Zeitfuge - Michael J. Sullivan - E-Book

Zeitfuge E-Book

Michael J. Sullivan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Allzu menschlich

Für Ellis Rogers kommt die Diagnose wie ein Schock: Er hat nur noch ein paar Monate zu leben. Nachdem er sein Leben lang auf Nummer sicher gegangen ist, setzt Rogers jetzt alles auf eine Karte – denn in seiner Garage hat er eine Zeitmaschine gebaut. Sein Plan: in die Zukunft reisen, um dort nach einem Mittel gegen seine Krankheit zu suchen. Doch als die Maschine tatsächlich funktioniert, katapultiert sie Rogers in eine Zeit, die mit unserer Gegenwart nichts mehr zu tun zu haben scheint …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 513

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MICHAEL J. SULLIVAN

ZEITFUGE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: HOLLOW WORLD Deutsche Übersetzung von Oliver Plaschka
Redaktion: Werner Bauer Copyright © 2014 by Michael J. Sullivan Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock / Mika Heittola

Das Buch

Eigentlich ist Ellis Rogers ein ganz normaler Typ – bis sein Leben durch eine schreckliche Diagnose von einem Tag auf den anderen völlig auf den Kopf gestellt wird: Er leidet unter einer extrem seltenen und extrem aggressiven Form der Lungenfibrose, seine Chancen auf Genesung sind gleich null und seine restliche Lebenserwartung liegt bei ein paar Wochen – wenn es gut läuft. Als Ellis dann auch noch herausfindet, dass seine Frau Peggy ihn mit seinem besten Freund betrügt, marschiert er in seine Garage und setzt die Zeitmaschine in Gang, die er dort heimlich gebaut hat. In der Zukunft, so hofft er, gibt es ein Heilmittel gegen seine Krankheit und seine Eheprobleme könnte er dann ebenfalls hinter sich lassen. Zu Ellis’ eigenem Erstaunen funktioniert die Zeitmaschine tatsächlich und katapultiert ihn zweitausend Jahre in die Zukunft – in eine Welt, die mit der unseren so gut wie nichts mehr zu tun zu haben scheint …

Der Autor

Michael J. Sullivan wurde 1961 in Detroit, Michigan, geboren. Mit acht Jahren begann er seine ersten Geschichten zu schreiben, heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Fairfax.

Mehr über Michael J. Sullivan und seine Romane erfahren Sie auf:

Vorwort: Über Zeitreisen

Zeitreisen, wie sie in diesem Buch beschrieben werden, sind nicht möglich. Es ist mir wichtig, das von vornherein klarzustellen. Nicht, weil ich Nachahmer abschrecken möchte – sondern der Feststellung halber, dass es sich bei diesem Buch ebenso um ein Werk der Fantasy wie der Science-Fiction handelt. Andererseits finden sich in der Science-Fiction fast immer auch Spuren von Fantasy, dieser spezielle Funke des Was wäre, wenn, der die Kettenreaktion entfacht, welche die Handlung vorantreibt.

In seinem Klassiker Die Zeitmaschine bot H.G. Wells folgende hochwissenschaftliche Erklärung dafür, wie sein Gerät durch die Jahrhunderte eilen konnte: »Ich sage Ihnen nun, dass dieser Hebel hier, wenn man ihn nach vorne drückt, die Maschine in die Zukunft entsendet, und dieser andere die Bewegung umkehrt.« Das ist auch so ziemlich das Maximum an harten Fakten, das der Leser bekommt. Natürlich handelte Wells’ Geschichte trotz ihres Titels nicht so sehr von der Maschine oder den zugrunde liegenden Prinzipien als von einer möglichen Zukunft der Menschheit.

Genauso verhält es sich mit Zeitfuge.

Die Zeitmaschine wurde erstmals 1895 in Großbritannien veröffentlicht. Offenbar reichte es damals noch, zu behaupten, der Druck eines Hebels bewirke etwas, das bekanntermaßen doch unmöglich war. Natürlich gab es damals auch noch kein Internet. Der durchschnittliche Leser von heute weiß genau, dass man nicht schneller als das Licht oder durch ein schwarzes Loch reisen kann. Dieser Bildungssprung mag vielleicht mehr dem Erfolg von Serien wie Star Trek als dem unserer Schulen geschuldet sein, doch wie auch immer: Der heutige Leser weiß einiges mehr und verlangt nach Glaubwürdigkeit.

Da ich in meinem Bucheinen Mann unserer Zeit in die Zukunft schicke, habe ich eine Menge über die Theorie der Zeitreise recherchiert. Meine Inspiration verdanke ich mehreren Quellen, vor allem aber Zeitreisen in Einsteins Universum von J. Richard Gott. Darin liefert der angesehene Astrophysiker eine überzeugende Erklärung dafür, wie sich ein stationäres Objekt vorwärts durch die Zeit bewegen könnte, indem es die beschränkenden g-Kräfte einer linearen Reise durch eine interdimensionale Bewegung überwindet. Dies wäre theoretisch denkbar, wenn man sich annähernd in die Mitte eines Schwarzen Lochs setzen und dabei durch die elektrostatische Abstoßung gleichnamiger Ladungen schützen könnte. Soweit die Theorie, doch wie gesagt, Zeitreisen sind nicht möglich – schon gar nicht in einer normalen Werkstatt mit handelsüblichen Hilfsmitteln. Ich habe mir das für meine Handlung zurechtgebogen – eine schöne Fassade und etwas Überzeugungsarbeit sind die Zutaten eines jeden guten Zaubertricks. Und wenn man nicht zu genau hinschaut, könnte man fast daran glauben.

Wieso ich das alles erkläre? Weil ich betonen möchte, dass dieser Roman keine »harte« Science-Fiction ist. Ich kenne viele Freunde des Genres, denen die technische Seite einer Geschichte sehr wichtig ist, und die wollte ich vorwarnen, dass sie ihre Aufmerksamkeit besser auf andere Aspekte des Buchs lenken. Ich wollte mich in diesem Roman auf die Auswirkungen verschiedener Technologien auf die Menschen und ihre Kultur konzentrieren und nicht zu viele Worte über ihre genaue Funktionsweise verlieren. So wie schon H.G. Wells’ Geschichte ist auch Zeitfuge ebenso wenig eine Anleitung zur Zeitreise, wie Reality-TV ein Abbild der Wirklichkeit ist.

Worum geht es also dann in diesem Buch?

Die nächsten Seiten werden es verraten – eine ganze Welt harrt ihrer Entdeckung.

Michael J. Sullivan

Januar 2014

1Kaum noch Zeit

Als er von der Ärztin hörte, dass er sterben würde – und wie wenig Zeit ihm bis dahin noch blieb –, musste Ellis Rogers lachen. Nicht die übliche Reaktion auf eine solche Eröffnung – das wusste er genauso gut wie sie. Er war nicht verrückt, zumindest glaubte er das, aber wie konnte man sich da schon je sicher sein? Vor seinem inneren Auge hätten Visionen vorbeiziehen sollen, Schlaglichter seines Lebens: wie er seinen Collegeabschluss machte, Peggy am Altar küsste, oder wie sie ihren gemeinsamen Sohn Isley verloren. All die unerledigten Dinge, die gesagten oder ungesagten Worte – das war es, was ihn hätte beschäftigen sollen. Stattdessen drehten sich seine Gedanken einzig um dieses Wort mit vier Buchstaben, das die Ärztin gebraucht hatte. Schon komisch, dass es ausgerechnet dieses Wort gewesen war – schließlich hatte er ihr nie erzählt, was er daheim in seiner Werkstatt hatte.

Die Lungenspezialistin war eine kleine Inderin mit hellen, wachen Augen und einem Klemmbrett, das ihr als Erinnerungsstütze diente. Sie trug den üblichen weißen Kittel, das Stethoskop nachlässig in die Tasche gestopft, und lehnte halb stehend, halb sitzend an ihrer Tischkante. Anfangs hatte die Ärztin das Gespräch noch gesteuert, einfühlsam, doch ebenso bestimmt, aber nun war es ihr durch seinen deplatzierten Ausbruch völlig entgleist, und keiner von beiden wusste mehr, was noch zu sagen blieb.

»Geht es Ihnen wieder … besser?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ist der erste Test, bei dem ich je durchfiel«, entschuldigte er sich, in der Hoffnung, dass sie es schlucken und fortfahren würde. In Anbetracht der Neuigkeiten, die sie ihm gerade überbracht hatte, verdiente er wohl etwas Nachsicht.

Einen Moment lang musterte sie ihn besorgt, dann fand sie zu ihrem professionellen Tonfall zurück. »Sie sollten lieber noch eine zweite Meinung einholen, Ellis.« Sie gebrauchte seinen Vornamen, als ob sie alte Freunde wären. Dabei hatte er sie nur die paar Mal zu besagten Tests gesehen.

»Entwickelt gerade irgendwer ein Heilmittel?«, erkundigte er sich.

Die Ärztin seufzte und kniff die Lippen zusammen. Dann verschränkte sie die Arme, löste sie wieder und beugte sich etwas vor. »Schon, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ein Durchbruch bevorsteht.« Sie sah traurig drein. »So viel Zeit haben Sie einfach nicht, Ellis.«

Da war es wieder, dieses Wort.

Diesmal lachte er nicht laut, trotzdem stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er brauchte wirklich ein besseres Pokerface. Ellis wandte den Blick ab und versuchte, sich auf die drei Gläser auf dem Tisch neben der Tür zu konzentrieren. Sie wirkten, als gehörten sie in eine Küche, nur dass sie Holzspatel und Wattestäbchen statt Mehl oder Zucker enthielten. Den Inhalt des dritten Glases konnte er nicht richtig erkennen: etwas einzeln Verpacktes, Spritzen vielleicht. Das brachte ihn darauf, dass er noch einmal den Verbandskasten kontrollieren musste. Bei vielen war nämlich nicht genug Aspirin dabei.

Die Ärztin erwartete wahrscheinlich, dass er weinte oder einen Wutanfall erlitt und Gott, sein Pech, die Nahrungsmittelindustrie oder seinen eigenen Bewegungsmangel verfluchte. Ein Lächeln gehörte wohl nicht zum üblichen Programm. Doch er konnte einfach nicht anders – nicht, wenn sie ohne es zu merken solche Scherze trieb.

Eigentlich sind es ja keine Scherze, dachte er. Sondern Ratschläge. Und sie hat recht: Es gibt nichts mehr, das mich noch hält.

Sein Bindegewebe war extrem geschwächt; er litt an IPF, einer Lungenkrankheit namens idiopathische pulmonale Fibrose, und hatte noch sechs Monate zu leben – höchstens ein Jahr. Und dieses nachgereichte höchstens ein Jahr hatte schon betont optimistisch geklungen. Jeder andere in seiner Situation, den sicheren Tod vor Augen, hätte wahrscheinlich Reisen nach Europa, Safaris in Afrika oder Besuche bei der Familie und alten Freunden geplant. Ellis dagegen plante eine andersartige Reise und war in Gedanken schon beim Kofferpacken: Er sollte besser noch mehr Batterien für die Taschenlampe mitnehmen – man konnte gar nicht genug Batterien haben – und noch ein paar Packungen M&M’s. Schließlich brauchte er sich keine Sorgen mehr um sein Gewicht, den Blutzucker oder die Zähne zu machen. Ich kaufe einen ganzen Karton! Die gelben mit den Erdnüssen, das sind die besten.

»Ich gebe Ihnen einen Termin in zwei Wochen. Das sollte Ihnen reichen, um die Ergebnisse von einem anderen Arzt überprüfen zu lassen.« Sie hörte zu schreiben auf und schaute ihn mit ihren großen, braunen Augen an. »Geht es Ihnen auch wirklich gut?«

»Ich komme schon klar.«

»Gibt es jemanden, den ich anrufen soll?« Sie blätterte durch die Notizen auf ihrem Klemmbrett. »Ihre Frau vielleicht?«

»Glauben Sie mir, es geht schon.«

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er die Wahrheit sagte. Das letzte Mal hatte er sich vor sechsunddreißig Jahren so gefühlt, als man ihm auf der Bank das Darlehen eingeräumt hatte, mit dem er von daheim hatte ausziehen können. Eine Mischung aus Vorfreude und Angst vor dem Unbekannten. Freiheit – wahre Freiheit – war berauschender als jede Droge.

Endlich kann ich den Knopf drücken.

Sie wartete noch zwei Herzschläge und nickte dann. »Vorausgesetzt, der zweite Befund deckt sich mit meinem, setze ich Sie auf die Warteliste für eine Transplantation. Die Details erkläre ich Ihnen in zwei Wochen. Davon abgesehen gibt es, fürchte ich, nichts, was wir tun können. Es tut mir sehr leid.« Sie griff nach seiner Hand. »Das meine ich ehrlich.«

Er erwiderte den Druck. Ihr Lächeln wirkte nun entspannter. Vielleicht glaubte sie ja, dass sie ihm geholfen, eine emotionale Beziehung zu ihm aufgebaut hatte. Das war schon in Ordnung so – er brauchte alles an gutem Karma, das er kriegen konnte.

»Was hat der Arzt gesagt?«, waren die erste Worte aus Peggys Mund, als Ellis durch die Tür trat. Er konnte sie nirgendwo sehen. Wahrscheinlich war sie in der Küche und versuchte, den Fernseher im Wohnzimmer zu übertönen. Das war typisch Peggy – sie sagte, sie fühle sich weniger allein, wenn der Fernseher lief, doch sie ließ ihn auch an, wenn Ellis daheim war.

»Sie hat gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll.« Er warf die Schlüssel in die Süßigkeitenschale auf dem Wohnzimmertisch, die ihr Sohn vor vielen Jahren gemacht hatte.

»Sie? Ich dachte, du hattest einen Termin bei Dr. Hall?«

Mist! Ellis fuhr zusammen. »Ach so – Dr. Hall ist im Ruhestand. Deshalb war ich bei einer Ärztin.«

»Im Ruhestand? So plötzlich? Ist alles okay?«

»Ja sicher, es geht ihm gut.«

»Ein Glück. Wundern tut es mich trotzdem – er ist ja nicht viel älter als wir, und ich dachte immer, dass Ärzte sich später zur Ruhe setzen als andere Leute. Diese Ärztin macht sich also keine Sorgen wegen deines Hustens?«

Ellis fand die Fernbedienung und stellte den Ton leiser, bis das Geschnatter der streitenden Frauen im TV nur noch ein leises Flüstern war. Manchmal fragte er sich, ob es immer dieselbe Sendung war, die da lief, oder ob alle Sendungen, die Peggy nicht sah, sich bloß sehr stark ähnelten.

»Nein«, rief er zurück. »Sie meinte, es wäre nur ein Virus.«

Das Wohnzimmer dokumentierte ihre gemeinsame Lebensleistung. Zwei hochwertige Mohairsofas standen vor einem TV-Gerät, das eine größere Bilddiagonale als ihr erstes Badezimmer besaß. Im Regal am Kamin ruhten seine MIT-Bücher und Abschlussarbeiten, die er in echtes Leder hatte binden lassen. Darüber stapelten sich Krimis und Thriller von Michael Connelly, Tom Clancy und Jeffery Deaver, die er zur Entspannung las.

Und überall hingen oder standen Bilder: an den Wänden, auf dem steinern Tisch, sogar auf dem Fernseher. Aus jedem Rahmen lächelte ihm ein sommersprossiger Engel mit sandfarbenem Haar und einer wechselnden Zahl von Zähnen entgegen. Das Bild aus dem Freizeitpark beherrschte das Zentrum des schweren Wohnzimmertischs. Eigentlich waren sie zu dritt auf dem Foto gewesen, doch dank eines geschickten Knicks war von Ellis bloß noch die Hand zu sehen, die auf der Schulter seines Sohnes ruhte.

»Hat sie dir wenigstens was mitgegeben?« Peggy trat ins Wohnzimmer und warf einen flüchtigen Blick auf den Fernseher. Um sicherzugehen, dass sie auch nichts verpasste? Sie trug noch ihren Hosenanzug und das Perlengehänge von der Arbeit.

Einen Moment lang erwog Ellis, ihr die Wahrheit zu sagen, zumindest über den Befund der Ärztin. Es hätte ihn interessiert, wie sie darauf reagierte. Was sie sagen würde.

Wenn er jetzt log, würde sie die Medikamente sehen wollen. »Sie hat mir ein Rezept gegeben, aber ich habe es noch nicht in den Drugstore geschafft.«

»Dann beeilst du dich besser. Er hat nicht mehr lang offen.« Sie nahm sich eine frische Packung Mentholzigaretten und klopfte eine heraus, dann sah sie stirnrunzelnd auf. »Wolltest du denn nicht mehr in die Werkstatt?«, fragte sie mit einem Hauch von Enttäuschung.

»Eigentlich wollte ich mich noch mit Warren treffen und nur eben meinen Mantel holen. Es wird kalt.«

»Pass mit dem Trinken auf, wenn du Medikamente nimmst.«

Im Flur zog er seinen Mantel an und griff sich so leise wie möglich Peggys Schlüsselbund. Doch statt die Küchentür nach draußen zu nehmen, schlich er sich die Treppe zum Schlafzimmer hoch, schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich. Sein Herz schlug so laut, dass er hoffte, Peggy hörte es nicht. Erst jetzt begann sich das alles real für ihn anzufühlen.

Mein Gott, ich mache das wirklich.

Vorsichtig öffnete er den begehbaren Kleiderschrank und begann seine Ausgrabung. Die linke Seite des Schranks war immer Peggys Territorium gewesen. Auf dem Boden stapelten sich alte Schuhe, die Hochzeitsbilder und weiß Gott was sie sonst noch alles in den Kartons und Plastikboxen verstaut hatte. Ellis wusste aber, was er suchte, und hinter einem Turm aus Schuhschachteln, den er vorsichtig abbaute, fand er zu guter Letzt die schatztruhenförmige Schmuckschatulle. Peggy hielt sie stets verschlossen. Der Schlüssel hing an ihrem Bund zusammen mit einem Flaschenöffner, einer ausklappbaren Nagelfeile, einem Münzbeutel, einer Trillerpfeife für Notfälle, einer Taschenlampe, einem laminierten Foto von Isley, einem silbernen Anhänger in Form eines Kamels oder Lamas, einem weiteren Anhänger in Form eines Fußballs sowie einem großen roten Schild, auf dem PEGGY stand. Der Witz daran war, dass man für den Nissan dank Transponder und Startknopf gar keinen Schlüssel brauchte.

Die Schatulle öffnete sich wie eine Kasse: Das Oberteil klappte auf und die Schubladen schoben sich nach vorn. Das Innere war voller Erinnerungsstücke. Er fand eine Muttertagskarte, die Isley mit sechs Jahren gemacht hatte, ein einfaches Stück gefaltete Bastelpappe, darauf mit Buntstiften das Wort MOM gekritzelt. Außerdem Briefe, Fotos von Isley, ein paar Karten zu einem Spiel namens Parkverbot, an das er sich nicht erinnern konnte, und die Gedichte, die Peggy vor ihrer Hochzeit geschrieben hatte, zu der Zeit, als sie noch Gitarre gelernt und die nächste Carole King hatte werden wollen.

Und natürlich gab es Schmuck.

Ohrringe, die alten noch mit Clip, die neueren fürs Ohrloch, manche mit einem Gehänge wie Christbaumschmuck, andere einfache Stecker. Zwei Perlenketten und ein Halsband mit einem Medaillon, das nach Elfenbein aussah, dazu eine Masse von Ringen. Das meiste war billiger Modeschmuck. Vier Stücke aber nicht.

Peggys Verlobungs- und Ehering rührte Ellis nicht an. Er war lediglich an einem Paar Diamantohrringe interessiert, die ihm seine Großmutter hinterlassen hatte. Er entdeckte sie am Boden der Schatulle, unter all den Erinnerungsstücken.

Da hörte er Peggys Schritte von unten. Sie durchquerten gerade das Wohnzimmer und näherten sich der Treppe. Ellis erstarrte.

Er stellte sich vor, wie seine Frau nach oben kam und nach der Tür griff.

Wieso ist hier abgeschlossen? Was machst du da drin, Ellis?

Was würde er sagen?

Was hast du mit meinen Schlüsseln vor?

Er hielt ganz still und lauschte. Peggy war stehen geblieben.

Was verdammt tut sie da? Einfach mitten im Flur stehen? Ach, verdammt …

Er griff sich einfach alles, was im Weg war, und stopfte es sich in die Taschen. Noch während er den Schmuck am Boden der Schatulle zusammenschaufelte, hörte er Peggy auf den Stufen. Er schloss den Schrank und gewann das Wettrennen zur Tür gerade noch rechtzeitig, ehe seine Frau nach dem Knauf griff.

»Immer noch hier?«, fragte sie.

Er lächelte verlegen. »Wollte gerade los.«

Mit klopfendem Herzen lief er die Treppe hinunter. Sorgsam legte er ihren Schlüsselbund zurück auf den kleinen Tisch neben der Garderobe und ging aus dem Haus. Auf der Veranda steckte er die Hände in die Taschen und tastete nach dem Schmuck darin. Ellis seufzte. Zusammen mit den Diamanten seiner Großmutter hatte er unabsichtlich auch Peggys Ringe eingesteckt. Auch wenn sie ihr offensichtlich nichts mehr bedeuteten, würde er sie heute Nacht auf dem Küchentisch lassen, wenn er aus der Bar zurückkam. Peggy hatte ihren Ehering achtzehn Jahre lang getragen, dann aber abgelegt, als sie ihre ersten Maklerseminare belegt hatte. Laut einem Artikel, den sie gelesen hatte, erzielten Maklerinnen ohne Ring regelmäßig bessere Abschlüsse, ob sie nun verheiratet waren oder nicht. Ellis hatte nie mit ihr deshalb gestritten oder sich auch nur beschwert, weil er den wahren Grund dafür kannte. Der Sommer, in dem sie mit den Seminaren begonnen und ihren Ring abgelegt hatte, war derselbe Sommer gewesen, in dem sich Isley in der Werkstatt mit einem Gürtel seines Vaters erhängt hatte.

Das Brady’s war eine unscheinbare Bar auf der Eight Mile Road. Eingequetscht zwischen einer Videothek und einem chinesischen Restaurant in einer Gegend voller Schnapsläden und Reparaturwerkstätten war es das einzige Gebäude ohne Gitter vor den Fenstern. Das Brady’s hatte nämlich keine Fenster – es war einfach nur eine Ziegelsteinfassade mit einer weiß lackierten, schwergängigen Stahltür.

Hustend stand Ellis vor der Bar. In der Kälte war es immer besonders schlimm, und dabei war es noch nicht mal richtig kalt. Der November in Detroit war dank der Feuchtigkeit der Großen Seen bloß das Vorspiel zu sechs Monaten klirrender Kälte und Elends. Trotzdem gefiel seinen Lungen die Luftveränderung nicht. Mittlerweile gefiel seinen Lungen freilich fast gar nichts mehr, und der Hustenanfall war so schmerzhaft, dass er meinte, es risse ihm die Brust entzwei. Er wartete, bis er wieder Luft bekam, dann trat er ein.

Das Innere des Brady’s hielt, was das Äußere versprach: eine schnörkellose Bar, die nach frittiertem Essen roch und selbst Jahre nach dem Inkrafttreten des staatsweiten Verbots noch nach Zigarettenrauch stank. Der Boden war klebrig, die Tische wackelten, und auf dem stummgeschalteten Fernseher in der Ecke lief Football zu alten Johnny-Cash-Songs aus den versteckten Lautsprechern. Aufgrund der fehlenden Fenster waren der Fernseher und ein paar altmodische Deckenlampen auch die einzigen Lichtquellen in der Bar, die sie in eine flackernde Höhle voller Schatten verwandelten.

Warren Eckard saß an der Theke, schaute fern und schwenkte die Überreste eines Budweisers in seiner Flasche. Er saß vornübergebeugt und auf die Ellbogen gestützt da und wippte mit dem Fuß im Takt von Cashs »Folsom Prison Blues«. Auf seinem T-Shirt stand: ICH LIEBE MEIN LAND. ICH HASSE NUR DIE REGIERUNG. Das XXL-Shirt war immer noch zu klein und ließ einen Wulst teigig blasser Haut aus seiner Jeans quellen. Ellis war dankbar dafür, dass Warrens Hosenbund nicht noch tiefer als ohnehin schon saß.

»Warren«, sagte Ellis, klopfte ihm auf den Rücken und setzte sich neben ihn.

»Hey! Hey!« Mit übertriebener Überraschung drehte sich Warren zu ihm um und grinste ihn an. »Na, wenn das nicht Mr. Rogers ist. Einen wunderschönen Tag wünsch ich, alter Mann. Wie läuft’s denn so?«

Seine Hand verschwand fast in Warrens Pranke, als sie sich begrüßten. Selbst Jahrzehnte nach dem Unfall kam er nicht umhin, Warrens fehlende Finger zu bemerken.

»Wer ist denn der Kleine hinter der Bar?«, fragte Ellis und versuchte, Blickkontakt mit dem jungen Kerl im schwarzen T-Shirt herzustellen.

»Freddy. Er ist Italiener, also lass die Spaghettiwitze. Sonst landen wir noch beide bei die Fische.«

»Wo steckt Marty?«

Warren zuckte die Schultern. »Vielleicht hat er frei. Oder man hat ihn gefeuert. Was weiß ich?«

»Freddy!«, rief Ellis dem Jungen zu, der sich zurückgelehnt hatte und mit einem Zahnstocher im Mund herumspielte. »Kann ich ein Bud haben?«

Der Junge nickte und köpfte eine braune, noch beschlagen Flasche frisch aus dem Kühlschrank. Dann klatschte er einen kleinen Papieruntersetzer vor ihn hin, setzte die Flasche darauf und ging sich weiter mit seinem Zahnstocher beschäftigen.

»Spielen die Lions heute?«, fragte Ellis mit Blick auf den Fernseher, während er sich aus seinem Mantel schälte.

»Gegen die Redskins. Die werden sie plattmachen.«

»Unterstützt man so etwa sein Team?«

»Es wäre halt hilfreich, wenn sie vernünftige Spieler hätten.« Warren leerte seine Flasche und setzte sie laut genug ab, dass Freddy es mitbekam und ihm eine neue brachte.

»Bewirb du dich doch, sobald das Baby da ist. Im wievielten Monat bist du mittlerweile, im achten oder neunten?«

»Sehr komisch, bist ’n echter Witzbold. Dabei solltest du’s verdammt noch mal besser wissen …« Er schlüpfte in seine Marlon-Brando-Rolle, klang aber mehr wie ein kränklicher Vito Corleone als der gescheiterte Boxer Terry Malloy. »Ich hätte was werden können!«

»Klar, träum ruhig weiter. Aber wo wir gerade davon reden …« Ellis zog ein paar zusammengeheftete Blätter aus der Innentasche seines Mantels. Das Papier war verschmiert, voller Kaffeeflecken und gekritzelter Notizen an den Rändern. Darunter aber war es zweispaltig mit engem Text bedruckt, vor allem Formeln.

»Was soll das denn sein?«, fragte Warren. »Musst du wieder den Geek auspacken? Bringst du deine Arbeit jetzt schon in die Bar mit?«

»Nein, das ist mein Privatvergnügen. Daran hab ich jahrelang herumgebastelt – ist so ein Hobby von mir. Hast du dich je mit der Relativitätstheorie befasst? Schwarze Löcher?«

»Seh ich aus wie Stephen Hawking?«

Ellis grinste. »Manchmal. Wenn du aufrechter dasitzt und deutlicher redest …«

Warren imitierte ein Lachen. »Mann, du bist ja’n echter Kracher heute. Hast du das gehört?«, rief er Freddy zu. »Der reinste Moe Howard.«

Freddy schenkte gerade ein paar Frauen am anderen Ende der Theke ihr Light-Bier ein. »Wer?«, fragte er verwirrt.

»Du weißt schon, The Three Stooges.«

Freddy zuckte die Schultern.

»Gott, willst du mich jetzt verarschen? Moe, Larry und Curly! Die größten Komiker unserer Zeit.«

»Und welche Zeit genau wäre das?«, konterte Freddy.

»Ach, vergiss es doch einfach.« Warren setzte seinen Die-Jugend-von-heute-Ausdruck auf, der Ellis immer wieder irritierte – denn schließlich kannte er Warren Eckard noch aus der Zeit, als sie besagte Jugend gewesen waren.

Warren überflog die Seiten und schüttelte den Kopf wie ein Kommissar angesichts eines besonders grausamen Verbrechens. »Ich fasse es nicht, dass du diesen Mist zum Spaß machst.«

»Du schaust Football«, konterte Ellis. »Ich spiele mit Quanten …«

»Football ist spannend.«

»Das hier auch.«

Warren deutete auf den Fernseher, wo man nun das monströse FedExField in Landover, Maryland aus der Vogelperspektive sah. »Da sitzen über fünfundachtzigtausend Leute auf den Rängen, und hundert Millionen schauen jedes Jahr den Super Bowl. Dämmert dir da was?«

»Na und? Als Neil Armstrong auf dem Mond herumspazierte, schauten fünfhundert Millionen zu.«

Warren nippte missmutig an seinem Bier. »Also, was ist jetzt mit der Schlaumeierei? Kommt noch ’ne Pointe, oder will du nur angeben?«

»Angeben?«

»Immerhin bist du hier Mister MIT, ich hingegen sitz auf meinem kleinen Highschool-Abschluss, oder nicht?«

Ellis runzelte die Stirn. »Jetzt wirst du eklig.«

»Achtundfünfzig Jahre Übung, mein Freund. Das wird man schwer wieder los.« Warren trank einen weiteren Schluck.

Ellis wartete.

Schließlich verdrehte Warren die Augen. »Okay, okay – lassen wir’s gut sein. Also, worum geht’s?«

Ellis legte den Stapel Papier auf die Theke. »In den Dreißigern gab es diesen Deutschen, Gustaf Hoffmann, der eine Theorie in den Annalen der Physik veröffentlichte. Das ist eine der ältesten Fachzeitschriften der Welt. Da hat auch Einstein publiziert, okay? Ich rede hier von ernsthafter Wissenschaft.«

Warren bemühte sich, ein geduldiges Gesicht zu machen.

»Allerdings fand Hoffmanns Theorie nicht viel Beachtung. Zum einen, weil seine Berechnungen fehlerhaft waren, vor allem aber, weil er beweisen wollte, dass Zeitreise nicht nur prinzipiell möglich, sondern auch praktisch umsetzbar ist. Ich habe mal was zu Hoffmann veröffentlicht und seinen Ansatz durch moderne Quantentheorie ergänzt. Auch danach ließ mich die Idee nicht los, also habe ich weiter mit seinen Formeln gespielt. Vor gut zwei Jahren habe ich dann rausgekriegt, was er falsch gemacht hat.«

»Das … das ist echt super, Ellis.« Warren nickte mechanisch. »Verrückt und irgendwie auch traurig, aber wenn es dich freut, freut’s mich auch.«

»Du verstehst es nur noch nicht. Diese Theorie … sie ist wirklich ganz simpel. Nicht der Weg dahin – der war richtig übel –, aber was zum Schluss übrig blieb, war wie alle gute Formeln: schlicht und perfekt. Und das Beste daran ist, dass die Formel auch praktischen Nutzen hat. Ich spreche von angewandter Wissenschaft, nicht bloß Spekulationen. Wie Einstein damals mit seiner Theorie, und dann bauten die Leute vom Manhattan-Projekt die Atombombe. Wobei das Jahre der Forschung und Entwicklung und tonnenweise Infrastruktur und Ressourcen brachte. Das hier« – Ellis tippte auf seine Papiere – »ist deutlich einfacher.«

»Aha, und das heißt also …« Warren verlor bereits das Interesse, allerdings hatte er wohl von vornherein nicht allzu viel gehabt.

»Kapierst du nicht? Das hier sind die Baupläne einer Zeitmaschine! Würdest du nicht gern die Zukunft sehen?«

»Um Gottes willen – ich kenne die Gegenwart gut genug, um zu wissen, was passiert. Das letzte Gute, was die Menschheit mit vereinten Kräften hingekriegt hat, war Hitler zu töten.« Er trank und wischte sich den Mund.

»Komm schon, willst du mir weismachen, dass dich nicht interessiert, was bei all dem noch rauskommt?«

»Das ist wie drauf zu warten, was beim Sprung von einer Klippe rauskommt.« Warren setzte ein Grinsen auf. »Die Welt geht in den Arsch. Amerika ist wie mein alter Buick – rostet langsam vor sich hin. China wird uns alle einsacken. Bald fressen wir nur noch Reis und rennen mit kleinen roten Büchern rum.«

Ellis verzog das Gesicht.

»Glaubst mir wohl nicht, hm?«, fragte Warren. »Das Problem ist, wir sind schwach geworden. Die Babyboomer und ihre Kinder hatten es viel zu leicht. Verzogene Gören, allesamt. Und die nächste Generation verderben sie noch mehr. Jeder will sein großes Haus und schickes Auto, bloß arbeiten will keiner dafür. Verdammt, die Einzigen, die heute noch arbeiten, sind doch Illegale wie die da hinten!«

Peinlich berührt schaute Ellis zu einem Tisch mit Latinos in der Nähe der Tür. Aber die hatten wohl nicht zugehört. Oder es war ihnen egal.

»Würdest du bitte etwas leiser reden? Und vielleicht magst du dem Rest von uns Gesellschaft im neuen Jahrtausend leisten und nicht automatisch davon ausgehen, dass jeder Einwanderer illegal hier ist.«

»Was denn?« Er folgte seinem Blick und fügte mit lauterer Stimme hinzu. »Ich habe ihnen gerade ein Kompliment gemacht. Sind gute Arbeiter! Hab nie was anderes behauptet.«

»Ist schon gut.« Ellis rieb sich das Gesicht. »Wir sprachen gerade von der Zukunft, weißt du noch?«

»Ach, scheiß doch auf die Zukunft. Wird entweder so ’ne Höllenapokalypse oder, schlimmer noch, ein Unterdrücker-Regime wie das von Big Brother in der Orson-Welles-Geschichte.«

»1984 wurde von George Orwell geschrieben. H.G. Wells schrieb Die Zeitmaschine, und Orson war ein Regisseur und Schauspieler.«

»Wie auch immer. Ich sag ja bloß, die Zukunft wird kein Zuckerschlecken.«

Ellis fragte sich, ob Warren sich eigentlich der Tatsache bewusst war, dass er derselben Generation angehörte, der er gerade die Schuld am Niedergang der Zivilisation gegeben hatte. Er glaubte nicht, dass Warren sich in einen Topf mit dem angeblich verzogenen Rest werfen würde, und vielleicht hätte er sogar recht damit. Sie stammten beide aus hart arbeitenden Familien, deren Väter sich ihren frühen Herzinfarkt redlich verdient hatten. Ellis hatte bloß Glück gehabt – Warren nicht.

Sein Traum von einer Footballkarriere war gestorben, als er sich Ringfinger und kleinen Finger in einer Presse abgetrennt hatte. Warren hatte die Schutzvorrichtung entfernt, weil sie im Weg gewesen war. Danach hatte er einen Prozess auf Grundlage der Argumentation gewonnen, dass die Schutzvorrichtung nicht abnehmbar hätte sein dürfen. Anscheinend hatte sein Freund ebenfalls seine Ansprüche – oder zumindest doch das Bedürfnis nach angemessener Entschädigung für seine Finger verspürt. Seine eigene Verantwortung dafür hatte sich angesichts der Aussicht auf einen saftigen Scheck schnell in Luft aufgelöst.

»Wenn du mich in die Vergangenheit schicken könntest, kämen wir vielleicht ins Geschäft«, sagte Warren. »Scheiße, die Fünfziger waren das reinste Paradies. Amerika beherrschte die Welt und war ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Freiheit. Jeder, der wollte, konnte seine Träume verwirklichen. Die Leute wussten, was von ihnen erwartet wurde. Die Männer gingen arbeiten, die Frauen blieben daheim und kümmerten sich um die Kinder.«

»In die Vergangenheit geht leider nicht. Hoffmann sagt, man kann nur vorwärts reisen. Und das mit dem Reisen stimmt auch nicht ganz: Eigentlich bleibt man ziemlich genau, wo man ist, und lässt die Zeit nur an einem vorbei. Ein bisschen so, wie wenn man schlafen geht: Man legt sich hin, macht die Augen zu, und zack, der nächste Tag ist da. Die sieben, acht Stunden dazwischen hat man einfach übersprungen. Doch selbst wenn es möglich wäre, in beide Richtungen zu reisen – ich würde viel lieber die Zukunft sehen.«

»Wirst du ja auch. Zumindest in Auszügen. Schließlich sind wir ja noch längst nicht tot, oder?«

Ellis trank von seinem Bier. Wie eigenartig, dass Warren das sagte – fast schien es ihm wie ein göttliches Zeichen. Kurz erwog er, ihm vom Kündigungsbrief des Allmächtigen zu erzählen, der ihn heute erreicht hatte, entschied sich dann aber dagegen. Das Leben in Motown lud Männer nicht gerade dazu ein, ihr Herz auf den Lippen zu tragen. Eine Rezession jagte die nächste im sogenannten Rostgürtel der USA. Es konnte einem eine Heidenangst einjagen, doch die Leute hier rauchten, tranken und bissen sich durch, wie sie’s immer getan hatten. Man umarmte sich nicht; man gab sich die Hand. Und Ellis sah keinen Sinn darin, seinem besten Freund zu erzählen, dass er bald sterben würde. Schlimm genug, dass er selbst dieses deprimierend nutzlose Wissen mit sich herumschleppen musste.

»Wie auch immer.« Ellis drückte Warren den Stapel Papier in die Hand. »Ich möchte dir das hier geben.«

»Wieso?«

»Nur für den Fall.«

»Welchen Fall?«

»Dass es funktioniert.«

»Dass was funktioniert?« Warren kniff die Augen zusammen, dann weiteten sie sich verstehend. »Moment mal – wie war das bitte? Du denkst also ernsthaft darüber nach? Eine Zeitmaschine zu bauen?«

»Ich denke nicht bloß darüber nach. Ich habe mit dem Bau begonnen, kaum dass ich Hoffmanns Fehler gefunden hatte. Die Zeitmaschine steht in meiner Werkstatt.«

Streng genommen war sie eigentlich seine Werkstatt, doch er hielt es für das Beste, es nicht zu kompliziert zu machen. Warren runzelte auch so schon die Stirn, als versuchte er, das 3D-Objekt in einem Bild aus DAS MAGISCHE AUGE zu erkennen.

»Ist das – ist das nicht gefährlich?«

Als er nicht gleich antwortete, wurde Warrens Sorgenfalte noch tiefer. »Ellis, du bist ein schlauer Kerl, der schlaueste, den ich kenne. Du wirst doch keine Dummheit machen, oder?«

Ellis schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Vermutlich funktioniert es gar nicht. Es ist nur … vielleicht ist es so ähnlich wie mit dir und dass du nie auf einem Platz wie dem da stehen konntest.« Er zeigte auf das Spiel im Fernsehen. »Ich für meinen Teil hatte nie die Chance, Astronaut zu werden, ins All zu fliegen oder auf dem Mars zu spazieren … Das hier ist vielleicht so was Ähnliches. Davon abgesehen werde ich nicht jünger und habe nicht mehr viel Zeit, etwas wirklich Wichtiges zu machen – ein Abenteuer zu erleben.«

»Was ist mit Peggy?«

Ellis griff nach seinem Bier, unter dem sich trotz des Untersetzers eine Pfütze gebildet hatte. Fast war er versucht zu fragen: Welche Peggy?

»Vielleicht ist es besser so. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie erleichtert sein wird. Vor ein paar Jahren schlug ich ihr vor, dass wir nach Texas ziehen könnten. Man hatte mir eine Beförderung in Aussicht gestellt, eine tolle Stelle mit besserer Bezahlung. Sie meinte, sie könne das Wenige, was ihr von Isley noch blieb, nicht zurücklassen, ich könne aber gehen, wenn ich will. Ich hatte den Eindruck, dass sie enttäuscht war, als ich blieb.«

»Sie gibt dir immer noch die Schuld?«

»Aus gutem Grund, findest du nicht?«

»Mach dir keine Vorwürfe. Ich hätte dasselbe getan, weißt du.« Warren schürzte die Lippen, als hätte er eben in eine Zitrone gebissen. »Jeder Mann hätte das.«

»Lass es gut sein, okay?«

»Klar. Tut mir leid. Ich wollte nich…«

»Vergiss es.« Er hob die Stimme, damit Freddy ihn hörte. »Hey, bring meinem Freund und mir ein paar Jackys! Wir wollen feiern.«

Freddy schenkte ihnen zwei Jack Daniel’s ein und stellte sie vor sie hin. Dann hob Warren sein Glas. »Auf ein langes Leben.«

Ellis griff nach seinem Whiskey. »Auf die Zukunft.«

Sie setzten die Gläser an die Lippen und tranken.

2Zeit zu gehen

Auf dem Nachhauseweg wurde Ellis wieder bewusst, was er da eigentlich vorhatte. Bis er daheim ankam, war seine letzte Euphorie dahin. Er konnte nicht einfach so verschwinden und Peggy im Stich lassen, als würde er die sprichwörtliche Schachtel Zigaretten holen gehen. Selbst wenn sie sich auseinandergelebt hatten, so blickten sie doch immer noch auf fünfunddreißig gemeinsame Jahre zurück. Seine Frau hatte einen ordentlichen Abschied verdient. Und was, wenn er sich geirrt hatte, wenn mit der Verkabelung oder Hoffmanns Ansatz etwas nicht stimmte und er …

Was, wenn sie noch eine Leiche in der Werkstatt findet? Das darf ich ihr nicht antun! Lieber Gott, was habe ich mir nur dabei gedacht?

Er musste es ihr sagen, ihr alles erklären. Wenn sie wusste, wie wichtig es ihm war, und dass es in der Zukunft vielleicht ein Heilmittel für ihn gab, würde sie ihm vielleicht ihren Segen geben. Er legte sich gerade seine Argumente zurecht, als er bemerkte, dass das Licht in der Küche noch brannte. Aus dem Flur hörte er die alte Standuhr elf schlagen. Er war früher daheim als gewöhnlich, doch die letzten sechs Jahre war seine Frau stets um halb elf ins Bett gegangen.

Wieso ist das Licht noch an?

Und nicht nur in der Küche, auch im Flur und im Wohnzimmer. Das Licht war an, aber der Fernseher war aus.

Seltsam. Fast unheimlich …

»Peggy?«, rief er. Er schaute kurz ins leere Bad. »Peggy?«, rief er noch einmal, lauter diesmal, und rannte die Treppe hoch.

Aus seltsam und unheimlich wurde alarmiert, als sie sich auch nicht im Schlafzimmer befand. Erst beim Anblick der offenen Schmuckschatulle auf dem Bett ergab plötzlich alles Sinn: Sein kleiner Beutezug war aufgeflogen. Kein Wunder – er hatte ja alles stehen und liegen lassen. Und als sie sich zum Schlafen umziehen wollte, hatte sie die geplünderte Schatulle im Schrank bemerkt.

Verdammt! Sie denkt bestimmt, dass jemand eingebrochen ist. Wahrscheinlich hat sie schreckliche Angst und will nicht allein daheim sein. Hoffentlich ist sie nicht zur Polizei gegangen. Erst würde sie doch mich anrufen, oder nicht?

Er warf einen Blick auf sein Handy. Tatsächlich, eine Nachricht von Peggy. Er tippte auf den Schirm und rief sie ab.

»El? Jetzt nimm schon ab, verdammt! Bitte nimm ab.« Ihre Stimme zitterte und war sehr laut – sie schrie nicht, aber man konnte die Angst darin hören. »Ich muss mit dir reden. Ich will wissen, was los ist.« Eine lange Pause. »Es tut mir leid, okay? Ganz ehrlich. Das alles ist Jahre her. Ich weiß nicht mal, wieso ich die Briefe noch aufgehoben habe. Dämlich war das, einfach nur dämlich. Ich hatte sie wirklich ganz einfach vergessen.

Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen. Gott, ich wünschte, du würdest rangehen. Pass auf, bist du noch im Brady’s? Ich komme vorbei. In zwanzig Minuten bin ich da. Dann können wir reden, okay? Bitte sei nicht sauer. Es war nicht Warrens Schuld. Eigentlich war niemand richtig schuld. Es ist einfach passiert, und klar, wir hätten was sagen sollen, aber … na ja … Wenn du das abhörst, bevor ich da bin, geh bitte nicht weg oder mach was Verrücktes, okay?«

Ende der Nachricht.

Mit offenem Mund starrte Ellis sein Handy an.

Ich weiß nicht mal, wieso ich die Briefe noch aufgehoben habe.

Er trat ans Bett vor die offene Schatulle. Die Muttertagskarte, die Fotos, Spielkarten, Gedichte und Briefe … alles weg. Die Schatulle war leer. Einen Moment lang starrte er sie verwirrt an, dann begriff er, dass er ja in der Eile alles eingesteckt hatte.

Dämlich war das, einfach nur dämlich.

Er griff in seine Taschen.

Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen.

Er zog den Stapel hervor. Ließ Gedichte, Fotos und Spielkarten auf den Teppich fallen. Alles, was blieb, waren die Briefe. Die Briefmarken waren von 1995, ein paar Monate nach Isleys Tod; adressiert waren sie an Peggys Postfach, das sie sich für die Arbeit zugelegt hatte. Die Handschrift war die von Warren.

Es war nicht Warrens Schuld.

Eine Weile stand Ellis einfach nur da. Er war wie betäubt. Dann hörte er ein Auto und dachte, Peggy käme vielleicht zurück. Er nahm die Briefe wieder an sich und eilte nach unten zu seiner Werkstatt. Das kleine, frei stehende Gebäude am rückwärtigen Zaun ihres Hofs war sein eigenes Reich. Seit Isleys Tod hatte Peggy es nicht mehr betreten. Ellis brauchte Zeit – und die Werkstatt war seine ganz persönliche Area 51.

Das Innere sah nicht gerade aus wie eine Werkstatt. Mit den ganzen Kabeln erinnerte es eher an eine Skulptur von H.R. Giger. Die Mitte beherrschte der Fahrersitz, den er aus einem alten Aerostar-Minivan hatte. Wie ein Kapitänsstuhl erhob er sich von einem schwarzen Kunststoffpodest, aus dem sich zahllose Schläuche schlängelten. Das Ganze war von mehreren Getränkekisten umgeben, und von dieser Nabe strahlte ein Dutzend dicke Kabel wie ein Spinnennetz in alle Richtungen aus und verband die an Wände und Decke montierten Kupferplatten, Sicherungen und Batterien: einst die Heimat zweier Autos.

Trotz der vielen Gerätschaften war ein Abschnitt der Wand in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden. Dort hingen zwei ganz unscheinbare Dinge: Das eine war ein Kalender von 1993 mit Schwarzweißfotos des Yosemite-Nationalparks von Ansel Adams. Isley hatte ihn Ellis zu Weihnachten geschenkt. Fünfzehn Jahre alt war er damals gewesen. Auch wenn der Kalender voller atemberaubender Wasserfälle und Berge war, hatte Ellis ihn zum letzten Mal im September umgeblättert. September war sein Lieblingsbild. September war auch der Monat, in dem Isley gestorben war.

Daneben hing ein Poster der sieben Astronauten des Mercury-Programms, des ersten bemannten Raumfahrtprogramms der Vereinigten Staaten. Zusammen mit ähnlichen Bildern der Apollo-Crews hatte es schon Ellis’ Kinderzimmer geziert. Er hatte es auf dem Dachboden wiedergefunden, als er auf der Suche nach alten Kabeln gewesen war, und der Versuchung nicht widerstehen können. Das vergilbte Bild zeigte die Raumfahrer, wie sie am 9. April 1959 der Weltöffentlichkeit präsentiert worden waren. Damals war Ellis noch nicht einmal mal drei gewesen. Zwei Reihen entschlossener Männer in Aluminiumanzügen und weißen Emaillehelmen: die Mercury Seven. Seine Lieblinge waren immer John Glenn und besonders Alan Shepard gewesen – Letzterer nicht nur, weil er der erste Amerikaner im All gewesen war, sondern weil er diese Leistung auch noch an Ellis’ fünftem Geburtstag vollbracht hatte.

Ellis verschloss die Tür hinter sich. Er hatte Schwierigkeiten, zu atmen. In seiner Brust rasselte es wieder, nur war er sich diesmal nicht sicher, ob die Probleme nur von seiner Lunge kamen. Es fühlte sich an, als wäre da noch etwas anderes zerbrochen.

Hätte man Ellis danach gefragt, ob er seine Frau liebe, dann hätte er Ja gesagt, obgleich er sich manchmal fragte, was das eigentlich hieß. Ähnlich wie die Vorstellung vom Paradies wirkte Liebe leicht kitschig, wenn man zu lange darüber nachdachte. Zu viele Filme und Songtexte ließen sie in einem schmalzigen Licht erscheinen. Sätze wie Wind unter meinen Flügeln oder Was mich erst vollständig macht klangen zwar schön, aber empfand das denn irgendwer wirklich? Ihm jedenfalls ging es mit Peggy nicht so, und er war sich ziemlich sicher, dass umgekehrt dasselbe galt.

Er hatte Peggy auf einer Party von Billy Raymond, einem von Warrens Freunden, kennengelernt. Das war sechs Jahre nach der Highschool gewesen, und Warren hatte ihn zum Mitkommen überredet. Damals hatte Warren schon in dem Montagewerk in Wixom gearbeitet, und Ellis hatte gerade seinen ersten Hochschulabschluss gemacht. Warren hatte nie Probleme damit gehabt, Mädchen zu kriegen – bei Ellis dagegen war die Wahrscheinlichkeit größer, dass er einen Blitz anzog. Von daher hatte es ihn ziemlich überwältigt, als Peggy ihn ansprach, denn sie war sehr attraktiv gewesen. Dabei hatte es schon gutgetan, überhaupt von einer Frau bemerkt zu werden. Ein paar Monate waren sie miteinander ausgegangen, dann hatte Peggy ihm gebeichtet, dass sie schwanger war. Sie hatte Angst gehabt, dass er sie sitzenlassen würde, so wie Warren das mit Marcia gemacht hatte. Nicht aber Ellis. Er hatte das Richtige getan – oder zumindest das, was er dafür hielt.

Er und Peggy hatten nie viel geredet. Ellis entwickelte Solarzellen für General Motors, Peggy ging ganz in ihrer Mutterrolle auf. Isley war ihre Schnittmenge gewesen, ihr gemeinsames Interesse. Nach seinem Tod waren sie kaum mehr als Fremde im selben Haus gewesen. So gesehen war es eine Überraschung, dass ihr Verrat ihn so schmerzte.

Aber selbst wenn Peggy nicht seine Seelenverwandte war, so war sie doch immer für ihn da gewesen. Sie hatten sich aufeinander verlassen können. Mochte auch die Schwerkraft eines Tages aufgehoben, die Lichtgeschwindigkeit gebrochen werden, und Tod und Steuern von der Welt verschwinden – Peggy würde ihn noch stets daran erinnern, dass er rechtzeitig zum Essen kam, weil sie dienstags wieder Lachs gemacht hatte. Warrens Briefe waren wie die Nachricht, dass die Sonne nicht mehr aufging, die Welt sich nicht länger drehte und die Zeit stillstand.

Nur dass sie das nicht tat.

Peggy würde bald zurück sein, um mit ihm zu reden. Er wollte aber nicht mit ihr reden; er wollte mit niemandem reden. Er wollte auch niemanden sehen. Alles, was er wollte, war, zu verschwinden.

Er musterte den ausgebauten Minivan-Sessel inmitten der Getränkekisten.

Die Zeit steht nicht still. Aber sie könnte – zumindest für mich.

Ellis ging zum Sicherungskasten und schaltete der Reihe nach seine selbstgebauten Überbrücker ein. Nun konnte er so viel Strom vom Elektrizitätswerk ziehen, wie er wollte, oder bis bei ihm die Drähte schmolzen. Er hoffte nur, dass im Umspannwerk nichts ausfiel, ehe er die benötigten Megawatt abgesaugt hatte. Die Lichter an der Decke wurden jetzt schon merklich schwächer. Das Summen, das in der Werkstatt erklang, erinnerte ihn an das Geräusch unter einer Überlandleitung.

Als Nächstes legte er seinen Mantel ab und verstaute ihn unter dem Kabelsalat. Alles, was er sonst noch brauchte, stand bereit; er hatte schon vor Monaten gepackt. Ein letztes Mal noch ließ er den Blick durch die Werkstatt schweifen, über den Kalender, über seine Welt. Er fühlte sich so einsam, als stünde er in einer Wüste. Es gab nur noch die Zeitmaschine – eine einzige Tür am Ende eines Flurs, der nur in eine Richtung führte.

Ellis baute die Getränkekisten um sich herum auf. Verstohlen schaute er dabei nach dem Poster der Mercury Seven. Ob sie sich genauso gefühlt hatten, als sie ihre Raumkapsel bestiegen hatten und ins Unbekannte aufgebrochen waren? Ihnen musste klar gewesen sein, dass nichts mehr so wie früher sein würde, weder für sie noch für den Rest der Welt.

Er setzte sich und legte seinen Gurt um.

Dann nahm er sein Tablet zur Hand und entsperrte es mit einem Fingerwischen. Er startete die spezielle App, die er geschrieben hatte, und überprüfte die Werte.

Geh bitte nicht weg oder mach was Verrücktes, okay?

Wieso nicht? Wie schon Janis Joplin einst sang: »Freedom’s just another word for nothing left to lose.« Freiheit hieß, dass man nichts mehr zu verlieren hatte.

Der rote Startknopf auf seinem Steuerpult leuchtete auf – alle Systeme waren bereit. Seine Atlas-Rakete war startklar! Seine GLAMOROUS GLENNIShing im Bombenschacht der B-29 und wartete darauf, Geschichte zu schreiben …

Die Leute reisten jeden Tag durch die Zeit, ohne es überhaupt zu merken. Ruhende Körper etwas schneller, bewegte Körper etwas langsamer. Einstein hatte erkannt, dass Zeit und Raum miteinander verquickt waren – ähnlich der alten Weisheit, dass man, je mehr Geld man verdiente, umso weniger Zeit hatte, es auszugeben. Der Grund, weshalb es niemandem auffiel, war, dass die Unterschiede verschwindend gering waren. Doch würde man jemanden in einer Rakete zum nächsten Stern und wieder zurück schicken, dann würden, wenn für ihn zwanzig Jahre vergingen, auf der Erde Jahrhunderte verstreichen. Natürlich hatten die wenigsten Leute ein Raumschiff, aber es gab noch eine andere Möglichkeit, die Zeit zu beeinflussen – indem man ihre Beziehung zum Raum veränderte.

Anstatt sich zu bewegen, brauchte man nur in etwa die Masse von Jupiter so weit zu verdichten, bis sie fast schon ein schwarzes Loch bildete. Das enorme Gravitationsfeld krümmte den Raum und verlangsamte die Zeit. Der Reisende saß in einem geschützten Bereich in der Mitte wie im Auge eines Sturms, in dem die Winde der Zeit nicht bliesen, und wartete so lange wie gewünscht. Sobald er das Auge wieder verließ, befand er sich in der Zukunft. Natürlich war diese Methode nicht ohne Tücken – doch Hoffmann hatte einen Weg gefunden, ein eingedämmtes Gravitationsfeld zu erzeugen, das nicht einfach alles in seiner Nähe verschlang … und die Person in seinem Zentrum vor der kritischen Masse beschützte.

Dabei kam ein elektromagnetisches Feld zum Einsatz, das den Zeitreisenden über die elektrostatische Repulsion gleichnamiger Ladungen isolierte. Wenn etwas schiefging und der Schwerkraftschlund begann, seine Umgebung aufzusaugen, würde die Stromversorgung als Erstes zerstört werden und damit automatisch alles abschalten – die perfekte Sicherung. Dennoch sah sich Ellis denselben Gefahren wie die großen Pioniere der Luft- und Raumfahrt gegenüber. Ging trotzdem etwas schief, konnte es im Handumdrehen mit ihm vorbei sein.

Der wirklich gefährliche Teil kam zum Schluss: Ellis hatte sein Tablet so programmiert, dass es seine Position in Zeit und Raum miteinander abglich und er das Auge des Zeitsturms am selben Ort wieder verließ, an dem er es auch betreten hatte. Diese Berechnungen waren am schwierigsten gewesen. Nicht nur musste er die Erdrotation berücksichtigen, sondern auch die Bahn der Erde um die Sonne und die Bewegung des Sonnensystems und der Galaxis durchs All. Wenn er sich vertan hatte, kam er womöglich im Inneren eines Sterns oder – was noch wahrscheinlicher war – irgendwo im weiten Vakuum des Weltraums heraus.

Als Ankunftszeit hatte Ellis in zweihundert Jahren und acht Monaten gewählt – die acht Monate, damit er im Sommer statt im Herbst ankam. Für das genaue Ergebnis gab es allerdings keine Gewähr. Mehrere Variablen konnten den Zeitsprung beeinflussen: Die Energieversorgung, die Akkukapazität, die Verkabelung, ja selbst die Luftfeuchtigkeit mochten sein Ankunftsdatum um ein paar Jahre verschieben.

Ellis hob den Finger. Er zitterte. Gebannt starrte er auf den leuchtenden Startknopf. Dann war es endlich so weit: Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber, er sah seine Mutter, sah seinen Vater, sah sich selbst im College, dann mit einem acht Pfund schweren Isley auf dem Arm. Er sah sich, wie er seinem Sohn das Radfahren beibrachte. Er sah Peggy im Skigebiet von Mt. Brighton, mit Schneeflocken im Haar und roten Wangen, wie sie sich lachend an ihm festhielt, als ginge es um ihr Leben. Sie lachten gemeinsam. Sie hatten nicht mehr so gelacht, seit …

Trauer, Reue, Wut und Enttäuschung – der Schmerz griff tief in seine Brust und packte sein Herz. Sein Atem ging schwer. »Gute Nacht, ihr Lieben«, murmelte er und drückte den Knopf.

3Lieber heute als morgen

Das Erste, was geschah, war, dass die Deckenleuchten mit einem Knall erloschen. Wahrscheinlich hatte es gerade die Sicherungen im Umspannwerk rausgehauen und das halbe Viertel war nun ohne Strom. Sonst passierte nichts.

Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. Dann aber merkte er, dass das Lämpchen in seinem Zündknopf noch brannte und das Summen immer lauter wurde. Der Aerostar-Sessel vibrierte wie ein münzbetriebenes Massagebett, und alles vor seinen Augen verschwamm. So sehr er auch daran glauben wollte, dass die Zeitmaschine funktionierte, sein Verstand sagte ihm das Gegenteil. Es war wie die berühmte Falschmeldung der Chicago Tribune nach der Präsidentschaftswahl von 1948: DEWEY BESIEGT TRUMAN. Dabei verrieten ihm all seine Sinne, dass irgendetwas passierte.

Durch das Gitter der Getränkekisten konnte Ellis immer noch Teile des Mercury-Seven-Posters erkennen, nur dass es nicht mehr so aussah wie vorher. Es schien seine Farbe zu ändern, bläulich zu werden. Die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster zerfiel in ihre Einzelfarben. Dann nahm er Bewegungen wahr: langsam kriechende Schatten wie in einer Zeitrafferaufnahme. Sie rasten nicht auf ihn zu oder zuckten an ihm vorbei, sie bewegten sich nur geringfügig, aber rasch genug, dass man zuschauen konnte. Die Zeit außerhalb der Kisten verstrich also schneller als innerhalb. Er hatte sein Gravitationsfeld errichtet, es war eingedämmt und stabil, und er selbst saß isoliert in seiner Mitte. Das erkannte er schon daran, dass er noch am Leben war.

Er schaute auf sein Tablet, wo die Ziffern mit jeder Sekunde schneller wechselten. Sobald der Timer abgelaufen war, sollte das Programm automatisch sowohl das Feld als auch den elektrostatischen Schutzmantel abschalten. Doch was würde dann passieren?

Es gab kein Zurück mehr.

Er saß nun seit gut fünf Minuten in der Zeitmaschine. Was, wenn Peggy jetzt nach Hause kam? Würde sie ihn sehen können? Er sollte sich bereits durch die Dimensionen bewegen, doch da er die Werkstatt noch sah, wenn auch verschwommen, mochte auch sie noch sein geisterhaftes, regloses Abbild erkennen, gefangen in dem Augenblick, in dem er den Knopf gedrückt hatte. Sobald er eine bestimmte Grenze überschritten hatte, würde er vielleicht in einem Lichtblitz verschwinden, so wie das Raumschiff Enterprise.

Wie lange wird das wohl noch dauern? Besser, es passiert schnell …

Wie auf Kommando gab es einen Ruck und ein Geräusch wie von einem Güterzug. Alles wurde erst grell hellblau und dann weiß. Als das Geräusch dann verklang, war ihm, als befände er sich im freien Fall. Vielleicht schrie er, doch wenn, dann hörte er es nicht. Sein Verstand wurde von einem einzigen Gedanken erfüllt.

So fühlt es sich also an, wenn man stirbt.

Ellis war sich nicht sicher, ob er das Bewusstsein verloren hatte und ob der Begriff Bewusstsein überhaupt noch anwendbar war. Der Geist des Menschen, ob nun ein Produkt der Evolution oder eine Schöpfung Gottes, war definitiv nicht darauf ausgelegt, mit so etwas umzugehen. Die menschliche Auffassung von Realität war nur bis zu einem gewissen Grad flexibel. Es gab Grenzen des Verstehens, und ohne klare Bezugspunkte war seine Reise durch die Welt auf der anderen Seite des Spiegels nur ein verschwommenes Schattenspiel.

Selbst die Dauer war schwer einzuschätzen. Der Verstand war so von seiner Umgebung abhängig, dass ohne sie selbst die Zeit an Bedeutung verlor. Hätte er früher daran gedacht, hätte er vielleicht seine Atemzüge oder einen stillen Taktschlag wie von einer Uhr mitzählen können. Doch solche Überlegungen waren viel zu vernünftig für das, was er gerade erlebte. Ellis war kein Astronaut, der darauf trainiert war, dem Außergewöhnlichen mit ruhiger Gelassenheit zu begegnen. Er legte das Tablet weg, packte die Lehnen seines Sitzes, biss die Zähne zusammen und betete, während Jahre wie helle Geistesblitze am ihm vorüberzogen.

Ellis war ein gläubiger Methodist. Nicht, dass er die Bibel je komplett gelesen oder ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Allmächtigen geführt hätte, wie seine Mutter das gern formuliert hatte. Das war aber auch gar nicht nötig. Er war auch noch nie in Frankreich oder wenigstens in Les Misérables gewesen und trotzdem ziemlich sicher, dass Paris existierte. Als Isley noch lebte, war er regelmäßig mit Peggy zur Kirche gegangen. Nach seinem Tod nur noch seltener, und die letzten zehn Jahre fast gar nicht mehr.

Er hatte sich von Gott wohl genauso entfremdet wie von seiner Frau. Doch als er da auf seinem Blitz von der Masse Jupiters durch eine sinnverwirrende Realität ritt, verspürte er auf einmal den dringenden Wunsch, sich wieder bei ihm zu melden. Wahrscheinlich bekam Gott eine Menge solcher nächtlicher Anrufe, besonders von Betrunkenen: Oh, Kacke! Gott, ich brauch deine Hilfe. Ich hab richtig Scheiße gebaut – o verdammt. Tut mir echt leid, dass ich grad geflucht hab – scheiße, schon wieder!

Eigentlich seltsam, dass er nicht schon früher gebetet hatte. Ein Todesurteil wie das seine hätte das eigentlich motivieren sollen, aber statt zu einem Geistlichen in die Kirche war er zu Warren in die Bar gegangen. Wahrscheinlich wusste Gott aber auch so Bescheid. Was für ein mieser Job, sich jeden Tag das Gejammer der ganzen Welt anhören zu müssen. Alle bettelten sie um ihr Leben oder um das eines geliebten Menschen, als ob sie nicht genau wüssten, worauf sie sich eingelassen hatten. Doch so sehr er es auch ablehnte – die Angst wog schwerer als der Stolz, und Ellis hatte eine Sterbensangst in diesem Moment. Gott war alles, was er noch hatte, und so betete er, zum ersten Mal seit vielen Jahren.

Als Erstes kehrten die Geräusche zu ihm zurück, ein Summen, das sich zu einem gellenden Pfeifen steigerte, von dem ihm die Ohren schmerzten. Er vergrub die Finger im Sitzpolster, sog Luft zwischen den Zähnen durch und kniff die Augen zusammen. Dann gab es einen explosionsartigen Donnerschlag um ihn herum, und er spürte einen letzten Stoß.

Dann Stille.

Die Vibrationen hatten ebenfalls aufgehört. Er fühlte sich wie betäubt. Es war so ähnlich, wie nach einer langen Fahrt am Steuer das Auto abzustellen. Dann schlug er die Augen auf. Er wusste nicht, was er erwarten sollte: eine Höllenlandschaft zerstörter Ruinen, eine Megalopolis von Türmen und Lichtern, zwischen denen fliegende Autos dahinrasten, oder die Himmelspforte und Petrus, der ihm die Hand schüttelte und ihn mit einem starken Südstaatenakzent willkommen hieß: »Ich muss schon sagen, bist ganz schön früh dran, Junge!« Was er stattdessen sah, überraschte ihn, auch wenn es das vielleicht nicht hätte tun sollen.

Er sah die Getränkekisten.

Sie waren immer noch da. Ansonsten wäre er wohl auch tot gewesen. Dennoch wirkten sie seltsam, irgendwie verzogen, so wie seine Werkstatt, kurz bevor dann alles weiß geworden war. Er fragte sich, ob sich die Zeit immer noch krümmte. Erst nach einem Moment wurde ihm klar, dass das Plastik ganz einfach geschmolzen war. Die Kisten waren zusammengebacken, leicht gestaucht, und hatten Schlagseite. Es stieg auch etwas Rauch von ihnen auf. Es roch genau wie damals im Werkunterricht auf der Highschool, als sie Briefbeschwerer aus Kunststoff hergestellt hatten. Doch jenseits der Kisten war nichts mehr wie zuvor. Anscheinend befand er sich nicht mehr in seiner Werkstatt, sondern im Freien. Eine frische Brise verwehte bereits den Rauch, und Ellis konnte das leise, beruhigende Rauschen von Blättern im Wind hören.

Die Reise war vorbei. Er hatte es geschafft, obgleich sich erst noch zeigen musste, was genau es eigentlich war. Er löste den Gurt und stand auf. Die Kisten ließen sich aber nur noch am Stück bewegen, sodass er mehrmals heftig dagegentreten musste. Noch beim Hinauskriechen stellte er fest, dass er mit seinem Flanellhemd, den Jeans und dem Pulli für das hiesige Klima deutlich zu warm angezogen war.

Die meisten Wälder, die Ellis bislang betreten hatte, waren relativ junge Birken- und Ahornwälder gewesen. Als Kind hatte er in der Schule gelernt, dass die alten Wälder Michigans und anderswo schon im neunzehnten Jahrhundert gefällt worden waren. Holz war ein Rohstoff, eine Ware wie Mais oder Vieh, und abgesehen von ein paar Nationalparks hatten die wenigsten Amerikaner je einen alten, naturbelassenen Wald gesehen. Einmal hatte ihn sein Vater zum Campen mit in den Norden genommen – das war ein Wald gewesen. Kiefern, so weit das Auge reichte, eine endlose Reihe erhabener Stämme, zwischen denen dichte Farne wuchsen. Ellis hatte sich vorgestellt, dass dieser Wald niemals aufhörte, und der Gedanke, sich darin zu verlaufen wie Max in Wo die wilden Kerle wohnen hatte ihm Angst eingejagt. Dabei waren selbst die Kiefern nicht allzu groß gewesen, und ihre Anordnung hatte einem gewissen System gehorcht.

Als er nun aus dem Kistengewirr hervortrat, begriff Ellis, dass die Nadelwälder Nordmichigans verglichen mit hier kaum mehr als ein überwuchertes Grundstück gewesen waren. Er fühlte sich mickrig wie eine Ameise zwischen all den unermesslich hohen Baumstämmen, die sich über ihm im Dunkel des Blätterdachs verloren, so wie Wolkenkratzer im Dunst verschwanden. Die Riesenbäume schienen vor sich hinzubrüten, wie sie da auf ihren knorrigen Wurzeln von den Ausmaßen mehrerer Kleinwagen kauerten. Das spärliche Unterholz bestand vor allem aus Moos und Farnen. Er war am richtigen Platz herausgekommen: zehn Meter weiter links, und er wäre buchstäblich eins mit der Natur gewesen. Zwar sollte der Wiedereintrittsalgorithmus den Zielpunkt wenn nötig verschieben, um solche Kollisionen zu vermeiden, andererseits hatte ihn auch das Navigationsgerät seines Autos schon fast in einen See geleitet, den es für eine Tankstelle gehalten hatte. Doch ob es nun seine Berechnungen oder reines Glück gewesen waren, die ihm das Leben gerettet hatten, er freute sich über das Resultat.

Die Luft war von feuchtem Nebel erfüllt, den das fahle Mondlicht nicht vertrieb, sondern nur erhellte. Das weiche Licht schimmerte auf dem Rücken der Moose, die den ganzen Boden bedeckten und verstreute Äste und Felsen in Sitzkissen verwandelten. Ranken hingen in trägen Schlingen von den Bäumen, Laub sammelte sich in den Furchen und allerorten kletterte der Efeu. In der Ferne, über dem vertrauten Geräusch von Grillen, hörte er das Krächzen unbekannter Vögel.

Ich bin Luke Skywalker, abgestürzt auf Dagobah.

Einen langen Moment stand Ellis nur da, starrte in den Nebel hinaus und atmete die feuchte Luft. Was ist passiert? Habe ich es vermasselt? Bin ich doch in die Vergangenheit gereist? Gibt es hier Saurier? Wohin er auch blickte, es sah aus wie ein Diorama im Naturkundemuseum, das den Zweikampf eines Triceratops mit einem Tyrannosaurus Rex zeigte. Es war warm und schwül wie im Regenwald, wobei das auf Detroit im Juli ebenfalls zutraf.

Oder bin ich am falschen Ort rausgekommen? Es könnte einen Fehler mit der Synchronisation gegeben haben. Theoretisch könnte er sonst wo sein, sogar auf einem anderen Planeten, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür verschwindend gering war. Da er sich schon mal nicht im Weltall befand, wertete er diesen Teil des Experiments als Erfolg. Wie es so schön hieß: Jede Landung, nach der man noch laufen kann, ist eine gute Landung.

Wenn er also immer noch am selben Fleck war, wo einst seine Werkstatt gestanden hatte, blieb nur die Frage: Wann war er herausgekommen? Hoffmann sagte, Reisen in die Vergangenheit seien unmöglich, also musste dies wohl die Zukunft sein – aber wann? Kann das hier wirklich Detroit in gerade mal zweihundert Jahren sein?

Ellis lehnte sich an die noch warmen Plastikkisten und dachte an den alten Song von Zager & Evans: »In the year 2525, I’m kinda wonderin’ if man is gonna be alive … Vielleicht war etwas Schreckliches passiert. Vielleicht war er allein, ganz allein, der letzte Mensch auf der Welt.

Der Aberwitz dieser Vorstellung entlockte ihm ein nervöses Lachen.

Dann musste er husten.

Eigentlich wollte er lieber keinen Lärm an diesem fremden Ort machen – besser nichts aufschrecken. Doch er konnte nicht anders. Ellis wurde von einem schlimmen Hustenanfall geschüttelt.

Da hörte er, wie sich etwas bewegte. Ein lautes Krachen und das Brechen dicker Zweige. Dann wieder – ein dumpfer Schlag, und abermals brechendes Holz. Die Geräusche bewegten sich von ihm weg, wurden leiser. Ein letztes fernes Krachen, dann lauschte er gebannt, hörte aber nichts mehr. War es ein Tier gewesen?

Sein Hals schmerzte vom Husten. Er schmeckte Blut auf der Zunge und spuckte aus.

Was mache ich jetzt bloß?

Wäre es möglich gewesen, wäre Ellis vielleicht zurückgereist. Das hier war nicht, was er sich erhofft hatte. Die Zukunft hätte doch fortschrittlicher sein sollen. Er hatte Fahrsteige erwartet, Raketenrucksäcke und Nonstopflüge zu den Saturnmonden. Zumindest war dies seine Wunschvorstellung gewesen. Er hatte auch eine chaotische, postapokalyptische Welt in Betracht gezogen, die von blutrünstigen Rockern mit Irokesenschnitt auf Motorrädern durchstreift wurde. Nicht, dass das besser gewesen wäre – aber wenigstens verständlich.

»Ganz ruhig«, flüsterte er. Den Klang seiner eigenen Stimme zu hören half ein wenig.

Noch weiß ich gar nichts. Ich kann keinen ganzen Planeten aufgrund eines einzigen Ortes beurteilen.