Aufbruch voller Sehnsucht - Gabriele Sonnberger - E-Book

Aufbruch voller Sehnsucht E-Book

Gabriele Sonnberger

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Beschreibung

Eine von wahren Begebenheiten inspirierte Familiengeschichte aus Böhmen

Nach der dramatischen Vertreibung aus ihrer böhmischen Heimat Hohenfurth verschlägt es Erika und ihre Tante Mimi 1945 mittellos nach Wien, wo sie bei Verwandten unterkommen. In der Stadt hat niemand auf die "Ausländer" gewartet, doch Erika sucht fest entschlossen nach einer Anstellung, um ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben zu verwirklichen. Bei einer Geburtstagsfeier lernt sie den schneidigen Studenten Erich kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf. Als Erich ihr einen Heiratsantrag macht, ist Erika im siebten Himmel - endlich scheint das Glück zum Greifen nahe. Doch schon bald zeigen sich erste Risse. Erich hat kein Verständnis für Erikas künstlerische Neigungen und ihren Freiheitsdrang. Als sich für sie die Möglichkeit eines Studiums bietet, kommt es zu einem folgenreichen Streit.

Fesselnd, warmherzig und mit großer Liebe für ihre Heldin Erika erzählt Gabriele Sonnberger, wie es war, als Sudetendeutsche nach dem Krieg eine neue Heimat zu finden. In atmosphärischen Bildern lässt sie eine bewegte Zeit lebendig werden - voller Sehnsucht und Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft

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Seitenzahl: 819

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

 

CoverInhaltÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1 – Im Niemandsland 2 – Der Racheschwur3 – Unterschlupf4 – Zerbrechliche Versprechen5 – Splitter im Herz6 – Im Totenhaus7 – Boden unter den Füßen8 – Fremde im eigenen Haus9 – Neue Zeiten10 – Studentenleben11 – Der erste Schlag12 – Familienzusammenführung13 – Die Geburtstagsparty14 – Der Scherenschnitt15 – Ränkeschmiede16 – Der Unfall17 – Zarte Saiten18 – Eine kurze Spanne Glück19 – Der Major und der Musiker20 – Ein Abschied mit Hoffnung 21 – »Heim ins Reich«22 – Die Spinne im Netz23 – Startschwierigkeiten24 – Pendler zwischen den Welten 25 – Veränderungen26 – Rettende Engel27 – Auf und ab28 – Strich durch die Rechnung29 – Wechselwirkungen30 – Dem Feuer zu nah31 – Totenwächter32 – Unter Druck 33 – Eine verhängnisvolle Affäre34 – Spuren verwischen35 – Widersprüche und Erkenntnisse36 – Herzsprünge37 – Katzenjammer38 – Der Entschluss39 – Aufbruch in eine neue Welt40 – Widersprüche und Segnungen41 – Zurück in die Zukunft42 – Es geht aufwärts43 – Auf der Hochschaubahn44 – Regen bringt Segen45 – Tage des Lebens 46 – Das Angebot 47 – Unsichtbare Kräfte48 – Ein Weihnachtskonzert49 – Teure Freiheit 50 – Maskeraden 51 – Phoenix aus der Asche52 – Angriff und Verteidigung53 – Das Schicksal und sein Lauf54 – Entscheidung am Wörthersee 55 – Ausnahmezustand56 – Überfordernde Gefühle57 – Gezinkte Karten 58 – Große Erwartungen59 – Glück in Scherben60 – Puzzleteile61 – Sonne hinter Wolken62 – Ein Stück Wahrheit 63 – Wege im Dreivierteltakt64 – Die Schlinge zieht sich zu65 – Zerbrochene TräumeNachwort und Danksagung

Über das Buch

Eine von wahren Begebenheiten inspirierte Familiengeschichte aus Böhmen Nach der dramatischen Vertreibung aus ihrer böhmischen Heimat Hohenfurth verschlägt es Erika und ihre Tante Mimi 1945 mittellos nach Wien, wo sie bei Verwandten unterkommen. In der Stadt hat niemand auf die »Ausländer« gewartet, doch Erika sucht fest entschlossen nach einer Anstellung, um ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben zu verwirklichen. Bei einer Geburtstagsfeier lernt sie den schneidigen Studenten Erich kennen, und die beiden verlieben sich Hals über Kopf. Als Erich ihr einen Heiratsantrag macht, ist Erika im siebten Himmel – endlich scheint das Glück zum Greifen nahe. Doch schon bald zeigen sich erste Risse. Erich hat kein Verständnis für Erikas künstlerische Neigungen und ihren Freiheitsdrang. Als sich für sie die Möglichkeit eines Studiums bietet, kommt es zu einem folgenreichen Streit. Fesselnd, warmherzig und mit großer Liebe für ihre Heldin Erika erzählt Gabriele Sonnberger, wie es war, als Sudetendeutsche nach dem Krieg eine neue Heimat zu finden. In atmosphärischen Bildern lässt sie eine bewegte Zeit lebendig werden – voller Sehnsucht und Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft …

Über die Autorin

Gabriele Sonnberger, geboren in Wien, ist studierte Lehrerin und Grafikdesignerin. Schon früh entdeckte sie ihr Talent fürs Schreiben, ABSCHIED VON DER HEIMAT ist nun ihr Debüt als Romanautorin. Die als Trilogie angelegte Saga um das Schicksal zweier Familien aus Hohenfurth ist inspiriert von der bewegenden Geschichte ihrer Mutter, die 1945 aus ihrer böhmischen Heimat vertrieben wurden. Gabriele Sonnberger ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt als freie Schriftstellerin im Herzen von Wien.

GABRIELESONNBERGER

AUFBRUCH

VOLLER

SEHNSUCHT

Eine böhmische Familiengeschichte

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Susanne George, Bergisch Gladbach

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: sl_photo | PGMart | trabantos; © ClassicStock / akg-images / H. Armstrong Roberts

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-1670-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für meine Kinder Valerie und Max.

Sie haben der manchmal verzweifelten Suche nach dem Warum

die beste aller Antworten gegeben.

 

O seliger Sommer

voll süßer Sehnsuchtsträume!

Du musstest vergehn!

Eine kleine Weile

blieb noch die Seligkeit.

Es blieb die Süße für kurze Zeit,

von Sehnsucht und Träumen erfüllt.

Brennender wurde die Sehnsucht

und bitterer.

Die Träume trauriger

und unruhiger.

Angst um das geliebte Herz

trübte den Blick

auf die verheißene,

mit zitternder Freude erwartete

und doch so ganz und gar

unsichere Zukunft.

Erika Becker, 1946

Im Niemandsland

Irgendwo zwischen Strakonitz und Böhmisch Kamnitz, 3. November 1945

Die drei Wachsoldaten standen um eine rostige Metalltonne, in der sie ein Feuer gemacht hatten, und hielten ihre Handflächen gegen die flackernde Wärme.

»Morgen um die Zeit lass ich mir von wem anderen einheizen.« Ein anzügliches Grinsen legte zwei schief auseinanderstehende Vorderzähne frei. »Dann sind wir das deutsche Pack hoffentlich wieder los.«

»Jämmerlicher Haufen.« Der korpulente Mann neben ihm spuckte in die Flammen. Mit einem Zischen verdampfte die Flüssigkeit, während er den fleischigen Nacken tiefer in den aufgestellten Kragen zog. Schneeflocken stoben unter seiner unwirschen Handbewegung hoch und taumelten kurz im Feuerschein, bevor sie sich auflösten. »Ab ins Arbeitslager nach Kamenice mit ihnen.«

Der dritte schob seine Fellmütze eine Handbreit aus der Stirn und kratzte an einer schorfigen Narbe, die seinen Haaransatz gezackt wirken ließ. »Was machen wir eigentlich mit denen, die für nichts mehr zu gebrauchen sind.«

Die anderen beiden stimmten in sein derbes Lachen ein.

»Ab nach Terezín.« Der Zahnlückige schnalzte mit der Zunge. »Wo die Deutschen hingehören.«

Theresienstadt.

Eines der berüchtigten Konzentrationslager der Nazis.

Keiner der Soldaten bemerkte die geduckte Gestalt, die neben der Zeltwand mit der Dunkelheit der beginnenden Nacht verschmolz. Eine Hand gegen die Lippen gepresst, krümmte sie sich noch enger zusammen. Das Schwarz der schreckgeweiteten Pupillen spiegelte das gelbrote Züngeln der Flammen, bevor sie das Kinn zur Brust zog und eilig durch den frischen Schnee ins Lager zurückschlich.

»Wir müssen von hier verschwinden! Noch heute Nacht!«

Erika atmete keuchend, als drückte ihr etwas die Kehle ab. Eilig war sie über ausgestreckte Beine und abgelegte Bündel geklettert, hatte eine Entschuldigung gemurmelt, weil sie im Halbdunkel gegen zusammengerollte Körper stieß, und war vor Erschöpfung sturen Blicken ausgewichen, die ihr folgten, weil es unter dem flatternden Zeltdach sonst nichts zu sehen gab. Zwei Wagenkolonnen hatten sich in einer endlosen Fahrt durch eine feindselige Landschaft gepflügt. Vor einer Stunde hatten die Soldaten ihre menschliche Fracht an einem Platz abgeladen, der in seiner Kargheit noch abweisender wirkte als die Mienen, mit denen die Männer die Leute von den Pritschen trieben. Drei riesige Zelte waren in einem offenen Dreieck um eine unebene Fläche angeordnet. Mit Flüchen und Tritten waren die Menschen auf die provisorischen Unterkünfte verteilt worden, wo sie seither aneinandergedrückt auf etwas warteten, das sie nicht benennen konnten.

Endlich hatte Erika sich zu der Ecke durchgekämpft, die ihr und ihren Begleiterinnen zugewiesen worden war. Nach allem, was dieser grauenvolle Tag schon für sie bereitgehalten hatte, war es eigentlich unvorstellbar, dass es noch schlimmer kommen könnte. Doch was sie eben mitgehört hatte, setzte dem Wahnsinn die Krone auf. Nicht genug, dass sie von tschechischen Soldaten wie Schlachtvieh aus ihrem Zuhause vertrieben worden waren, sollten sie nun auch noch getrennt voneinander in Arbeitslagern eingesperrt werden – oder womöglich noch Schlimmeres. Ihr Zittern ließ sich auch nicht unter Kontrolle bringen, als sich zwei warme Arme um sie legten.

»Was ist denn los? Ich weiß, unsere Situation ist alles andere als angenehm. Aber deswegen können wir doch nicht einfach davonrennen. Wir wissen doch nicht einmal, wo wir hier sind. Beruhige dich erst einmal.«

Dora Schuster war von der wackligen Holzbank aufgesprungen. Wie Erika und ihre Tante Mimi war sie am Nachmittag auf einen der Pritschenwagen verladen worden, die auf dem Hauptplatz von Hohenfurth für den Abtransport der ausgewählten Bewohner bereitgestellt worden waren. Wie schon auf dem Lastwagen zog Dora nun Erika wieder zu sich unter ihren Mantel. »Meine Güte! Du bist ja tiefgefroren! Kein Wunder. Deine Bluse ist viel zu dünn für dieses Wetter.«

Jetzt schluchzte Erika auf, obwohl sie sich vorgenommen hatte, tapfer zu sein. Tante Mimis anhaltendes Weinen zerrte schon genug an ihren Nerven. Da wollte sie nicht zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Aber ausgerechnet Doras Freundlichkeit brachte jetzt ihren Vorsatz zum Einsturz.

»Der Soldat, der uns abgeholt hat, hat mir meinen Mantel weggenommen. Weil ich meine Skischuhe nicht ausziehen wollte.« Stockend spie sie die Worte aus, während sie an sich herunterschaute. Wäre ihre Situation nicht so menschenverachtend gewesen, hätte sie lachen müssen. Ihre Füße steckten in den klobigen Skischuhen, während die nackten Arme und Beine aus der Sommerkleidung ragten, die sie am Morgen angezogen hatte, weil die Sonne gar so verlockend gelacht hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es zu Novemberbeginn jemals so warm gewesen wäre, seit sie 1929 mit fünf Jahren in den Böhmerwald gekommen war. Wie gewohnt war sie in die Apotheke gelaufen, hatte mit ihrem Chef und mit Emmi, ihrer besten Freundin, gewissenhaft ihre Arbeit erledigt. Alles war normal gewesen. Und keine zwölf Stunden später hockte sie mit ihrer Tante und einem Haufen weiterer trauriger Gestalten in einem Zeltlager im Nirgendwo, und sie alle hatten nichts mehr, außer dem, was sie am Leib trugen.

»Nicht einmal unsere Koffer durften wir behalten. Dabei wollte ich doch nur meine Papiere herausnehmen.« Jetzt rollten Tränen über Erikas Wangen. Dora zog sie noch fester an sich, doch die innere Kälte ließ sich nicht vertreiben.

»Deutsche brauchen keine Papiere«, hatte der Mann auf dem Laster gesagt und dabei gegrinst, als hätte er gerade einen besonders guten Einfall gehabt.

»Warum, sagst du, müssen wir hier weg?« Als wäre Tante Mimi eben erst aus einem tiefen Gedankengespinst erwacht, musterte sie ihre Ziehtochter mit wirrem Blick. »Du hast gesagt, wir müssen weg.«

Erika fixierte die Speichelblase, die sich in Tante Mimis Mundwinkel blähte, während die alte Frau weiter insistierte.

»Aber es ist dunkel und schneit wie verrückt.« Jetzt runzelte sie missbilligend die Stirn – gerade so, wie Erika es schon als Kind erlebt und sich gefürchtet hatte, weil die Tante nicht mit ihr zufrieden war.

»Als ich vorhin auf der Toilette war, habe ich zufällig die Wächter draußen vor dem Zelt belauscht. Morgen sollen wir alle auf Arbeitslager verteilt werden. Und die Alten und Kranken werden separat untergebracht.« Erika brachte es nicht übers Herz, den Namen des Lagers zu erwähnen, in das die Arbeitsunfähigen überführt werden sollten. Doch auch so reichte die Information, um die alte Frau aus ihrer Lethargie zu reißen.

»Mich steckt niemand in ein Lager! Da müssen sie mich schon totschlagen! Erika, du darfst nicht zulassen, dass wir getrennt werden!«

Hektisch presste Erika den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Sei still! Oder willst du die Wachen auf uns aufmerksam machen?«

Dora kam ihr zu Hilfe.

»Frau Minich, bitte beruhigen Sie sich. Niemand wird Sie von Ihrer Nichte trennen. Wir finden eine Lösung. Versprochen.«

Gleichzeitig suchte sie Erikas Blick, und aus ihren Augen sprach bange Sorge. Sie beugte sich näher zu ihr, damit die Tante sie nicht hörte.

»Was unternehmen wir denn jetzt? Wir können doch nicht tatenlos abwarten, bis sie uns abtransportieren?« Rote Kreise machten ihre blassen Wangen fleckig, und der stoßweise Atem erzeugte kleine weiße Wölkchen, die in der kalten Luft noch lange ihre Form behielten, bis sie zum Zeltdach hochstrebten und sich in der Nacht verloren. »Mein Mann ist noch nicht aus dem Krieg zurück. Wie sollen wir uns finden, wenn ich in einem Lager bin?« Hektisch fuhr sie sich über die Augen.

Besorgt schaute Erika zum Zeltausgang, hinter dem sie die Soldaten wusste. Dann straffte sie die Schultern.

»Ich lass mir was einfallen.«

Eisnadeln stachen in ihre Haut, als sie den Ledervorhang einen Spaltbreit öffnete. Instinktiv zuckte sie zurück. Musste sie wirklich schon wieder in diese Schneewüste hinaus? Die Soldaten standen noch um den Feuerkorb. Ein raues Lachen verbündete sich mit der Kälte, die sie die Zähne aufeinanderschlagen ließ. Es half nichts. Entschlossen stemmte sie sich gegen den Schneesturm und schlüpfte ins Freie. Der Zaun um das Lager war in größter Eile errichtet worden. An mehreren Stellen wurde der Maschendraht nur notdürftig mit Metallklammern zusammengehalten. Unter Erikas steifen Fingern löste sich die erste – und gleich darauf sprangen auch die darüberliegenden aus der Verankerung. Das klaffende Loch musste reichen, um sich hindurchzuzwängen. Kaum wieder im Zelt, bedeutete Erika den beiden Frauen, ihr zu folgen. So unbeholfen, wie die Tante durch die Dunkelheit tappte, würde sie jeden Moment irgendjemandem auf die Füße treten. Aber sie konnte sie ja deswegen nicht hier zurücklassen.

»Bleibt beim Eingang und wartet auf mein Zeichen.«

Erika schlug das Herz bis zum Hals. Endlich drehten ihr die Männer den Rücken zu. Geduckt huschte sie zum hinteren Ende ihres Zelts. Von hier aus konnte sie gerade noch die beiden kauernden Frauen erkennen.

Gerade hatte der Untersetzte offenbar einen Witz gemacht, denn die anderen schlugen sich laut lachend auf die Schenkel.

Erika ruderte mit dem Arm. Die erste Gestalt löste sich aus ihrer dunklen Umgebung und folgte der Spur, die Erikas Skischuhe hinterlassen hatten. Gleich darauf hechtete Dora keuchend neben sie in den Schnee. Fast gleichzeitig war in die Gruppe ums Feuer Bewegung gekommen. Der Mann mit der Narbe stellte den Kragen hoch und warf seinen Zigarettenstummel in die Flammen. Hochspritzende Funken beleuchteten sein bartschattiges Gesicht. Jetzt drehte er sich zum Lagereingang, wo Mimi immer noch reglos wartete. Gleich würde er sie entdecken. Hektisch gab Erika das Zeichen, und die Tante stolperte los. Dabei steuerte sie geradewegs auf den Wachsoldaten zu. War sie denn blind? Der Mann kämpfte zwar noch mit den Knöpfen an seinem Mantel, aber jeden Moment würde die alte Frau in ihn hineinrennen. Erika biss sich auf die Lippen. Die Idee war riskant, aber für eine bessere hatte sie keine Zeit. Mit beiden Händen griff sie in den Schnee und formte eine feste Kugel. Ein gezielter Wurf ließ den Klumpen gegen die Tonne krachen, in der die Männer das Feuer gemacht hatten. Der Soldat fuhr herum. Hinter seinem Rücken taumelte Mimi in die schützende Dunkelheit.

»Das war knapp!« Dora drückte Erika die Hand. Erschrocken zuckte sie zurück. »O mein Gott! Du erfrierst uns hier noch!« Sie knetete die blauroten Finger, die sie in ihren hielt. Kurz entschlossen zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn Erika um die Schultern. Diese schüttelte den Kopf, doch Dora winkte ab. »Ich hab ja noch die Strickjacke. Die ist warm genug. Und die Bewegung wird mir einheizen. Wir brauchen dich lebend, meine Liebe! Wer soll uns denn sonst von hier wegbringen?«

Tante Mimi nickte zustimmend. Zum ersten Mal, seitdem der tschechische Soldat sie auf dem Hohenfurther Hauptplatz auf den Lastwagen gestoßen hatte, war von ihr kein Schluchzen zu hören. Stattdessen fand Erika eine Entschlossenheit in ihr Gesicht gemeißelt, die sie von der gnadenlosen Frau kannte, die ihre Tante früher gewesen war.

Hinter dem Zaun erstreckte sich eine endlos weiße Ebene. Der dichte Schneefall ließ nur wenig fahles Mondlicht zu ihrem Weg durch. Die kleine Gruppe stapfte in einer stummen Prozession voran. Um sich von der an allen Gliedern beißenden Kälte abzulenken, zählte Erika ihre Schritte. Als die Zahl zu groß zum Denken wurde, ging sie dazu über, Gute-Nacht-Gebete aufzusagen. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit stellte sich ein, und sie registrierte verwundert, dass sie nicht mehr fror.

»Erika! Steh auf! Hörst du mich? Du darfst nicht einschlafen.«

Erika knurrte gegen den harten Griff, der auf ihrem Oberarm schmerzende Druckspuren hinterließ. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war und wer an ihrem Körper zerrte. Erschrocken rappelte sie sich auf die Knie hoch und griff nach Doras Hand.

»Ich weiß, du bist müde. Das sind wir alle. Aber wir müssen weiter. Sonst hätten wir gleich im Lager bleiben können.« Die junge Frau hakte sie unter. Etwas entfernt war die Tante mit gebeugtem Rücken auf dem Weg stehen geblieben. Nur weiße Atemwölkchen bezeugten, dass sie noch am Leben war. Von der herrischen Gewalt ihrer Erscheinung war nichts geblieben.

»Du musst mit mir sprechen, hörst du? Erzähl mir was.«

Mechanisch stemmte Erika sich gegen den dichten Schneefall. Während sich die kleine Gruppe wieder in Bewegung setzte, suchte Erika nach einem Anfang des Gedankenknäuels in ihrem Hirn.

»Ich war fünf, als mich meine Eltern in Köln in einen Zug gesetzt haben, der mich nach Hohenfurth bringen sollte. Damals herrschte Hungersnot im Rheinland, und Tante Mimi hatte versprochen, mich für ein Jahr durchzufüttern.«

Die Erinnerung gab den aufsteigenden Bildern Konturen und Farben. Erika ballte die eisigen Fäuste, bis sie warm waren. Die Fünfjährige mit den blauen Augen und dem dunklen Pagenkopf hatte einen Heidenrespekt vor der Schwester ihrer Mutter gehabt. Das Kind hatte instinktiv gespürt, dass bei dieser Frau Disziplin vor Zärtlichkeit ging. Und Gehorsam vor Schmeichelei.

»Aus einem Jahr waren sechzehn geworden. Ich habe mich mit meinem neuen Leben abgefunden. Und irgendwann vergessen, wie es sich anfühlt, von der Mama im Arm gehalten zu werden.«

Dora ging schweigend neben Erika her. Die leisen Worte verwoben sich zu einem Geschichtenteppich, über den sie durch die Nacht wanderten, ohne zu fragen, wohin die Reise sie führte.

»Hast du denn deine Eltern nicht vermisst und nach ihnen gefragt?«

»Am Anfang schon. Aber die Tante hat mir das Fragen rasch ausgetrieben.« Erika schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich war wie ein junger Ast. Brav ließ ich mich in die Richtung lenken, die die Tante vorgab. Bald habe ich der Mama keine sehnsüchtigen Briefe mehr geschrieben und mich damit begnügt, abends vor dem Schlafengehen ihre Fotografie zu küssen.« Sie seufzte. »Weißt du, ich war ein unkompliziertes Kind. Ich konnte schnell Freundschaften schließen. Bald war Hohenfurth mein Zuhause. Und die Tante der Mensch, dem meine Verbundenheit und Treue gebührte.«

Erika spürte ihren letzten Worten nach. Eine unumstößliche Wahrheit und Macht lag in ihnen, die ihr Herz weit machte. Mit einem Ruck fuhr sie herum und lief ein paar Schritte zurück. Zärtlich schlang sie die Arme um die dürre Gestalt der Tante.

»Schau! Da!«

Doras heiserer Ausruf riss die beiden Frauen auseinander. Nicht weit von ihnen entfernt durchbrach ein Lichtstreifen, der aus dem Fenster eines Hauses fiel, die Dunkelheit. Aus dem gemauerten Schornstein kräuselte sich eine dünne Rauchfahne, die der Sturm augenblicklich in alle Himmelsrichtungen zerfranste. Die Fenster waren von innen beschlagen. Eine Welle aus Erleichterung pumpte frische Kraft in die Körper der drei Frauen. Das Ziel vor Augen pflügten sie durch den kniehohen Schnee, bis sie die rettende Boje erreichten. Auf ihr Klopfen bewegte sich der Vorhang, und ein zerfurchtes Gesicht erschien im Fensterrahmen. Gleich darauf knirschte ein Schlüssel im Schloss.

Erika fiel der Frau beinahe vor die Füße, so plötzlich verließ sie alle Kraft, die sie zuletzt aufrecht gehalten hatte.

»Jöschusmaria! Das ist ja des Fräulein aus der Apotheke!«

Aufgeregt rief die Frau nach ihrem Mann. Die Apotheke in Hohenfurth war für einen weiten Landkreis zuständig. Viel mehr Menschen, als Erika bewusst war, kannten sie als das kluge Fräulein, das dem Apotheker so fleißig zur Hand ging.

Schwer auf die beiden Hausbewohner gestützt, schleppten sich die Frauen in die Stube. Die Wärme des Kachelofens war nach der eisigen Kälte, aus der sie kamen, schmerzend. Eilig schaffte die Bäuerin einen Zuber heran und füllte ihn mit lauwarmem Wasser. Erst dachte Erika, sie würde in einem Flammenmeer baden, aber nach einer Weile kehrte wieder Gefühl in ihren Körper zurück. Dazu weckte auch der Geruch von frischem Brot und Wurst ihre Lebensgeister. Ihre letzte Mahlzeit war ein Marmeladebrot gewesen, das sie am Morgen auf dem Weg zur Apotheke gegessen hatte.

Entschlossen packte sie das Messer, das die Bäuerin zum Brot gelegt hatte. Scheibe um Scheibe verschwanden in Doras und Tante Mimis ausgehungerten Mägen. Erst als die Kerze auf dem Tisch fast heruntergebrannt war und die Stube in schummriges Licht tauchte, dachte Erika an sich selbst. Hunger und bleierne Müdigkeit raubten ihr die Konzentration. Beim letzten Schnitt rutschte das Messer über die Brotkruste und fuhr tief in den Daumen. Erika keuchte auf und presste den Mund auf die Wunde. Der metallische Geschmack von Blut drehte ihr den leeren Magen um. Keine Panik. An einem Schnitt stirbt man nicht. Du bist Pharmaziestudentin und arbeitest in einer Apotheke. Eine Verletzung ist nichts Neues für dich. Erst einmal die Blutung stoppen.

Erika konzentrierte sich auf ihre Atmung. Die anderen hatten nichts bemerkt. Das war gut. Hysterische Zurufe waren das Letzte, was sie gerade brauchte. Mit der Linken schlang sie das Küchentuch, in dem das Brot eingewickelt gewesen war, um die verletzte Hand und zurrte den Knoten mit den Zähnen fest. Endlich schwankte die Stube nicht mehr. Ohne Appetit griff sie nach dem Brotstück, das auf dem Schneidbrett lag, und knabberte winzige Bissen davon ab.

Dora hatte sich inzwischen auf der Ofenbank ausgestreckt. Tante Mimi war im Sitzen eingeschlafen. Erika rüttelte sie vorsichtig.

»Komm, Tante. Auf der Matratze liegst du besser.«

Sorgsam stopfte sie die Decke um den zerbrechlichen Körper. Erst dann legte sie sich neben sie. Sie hatten den Tag überlebt. Und morgen würde es irgendwie weitergehen.

Malziger Duft von frisch gebackenen Milchbrötchen weckte die drei Flüchtlinge aus einem bleiernen Schlaf. Der neue Morgen zeigte sich mit einer geschlossenen Wolkendecke, aus der es weiterhin schneite. Vorsichtig löste Erika den Behelfsverband und biss die Zähne zusammen, als mit dem Stoff auch der frische Schorf abriss. Heimlich schlich sie zur Bäuerin in die Küche und bat um warmes Wasser. Bei Tageslicht sah die Verletzung noch beängstigender aus als gestern im schwachen Schein der Kerze. Auch die Bäuerin riss erschrocken die Augen auf und lief zum Arzneischrank, um eine Mullbinde zu holen. Erika drückte die klaffende Wunde zusammen und legte mit präzisen Handbewegungen einen neuen Verband an. Während der gesamten Prozedur drang kein Laut zwischen ihren Lippen hervor.

»Wie hat es Sie denn überhaupt in unsere Gegend verschlagen?« Die Frau reichte Erika eine Klammer zum Festmachen der Bandage.

»Wir wurden ausgesiedelt. So heißt das wohl offiziell.« Der Verlust ihres Zuhauses schmerzte mehr als ihre Verletzung. »In Wirklichkeit haben sie uns rausgeschmissen. In Kamnitz soll ein Arbeitslager sein. Dort wollten sie uns hinbringen.«

Entsetzt schlug die Bäuerin beide Hände vor den Mund. »Jöschusmaria! Böhmisch Kamnitz.« Mitleidig strich sie Erika über die schweißfeuchte Stirn. »Da habt ihr aber einen Gewaltmarsch hinter euch. Das sind ja zweihundert Kilometer von hier.«

Erika schloss für einen Moment die Augen. Obwohl sie tief geschlafen hatte, hing eine erdrückende Müdigkeit in ihren Gliedern. »Nein, nein. Wir waren noch nicht dort. Das Lager, in dem wir übernachten sollten, war irgendwo auf einem Feld. Weit und breit war nichts sonst zu sehen.« Kraftlos stützte sie den Kopf in ihre unverletzte Hand. »Die Stunden, die wir von dort unterwegs waren, haben uns schon gereicht. Von Kamnitz hätten wir es bestimmt nicht bis hierher geschafft. Wo sind wir eigentlich gelandet?«

»Ihr Tapferen! In Strakonitz. Hier wollt ihr aber sicher nicht bleiben. Ist nicht viel los in diesem Nest.« Entschlossen drückte die Frau sich zum Stehen hoch. »Wollt ihr wieder nach Hohenfurth zurück? Mit dem Auto sind’s anderthalb Stunden. Mein Mann fährt euch bestimmt gerne.«

Erika rutschte auf dem Küchenhocker hin und her. Gestern Abend hatte ihr Plan nicht weiter als bis hinter den Zaun gereicht. Sie hatte sich keine Gedanken über ihr Ziel gemacht.

»Ich will nach Hause.«

Unbemerkt war die Tante im Türrahmen aufgetaucht, und Erika registrierte, dass sie das alte Flickkörbchen in den Händen hielt. Bei ihrem hektischen Aufbruch gestern hatte sie es im letzten Moment mitgenommen. Jetzt knetete sie nervös seinen Griff.

Der letzte Halt in einem entwurzelten Leben.

Eine Welle von Mitleid zog Erika zu der alten Frau hin. Sie musste für beide Stärke zeigen, auch wenn sie innerlich mit ihrer eigenen Trostlosigkeit haderte. Zuhause existierte nicht mehr. Doch die Tante war für diese Tatsache nicht zugänglich.

»Lass uns nach Hause fahren. Bitte.«

Erika machte einen tiefen Atemzug. Ihr Blick traf auf Dora, die hinter die Tante getreten war. Sie zuckte nur mit den Schultern.

Irritiert fixierte Erika Mimis gebeugte Gestalt. Beim Anblick ihrer zitternden Unterlippe und des selbstmitleidigen Ausdrucks in ihren Augen löste Ungeduld ihr Mitgefühl ab.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Sie schnappte nach Luft, weil Mimi sie nur verständnislos anstarrte. »Wir haben nicht den ganzen Weg durch Schnee und Kälte auf uns genommen, um uns dann am nächsten Tag den Behörden auf dem Silbertablett zu servieren! Bist du noch ganz bei Trost?«

Mimis Augen verengten sich. »Was fällt dir ein? Wie redest du mit mir?« Ihr Kinn ruckte in Erikas Richtung, und Dora biss sich auf die Lippen. Mimis Gesichtsausdruck signalisierte ihr, dass sie sich besser nicht einmischte. Doch insgeheim gab sie Erika vollkommen recht.

Energisch kämpfte Erika ihre aufsteigende Wut nieder und ergriff Mimis Hände. »Versteh das doch. Hohenfurth ist der letzte Ort, an den wir hinkönnen. Als Vertriebene sind wir Freiwild. Staaten- und rechtlos. Die Tschechen werden nicht viel Federlesens machen, wenn sie uns entdecken. So schnell können wir gar nicht schauen, wie sie uns wieder in das Lager stecken, aus dem wir gerade entkommen sind.«

Mit einem heiseren Schrei stieß Mimi Erikas Hände weg. »Hier habe immer noch ich das letzte Wort! Hast du mich verstanden? Und wenn ich sage, ich will nach Hohenfurth, dann fahren wir nach Hohenfurth. Ich lebe seit fast vierzig Jahren dort. Ich lasse mich nicht wie einen räudigen Hund vor die Tür setzen.«

Mimis sture Weigerung, die Realität anzuerkennen, raubte Erika endgültig die Beherrschung. Hart donnerte ihre Faust auf den Küchentisch.

»Du bist ja total verrückt! Aber bitte, wenn du glaubst, du weißt es besser, dann geh doch nach Hohenfurth. Aber ohne mich!«

»Ist das der Dank, den du für mich übrig hast? Ich habe dir alles gegeben. Meine Kraft, meine Sorge, meine besten Jahre. Ohne mich würdest du in einem zerbombten Trümmerhaufen sitzen. Ohne Ausbildung und ohne Charakter.« Mimi reckte den faltigen Hals, bis die Sehnen sich in dicken Strängen abzeichneten. »Und das ist jetzt das Ergebnis meiner Erziehung? Ich kann nicht glauben, dass meine Bemühungen so faule Früchte getragen haben. Was bist du nur für ein undankbarer Mensch.«

Erikas Augen sprühten Funken, während ihr Gesicht mit Mimis beinahe zusammenstieß.

»Sechzehn Jahre lang habe ich mich deinem Willen gebeugt. Ich habe mich deinem Diktat untergeordnet und sogar Entscheidungen akzeptiert, die mir das Herz gebrochen haben. Ich habe meine Familie nicht wiedergesehen, weil du es so befohlen hast. Ich habe auf die Liebe einer Mutter und die Geborgenheit auf dem Schoß eines Vaters verzichtet. Mir fehlen Erinnerungen, die andere Kinder durchs Leben tragen. Meinem eigenen Bruder durfte ich nur Briefe schreiben, statt mit ihm die Welt zu erforschen. Begreifst du, was ich sage? Toni ist mein Bruder! Und ich kenne ihn kaum. Dabei wünscht sich doch jedes kleine Mädchen einen großen Bruder. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie oft ich mich in den Schlaf geweint habe? Nein. Natürlich nicht. Du hast immer nur deinen eigenen Willen im Blick gehabt. Wenn du jetzt ins offene Messer laufen willst, musst du das allein tun. Ich habe nämlich keine Lust, die nächsten Jahre in einem Arbeitslager zu verbringen.«

Die Luft im Raum hielt den Atem an. Nur Erikas Worte hingen zwischen ihnen fest. Als Mimi endlich zu einer Antwort ansetzte, hatte die Stimme ihren herrischen Ton eingebüßt und war zu einem kraftlosen Krächzen geschrumpft.

»Ich habe immer nur das Beste für dich gewollt.« Sie presste die knorrigen Finger gegeneinander, um ihr Zittern zu verbergen. »Wenn wir nicht mehr nach Hause können, wohin sollen wir denn sonst gehen?« Auf der Suche nach Halt flackerte ihr Blick ziellos durch den Raum.

Erika kämpfte mit ihren Emotionen. Noch brandeten die Wogen der Wut in ihrer Kehle, und es fiel ihr schwer, den Sturm unter Kontrolle zu bekommen. Wie sollte sie sachlich über Optionen nachdenken, wenn das Gefühl von Verlust, das ihr eben wieder so deutlich geworden war, mit dem Vorschlaghammer auf sie eindrosch? Schwankend streckte sie die Arme in Doras Richtung aus, die ihren stummen Hilferuf sofort verstand. Mit einem langen Schritt war sie bei ihr und schloss die Arme um sie.

»Ich weiß. Das ist jetzt alles zu viel auf einmal. Aber es wird wieder. Versprochen. Kennst du vielleicht jemanden über der Grenze, der euch bei sich aufnehmen könnte?«

Die Erinnerung an ein Gesicht tauchte aus der Tiefe auf, und Erika griff danach.

»Heinz’ Mutter wohnt in Linz.«

Heinz Riedel. Oberleutnant zur See.

Sich gerade jetzt an den Mann erinnern zu müssen, der in den letzten Kriegsmonaten ihr Herz im Sturm erobert und ihre Welt komplett auf den Kopf gestellt hatte, riss bei Erika eine kaum verheilte Wunde auf. Heinz war tot. Das U-Boot des jungen Kommandanten, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, war im letzten Aufbäumen der deutschen Kriegsmarine in der Irischen See gesunken. Ob Frau Riedel die schlimme Nachricht schon erhalten hatte? Sie war Erika immer sehr freundlich begegnet und hatte nicht damit hinter dem Berg gehalten, wie gern sie sie als ihre Schwiegertochter gehabt hätte. Wenn Erika und die Tante jetzt bei ihr Unterschlupf fanden, war wenigstens jemand da, der sie trösten konnte, wenn sie die furchtbare Wahrheit erfuhr.

»Wir fahren nach Linz. Bis dorthin reicht der Arm der Tschechen bestimmt nicht.«

Es war eine Feststellung, kein Vorschlag. Erika hatte sich wieder gefasst. Und zur Überraschung aller fügte sich die Tante ohne weiteren Widerspruch.

Der Motor eines rostzerfressenen, zerbeulten Skoda Rapid heulte vor der Tür auf. Noch einmal umarmte Erika die gute Frau, die ihnen ohne lange Rede einen Schlafplatz und Essen bereitet hatte. Eingehüllt in einen mächtigen Mantel aus Rosshaar fühlte Erika sich reich beschenkt. Ihre nackten Beine steckten in einer Hose, die zwar an der halben Wade aufhörte und die sie mit einem Strick um die Hüften festgezurrt hatte, um sie nicht zu verlieren. Doch sie schützte wunderbar vor der Kälte. Dora lehnte mit geschlossenen Augen neben ihr auf der Rückbank. Ihre warme Hand signalisierte Erika ihre volle Unterstützung. Die Tante hatte sich unter Stöhnen auf den Beifahrersitz fallen lassen. Die Arme vor der Brust verschränkt, stellte sie demonstrativ Kränkung zur Schau. Das Rumpeln des Motors und das Surren der Scheibenwischer versetzten Erika in einen Zustand der Schwerelosigkeit. Erst als sie Doras Kopf an ihrer Schulter spürte, holte die Berührung sie in die Gegenwart zurück.

»Seit Ende Jänner 1943 hab ich nichts mehr von meinem Mann gehört.« Dora nestelte am Verschluss ihrer kleinen Schultertasche. »Hier. Eine Karte. Aus Stalingrad.« Der winzige Funken Hoffnung beugte sich vor der Ergebenheit, mit der sie das Schicksal nicht herausfordern wollte.

Erika wurde bewusst, wie wenig sie eigentlich über die junge Frau wusste, die sich ihnen so vorbehaltlos angeschlossen hatte. Jeder hatte von der vernichtenden Schlacht gehört, die Tausenden Soldaten das Leben gekostet und Hitlers Kriegsglück gewendet hatte.

»Das muss nicht bedeuten, dass er gefallen ist. Die Russen haben tausende Gefangene gemacht.« Erika war nicht sicher, wie ihre Feststellung auf Dora wirkte. Sie hatte das Bedürfnis, etwas Tröstliches nachzuschicken. »Mein Bruder Toni ist auch noch in Gefangenschaft. In den USA. Wirst sehen, in den nächsten Jahren kommen bestimmt noch viele unserer Männer wieder heil nach Hause zurück.«

Dora lächelte, doch Erika spürte, dass sie nicht so richtig daran glauben konnte. Amerikanische Zustände mit russischen zu vergleichen war vielleicht doch nicht so eine glänzende Idee gewesen. Sacht legte sie ihr eine Hand auf den Arm.

»Was hast du jetzt vor? Willst du mit uns nach Linz gehen?«

Dora zögerte einen Moment. Dann zog sie die Schultern hoch.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich bei meiner Cousine Frieda unterkomme. Josef kennt sie und weiß, wo sie wohnt. Wenn er nach Hause kommt und in unserer Wohnung Fremde vorfindet, wird er bestimmt so schlau sein, bei Frieda nach mir zu suchen.« Sie hatte sich selbst Mut gemacht. In ihren Augen glänzte ein Hauch von Zuversicht.

Erika nickte. Gerne hätte sie Dora weiter bei sich gehabt. Die Vorstellung, ab sofort wieder mit der Tante allein zurechtkommen zu müssen, machte ihr bewusst, wie viel Kraft ihr Doras Anwesenheit bis zu diesem Moment gespendet hatte.

Der Skoda hielt vor einer in die Jahre gekommenen Wohnsiedlung ein gutes Stück außerhalb von Hohenfurth. Ein letztes Mal umarmten sich die Frauen, die das Leben so schicksalhaft zusammengeführt hatte.

»Passt auf euch auf!«

Dora wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen.

Erika hielt ihre Hände fest. »Danke! Für alles. Ich hoffe, du musst nicht zu lange warten. Und vielleicht sehen wir einander ja wieder.« In ihren Augen glänzten Zuneigung und Vermissen. »Du bist ein besonderer Mensch. Lass dich nicht unterkriegen!«

Dora nickte Erika aufmunternd zu. »Bleib stark. Ich werde dich nie vergessen. Ohne dich würde ich in irgendeinem Lager verrotten.«

Rasch drehte Dora sich herum und rannte durch das Schneegestöber bis zum Hauseingang. Bevor Erika wieder in den Wagen stieg, wartete sie, bis sich die Tür öffnete und Dora dahinter verschwand.

In einem schütteren Wäldchen stellte der Bauer den Motor ab.

»Dort hinten ist die Grenze. Haltet euch an die Markierungen. Wenn ihr euch beeilt, erreicht ihr noch vor Mittag Leonfelden. In Österreich seid ihr in Sicherheit.«

Von Leonfelden bis nach Linz brauchten sie zu Fuß mindestens sechs Stunden. Aber Erika hatte neuen Mut gefasst. Sie hatte wieder ein Ziel.

Der Racheschwur

München, 5. November 1945

Es fiel ihm schwer, nicht dem Impuls nachzugeben, die Fotografie aus seiner Geldbörse herauszuholen. Wie viel lieber wäre er im Leuchten dieser Augen versunken, als in seinem düsteren Büro zu sitzen und Listen zu erstellen. Aber er hatte sich heute schon viel zu lange in eine Zeit geflüchtet, in der er mit Stolz die schwarze Uniform mit den zwei gezackten S am Kragen getragen und seinem einzigen Freund Coelestin jeden Wunsch von seinen blauen Augen abgelesen hatte. Wo war das alles hin? Wann würde er aus der bleiernen Schwere erlöst werden, die ihn seit der Flucht des Geliebten lähmte? Der Gedanke an Coelestins Körper an seiner Haut ließ ihn schauern, und wieder entzogen sich die Finger seiner Kontrolle und wanderten zu dem Ort, an dem sie das verborgene Foto wussten.

»He! Shorty! Träumst du? Hier, eine Todesmeldung. Trag sie ins Register ein.«

Ein hartes Fingerschnippen direkt vor seinem Gesicht ließ den Kanzleiabteilungssekretär Dietrich Kurzmann hochfahren, und er spürte rote Hitze in die Wangen fluten. Abteilungsleiter Konrad Hörlein tippte noch einmal auf den Zettel, der auf Dietrichs Schreibunterlage geflattert war, und grinste, bevor er ihm den Rücken zudrehte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Dietrich knurrte durch zusammengepresste Zähne. Wie er das alles hier hasste! Er hasste die schmutzig graue Hausfassade des Amtsgebäudes, in dem früher die Münchner SS ihre Verwaltung gehabt hatte. Noch vor einem Jahr hatte hier ein anderer Ton geherrscht. Der klassizistische Bau war unversehrt gewesen und hatte stolz die Hakenkreuzfahne getragen. Jetzt bröckelte der Verputz, und an den Wänden prangten Wunden, die ihm die Feinde mit ihren Maschinengewehren und Granatwerfern geschlagen hatten. Schon im Treppenhaus stieg ihm der Mief der neuen Machthaber in die Nase. Er hasste es, wie unterwürfig seine Chefs den Amerikanern um den Bart strichen. Nur weil sie mit ihren Dollarscheinen winkten und von einer neuen, besseren Zeit sprachen. Er hasste es, wie sein Puls gegen den Schädel hämmerte, wenn er endlich die vier Stockwerke hinter sich gebracht hatte. Es war die Abscheu, die ihm alle Kraft raubte, noch bevor er den ersten Schritt in das Büro setzte. Früher hatte er kilometerweit marschieren können, ohne dass ihm die Luft ausgegangen war. Das Ziel hatte ihn angetrieben, seinem Führer zu dienen. Und dem Mann, den er von ganzem Herzen liebte. Jetzt musste er sich mit öden Listen herumschlagen, und Coelestin war ein Gejagter, der sich irgendwo verkrochen hatte. Dietrich hasste es, zur Untätigkeit gezwungen zu sein. Doch er musste warten, bis sein Mann Kontakt zu ihm aufnahm. Dietrich holte tief Luft und fletschte die Zähne. Ja, er würde auf Coelestin warten. Und wenn er noch Monate hier ausharren musste.

Ein schrilles Klingeln zerriss die Stille.

»Shorty, was ist mit der Liste? Bekomm ich die heute noch?«

Wortlos knallte Dietrich den Hörer auf die Gabel.

Schon wieder dieser Hörlein. Nur weil er jung und kräftig gebaut war, brauchte er nicht glauben, dass Dietrich vor ihm kuschen würde. Extra lang würde er sich jetzt Zeit dafür lassen. Hart krachte Dietrichs Faust auf die Tischplatte. Shorty! Dieser Untermensch fand das auch noch witzig, wie er seinen sauberen deutschen Familiennamen verunglimpfte. Auch wenn Hörlein der Einzige war, der ihn offen damit ansprach, wusste Dietrich doch, dass hinter seinem Rücken alle im Büro darüber lachten. Er spürte ihre Blicke, wenn er sich zwischen den Tischreihen zu dem winzigen, abgetrennten Kämmerchen durchschlängelte, das ihm als sein Büro zugeteilt worden war. Wie Hennen auf einer Hühnerfarm saßen die Tippmamsellen aufgereiht nebeneinander und tuschelten hinter ihm her. Mit ihren grauen Kostümchen, den auftoupierten Haaren und rot geschminkten Lippen dachten sie wohl, sie hätten ein Recht darauf, sich über ihn lustig zu machen. Nur weil sie den Krieg überlebt hatten und jung waren und an eine neue Zukunft glaubten, die die Amerikaner ihnen vorgaukelten. Was für ein dummes, blindes Volk! Sie hatten den Führer und seine großen Ideen verraten. Und wofür? Was hatten die Amerikaner denn schon mitgebracht, seit sie die Kontrolle über sein ehemals so stolzes Heimatland an sich gerissen hatten? Nylonstrümpfe und Kaugummi! Dietrich ballte die Fäuste.

Das dämliche Grinsen, mit dem Kollege Hörlein ihn immer bedachte, wollte er ihm am liebsten aus dem Gesicht polieren. Zornig biss er sich auf die Lippen. Aber er musste sich zusammenreißen. Unauffällig bleiben. Unter dem Radar fliegen. Wenn Coelestin zu ihm zurückkam, würde er ihm einen würdigen Empfang bereiten. Er hatte schon für einen Posten gesorgt, auf dem er ihn unterbringen wollte. Nach der entwürdigenden Prozedur der unumgänglichen Entnazifizierung. Aber das würden sie auch überstehen. Wie so vieles, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Neuerlich ging Dietrichs Hand zur Hosentasche, in der seine Börse steckte. Diesmal nahm er das Foto heraus und betrachtete es mit angehaltenem Atem. Er hätte nie gedacht, für einen Menschen solche Gefühle haben zu können. Überhaupt jemals wieder etwas zu fühlen. Aber das Lächeln dieses Mannes hatte sein Leben verändert.

Fast zehn Jahre war es inzwischen schon her, dass die Sonne für ihn aufgegangen war. Der Junge, der mitten im Jahr ins Internat gekommen war, hatte augenblicklich sein Herz erobert. Dietrich hatte innerlich gejubelt, als der Anstaltsdirektor ihn dazu bestimmt hatte, den »schwierigen Fall« unter seine Fittiche zu nehmen. Er konnte nur nicken, als der Internatsleiter gemeint hatte, dass er, Dietrich, aufgrund seiner Jugend vielleicht einen besseren Zugang zu dem verstockten Burschen hätte. Auch wenn es ihn überraschte. Er selbst hatte sich niemals jung gefühlt. Keinen einzigen Tag in den 29 Jahren, die er bisher auf dieser schrecklichen Welt verbringen musste. Doch der Blick dieser himmelblauen Augen, mit denen Coelestin ihn offen taxierte, war wie ein Lebenselixier in seine Adern gefahren.

»Coelestin.«

Dietrich lauschte dem Klang seines Flüstertons nach. Zärtlich streichelte er über das Gesicht, dem jeden Abend vor dem Einschlafen sein letzter wacher Augenblick galt.

Bis zu Coelestins Auftauchen war es das Foto seiner Mutter gewesen, dem er pflichtschuldigst den Abendkuss verpasst hatte. Der Gedanke daran brachte seinen Herzschlag kurz aus dem Takt. Was für ein Unterschied!

Wenn er heute seine trockenen Lippen auf die blasse Stirn seiner Mutter drückte und das kalte Glas des Bilderrahmens ihn dabei frösteln ließ, drehte er ihre Fotografie anschließend rasch zur Wand. Sie sollte nicht sehen, mit welcher Inbrunst sich ihr schmächtiger Sohn von der Liebe berauschen ließ. Gefühle waren für sie Luxus. Ihr Sohn sollte keinesfalls auf krause Gedanken kommen. In diesem Sinn hatte sie ihn aufgezogen. Bei Tag mit Schweigen und Strenge. Bei Nacht mit eisigem Griff. Dietrich hatte alles vermieden, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch auch wenn er den ganzen Tag nicht aufmuckte, fand sie abends einen Grund, ihn zu strafen. Er schaffte es nie, lange genug wach zu bleiben, bis seine Mutter eingeschlafen war. So sehr er sich auch anstrengte. In der Kammer, in der sie hausten, gab es nur ein Bett. Nirgendwo hatte er einen Ort ganz für sich allein. Sobald er neben ihr unter die Decke kroch, spürte er schon ihre Hände.

So war sein Gefühl für Wärme und Zeit verschwunden, bis er eines Morgens neben einem steifen Körper aufgewacht war. Heute schämte Dietrich sich nicht mehr für die Erlösung, die er empfunden hatte, als die Totengräber die Mutter aus dem Haus getragen hatten. Doch damals hätte er niemals zugegeben, dass sein Seufzen an ihrem Grab ein Ausdruck der Erleichterung war. Seitdem war ihm jede Art von Berührung zuwider gewesen. Bis Coelestin seinen abgetöteten Sehnsüchten neues Leben einhauchte. Er zeigte ihm einen Himmel, den er sich in seinen pubertären Träumen nie hätte vorstellen können.

Selbstverständlich war er an seiner Seite geblieben, als Coelestin nach Abschluss der Schule der SS beitrat. Die prächtige Uniform verlieh ihm endlich jene Autorität, die ihm von klein auf vorenthalten gewesen war. Die Männer salutierten, und die Damen bekamen glänzende Augen, wenn er einen Raum betrat. Frauen. Pah! Die konnten ihm gestohlen bleiben. Dennoch genoss er die Macht, die ihm die Uniform über sie verlieh.

Wenn er da an früher dachte, ließ Dietrich ein Schauder fröstelnd die Arme reiben. Nicht nur zu Hause hatte sich dem kleinen Dietrich die Welt kalt und abweisend gezeigt. Auch auf dem Spielplatz war er dem Spott der Kinder schutzlos ausgeliefert gewesen. Als Einziger steckte er in diesen grässlichen gestrickten Wollhosen, während die anderen Buben robuste Lederhosen trugen. Immer hieß es Alle gegen Einen – und natürlich war er der Eine, der mit blauen Flecken und Schrammen nach Hause kam. Niemand legte tröstend einen Arm um seine zitternden Schultern oder verarztete seine Wunden. Im Gegenteil. Mutter hatte nur Hohn oder Schläge für ihn. Er gewöhnte sich besser daran, nichts von seinen Niederlagen zu erzählen. Und die Mädchen? Pah! Von wegen, das zarte Geschlecht. Die waren noch schlimmer. Sie kreischten und nahmen ihm das wenige Spielzeug weg, das er besaß. Johlend trampelten sie auf dem neuen Bagger herum, den er von seinem Taufpaten zum Geburtstag bekommen hatte, bis sie ihn völlig zerstört hatten. Die Prügel, die es daraufhin zu Hause gesetzt hatte, würde Dietrich sein Leben lang nicht vergessen.

Am liebsten hätte er diesem grauenvollen Leben ein Ende gesetzt, wenn er nicht zu feige dazu gewesen wäre. Stattdessen flüchtete er sich in eine Fantasiewelt und legte sich ein dickes Fell zu, das kein Schmerz und keine Regung durchdringen konnten. Bis dieser Engel in sein Leben getreten war.

Wieder überraschte ihn die Wucht der Gefühle, die Coelestin in ihm entfachte. Es raubte ihm den Atem, wie sehr er ihn vermisste. Diese Göre und ihr Marineoffiziersfreund hatten ihn denunziert, und die Gestapo war ihr williges Werkzeug gewesen. Dietrich konnte ihn zwar aus der Haft befreien – auch bei der Gestapo hatte er treue Verbündete –, aber seit Coelestin untergetaucht war, sehnte er sich unendlich nach seiner Umarmung.

Er ballte die Fäuste. Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern, bis Coelestin sich wieder zeigen durfte. Die Tschechen räumten im Sudetenland gründlich auf. Da hatten Coelestins Gegner bald nichts mehr zu melden. Wenn sie doch endlich wieder vereint wären. Dietrich seufzte. Nie zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt. Ein teuflisches Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich an ihren letzten Auftrag erinnerte. Mit ihrer Spezialtruppe waren sie im Oktober 44 nach Budapest gereist. Wie nicht anders zu erwarten, hatten sich die Paprikafresser als nicht paktfähig erwiesen. Hunderttausende Juden hatten immer noch in der ungarischen Hauptstadt Unterschlupf gefunden und waren dem Abtransport in die Arbeitslager entkommen. Speziell die schwedischen und schweizer Diplomaten hatten sich als Beschützer der minderwertigen Rasse hervorgetan. Hitler soll getobt haben, als er von den schlampigen Verhältnissen bei seinem Verbündeten im Osten gehört hatte.

Dietrichs Augen bekamen diesen speziellen Glanz. Seine SS-Truppe war da aus einem anderen Holz geschnitzt gewesen. Stolz weitete sich sein Brustkorb. Sie hatten hart durchgegriffen und mit den unhaltbaren Zuständen ein für alle Mal Schluss gemacht. Dietrichs Mundwinkel zuckte nach oben. Gleich nach ihrem Eintreffen war das Judengesindel in seinen Verstecken aufgestöbert und zu Tausenden ans Donauufer getrieben worden. Es war ihm ein persönliches Anliegen gewesen, die Exekutionen zu überwachen, während sein Geliebter die Verhöre durchgeführt hatte. Besonders bei den jungen Frauen wollte Coelestin selbst Hand anlegen. Auch wenn er mit Frauen nichts anfangen konnte, ihr Winseln und die Schmerzensschreie hatten ihm das Blut schneller durch die Adern gepulst. Und in den Nächten danach war Coelestin immer besonders leidenschaftlich gewesen. Dietrich nickte bei dem Gedanken. Auf ihre verschworene Truppe war immer Verlass gewesen. Keinen von ihnen wollte er missen und er würde alles wieder ganz genauso machen.

Reflexartig fuhr Dietrich sich mit der Hand über den Schädel. Der Haarausfall hatte bei ihm schon früh eingesetzt, und keine der Tinkturen, die ihm der Apotheker empfohlen hatte, konnte verhindern, dass seine Stirn immer höher wurde und am Hinterkopf die Haut zum Vorschein kam. Sorgfältig prüfte er, ob das Haar, das ihm seitlich geblieben war, die Blöße seines Schädels bedeckte. Mehrmals strich er vom rechten Ohr über die Strähnen und spürte den Glibber der Pomade, mit der er die Frisur an Ort und Stelle fixierte. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wie dieser herrliche, wunderschöne Mann an so jemandem wie ihm Gefallen finden konnte. Rasch verdrängte er die schreckliche Vorstellung, Coelestin könnte ihn einmal für einen attraktiveren, besser gebauten Mann verlassen. Oder gar für eine Frau? Der Gedanke ließ ihn aufstöhnen. Er schüttelte ihn weg und richtete seinen Fokus auf den Zettel, den Hörlein vorhin auf seinen Schreibtisch geknallt hatte. Inzwischen war genug Zeit verstrichen. Der sollte nur nicht glauben, er könnte mit einem ehemaligen SS-Offizier umspringen, wie es ihm gerade einfiel.

Doch schon im nächsten Moment hatte Dietrichs Streben nach Macht oder Kontrolle keinerlei Bedeutung mehr. Ungläubig starrte er auf den Namen des Toten, den er in die Liste eintragen sollte.

Todesursache. Zeitpunkt und Ort des Todes.

Wie in Trance glitt sein Blick über die nüchtern aufgeführten Fakten, während sein Herz in tausend Stücke zerbarst. Wieder und wieder las er den kurzen Text von vorne, ohne dessen Inhalt wirklich zu begreifen.

Coelestin Sternbacher.

Geburtsdatum: 20.April 1922. Todeszeitpunkt: 3.November 1945, 16:35 Uhr. Todesursache: Tod durch Erhängen. Ort: Hohenfurth, Hauptplatz 1, Bezirk Krumau, Südböhmen.

Sein Stuhl krachte auf den verschrammten Linoleumboden. Er merkte nicht, wie seine Schritte ihn mechanisch aus dem Zimmer führten, nahm nicht die Blicke seiner Kollegen wahr, die fragend dem Mann nachschauten, der blutleer dem Ausgang zuwankte. Er schaffte es gerade noch aus dem Gebäude, dann sank er mit der Schulter gegen die zerschossene Fassade. Ein Schrei brach aus seinem Inneren, der die Köpfe der zufälligen Passanten in seine Richtung riss.

»Nein! Nein! Nein! Das kann nicht sein! Nicht Coelestin!«

Schwer drückte sein Gewicht auf die Handballen, mit denen er sich gegen die Mauer stützte. Blut pumpte Fassungslosigkeit durch seinen Körper, bis Dietrich unter dem Gewicht des Verlusts zusammenbrach.

Hände griffen nach ihm, um ihn aufzufangen und zu stützen. Der in seinem Schmerz Ertrinkende trat um sich. Kratzte und biss und schlug die, die ihm helfen wollten.

»Ihr Schweine! Das werdet ihr büßen! Damit kommt ihr nicht davon! Ich bring euch um!«

Er scherte sich nicht darum, dass die Leute erschrocken zurückwichen und einen Bogen um ihn machten. Ohnmächtige Wut tobte in ihm. Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, wiegte er sich vor und zurück.

»Verbrecherbande. Wartet nur, bis ich euch finde. Dieser Mord bleibt nicht ungesühnt. Das verspreche ich euch. Ihr werdet euch wünschen, nie geboren worden zu sein.«

Unterschlupf

Linz, 5. November 1945

Fräulein Erika! Was für eine schöne Überraschung!« Trotz der ersten Verwirrung streckte Frau Riedel ihren unerwarteten Gästen die Hände entgegen. »Und Ihre liebe Frau Tante haben Sie auch mitgebracht.« Rasch trat sie einen Schritt zur Seite. »Aber kommen Sie doch erst einmal herein. Es ist ja dermaßen unwirtlich da draußen. Sie müssen am Erfrieren sein.«

Dankbar folgten Erika und Mimi ihr über die Treppe in den ersten Stock, wo sie in der Stube von der angenehmen Wärme eines Kachelofens empfangen wurden. Erika hatte das Haus in liebevoller Erinnerung. Noch nicht einmal ein Jahr war es her, dass Heinz sie am Silvesterabend auf dem kleinen Balkon das erste Mal geküsste hatte. Erika kam es vor, als läge ein ganzes Leben dazwischen. Tatsächlich war sie völlig durchgefroren, und auch die Tante konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten.

»Liebe Frau Minich, wollen Sie sich vielleicht etwas ausruhen? Ich könnte Ihnen das Zimmer meines Sohnes anbieten. Er ist ja leider noch nicht wieder zurück.«

Erika gab es einen heftigen Stich. Frau Riedel wusste offenbar noch nichts vom Tod ihres einzigen Sohnes. Die Tante aber schwankte so heftig, dass Frau Riedel und Erika ihr gleichzeitig zur Seite sprangen.

»Ein wenig Schlaf könnte mir tatsächlich guttun.« Mimis Blick irrte durch den Raum, ohne etwas zu erfassen. Entschlossen stützte Frau Riedel sie auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss und in ein Zimmer, das recht spartanisch eingerichtet war. Papierstapel, eine Büchse mit Stiften und ein paar Bücher auf dem kleinen Schreibtisch erweckten den Eindruck, als würde der Bewohner jeden Moment zurückkehren. Einladend schlug Frau Riedel die Bettdecke zurück, und Mimi schlüpfte komplett bekleidet dankbar darunter. »Nur ein paar Minuten«, krächzte sie schlaftrunken und drehte sich zur Wand. Frau Riedel war noch nicht wieder bei Erika im Wohnzimmer angekommen, da ertönte schon ein Schnarchen zu ihnen herauf.

»Verzeihen Sie bitte diesen Überfall … aber wir wussten nicht, wohin …« Sie stotterte und knetete nervös die Finger, während sie sich mit einem Seufzer gegen die warmen Kacheln des Ofens lehnte, in dem heimelig ein Feuer knisterte.

»Aber nicht doch! Sie müssen sich wirklich nicht entschuldigen. Ganz im Gegenteil. Ich hab nicht viel Besuch, wissen Sie. Seit Heinz weg ist …«

Nun stockte auch sie mitten im Satz, und Erikas Magen zog sich zusammen. Frau Riedels liebevoller Empfang stand in einem solchen Kontrast zu den Grausamkeiten, die sie erlebt hatte, dass eine Welle der Traurigkeit über ihr zusammenschlug. Nachdem die Ereignisse der letzten Tage aus ihr herausgebrochen waren, sackte sie zusammen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierherzukommen? Erst schüttete sie dieser freundlichen Frau das eigene Unglück vor die Füße, und dann brach sie ihr das Herz? Die Vorstellung, dieser guten Frau die schreckliche Nachricht zu überbringen, war so grauenvoll, dass Erika aufstöhnte.

Frau Riedel streichelte sanft über ihren Rücken. »Liebes Fräulein Erika, ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen. So plötzlich Ihrer Heimat und allem, was Sie gekannt und geliebt haben, beraubt zu werden, ist eine grausame Prüfung. Aber solange man gesund ist und arbeiten kann, kann man Hoffnung auf ein Vorwärtskommen haben. Und Sie sind noch so jung!« Für einen Moment spielten die Hände still mit Erikas zerzaustem Zopf. »Verlieren Sie nicht Ihren Mut. Und Ihre Fröhlichkeit. Lebensfreude ist doch das Privileg der Jugend.«

Erika holte tief Luft, bevor sie Frau Riedels Hände in ihre nahm und sie gegen ihre feuchte Wange drückte. Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten und nach genug Mut, sie auch auszusprechen.

Heinz’ Mutter deutete ihren tiefen Atemzug anders. »So ist es gut, meine Liebe. Nach Regenwetter kommt wieder Sonnenschein.« Sie nickte Erika aufmunternd zu und zupfte ihre Schürze zurecht. »Ich habe erst gestern wieder eine Suchmeldung abgeschickt. Und einen Brief nach London und an das englische Rote Kreuz geschrieben. Angeblich sind die Gefangenen aus Kiel und Hamburg nach England gebracht worden.« Kurz senkte sich eine düstere Wolke über ihr Gesicht. »Ein ehemaliger Radioingenieur, der mit Heinz bis Februar in Kiel stationiert war, erzählte mir vor ein paar Tagen von einem tragischen Schicksal, das die U-Boot-Flotte in Kiel ereilt hatte. Weil die Offiziere sich geweigert hatten, die Boote an den Feind zu übergeben, hat eine amerikanische Bomberstaffel ihre gesamte Last über dem Hafen abgeworfen.« Sie schluckte hart. Aber gleich darauf holte sie ihr Lächeln wieder hervor. »Vielleicht ist ja doch wenigstens einer übrig geblieben! Das hoffe ich immer noch, und deshalb werde ich unermüdlich nachforschen. Noch ist kein Marineoffizier aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Und niemand hat von einem von ihnen eine Nachricht erhalten. Solange mir das Gegenteil nicht bewiesen ist, will ich auf ein Lebenszeichen von ihm hoffen.« Jetzt strahlte sie Erika beinahe fröhlich an. »Dass Sie hier sind, nehme ich als Zeichen des Himmels. Heinz wird so glücklich sein, dass er Sie in die Arme schließen kann, wenn er wieder daheim sein wird.«

Mit jedem Wort hatte Erika sich mehr verkrampft. Frau Riedels hoffnungsvoller letzter Satz sprengte schließlich ihr Schweigen. Mit jeder Faser spürte sie, dass sie die schreckliche Tatsache nicht länger verschweigen durfte. Der Schmerz der Mutter würde unermesslich sein. Aber das Wissen um die Wahrheit gäbe ihrem Herzen die erste Chance auf Heilung. Auf keinen Fall durfte sie es mit falschen Hoffnungen nähren, durch die der Sturz in die Leere noch grausamer werden würde.

»Heinz kommt nicht mehr nach Hause.«

Sanft hatte Erika die Worte ausgesprochen. Und dabei die Arme nach der Frau ausgestreckt. Sie hielt ihren schmalen Körper fest, als er erst steif und dann von einem Erdbeben erschüttert wurde.

»Was sagen Sie da? Das kann unmöglich wahr sein. Woher wissen Sie das überhaupt?«

Frau Riedel bäumte sich in Erikas Umarmung auf. Fassungslos starrte sie ihr ins Gesicht, als würde sie sie nicht erkennen.

»Leider ist es wahr. Nach Kriegsende waren bei uns im Haus amerikanische Soldaten einquartiert. Weil Heinz sich seit seinem letzten Auslaufen nicht mehr gemeldet hatte, habe ich den Kommandanten um Nachforschungen gebeten. Er hat mir den Bericht gezeigt. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen.«

Die Erinnerung schnürte ihr die Kehle zu.

30.04.1945: Deutsches Boot U242 versenkt. Keine Überlebenden.

»Es tut mir so unendlich leid. Ich wünschte, es wäre anders.«

Sie wiegte sie. Teilte ihr Tränen. Nahm ihr Schreien und Schlagen demütig an. Erika hatte jedes Zeitgefühl verloren, als Frau Riedel sie schließlich zum Bücherschrank führte. Bis spät in die Nacht sahen sie sich zusammen Fotoalben an. Mit voller Wucht schlug der Schmerz zu. Ihre Herzen gaben der Trauer und dem Zorn, dem Nicht-glauben-Können und der Ergebenheit ein Auffangbecken. Als es zu voll geworden war, brach sich der Zwilling des Schmerzes, das Lachen, unter Tränen Bahn und erlöste sie für einen Moment. Gemeinsam lachten sie über Heinz’ ulkiges Gesicht, das er beim Ausblasen der sechs Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen machte. Bis beim nächsten Bild wieder neue Tränen flossen. Voll Stolz zeigte Frau Riedel Erika die Abzeichen und Auszeichnungen, die ihr Heinz während seiner militärischen Laufbahn gesammelt hatte. Und schließlich brachte Erika seine Mutter zu Bett, stopfte die Decke um ihren Körper und blieb bei ihr sitzen, bis die Erschöpfung sie endlich schlafen ließ.

Ihre eigene Trauer hatte sich in eine finstere Höhle zurückgezogen. Weil sie wusste, dass sie in dieser Nacht nicht mehr Ruhe finden würde, ging sie hinunter in die Küche, setzte sie sich auf die Eckbank an den großen, fast quadratischen Holztisch und zündete eine Kerze an. Ihre Gedanken wanderten durch die Zeit und verharrten jeweils kurz an den wichtigen Stationen ihres Lebens. Ihre Reise im Zug als Fünfjährige auf dem Weg zur Tante, bei der sie Coelestin, den Neffen des Bürgermeisters Sternbacher, zum ersten Mal getroffen hatte. Sein brutaler Charakter, den sie zu spät erkannt und der so viel Schaden angerichtet hatte. Der Beginn ihrer Freundschaft mit Emmi, der Tochter des Brauers, mit der sie mehr verband, als nur gemeinsam verbrachte Kinder- und Jugendjahre. Sie erinnerte sich an Jakub mit den blauen Augen, den ersten Jungen, in den sie verliebt gewesen war. Er hatte ihr sein Prag auf eine Weise gezeigt, dass diese Stadt für immer ein magischer Ort für sie geworden war. Die Angst und das Grauen, die der Krieg über sie gebracht hatte. Und ihre wunderbaren, außergewöhnlichen Freunde, die sie so von Herzen liebte und die ihr halfen, das alles zu überstehen. Als sie an ihrem letzten Tag in Hohenfurth angelangt war, erfasste sie die Sehnsucht nach dem Zuhause mit solcher Intensität, dass sie keuchte. Geräuschlos tappte sie hinunter in Heinz’ Kammer, wo die Tante immer noch leise schnarchte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel neues Papier, und Erika nahm ein paar Blätter davon. Dann huschte sie in die Küche zurück und begann zu schreiben. Emmi war ihre beste Freundin. Sie würde alles verstehen. Auch das, was sie selbst nicht begreifen konnte.

Die nächsten Tage schlich sie auf Zehenspitzen durchs Haus. Erika haderte damit, ob es nicht doch einen Weg gegeben hätte, Heinz’ Mutter die Wahrheit schonender beizubringen, und rumorte in der Küche, um bei der Zubereitung von Suppen und Eintöpfen auf andere Gedanken zu kommen. Mimi saß derweil am Küchentisch und las aus Büchern vor, die sie willkürlich aus dem Regal im Wohnzimmer genommen hatte. Frau Riedel hockte neben ihr auf der Bank und schaute ins Leere. Einmal hielt sie Erikas Hand fest, als diese an ihr vorbei zum Herd huschen wollte.

»Ich bin froh, dass Sie da sind.«

Dann kam nichts mehr, obwohl Erika sich vor sie hin kniete und abwartend zu ihr hochsah. Doch hinter dem unbeschreiblichen Schmerz lag Dankbarkeit in ihrem Blick.

Sie saßen gerade beim Mittagessen, als es klopfte. Erika sprang auf und lugte durch den Türspion. Ein dunkles Wolltuch eng um den Kopf und die Kinnpartie geschlungen, wartete eine Frau draußen unter dem Dachvorsprung der Tür. Mehrfach sah sie sich um und verlagerte dabei ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Vor sich hatte sie einen brauen Karton abgestellt. Sie hielt sich leicht vornübergebeugt, um mit ihrem Körper den Schnee abzuschirmen, der nun schon den sechsten Tag beinahe ohne Unterbrechung aus den tief hängenden Wolken fiel. Erst auf den zweiten Blick erkannte Erika die vermummte Botin. Dichte Brauen über langen Wimpern, ein paar Sprengsel auf Nase und Wangen, die von der Kälte rosig angehaucht waren, ein dicker hellblonder Zopf, der unter dem Kopftuch hervorquoll.

Hastig riss sie die Tür auf. »Emmi! Meine Emmi!«

Emmi Schwarz. Ihre älteste Freundin. Wie selbstverständlich hatte sie damals ihre kleine Hand in ihre geschoben, als Erika scheu am Rand der Wiese gestanden und sehnsüchtig nach den Kindern geschaut hatte, die Fangen und Abschlagen spielten. So war Emmi. Zum Schutz hatte sie ihre neue Freundin nach Hause begleitet, weil sie übers Spielen die Zeit vergessen hatten und Erika sich vor der strafenden Hand der Tante fürchtete. Hintereinander waren sie in die leeren Bierfässer in der Brauerei ihres Vaters gekrochen und dann Arm in Arm durch die engen Gänge getorkelt, weil die Alkoholdämpfe ihre Sinne vernebelt hatten. Sie hatten Kissenschlachten veranstaltet, miteinander gelernt, Geheimnisse geteilt und aufgeschlagene Knie verbunden, bevor die Tante deswegen schimpfen konnte. An ihrer Seite hatte sie all die Jahre des Krieges heil überstanden. Sie hatten sich gestritten und wieder versöhnt. Erika hatte ihren Rat in den Wind geschlagen, als die Verrücktheiten der Liebe ihr den Verstand geraubt hatten. Und Emmi hatte trotzdem weiter zu ihr gestanden. Emmi.

»Dich hat der Himmel geschickt.«

»Eher dein Brief. Der klang so wehmütig, dass ich keine Minute länger warten konnte, über die Grenze zu schleichen und dich hier zu besuchen.«

Emmi überließ sich weiter Erikas Umklammerung, bis die Freundin sich von ihr löste. »Erzähl! Wie geht es euch? Waren die Soldaten noch einmal da? Haben sie noch andere aus ihren Häusern gejagt? Wie geht’s unseren Freunden? Oli? Herma? Der Familie vom Apotheker? Seid wenigstens ihr in Sicherheit?«

»Können wir erst einmal in die warme Stube gehen? Bei einer heißen Tasse Tee werde ich dir alle deine Fragen beantworten.« Emmi lachte und hob dabei entschuldigend die Hände.

»Aber natürlich! Was bin ich doch für ein Esel. Du frierst ja schon am Boden fest.«

Erika griff nach dem Karton. Kurz biss sie die Zähne zusammen, weil augenblicklich ein brennender Schmerz in ihrem rechten Daumen pulste. Erschrocken stellte sie fest, dass auf dem Verband, den sie erst heute in der Früh erneuert hatte, schon wieder Blut zu sehen war. Trotzdem schob sie ihren halb leeren Teller zur Seite und wuchtete den Karton gemeinsam mit der Freundin auf den Küchentisch, wo Tante Mimi und Frau Riedel dem überraschenden Gast interessiert entgegenblickten.

»Ja, Fräulein Emmi, dass Sie sich durch das Wetter bis zu uns durchgeschlagen haben … Das ist uns eine Freude!« Mimi wandte sich der Hausherrin zu und deutete mit einer Hand auf Emmi.

»Diese junge Dame kommt auch aus Hohenfurth. Vielleicht haben Sie sie schon einmal mit Erika gesehen. Die beiden sind die besten Freundinnen. Nicht wahr, Fräulein Emmi? Ihr habt schon in der Schule immer nebeneinander gesessen.«