Zelle 14 - Salomon Bernhard - E-Book

Zelle 14 E-Book

Bernhard Salomon

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Beschreibung

Sie tötet zwei Männer und bekommt dafür lebenslänglich. In einem Gefängnis für geistig abnorme Rechtsbrecher verliebt sie sich in einen Häftling und er sich in sie. Der Autor besuchte eine Mörderin Estibaliz Carranza, bekannt als "Eislady", vier Jahre lang und notierte alles, was sie ihm über sich und ihre heimliche Beziehung erzählte. Ein aufregender Tatsachenroman über eine Liebe im Gefängnis und die Seele einer Verbrecherin.

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Bernhard Salomon: Zelle 14

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover und Gestaltung: JaeHee Lee

Satz: Lucas Reisigl

Lektorat: Angelika Slavik,

Maximilian Hauptmann

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

»Zelle 14« erzählt wahre Begebenheiten. Zum Schutz der Privatsphäre handelnder Personen, aus rechtlichen Gründen oder aus Gründen der leichteren Verständlichkeit sind Namen, persönliche Merkmale, Ereignisse, zeitliche Abläufe und Dialoge teilweise verändert.

ISBN Druckversion 978-3-99001-284-0

ISBN E-Book 978-3-99001-306-9

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Dieses Buch entstand auf Basis von mehr als hundert Gesprächen, die ich mit der Mörderin Estibaliz Carranza in den Jahren 2014 bis 2018 in der Strafvollzuganstalt Schwarzau am Steinfeld, im Forensischen Zentrum Asten sowie telefonisch geführt habe.

Bernhard Salomon,September 2018

DNA

Meine spanische Großmutter, die Mutter meiner Mutter, war noch jung, als ihr Mann an einem Herzinfarkt starb. Seine Familie trieb sie und ihre beiden Kinder aus dem Haus. Es gehörte ihr nicht und sie hatte kein Bleiberecht. Sie musste auf die Straße. Mit dem, was sie tragen konnte, und um das musste sie noch kämpfen. Ihre eigenen Eltern halfen ihr nicht.

Du hast geheiratet, sagten sie. Jetzt sieh zu, wo du bleibst.

Im Spanien der 1930er-Jahre erforderte schon der Abschluss eines Mietvertrages einen Mann. Frauen konnten kaum für sich sorgen. Es gab keine vernünftige Arbeit für sie. Deshalb litt meine spanische Großmutter mit ihren Kindern Mangel. Viele Jahre lang.

Sie wurde 72. Sie lebte noch, als ich klein war. Ich erinnere mich an eine aufopferungsvolle Frau mit dem drahtigen Körper der Basken. Mit dem hartnäckigen Schatten zerstörter Träume im Gesicht.

Meine Statur habe ich von ihr. Manchmal sehe ich mich im Spiegel an. Und grüße sie.

Meine mexikanische Großmutter, die Mutter meines Vaters, wurde ledig schwanger. Im Mexiko der 1930er-Jahre war eine ledige schwangere Frau schlimmer als eine Hure.

Der Vater ihres Kindes heiratete sie aus Gnade, doch es war keine. Er trank und spielte. Ein Dorfpolitiker mit unbegrenzter Macht in seiner begrenzten Welt. Kam er heim, schlug und schwängerte er sie. Drei Kinder brachte sie zur Welt.

Meine mexikanische Großmutter kam aus einer Familie mit einem Klavier. Sie hatte noch nie Wäsche gewaschen. Die Verwandten ihres Mannes waren Bauern. Sie demütigten sie.

Du kannst nichts, sagten sie. Du bist wertlos.

Sie hielten sie wie ein Tier. Sperrten sie ein, wenn ihnen danach war. Prügelten ihre Kinder so, dass sie ihr Geschrei hören konnte. Sie kratzte sich jedes Mal an den Wänden die Hände blutig.

Sie war stigmatisiert. Das Dreckstück der Familie. Geld bekam sie nur für das Allernötigste. Trotzdem sparte sie heimlich. Süßigkeiten für die Kinder waren der letzte Sinn ihres Lebens. Sie war 33, als sie an gebrochenem Herzen starb.

Ich habe sie nie gesehen, aber ich kenne Fotos von ihr. Sie war hübsch. Meine rotbraunen Haare und mein Porzellangesicht habe ich von ihr. Male ich ein Bild von mir, sehe ich es an. Und danke ihr.

Du bist wie deine Großmütter. Wie deine spanische und noch mehr wie deine mexikanische. Das haben sie mir gesagt. So bin ich aufgewachsen.

Es war immer leicht hingesagt, wie sie in Familien so etwas eben sagen. Doch es lag eine tiefere Wahrheit darin. Ein Omen. Denn auch mich haben sie schlecht behandelt. Ich war das Dreckstück zweier Männer.

Vorfahren geben mehr als ihre Statur, ihre Haarfarbe und ihr Gesicht an ihre Nachfahren weiter. Sie geben auch ihre Erfahrungen weiter. Selbst an Nachfahren, denen sie nie begegnen. Ihre Gefühle. Wut zum Beispiel, die sie selbst nie haben durften.

Das ist nicht bloß etwas, das alte Frauen einander erzählen. Es ist Wissenschaft. Die inneren Spuren deines Lebens machen etwas mit deiner DNA. Eine Generation bildet sich so in den nächsten Generationen ab.

Ich habe es in einem Buch gelesen. Mit meinem Seelsorger darüber gesprochen. Meine Psychotherapeutin hat auch so etwas gesagt. Meine Großmütter. Ich bin. Ein Racheengel.

BUS

Eintrag in mein Traumtagebuch, 18. Januar 2017.Ich habe von etwas Blassem geträumt. Es war blass wie Gras unter einem Stein.

Die Tür. Es ist hier immer so. Kein Klopfen. Nichts. Sie fliegt einfach auf.

Frau Carranza!

Ich habe mich gerade im Spiegel über dem Waschbecken betrachtet. Zähne geputzt. Im Pyjama. Bin ich noch schön? Habe ich noch diese eisklaren Augen? Dieses Gesicht wie aus Porzellan? Diesen Arsch, an dem sie irgendetwas finden? Ich weiß nicht was?

Mitkommen!

Eigne ich mich noch für die Titelseiten der Zeitungen?

Drei Beamte drücken mich an die Wand, ohne mich zu berühren. Zwei Justizwachebeamte von hier und ein Sicherheitsbeamter, den ich noch nie gesehen habe. Mit ihren Stimmen füllen sie den Raum.

Sofort!

Sie können einfach kommen. Wie zu Tieren im Stall. Die Tür kannst du nicht absperren. Selber schuld, wenn du gerade nackt bist. Deshalb ziehe ich mich immer am Klo um.

Wir haben Befehl, Sie zu überstellen, sagt der Sicherheitsbeamte.

Ich schaue durch den Spiegel zum Tisch.

Nehmen Sie nur mit, was Sie heute brauchen, sagt er.

Am Tisch stapelt sich, was ich für die Reise vorbereitet habe. Obenauf ein T-Shirt von Dolce & Gabbana. Klara, die lange meine beste Freundin war, hat es mir geschenkt.

Viele meiner Sachen sind von ihr. Auch Schmuck. Sie hat immer gerne eingekauft. Einmal gab sie mir einen Schal und ein Sweatshirt von Gucci. Mit den Preisen noch dran. Du kannst es dir leisten, dachte ich. Aber Klara. Danke.

Meine Malsachen. Mein Traumtagebuch. Ein Notizbuch. In meinem Notizbuch führe ich Listen über alles Mögliche. Manchmal schreibe ich Gedichte hinein oder notiere einfach Sätze, die sich reimen.

Trotz meiner spanischen Muttersprache schreibe ich Deutsch. Mein Wortschatz reicht dafür. Meine Grammatik ebenfalls. Die Satzzeichen verwende ich nach Gefühl. Meistens passt das. Nur wenn ich nervös bin, komme ich dabei manchmal durcheinander.

Briefe von Werner. Die kommen auch mit. Ein bisschen viel Glitzer und Herzchen sind daran. Er mag das. Triffst du ihn auf der Straße, glaubst du das nicht. Ernster Blick. Kräftige Statur. Dunkle Haare. Merklich älter als ich.

Kommen Sie jetzt!

Der Sicherheitsbeamte ist groß. Breitschultrig. Die blaue Uniform steht ihm. Er könnte gelassener sein. Dann stünde sie ihm noch besser.

Ich dachte, wir fahren erst morgen?

Wir fahren jetzt.

Nehmen wir meine Sachen gleich mit. Dann braucht morgen niemand extra zu fahren.

Er wendet sich wortlos ab und tritt mit den anderen hinaus auf den Gang. Als würde die Leere hinter ihnen einen Sog erzeugen, folge ich ihnen. Mit meiner Zahnbürste und mit Unterwäsche für morgen.

Sie behandeln mich wie eine Terroristin. Anweisungen bellen. Als wäre alles andere gefährlich. Als könnte ich Freundlichkeit, würde einer von ihnen sie zeigen, benützen. Um in sie einzudringen und mit ihnen zu machen, was ich will.

Beim Eingang wartet Maria. Sie ist eine Beamtin von hier. Sie ist mir vertraut. Das tut gut um diese Zeit, um die ich sonst mit einem leichten Schlafmittel zu Bett gehe.

Wir Häftlinge tun nichts in Situationen wie dieser. Das weiß sie. Egal, wofür wir sitzen. Nicht einmal die unter uns, die als geistig abnorm gelten, tun etwas. Nicht einmal die Brandstifter, die als besonders gefährlich gelten.

Wir Häftlinge sind in Situationen wie dieser wie Schafe. Ich bin es besonders. Sagen sie mir links, gehe ich links. Sagen sie mir rechts, gehe ich rechts. Jahre in einem einzigen Gebäude. Musst du da raus, kannst du nur ein Schaf sein.

Die zwei Beamten von hier bleiben zurück. Der Sicherheitsbeamte begleitet mich mit Maria zum Ausgang. Ich frage ihn nach seinem Namen.

Dienstnummer.

Gehen Sie weg von der Beamtin, sagt er.

Keine Ahnung, welche Vorstellungen er von mir hat.

Ein silberfarbener Kleinbus. Wir haben den 18. Januar 2017. Ich in meinen Schlafsachen. Minus 10 Grad. Schiebetür. Maria und ich sitzen hinter dem Gitter, das die Vordersitze vom Fond trennt. Die Bankreihe hinter uns bleibt leer.

Viereinhalb Jahre, aber du blickst nicht zurück. Kein Gedanke an nichts. Justizanstalt Schwarzau am Steinfeld, Niederösterreich. Mit dem Auto vierzig Minuten von Wien entfernt. Viereinhalb Jahre vergessen in dem Moment, in dem du aufbrichst. Viereinhalb Jahre, die schon vor ihrem Beginn verloren waren und dennoch. Unmerklich in dich hineingeflossen sind.

Die Nacht um uns ist wie das Weltall für mich. Unbetretbare Zone.

Mir ist schlecht, sage ich.

Wir fahren weiter.

Bitte anhalten.

Wir fahren weiter.

Ich kotze auf den Boden.

Ich bin vielleicht noch schön, aber nicht jetzt.

Wir halten am Straßenrand. Der Beamte steigt aus. Öffnet die Schiebetür. Stellt sich mit ausgebreiteten Armen in die Öffnung.

Als könnte ich wegrennen, so wie ich bin.

Als könnte ich irgendwo da draußen hin.

Maria sieht ihn an. Bleib ganz ruhig, sagt sie ihm mit ihrem Blick. Es ist nicht mehr weit.

Maria hat mit mir und ein paar anderen Frauen getanzt. Im Sportraum der Justizanstalt Schwarzau. Sie hat vorgetanzt. Zumba. Forensisches Zentrum Asten, denke ich. Der nächste Planet im Weltall. Wir fahren weiter.

In Asten ist es gut, sagt Maria.

Das sagen sie alle. Ich traue dem trotzdem nicht. Nach drei Jahren Untersuchungshaft und viereinhalb Jahren Frauengefängnis erwartest du nicht mehr, dass Dinge besser werden. Mein Lebensziel in den vergangenen siebeneinhalb Jahren war. Jeden Tag überleben und sehen, dass nichts schlechter wird.

Asten heißt angeblich.

Erstens. Ein besseres Gebäude.

Zweitens. Bessere Haftumstände.

Drittens. Freundlichere Menschen.

Viertens. Mehr Freiheiten.

Fünftens. Mehr Besuchszeit.

Sechstens. Mehr Therapie.

Ich merke, dass uns der Beamte am Steuer zuhört.

Sie können, sage ich. Mit mir reden. Normal. Ich habe zwei Ohren.

Okay, sagt er.

Es wäre, sage ich. Nicht nötig gewesen. Dass ich im Pyjama hier sitze und den Wagen vollkotze. Während mir in meiner alten Zelle wahrscheinlich gerade jemand den Schmuck klaut.

Sie kriegen morgen alles wieder. Verlassen Sie sich darauf.

Gut. In dem Fall verzeihe ich Ihnen.

Er ist Mitte dreißig. Er lacht. Dann findet er die Adresse nicht. Asten, Technologiestraße 5. Irren durchs Weltall.

Bis es sich lohnt.

Endlich ein Gittertor.

Wir stehen lange davor.

Als wäre dieser Planet. Unbewohnt.

Ein Mann in Zivil von etwa vierzig Jahren, der aussieht wie Einstein. Er wirkt wie aus dem Bett gerissen. Seine Stimme ist trotzdem kräftig. Wie die von jemandem, mit dem du besser nicht spielst. Er streckt mir die Hand entgegen. Dr. Christoph Weber.

Ich frage mich. Was bin ich hier?

Wirklich ein Mensch? Oder doch wieder Tier?

Sie bringen mich in den Frauentrakt. Weber redet mit mir. Ich verstehe nichts. Alles ist neu.

Nach viereinhalb Jahren in einem Gebäude verhält sich deine Neurochemie in einem anderen, als hätten sie dich tatsächlich quer durchs Weltall auf einen fremden Planeten geschossen.

Viereinhalb Jahre lang immer nur das Personal der Justizanstalt Schwarzau. Jetzt Weber. Zwei Pflegerinnen in schwarzen Hosen und hellblauen Oberteilen. Eine neue Sprache. Der Akzent Oberösterreichs. Ich kriege nichts von dem, was Weber sagt, in meinen Kopf. Trotzdem nicke ich dauernd.

Meine neue Zelle. Weber erklärt mir anscheinend, was ich darf und was nicht. In welchen Fällen ich läuten muss. In welchen ich nicht läuten darf.

Tür zu. Da ist die Toilette. Da ist das Bett. Es ist schmal, aber sauber. Mehr brauche ich nicht.

Die Luft ist trocken. Ich schlafe schlecht.

Ich habe einen seltsamen Traum. Sobald meine Sachen da sind, denke ich noch im Traum, trage ich ihn in mein Traumtagebuch ein.

Es klopft.

Ich bewege mich nicht. Ich habe mir in der Nacht beim Umdrehen den Kopf an der Wand gestoßen. Das stört mich nicht. Ich kenne das von den Betten in anderen Zellen. Mit der Zeit nimmst du unbewusst Maß und passt dich an.

Ja, es klopft.

Was muss ich tun?

Frühstück, sagt draußen eine Frau. Sie können kommen.

Ich öffne die Tür.

Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen, Frau Carranza?

Schwarze Hose. Hellblaues Oberteil.

Ich starre die Frau an.

Ich kann mich nicht. Artikulieren.

Menschen, die mich begrüßen. Die normal mit mir reden. Vielleicht stimmt es, was sie sagen. Dass das Forensische Zentrum Asten nach außen ein Gefängnis und nach innen eine Klinik ist.

Bisher gab es hier nur Männer. Wir sind die neue Frauenabteilung hier. 14 Frauen, von denen ich einige schon aus der Justizanstalt Schwarzau kenne. Wir wohnen in Wohngruppen. Ein gemeinsames Wohnzimmer. Eine gemeinsame Küche. Eine gemeinsame Waschmaschine. Im Wohnzimmer stehen zwei Hydrokulturen, ein großer Flachbildfernseher und drei mit Kunstleder bezogene Dreiersofas.

Sie können auch in Ihrem Zimmer einen kleinen Fernseher haben, sagt ein Pfleger. Sie können einen kaufen. Es gibt ein Modell zur Auswahl.

Er lächelt.

Das Modell kostet 250 Euro, sagt er. Ein kleiner schwarzer Flachbildfernseher. Sie können auch beim Sozialdienst einen beantragen. Die vergeben kostenlos gebrauchte Geräte nach Verfügbarkeit. Es ist fast immer eines verfügbar.

Sie sind so freundlich hier. Sie nennen uns nicht Häftlinge, sondern Klienten. Sie nennen unsere Zellen nicht Zellen, sondern Zimmer. Die Pfleger haben gute Ausbildungen. Viele scheinen weit gereist zu sein und zu wissen, was so passiert. Sie strahlen Ruhe aus. Einige tragen Weiß statt der schwarzen Hosen und der hellblauen Oberteile. Die dürfen auch Medikamente ausgeben.

Die Beamten in den Uniformen bewachen vor allem das Tor. An meinem ersten Tag sehe ich nur einen von ihnen. Bei der Standkontrolle, die es in allen Gefängnissen jeden Tag gibt. Er geht mit einer Liste auf einem Klemmbrett durch und hakt Namen ab.

Frau Carranza, sagt er. Herzlich willkommen. Bei uns.

SYSTEM

Ich heiße Estibaliz Carranza. Ich bin 39 Jahre alt, halb spanisch, halb mexikanisch und aufgewachsen in Barcelona. Ich habe in Wien zwei Männer, die mich wie ein Dreckstück behandelt haben, mit einer Pistole erschossen. Zwei schnelle Tode. Schmerzlos. Ohne Ankündigung. Sie haben es nicht einmal gemerkt. Dass es für sie vorbei ist.

Eine Weile sah es so aus, als würden sie mich nie kriegen. Es gab keine Leichen. Wegen eines Wasserrohrbruchs im Keller unter meinem Eissalon flog ich auf. Installateure kamen und riefen die Polizei. Mir blieb nur die Flucht. Ich war 33, als sie mich in Italien verhafteten und zum ersten Mal Bilder von mir auf den Titelseiten auftauchten. Die junge Spanierin mit den kalten Augen. Die zwei Männer umgebracht und im Keller unter ihrem Eissalon eingemauert hat.

Bei meinem Prozess im großen Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichtes vertraten mich zwei Anwälte, die ich mir nie hätte leisten können. Das ist so, wenn du auf den Titelseiten bist. Die besten Anwälte stehen Schlange, um gratis für dich arbeiten zu dürfen. Der Aufmerksamkeit wegen. Die ist gut für ihr Geschäft.

Boulevard-Journalisten sezierten mein Leben. Sie sezierten meine Kindheit. Meine Jugend. Meine Beziehungen zu Männern. Meine Beziehung zu meinem damaligen Lebensgefährten. Stellten die Frage. Wie lange hätte er noch gelebt?

Vielleicht spürten sie, was ich wirklich bin. Konnten es nur nicht fassen. Sie nannten mich eiskalt. Am Ende kam ein Name dabei heraus. Eislady. So nannten sie mich von da an.

Eine Gerichtspsychiaterin sezierte mich ebenfalls. Meine Anwälte wollten mit einer schwierigen Kindheit argumentieren. Grober Vater. Prügelvater. Trauma. Normal bist du als Doppelmörderin, wenn du ein Kindheitstrauma hast. Mein Vater war einverstanden.

Wenn es dir hilft, eine mildere Strafe zu bekommen, ist es in Ordnung für mich, sagte er.

Mir fielen fünf weitere Gründe für ein Trauma ein. Ich sagte der Psychiaterin, ich wurde

erstens. Mit zwei Jahren fast entführt.

Zweitens. Mit fünf mit dem Tod bedroht.

Drittens. Mit neun unsittlich berührt.

Viertens. Mit 16 vergewaltigt.

Fünftens. Später noch einmal vergewaltigt.

In ihrem Katalog der seelischen Verletzungen reichte nichts davon für ein Trauma, das zwei Morde bedingt.

Wäre ich unansehnlich gewesen, wäre es vielleicht anders gelaufen. Mein Urteil wäre lebenslänglich gewesen. Oder sie hätten mich für unzurechnungsfähig erklärt. Dann wäre ich vielleicht in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses gelandet. Im ersten Fall könnte ich mich jetzt auf Freigänge in vier bis fünf Jahren einstellen. Im zweiten hätte ich jederzeit die Aussicht, als geheilt entlassen zu werden.

Doch ich bin schön. Im Gefängnis heiratete ich meinen Lebensgefährten Roland. Ich brachte ein Kind zur Welt, das wir vor meiner Verhaftung gezeugt hatten. Danach war ich ein Star. Bist du als Mörderin ein Star, kann dein Vater gar nicht so brutal gewesen sein, dass sie dich so davonkommen lassen.

Die Staatsanwaltschaft zeigte Fotos vom Keller unter meinem Eissalon. Aufgenommen, nachdem die Installateure die Polizei gerufen hatten und die Spurensicherung vor Ort gewesen war. Normalerweise tut die Staatsanwaltschaft so etwas nicht. Für mich machte sie eine Ausnahme. Dieser Anblick war dem Boulevard zu viel.

Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wiege 54 Kilo. Die Männer wogen 90.

Der Boulevard forderte die volle Härte. Ohne die volle Härte wäre das Justizsystem in Frage gestanden.

Das Urteil lautete lebenslänglich und Maßnahmenvollzug für zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher. Paragraph 21 Absatz 2 Strafgesetzbuch. Das bedeutet lebenslänglich plus Psychoknast so lange sie wollen. Mit diesem Urteil kommst du nie wieder heraus, wenn ihnen nicht danach ist. Mit diesem Urteil bist du es offiziell. Gefährlich für die Allgemeinheit.

Es ist das härteste Urteil nach der Todesstrafe, das du auf dieser Welt bekommen kannst. In skandinavischen Ländern zum Beispiel gibt es dieses Urteil nicht. In Österreich und Deutschland will es das Strafrecht so. In Deutschland heißt es Sicherungsverwahrung.

Die Therapie ist bei diesem Urteil deine einzige Chance auf Freiheit irgendwann nach lebenslänglich. Fakten und juristische Instanzen spielen dabei keine Rolle mehr, denn kein Blutbefund liefert Empathiewerte. Dieses Urteil unterwirft dich der Diktatur der Psychiatrie.

Die Gerichtspsychiaterin gelangte zu eindeutigen Schlüssen. Für sie war ich

erstens. Narzisstisch.

Zweitens. Manipulativ.

Drittens. Beziehungssüchtig.

Viertens. Histrionisch.

Die helle Seite der Welt seziert die dunkle, um sich über sie zu erheben. Die Aufgabe einer Gerichtspsychiaterin ist es dabei

erstens. Der Welt da draußen etwas zu geben, das sie darin bestärkt, normal zu sein.

Zweitens. Die Welt da draußen in der Illusion zu wiegen, dass der Abgrund benennbar, vermessbar und schubladisierbar ist.

Alle waren sich einig, dass ich die gerechte Strafe bekommen hatte und dass die Allgemeinheit sich vor mir schützen muss. Auch wenn sie nicht so genau wussten, was die Worte in meinem Gutachten bedeuteten.

Narzisstisch. Gerne im Mittelpunkt stehen.

Manipulativ. Dinge sagen, die so nicht oder nicht ganz stimmen, damit andere etwas denken, fühlen oder wollen, von dem du willst, dass sie es denken, fühlen oder wollen.

Beziehungssüchtig. Lieber eine fragwürdige als gar keine Beziehung haben und sich von einer in die nächste stürzen.

Histrionisch.Viel Drama um nichts machen.

Ich stehe gerne im Mittelpunkt. Es gefällt mir, dass ich den Boulevard fasziniere. Aber wer kann von sich sagen, dass ihm das egal wäre? Ich verstecke mich hinter Masken und wechsle sie. Aber tut das nicht auch jede Frau, die ihre Haare färbt und sich schminkt? Ich hielt nach dem Ende einer Beziehung die Zeit bis zur nächsten immer kurz. Aber wer hatte am Ende einer Beziehung noch nie den Wunsch, dass jemand kommt, der ihn rettet und mit dem. Alles besser wird? Ich mache manchmal Wirbel um Nichtigkeiten und steigere mich dabei selbst hinein. Aber übertreiben nicht schon die Kinder ihren Schmerz, um Aufmerksamkeit zu erregen?

Je genauer Ärzte deinen Körper untersuchen, desto mehr finden sie, das nicht ihren Normen entspricht. Bei Ihnen stimmt das nicht und das nicht, sagen sie dann. Du wirst zum Patienten, ohne dass dir etwas fehlt.

Mit deiner Seele ist es das Gleiche. Untersuchen Psychiater sie, pathologisieren sie, was sie finden. Würden sie die Seelen aller Menschen so genau untersuchen wie meine, wären die Straßen, die U-Bahnen, die Konzerthallen, die Häuser. Wäre die ganze Welt voller zurechnungsfähiger geistig abnormer Menschen.

Die Diktatur der Psychiatrie hat so nie jemand beschlossen. Sie ist entstanden. Sie hat sich eingeschlichen und niemand sieht hin. Sie ist ein Fehler im System.

Es stimmt schon.

Du sollst nicht töten.

Ich habe es trotzdem getan. Das gibt ihnen das Recht, mit mir nach ihrem System zu verfahren. Nur muss ihr System noch ein paar andere Fehler haben. Denn nichts, das sie bei mir gefunden haben, erklärt meine Taten.

REGELN

Drei Glastüren. Ein Gang. Eine vierte Tür. Dahinter öffnet sich ein heller Raum mit einer Terrasse. Nach drei Seiten Fenster vom Boden bis zur Decke. Ein paar runde Tischchen mit einfachen Stühlen. Eine Küchenzeile, die wenig benützt aussieht. Zimmerpflanzen. Zwei Getränkeautomaten. Ein Pfleger, der mich hergebracht hat, und ich.

Wir bleiben stehen und warten.

Das ist sonst der Besucherraum, sagt der Pfleger.

Nach fünf Minuten ist Weber da.

Frau Carranza.

Händedruck.

Er deutet auf eins der Tischchen.

Ich bin zittrig. Hoffe, dass ich das mit dem Sessel und dem mich Daraufsetzen richtig hinkriege. Es gibt Dinge, die verlernst du. Mit Höflichkeit umzugehen ist eines davon.

Weber spricht über Regeln. Er sagt, dass ich hier Freiheiten haben kann. Bei den Besuchszeiten zum Beispiel. Dass es dafür nur eine Voraussetzung gibt.

Lernen Sie, sich an Regeln zu halten, Frau Carranza, sagt er. Dann ist vieles möglich.

Ich kenne das. Ich kenne es aus den anderen Gefängnissen. Es ist das große Dogma. Damit fängt alles an. Mit dem Einhalten von Regeln.

Sie wissen, was du getan hast. Sie wissen, wozu du fähig bist. Sie wissen, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen du Regeln brechen kannst. Brichst du sie sogar hier im überwachten Raum, denken sie, wirst du es draußen in Freiheit erst recht tun.

Wer sich dagegen an Regeln halten kann, kann sich auch an diese halten.

Du sollst nicht töten.

Hältst du dich an die Regeln, winken dir Haftlockerungen. Im Forensischen Zentrum Asten gibt es dafür drei Stufen.

Stufe eins. Du kannst dich in der Anlage freier bewegen.

Stufe zwei. Du kannst bei begleiteten Freigängen gemeinsam mit einem Beamten einkaufen gehen, ins Kino gehen oder ein Konzert besuchen.

Stufe drei. Deine Freigänge sind unbegleitet. Du kannst sogar draußen arbeiten und musst nur noch zum Schlafen zurück.

Brichst du die Regeln, können sie dich bestrafen. Selbst wenn du wie ich die schwerste aller Strafen schon absitzt. Sie können dich zu einer Ordnungsstrafe in Form einer Geldbuße verurteilen.

Sie können dir den Alltag im Gefängnis erschweren. Dir den Fernseher wegnehmen. In der Justizanstalt Schwarzau haben sie mir

erstens. Die Besuche am Tisch (Tischbesuche) gestrichen und mir nur noch Besuche hinter Glas mit Telefon (Glasbesuche) gestattet.

Zweitens. Langzeitbesuche mit meinem Sohn abgelehnt.

Drittens. Meine Besuchszeit auf das gesetzlich vorgeschriebene Minimum von einer halben Stunde wöchentlich reduziert.

Viertens. Mein Fernstudium in Wirtschaftspädagogik an einer Universität in Barcelona gestrichen.

Fünftens. Mir meine Arbeit in der Gefängniswerkstatt weggenommen.

Wenn sie ein Handy bei mir fanden. Wenn eine Zeitung etwas über mich schrieb und sie dachten, ich hätte es veranlasst. So viel Gefängnis nach innen ist das Forensische Zentrum Asten also auch, entnehme ich Webers Worten.

Ich sehe ihn an.

Ich hätte kein Problem damit, mich an Regeln zu halten. Es ist nur so. Manchmal stehen sie mir im Weg. Mein Gehirn findet immer verlockende Argumente und Möglichkeiten, sie zu umgehen.

Weber spricht über Vertrauen. Ich soll ihm vertrauen.

Auch das wäre kein Problem. Weber scheint ein netter Typ zu sein. Bloß muss er sich einen anderen Job suchen, wenn ich ihm vertrauen soll. Es dürfte weder Staatsanwalt noch Polizist sein. Denn ist das Machtgefälle so, dass eine Seite alle Macht hat und die andere gar keine, ist Vertrauen für die Seite mit gar keiner Macht Selbstaufgabe. Das müsste ihm als Psychologen einleuchten.

Weber hat schon eine Hand am Tisch.

Haben Sie alles verstanden, Frau Carranza?

Ich müsste dankbar sein. Für dieses Gespräch und überhaupt. Es gab Zeiten, da haben sie solche wie mich einfach aufgehängt. Diese Gesellschaft hingegen will zwei Dinge von mir.

Erstens. Sie will mich bekehren. Zum Beispiel will sie mir zeigen, was Liebe ist. Ich sehe etwas in Männern, das sie nicht sind, sagen mir Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten. Das Ergebnis sei ein sich wiederholendes Muster. Alles fängt gut an und endet schlecht. Liebe ist, haben sie mir erklärt, eine Projektion meiner Sehnsucht auf einen anderen Menschen.

Zweitens. Sie will herausfinden, wie ich bin. Weber als Leiter des Forensischen Zentrums Asten ist weder Jurist noch Polizist, sondern Psychologe. Der Leiter der Frauenabteilung ist ebenfalls Psychologe. Sie führen hier Gespräche mit uns und dokumentieren sie, um Entwicklungen abzulesen.

Sie hat getötet, weil sie töten wollte. Diesen Befund gibt es nicht in ihrem Katalog. Der Abgrund wäre damit nicht mehr benennbar, vermessbar und schubladisierbar.

Ja, sage ich zu Weber. Ich denke, ich habe alles verstanden.

Er winkt einem Beamten der Torwache, der mich in meine Wohngruppe bringt. Der Fernseher läuft so laut, als wären hier alle schwerhörig.

Meine Großmütter, denke ich, meine baskische und meine mexikanische. Nur wer weiß, was sie ihnen angetan haben, kann mich verstehen.

NARBEN

Klara hatte immer diese zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit eins. Ihr Leben genießen. Die Villa am Kahlenberg mit Blick über Wien. Den Jaguar. Die Kreditkarte. Den Neid der anderen. Und den Preis dafür bezahlen. Wegsehen, wenn ihr Mann sie betrügt. Sich klein machen.

Möglichkeit zwei. Alles zerstören und sich selbst dabei wegwerfen.

Ich kann immer die verstehen, die alles zerstören.

Trage ich Klaras Sachen, ist das etwas Besonderes. Sie geben mir Kraft. Sie bringen mir Glück.