausgespannt hatte, mit dem sie so gut wie verlobt gewesen war. Doch eigentlich sollten ihr die drei Frauen keine Bauchschmerzen mehr bereiten. Bis auf Helene waren sie auch zu Erikas Freundinnen geworden, auch wenn sie nie ganz sicher sein konnte, ob sie sich eben nur in das Unabwendbare gefügt hatten und Erikas Gegenwart in Kauf nahmen, um auf Erich nicht verzichten zu müssen.
Mit einem heiseren Lachen vertrieb Erika das flaue Gefühl und hängte sich kurz an Erichs Arm. »Don Giovanni! Meine Lieblingsoper von Mozart. Da freu ich mich wirklich sehr!« Sie ging in die Küche, um Wasser für die Nudeln aufzusetzen. »Ob Matthias heute Abend daheim ist und auf Billie aufpassen kann? Oder sollte ich lieber Emmi anrufen und fragen, ob sie Zeit hat?« Sie spürte, wie die Vorfreude in ihr wuchs. Viel zu selten kamen sie und Erich dazu, den Leidenschaften nachzugehen, die sie miteinander verbanden. Konzerte, Museen, Lesungen – als sie noch keine Kinder hatten, gab es keine Woche, in der sie nicht wenigstens einmal zu einer kulturellen Veranstaltung gegangen waren.
Erich war ihr in die Küche gefolgt. Neugierig lüftete er den Deckel der Pfanne, in der die Fleischsoße köchelte. »Was soll ein Fünfzehnjähriger schon am Abend anderes zu tun haben? In seinem Alter hat’s bei mir daheim keine Diskussion gegeben, wo ich zu sein hatte.«
Erika klopfte ihm sacht auf die Finger, und er legte den Deckel wieder auf. »Heute ist das alles ein bisschen anders, mein Lieber. Schon Kinder in Billies Alter übernachten bei Freunden, oder ist dir das bisher entgangen?«
Bevor Erich etwas erwidern konnte, kam seine Tochter angestürmt und hängte sich an seinen Rücken. Erich lachte auf und wirbelte herum, bis er das Gewicht abgeschüttelt hatte. Dann riss er die Arme hoch und rollte mit den Augen. »Ich bin der große braune Bär!«, brummte er mit tiefer Stimme, und Billie quiekte auf und flüchtete ins Wohnzimmer. Erich verfolgte sie mit lautem Gebrüll, bis Billie sich vor ihm auf den Teppich warf und mit Armen und Beinen hilflos in der Luft ruderte. In ihrem Gesicht kämpften der Spaß am Spiel und ein Anflug von Angst miteinander. Schnell rollte sie sich ganz klein zusammen. »Und ich bin das kleine Bärli!«, piepste sie und warf ihrem Vater einen treuherzigen Blick zu, dem niemand widerstehen konnte und der besagte, dass der große Bär doch wohl sein eigenes Junges nicht fressen würde.
Wie jedes Mal endete es damit, dass Erich Billie in die Arme nahm und ihren Kopf mit Küssen bedeckte. Erst dann entdeckte er Ulla, die immer noch auf dem Sofa saß und das Spiel der beiden neugierig beobachtete.
»Hoppla! Gibt es heute ein zweites Bärenkind in unserer Höhle?«
Nur andeutungsweise hob Erich die Arme in die Höhe, doch an Ullas lautem Lachen war klar zu erkennen, dass sie keine Angst vor ihm hatte.
»Darf Ulla heute bei mir übernachten, wenn ihr weggeht? Bitte, bitte!«
Billie wusste, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte. Er seufzte nur und sah Ulla freundlich an. »Wenn deine Eltern einverstanden sind, habe ich auch nichts dagegen.« Dann setzte er sich an den Tisch, auf den Erika soeben einen dampfenden Teller gestellt hatte.
Billie vollführte einen Luftsprung und umarmte ihre Freundin stürmisch. Gleich nachdem Ulla zu Hause angerufen und die Erlaubnis erhalten hatte, schnappte sie sie an der Hand und zog sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.
»Ich muss dir was ganz Tolles zeigen! Ich wette, so was hast du noch nie gesehen!«
»He, Mädels, ihr macht aber erst mal eure Hausaufgaben. Ich komm in einer Stunde und schau sie mir an. So lange muss das Tolle warten.« Erika lachte vergnügt, weil Billie ein lautes Seufzen hören ließ, und tauschte einen wissenden Blick mit Erich.
»Schluss mit Spielen, ihre zwei Kröten! Zeit zum Zähneputzen und dann ab ins Bett mit euch.«
Matthias war rechtzeitig nach Hause gekommen und hatte sich bereit erklärt, darauf zu schauen, dass die Mädchen rechtzeitig schlafen gingen. Nun stand er im Türrahmen zum Kinderzimmer und klatschte in die Hände. Überraschend folgsam trollten Billie und Ulla sich ins Bad, und gleich darauf hörte er Wasserrauschen und das Schrubben der Zahnbürsten. Hintereinander trabten sie an ihm vorbei, und Billie stieg als Erste ins Bett, auf das Erika vor ihrem Aufbruch für Ulla ein Kissen und eine Decke gelegt hatte. Beide Mädchen deckten sich brav bis zum Kinn zu und ließen Matthias’ prüfenden Blick über sich ergehen, bis er ihnen eine gute Nacht wünschte und die Tür hinter sich zuzog.
Als von unten aus dem Wohnzimmer der Fernseher zu hören war, schlug Billie die Decke zurück und holte die Taschenlampe hervor, die sie unter ihrem Kissen versteckt hatte.
»Die Luft ist rein! Komm mit!«
Sie griff nach Ullas Hand und zog sie aus dem Zimmer zur Tapetentür, hinter der es zum Dachboden ging. Auf Zehenspitzen tappten sie die ersten Stufen hoch, bis Billie die Tür zuzog und es wagte, das Licht anzumachen. Im Schein der nackten Glühbirne stiegen sie weiter hinauf. Als Billie die Klappe zum Dachboden aufdrückte, strömte ihnen eisige Luft entgegen. Es war stockdunkel, und Billie knipste rasch die Taschenlampe an. Bisher war sie immer nur tagsüber hier gewesen. Sie wollte es vor Ulla nicht zugeben, aber nun fand sie es doch etwas unheimlich. Langsam ließ sie den Lichtstrahl der Lampe über die Dinge wandern, die hier oben lagerten.
»Schau mal, dort in der Ecke! Ich glaub, da sitzt jemand. Und jetzt bewegt er sich! Hörst du das auch?«, flüsterte Ulla und griff nach Billies Arm.
Da! Tatsächlich! Ein Rascheln! Blitzschnell richtete Billie die Taschenlampe auf die Ecke. Mit einem Satz sprang etwas Pelziges in die Höhe, raste über ihre nackten Füße und verschwand unter dem alten Holzschrank. Billie kreischte auf und ließ die Lampe fallen. Der Strahl leuchtete kerzengerade über den Boden und warf sein Licht auf einen buschigen Schweif, der unter dem Schrank hervorlugte.
»Ha, das ist nur ein Marder!« Ulla lachte erleichtert auf. »Du hast uns aber einen Schrecken eingejagt.« Sie hob die Lampe auf und ging ein paar Schritte auf das verängstigte Tier zu. »Wie kommst du denn hier herein? Hast du gedacht, dass du hier in aller Ruhe schlafen kannst?«
Billie folgte ihr mit einem gebührenden Sicherheitsabstand. »Komm, gehen wir lieber wieder nach unten. Wer weiß, wer hier oben sonst noch alles haust.«
»Vielleicht Fledermäuse … oder Eichkätzchen. Sollen wir mal nachschauen?«
Billie schüttelte sich. »Das will ich gar nicht wissen. Eigentlich wollte ich ja nur etwas holen, das ich dir zeigen möchte.« Sie schlich zu den Weihnachtskisten, hob den Deckel von einer ab und zog die Metalldose mit den Tarotkarten heraus. »Ich hab’s!«
Ulla stolperte über etwas am Boden und fiel auf die Knie. »Komm, lass uns schnell wieder runtergehen!«
Atemlos hasteten die Kinder die Treppe hinunter, und Billie legte den Zeigefinger an die Lippen, bevor sie das Licht löschte und die Tür aufschob. Einen Augenblick verharrten beide reglos und lauschten. Als weiterhin nur der Fernseher zu hören war, wagten sie sich in den Flur, huschten in Billies Zimmer und schlüpften unter die Decken. Die Erleichterung machte sich in ungestümem Kichern Luft. Dann öffnete Billie die Dose und breitete die Karten auf der Decke aus. Abwechselnd lasen die beiden deren Namen vor.
»Der Wagen. Der Mond. Die Sonne.«
Ulla nahm ein paar Karten in die Hand und betrachtete die bunten Bilder. »Die sehen schön aus! Aber was ist das? Ein Kartenspiel?«
Billie machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Damit kann man in die Zukunft schauen. Meine Mama hat das mal für mich gemacht.«
Sie suchte nach den Karten, die ihre Mutter für sie ausgelegt hatte. Sie konnte sich an das Bild mit dem großen Stern erinnern. Und auch an das Paar, über dem ein großer Engel schwebte. »Das sind die Liebenden«, bemerkte sie und strahlte über das ganze Gesicht. »Mama hat gesagt, dass ich ein Glückskind bin.«
Ulla hatte inzwischen zwei andere Karten hervorgezogen und betrachtete sie eingehend. »Da stürzen Leute von einem Turm runter. Schaut aber ganz schön gruselig aus.« Sie hielt Billie das Bild hin. »Der Blitz schlägt in den Turm ein.« Ihre Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt. »Vielleicht haben die Männer vor dem Gewitter im Turm Schutz gesucht, und jetzt hat sie das Unwetter erst recht erwischt!«
»Oder der eine hat den anderen verfolgt, und weil das ein Böser war, hat der liebe Gott einen Blitz auf ihn geschleudert, aber dabei leider auch den Guten erwischt!« Aufgeregt spann Billie Ullas Geschichte weiter.
»Ja, und der da …«, Ulla wedelte mit der Karte in ihrer anderen Hand, »… der Knochenmann kommt mit der Sense und macht sie alle tot.«
Billie zuckte zusammen. Dieses Bild war der Grund gewesen, warum Papa sie von dem Spiel weggezogen hatte. Sie erinnerte sich wieder ganz genau. Und auch daran, was Mama dann zu Matthias gesagt hatte, nämlich dass sie etwas verlieren würde, was ihr sehr wehtun würde. Plötzlich schluchzte sie laut auf. »Ich will aber nichts verlieren! Ich pass doch immer gut auf meine Sachen auf.«
Ihre Stimme überschlug sich, und Ulla griff erschrocken nach ihrer Hand. »Hab keine Angst, Billie, ich werde mit dir aufpassen, damit du nichts verlierst. Das verspreche ich dir. Aber hör doch bitte auf zu weinen!«
Da flog die Tür auf, und Matthias stand auf der Schwelle. »Was ist denn hier los? Ihr solltet doch längst schlafen!«
Sein Blick fiel auf die Karten. Na, kein Wunder! Mit schnellen Schritten war er bei seiner Schwester, setzte sich auf die Bettkante und zog sie in seine Arme.
»Alles ist gut, kleine Schnecke, alles ist gut.« Beruhigend wiegte er sie, bis das Zucken des kleinen Körpers nachließ. Er schob die Karten auf einen Stapel zusammen. Während er sie in die Metalldose packte, schüttelte er immer wieder den Kopf. »Wie kommst du nur immer auf so verrückte Ideen? Schleicht euch da heimlich auf den Dachboden. Mitten in der Nacht!«
Billie machte so ein betretenes Gesicht, dass Matthias lachen musste. Doch er zwang sich gleich wieder zu einer ernsten Miene. »Wenn Mama wüsste, dass du ihre Karten genommen hast, gäb’s ein Donnerwetter. Das ist dir doch klar, oder?«
Schuldbewusst kaute Billie an ihrer Unterlippe und nickte. »Wirst du es ihr sagen?«
Kleinlaut schaute sie zu ihrem Bruder hoch, und auch Ulla hielt vor Aufregung die Luft an.
»Bitte sag es nicht ihrer Mama. Sie wollte mir doch nur die Karten zeigen.«
Matthias wiegte den Kopf, als müsste er noch überlegen, dann sah er die beiden an und hob verschwörerisch die Brauen. »Wenn ihr mir versprecht, dass ihr jetzt sofort die Augen zumacht und schlaft, dann wird das hier unser Geheimnis bleiben. Aber nur, wenn hier auf der Stelle Ruhe herrscht. Verstanden?«
Billie und Ulla nickten eifrig, und heiliger Ernst sprach aus ihren Mienen. Tatsächlich rutschten sie beide unter ihre Decken und schlossen die Lider. Matthias lauschte noch einen Moment vor der Tür, und als sich nichts rührte, drehte er sich um und grinste zufrieden.
Billie spürte, wie sich Ullas Hand ganz fest um ihre schloss. Sie erwiderte den Druck und atmete ein paarmal ganz tief ein und wieder aus. Die Karte mit dem Tod konnte ihr ab sofort keine Angst mehr machen. Sie hatte eine Freundin, die mit ihr aufpassen würde, dass sie nichts verlor. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und sie spürte, wie sich wohlige Müdigkeit in ihr ausbreitete und sie an einen Ort mitnahm, wo glücklicher Frieden herrschte.
Aus der Schlafkammer drang ein leises Stöhnen. Maria schob die Näharbeit vom Schoß, ging so schnell wie möglich hinüber und trat ans Bett ihrer Freundin. Besorgt legte sie eine Hand auf ihre Stirn.
»Mein Gott, du glühst ja.«
Sie griff nach der braunen Glasflasche auf dem Nachtkästchen. Das Morphium, das der Arzt ihr dagelassen hatte, war beinahe aufgebraucht. Maria wusste genau, was es zu bedeuten hatte, dass der Doktor dieses starke Schmerzmittel verschrieben hatte. Doch sie wollte nicht glauben, dass es für Mimi keine Hoffnung mehr geben sollte. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich auf die Bettkante und tupfte ihrer Freundin den Schweiß von der Stirn. Liebevoll streichelte sie ihr über die feuchten Haarsträhnen. Erst waren sie nach und nach grau und dann schließlich schlohweiß geworden. Gedankenverloren beobachtete Maria, wie sich die Bettdecke unter Mimis angestrengten Atemzügen hob und senkte. Ein halbes Leben wohnten sie jetzt schon zusammen – um vieles länger, als sie mit Tomas verheiratet gewesen war. Erst viele Jahre in dem maroden Häuschen in Huglfing, bis Maria ihre Freundin dazu überreden konnte, das Haus in Weilheim zu mieten. Maria schmunzelte bei der Erinnerung, wie lange Mimi sich gegen den Umzug gesträubt hatte. Dabei waren sie sich doch auf den ersten Blick darin einig gewesen, dass es hier in Weilheim viel schöner war. Mimi war eben immer eine gewesen, die Entscheidungen erst genau überprüfte, bevor sie sie traf. Dafür stand sie dann zu hundert Prozent dahinter und zog die Sache durch – koste es, was es wolle. So war es auch gewesen, als sie sich damals dazu entschlossen hatte, ihr Elternhaus zu verlassen und nach Prag zu gehen, um dort zu studieren. Nicht einmal die Drohung ihres Vaters, sie zu enterben, hatte sie davon abbringen können. In der gleichen unbedingten Konsequenz hatte sie auch Maria geliebt. Und ihr eine halbe Ewigkeit lang nicht verziehen, dass diese einen Mann geheiratet hatte. Sie war eben furchtbar stur. Ihre älteste Freundin. Neben ihrem Sohn Jakub war Mimi für Maria der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Zärtlich schloss sie ihre Finger um die knochige Hand, die die Bettdecke knetete. Was dabei in Mimis Kopf vorging, blieb Maria verborgen.
»Ich werde den Doktor rufen. Er wird dir Erleichterung verschaffen.«
Seit der Lungenentzündung im vergangenen Herbst hatte Mimi sich nicht mehr richtig erholt. Sie hatte unbedingt noch die letzten Rosenstöcke schneiden und mit Reisig einpacken müssen, bevor der Frost die Wurzeln beschädigen würde. Dabei hatte es wie aus Eimern geschüttet, und ein eisiger Wind war ums Haus und durch den Garten gepfiffen.
»Hast einfach nicht auf mich hören und den Wollmantel nicht anziehen wollen. Der wird doch nur dreckig, hast du gemurrt. Und dann bist du in der dünnen Regenjacke rausgeschlurft. Alter Sturkopf, du! Geliebter, alter Sturkopf.«
Maria erhob sich mit einem leisen Ächzen. Schwerfällig ging sie zur Tür. Mimi und sie waren auf den Tag genau gleich alt. Vor einer knappen Woche hatten sie beide ihren achtundachtzigsten Geburtstag gefeiert. Ganz im Stillen und nur mit einem Gläschen Eierlikör. Und Mimi hatte mehrmals gesagt, dass sie unbedingt noch einmal nach Wien wolle.
»Ich will die kleine Sibylle noch mal sehen. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder?«