Zensur im Dienst des Priesterbildes - Jessica Scheiper - E-Book

Zensur im Dienst des Priesterbildes E-Book

Jessica Scheiper

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Beschreibung

Obwohl der Missionspater Jakob Crottogini SMB 1954 problemlos die Druckerlaubnis seines Diözesanbischofs erhalten hatte, gelangte seine empirische Studie "Werden und Krise des Priesterberufes" nie in den Handel - das Hl. Offizium verbot vorab jede Verbreitung. Dass im "Fall Crottogini" trotz der selten gewordenen Buchverbote eines der letzten Zensurverfahren vor Abschaffung des Index der verbotenen Bücher geführt wurde, hängt mit jenem Teil seiner Befunde zusammen, der u. a. sexuelle Probleme von Priesterkandidaten thematisierte. Die reichhaltig quellengestützte Rekonstruktion dieses Zensurfalls ist daher nicht nur von kirchenrechtlichem und zensurhistorischem Interesse. Vielmehr ergibt die zeitgeschichtliche Kontextuierung wichtige Einblicke in die Grundlagen und Probleme der Priesterausbildung wie in das ambivalente Verhältnis der katholischen Kirche zur empirischen Sozialforschung.

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Jessica Scheiper

Zensur im Dienst des Priesterbildes

Der „Fall Crottogini“

Forschungen zurKirchenrechtswissenschaft

Band 42

Begründet vonHubert Müller und Rudolf Weigand

Herausgegeben vonBernhard Sven Anuth und Georg Bier

Jessica Scheiper

Zensur im Dienstdes Priesterbildes

Der „Fall Crottogini“

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburgopy

www.echter.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN

978-3-429-05351-2

978-3-429-05009-2 (PDF)

978-3-429-06419-8 (ePub)

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2018/19 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet.

Mein Dank gilt allen, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben. Besonders danke ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. Norbert Lüdecke, der mich zur Bearbeitung dieses Themas angeregt und den Verlauf zu allen Zeiten konstruktiv begleitet hat. Ohne seine Unterstützung wäre das Projekt in dieser Form nicht möglich gewesen. Herrn Prof. em. Dr. Gerhard Höver danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft danke ich den Herren Professoren Dr. Bernhard Sven Anuth und Dr. Georg Bier. Mein Dank gilt auch den vielen Archivarinnen und Archivaren, die die Archivrecherchen ermöglichten, allen voran Frau Elisabeth Vetter, der Archivarin der Missionsgesellschaft Bethlehem im Staatsarchiv Luzern. Für die Unterstützung der studentischen Hilfskräfte am Kirchenrechtlichen Seminar der Universität Bonn bin ich ebenfalls sehr dankbar. Herrn Dr. Michael Karger sei für die Mühe des Korrekturlesens gedankt. Die Erzdiözese Köln hat mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss zur Publikation beigetragen.

Von Herzen möchte ich mich schließlich bei meinem Mann für die vielfältige Unterstützung, den Rückhalt und seine Geduld bedanken. Ihm und meinen Großeltern, Margarete und Johannes Knöß, sei die Arbeit gewidmet.

Bonn/Königswinter, im Dezember 2018

INHALTSVERZEICHNIS

0. Einleitung

0.1 Formalia

0.2 Problemstellung

0.3 Forschungsstand, Quellen und Methode

0.4 Ziel und Schrittfolge

Erster Teil

1. Biografie

1.1 Kindheit und Ausbildung (1919–1940)

1.2 Noviziat und Studium (1940–1954)

1.3 Gymnasiallehrer und Novizenmeister (1954-1967)

1.4 Generalvikar (1967–1981)

1.5 Missionseinsätze (1982–1996)

1.6 Rückkehr in die Schweiz (1996–2012)

2. Das Dissertationsprojekt „Werden und Krise des Priesterberufes“

2.1 Genese des Themas

2.1.1 Das Priesterbild

2.1.2 Die Priesterausbildung

2.1.2.1 Die Priesterausbildung nach dem Dekret des Konzils von Trient

2.1.2.2 Die Priesterausbildung nach dem CIC/1917

2.1.2.2.1 Gemeinrechtliche Fixierung

2.1.2.2.2 Gehorsam als Berufungsbeweis

2.1.2.2.3 Sexualität und Priesterausbildung

2.1.2.2.3.1 Gesellschaftliche und kirchliche Vorprägungen

2.1.2.2.3.2 Sexualität in der Priestererziehung?

2.1.2.2.4 Aufkeimendes Problembewusstsein

2.2 Die Dissertation

2.2.1 Die Methodik

2.2.1.1 Der Fragebogen

2.2.1.2 Die praktische Durchführung

2.2.1.3 Die Auswertung der Erhebung

2.2.2 Der Inhalt

2.2.3 Das Promotionsverfahren und die geplante Veröffentlichung

2.3 Rezeption

2.3.1 Rezensionen

2.3.1.1 „Schweizerische Kirchenzeitung“

2.3.1.2 „Herder Korrespondenz“

2.3.1.3 Weitere (unveröffentlichte) Rezensionen

2.3.1.3.1 „Oberrheinisches Pastoralblatt“

2.3.1.3.2 „Mitteilungen für Seelsorge und Laienarbeit im Bistum Limburg“

2.3.1.3.3 „Kölner Pastoralblatt“

2.3.1.3.4 „Archives de sociologie des religions“

2.3.2 Konsequenzen

3. Kirche und Soziologie in der Nachkriegszeit

3.1 Sittlichkeit als regulierte Sexualität

3.2 Repressiver Kircheneinfluss

3.3 Zur Soziologie in den 1950er Jahren

3.3.1 Die Anfänge kirchlicher Statistik im konfessionellen Konflikt

3.3.2 Katholische Soziographie

3.3.2.1 Katholische Rahmenbedingungen: Wahrheitsmonopol und Zensur

3.3.2.2 Schnittstellen und Grenzen von Soziographie und Demoskopie

Zweiter Teil

4. Der „Fall Crottogini“

4.1 Das erteilte Imprimatur (September 1954)

4.2 Erste Bedenken (Mai 1955)

4.3 Eine Frage der Opportunität (Juni 1955)

4.4 Denunziation beim Hl. Offizium (Mai/Juni 1955)

4.5 Thema der Schweizer Bischofskonferenz (Juli 1955)

4.6 Ein erstes Verbot (Ende Juli 1955)

4.7 Erste Überarbeitungen (August 1955)

4.8 Kein Imprimatur (Oktober 1955)

4.9 Neue Überarbeitungen für das Hl. Offizium (Februar 1956)

4.10 Das Verbot (Juni 1956)

4.11 Verbleibende Möglichkeiten? (Ab Juni 1956)

4.12 Unter der Ladentheke

5. Crottogini, der Priesterberuf und die 1960er Jahre

5.1 Eine Reform des Index?

5.2 Der Index auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil

5.3 Alternative Kontrollmaßnahmen – Ein Monitum für Crottogini?

5.4 Das Ende des Index

6. Zusammenfassung, Würdigung und Ausblick

6.1 Zusammenfassung

6.2 Würdigung und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Sekundärliteratur

Register

Stellenregister

Personenregister

Sachregister

0. EINLEITUNG

0.1 Formalia

Die verwendeten ungedruckten Quellen aus Archiven werden in den Fußnoten der jeweiligen Kapitel eingeführt, während im Quellenverzeichnis die Akte angezeigt wird. Einzig die Schriftstücke aus dem Nachlass Jakob Crottoginis aus dem Staatsarchiv Luzern, die sich gebündelt entnehmen ließen bzw. bereits Überschriften aufwiesen, sind im Quellenverzeichnis einzeln aufgeführt. Für diese Quellen, gedruckte Quellen und auch für die Sekundärliteratur werden schon bei der erstmaligen Angabe Kurztitel verwendet. Soweit der Kurztitel nicht aus dem ersten eigenständigen Substantiv besteht, wird er in Klammern im Quellen- bzw. Literaturverzeichnis unter dem dazugehörigen Titel vermerkt.

Bei Zitaten in ungedruckten Quellen werden offensichtliche Tippfehler korrigiert und der heutigen deutschen Orthografie angepasst.1 Die schweizerische Orthografie in den einzelnen Schriftstücken wird nicht an die deutsche angepasst. In den gedruckten Quellen und der Sekundärliteratur werden Fehler in der Orthografie oder Grammatik mit [sic!] gekennzeichnet. Die Anzahl unlesbarer Zeichen in den ungedruckten Quellen wird mit „[:]“ wiedergegeben.2 „Wenn die Anzahl der unlesbaren Buchstaben zwei überschreitet oder nicht eruiert werden kann, steht pauschal eine Auszeichnung mit drei Doppelpunkten [:::].“3

Sofern nicht anders gekennzeichnet, handelt es sich bei Übersetzungen von direkten Zitaten, die jeweils in den Anmerkungen im Original abgedruckt sind, um von der Verfasserin angefertigte Übersetzungen.

 

0.2 Problemstellung

Angestoßen wurde die vorliegende Arbeit von einer eher beiläufigen Information in der Habilitationsschrift des Historikers Benjamin Ziemann. In seiner Studie zum Verhältnis von katholischer Kirche und Sozialwissenschaften in den Jahren 1945–1975 erwähnte er eine empirische Dissertation von 1955 über zum Priesterberuf führende Lebensumstände.4 In ihr seien auch „Formen der ‚Berufskrisen‘, in denen Priester ihre Entscheidung zumindest zeitweise substanziell in Frage stellten, und deren Zusammenhang mit dem Zölibat“5 zur Sprache gekommen. Diese Arbeit sei nicht nur schon vor ihrer Veröffentlichung auf erhebliche Resonanz gestoßen, sondern „sofort vom Hl. Offizium verboten“6 worden. Einem interessierten Publikum sei sie gleichwohl im Laufe der Zeit über Umwege zugänglich gemacht worden.7 Auf die Hintergründe des Verbots ging Ziemann nicht weiter ein, obwohl gerade diese sehr spannend gewesen wären. Wie und warum war das Hl. Offizium auf diese Arbeit aufmerksam geworden? Hatte man den Titel denunziert? Was an der Arbeit erschien so gefährlich, dass man glaubte, sie sofort verbieten zu müssen? Und wie ging man konkret und ggf. in welchem Verfahren gegen diese Studie vor?

„Werden und Krise des Priesterberufes“8, so der Titel der besagten Arbeit, stammt von dem Schweizer Missionspater Jakob Crottogini. Schon ein erster Blick in die heute gängigen Datenbanken und Kataloge verriet, dass das Buch inzwischen in diversen Bibliotheken Europas und antiquarisch problemlos zu erstehen ist. Auch zitiert wurde Crottoginis Arbeit schon.9 Nur Näheres über das Verbot, seine Hintergründe und das Zensurverfahren war kaum auszumachen.10 Eine umfassende Aufarbeitung dieses Zensurfalls lag noch nicht vor. Dabei ist eine Aufarbeitung des Verbots in mehrfacher Hinsicht aktuell bedeutsam: Aus kirchenrechtshistorischer Sicht interessiert die Rekonstruktion des Zensurverfahrens, d. h., wer wann in welchem zeitgeschichtlichen und kirchenpolitischen Rahmen auf welcher rechtlichen Grundlage wie agierte, zumal Crottogini vermutlich einer der letzten Autoren war, dem das Hl. Offizium noch mit einer Indizierung drohte. Aktuell ist das Motiv für die Zensuraktion von besonderem Interesse, nämlich die öffentliche Befassung mit möglichen Problemen - einschließlich sexueller – in der Priesterausbildung. So lassen nicht nur mehrere Reformen der Priesterausbildung11, sondern vor allem die wissenschaftliche Einbeziehung der Seminarerziehung in das Bündel möglicher Ursachen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester den Blick auf diesen Zensurfall richten.12 Zudem kann er ein weiteres Licht auf den amtlichen Umgang mit Ergebnissen empirischer Wissenschaften werfen.

0.3 Forschungsstand, Quellen und Methode

Das einzige Fundstück, das das Buchverbot ausführlicher, aber dennoch oberflächlich behandelt hat, war ein Artikel von Arnd Bünker und Roger Husistein. Für einen Beitrag in ihrem Sammelband über die Situation der Diözesanpriester in der Schweiz beschäftigten sie sich mit Crottogini, „dem Pionier der empirischen Priesterforschung“13, und hatten ihn 2011, ein Jahr vor seinem Tod, gebeten, ihnen über das Publikationsverbot zu berichten.14 Der Beitrag gelangte nicht über eine Kurzdarstellung des Priesterberufes und Crottoginis Erinnerungen an die Geschehnisse, ebenfalls in komprimierter Form, hinaus. Die Autoren selbst vermuteten als Motiv hinter dem Publikationsverbot die offene Behandlung der Themen Sexualität und Zölibat durch Crottogini sowie seine „ungenügende[n] Kenntnisse und eine oberflächliche Auseinandersetzung mit den Studienergebnissen“15. Weshalb das Publikationsverbot ein gutes Bespiel für die grundsätzlichen Vorbehalte sei, die die katholische Kirche lange Zeit gegenüber einer empirischen Untersuchung der kirchlichen Wahrheit gehegt habe, wie sie behaupteten, begründeten sie nicht.16

Die Aufarbeitung dieses bislang kaum beachteten Zensurfalls versprach deshalb Potenzial. Die interessierenden Details mussten dafür aber anhand von Quellen erschlossen, untersucht und belegt werden. Ausgangspunkt waren erste Recherchen zum Autor selbst. Crottogini war zwar zu Beginn dieser ersten Arbeiten erst kürzlich verstorben und konnte um kein persönliches Interview mehr gebeten werden, aber sein Nachlass ließ sich ausmachen. Diese Entdeckung erschien vielversprechend: Der zugänglich gemachte Nachlass im Staatsarchiv Luzern gewährte nicht nur einen Blick in die umfangreiche Korrespondenz Crottoginis, sondern enthielt auch Schriftstücke mit ersten chronologischen Überblicken über das Publikationsverbot.17 Bei einer der ersten Anfragen 2013 hieß es, Crottogini habe „persönlich eine [gleichwohl unvollständige] Chronologie und Dokumentation zum Verbot des Werkes zusammengestellt, […] vermutlich in seinen letzten Lebensjahren (2009/2010)“18, weil sich ein Journalist der Schweizerischen Kirchenzeitung (SKZ) für den Zensurfall interessiert habe.19 Allerdings erschien weder in der SKZ noch andernorts ein Artikel über den Verbotsfall. In Crottoginis Nachlass fand sich ein Interview über das Publikationsverbot, das sein Mitbruder P. Fritz Frei 2007 mit ihm geführt hatte.20 Leider waren nur noch Crottoginis Antworten vorhanden, als Erzählung in der dritten Person. Das Interview bot eine kurze Zusammenfassung des Buchverbots und seiner Erfahrungen mit dem Hl. Offizium. „Was heute noch passiert an römischen Massnahmen gegen Theologen“, erinnere daran, „dass die Kirchenleitung den richtigen Umgang noch nicht gefunden hat“21, lautete das Fazit des Interviews.

Ein weiteres Interview hatte Crottogini 2004 einer Gruppe von vier Studierenden der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Luzern für deren Studienprojekt „Narratives Interview“ gegeben.22 Darin interessierten sich die Studierenden für seine Lebensgeschichte, prägende Erlebnisse und besondere Einflüsse. Zu den Erinnerungen zählte auch das Publikationsverbot, aber auch sie blieben unveröffentlicht und boten keine kritische Auskunft zu dem komplexen Zensurfall.

Die unerlässliche Grundlage für einen aussagekräftigen Zugriff auf den Zensurfall ist der Nachlass Jakob Crottoginis, der im August 2014 vom Archiv seiner Missionsgesellschaft an das Staatsarchiv in Luzern übergeben wurde,23 und seine gesammelten Korrespondenzen, Entwürfe, Zeitungsartikel, einen selbst verfassten Lebenslauf und eine von ihm selbst angelegte (wenngleich lückenhafte) Dokumentation des Publikationsverbots umfasst. Er besteht zum überwiegenden Teil aus Schreibmaschinenseiten im Format DIN A4, nur einzelne Schriftstücke und Notizen sind handschriftlich und auf kleineren Seiten bzw. Postkarten verfasst.24 Sämtliche Aktenschriftstücke an kirchliche Autoritäten, besonders seinen Churer Bischof, Briefe an seinen Doktorvater an der Universität und an Mitstreiter im Zensurfall sind meist als Abschrift vorhanden. Teilweise finden sich im Nachlass Abschriften seiner Briefe an Freunde und Mitbrüder, oftmals ermöglichen aber auch die Antworten der Korrespondenzpartner eine Rekonstruktion seiner Schreiben. Anhand des Nachlasses gelingen große Teile einer chronologischen Rekonstruktion des Verfahrens. Crottoginis umfangreiche Korrespondenzen und Dokumentationen erlauben zudem einen erhellenden Einblick in das innerkirchliche Klima der 1950er Jahre, skizzieren, wie er seine Rolle in diesem Konflikt sah, und lassen seine persönliche Entwicklung nach dem Verbot erkennen. Der Nachlass zeigt Crottoginis Beurteilung des Zensurverfahrens, seine Kämpfe mit den kirchlichen Autoritäten und seine dadurch ausgelösten Glaubenszweifel. Ergänzt wird der Nachlass von unzähligen Notizen, die Crottogini während des Verbotsverfahrens für seine eigenen Unterlagen anfertigte, ohne dass sie einen direkten Hinweis enthielten, Crottogini könnte selbst geplant haben, sie zu veröffentlichen.25 Gleichwohl finden sich dort auch Selbstzeugnisse, die seit 2002 schon „mit Blick auf die Nachwelt entstanden sind“26. Für Crottoginis erhaltene Schriftwechsel und Notizen, die vor dem Jahr 2002 datieren, ist aber begründet anzunehmen, dass sie nicht vor dem Hintergrund einer geplanten Veröffentlichung entstanden sind. Dafür spricht auch die hohe Zahl an Fehlern in den einzelnen Schriftstücken, von denen Crottogini wohl für eigene Zwecke eine Abschrift anfertigte, und keine Notwendigkeit sah, offensichtliche Tippfehler zu korrigieren.27

Der Nachlass umfasst nur wenige amtliche Schriftstücke, die nicht von Crottoginis Churer Bischof Caminada stammen. Fast alle involvierten kirchlichen Autoritäten korrespondierten nicht direkt mit ihm, sondern über seinen Bischof bzw. seinen Oberen, entsprechend lagen Crottogini die Schriftstücke auch nie vor. Besonderen Aufschluss für eine lückenlose Rekonstruktion versprächen in dieser Angelegenheit daher die Akten aus dem Bischöflichen Archiv Chur, wo sich einige Schriftstücke an und von Bischof Caminada befinden dürften. Crottogini selbst gab nur wenige Jahre vor seinem Tod in seiner selbst erstellten chronologischen Übersicht an, die Unterlagen zu seinem Imprimaturfall seien dort „bis zur Stunde […] nicht gefunden“28 worden. Crottogini hatte sich wohl einst selbst um Einsichtnahme in die Akte bemüht. Auf Anfrage der Verfasserin im August 2015 antwortete derselbe Archivar: „Pater Jakob Crottogini verstarb erst 2012. Auch wenn das Bischöfliche Archiv Chur (BAC) keinen expliziten Nachlass des Immenseer-Missionspaters besitzt […][,] sind sämtliche Akten, welche mit seiner Person im Zusammenhang stehen und bei uns (eventuell) greifbar sind, so auch die Akten wegen Crottoginis Publikation ‚Werden und Kreise [sic!] des Priesterberufes‘ gesperrt. Es kann also keine Einsichtnahme gewährt werden […].“29

Um den Fall dennoch möglichst lückenlos zu rekonstruieren und die eingangs gestellten Fragen zu beantworten, galt es dann die nächste – noch wichtigere – Quelle ausfindig zu machen: Die Akten des Hl. Offiziums im Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre. Denn diese Quellen dürften die (internen) Vorgänge des Hl. Offiziums beleuchten und so das Bild des Zensurfalls vervollständigen. Die Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. sind der Forschung allerdings noch nicht zugänglich gemacht30 und auch in diesem Fall wurde eine Sondergenehmigung (Schutzfristverkürzung) nicht erteilt.31 Insbesondere zu den Fragen, wer Crottogini denunziert hat, was der letzte Auslöser für das Veröffentlichungsverbot war und wie das Verfahren innerhalb der Kongregation ablief, wären die noch nicht freigegebenen Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. außerordentlich hilfreich gewesen. Gleichermaßen bedauerlich ist, dass der Briefwechsel zwischen dem Apostolischen Nuntius in der Schweiz, Crottoginis Bischof und dem Hl. Offizium nicht zugänglich gemacht wurde. Auf Anfrage bei der Apostolischen Nuntiatur in Bern teilte Nuntius Thomas E. Gullickson der Verfasserin im November 2015 mit, die „Archive vor 1985“ seien bereits „nach Rom geschickt“32 und würden dort nun gelagert, so dass er leider nicht helfen könne. Die vatikanischen Archivare seien bemüht, die Dokumente für wissenschaftliche Arbeiten zugänglich zu machen, bislang seien die Archivare aber erst bei den Beständen der 1930er Jahre angekommen und es dürfe noch „eine Weile dauern“33, bis die der 1950er Jahre zugänglich gemacht würden. Damit gelten für die Nuntiaturbestände die gleichen Sperrfristen wie für das Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt musste für die Beschaffung der benötigten Informationen anders vorgegangen werden. Ausgangspunkt aller Recherchen war das Wissen um das Verbot durch das Hl. Offizium, wie es der Nachlass Crottoginis belegt. Die Konstitution Papst Benedikts XIV. Sollicita ac provida hatte seit 1753 mitunter den Ablauf von Indizierungsverfahren geregelt. Ging man davon aus, dass es – wie einst von der Konstitution vorgegeben – für das Veröffentlichungsverbot des Crottogini-Buches Voten von Mitarbeitern des Hl. Offiziums gegeben hatte, waren diese vielleicht auch anders zu ermitteln. Deshalb war es unerlässlich, mögliche Quellen außerhalb des Archivs der Kongregation für die Glaubenslehre zu ermitteln, die Aufschluss über das Verfahren geben könnten. In der Hoffnung, in den Privatnachlässen der deutschsprachigen Konsultoren des Jahres 1955 relevante Gutachtenentwürfe, Ausfertigungen, Gesprächsnotizen oder Korrespondenzen zu finden, wurden diese nach Möglichkeit konsultiert, um so mehr oder minder deren Beteiligung zu be- oder widerlegen und Aufschlüsse über das Verfahren zu liefern.34

Freilich dürfen die Grenzen dieses Vorgehens nicht verschwiegen werden: Auch wenn Sollicita ac provida Zensurverfahren klar regelte, sind doch Abweichungen von der Konstitution bekannt geworden. Es kann deshalb angenommen werden, dass sich das Vorgehen des Hl. Offiziums beim Priesterberuf 1955 an der Konstitution von 1753 orientierte, diese aber nicht vollends befolgte. Dennoch handelt es sich a) um eine Vermutung, die b) bisweilen auch nur unscharf be- oder entkräftet werden kann. Abweichungen von dieser Verfahrensordnung und mögliche Begründungen für diese Abweichungen werden nach Möglichkeit beschrieben.

Ergänzend wurden Akten aus dem Historischen Archiv des Erzbistums Köln (AEK) zu Rate gezogen. Crottoginis Nachlass ließ darin wichtige und aufschlussreiche Belege vermuten, weil 1955 sowohl der Kölner Generalvikar als auch der Erzbischof an dem Verfahren beteiligt waren. Über den eigentlichen Zensurfall hinaus halfen weitere dort archivierte Akten mit Schriftstücken aus der Nachkriegszeit, das Klima zu konturieren, in dem sich das Publikationsverbot ereignete. Auch im Erzbischöflichen Archiv in Freiburg i. Br. (EAF) ließen sich Schriftstücke zu dem Zensurfall ausmachen. Das gemeinsam geführte Diözesanarchiv für Lausanne, Genf und Fribourg (AEvF) wies einige Korrespondenzen zwischen mehreren beteiligten Personen auf. Hier gerieten auch erstmals Personen ins Blickfeld, über deren Beteiligung Crottogini selbst nichts zu wissen schien. Der damalige Bischof von Basel hatte Crottogini bei einer Überarbeitung seines Buches auch Unterstützung angeboten. Deshalb verfügte das Baseler Diözesanarchiv in Solothurn (BiASo) ebenfalls über einige Unterlagen, wenngleich auch viele Duplikate bereits vorhandener Dokumente.

Weil die beanstandete Studie Crottoginis in Fribourg entstand, und sein Doktorvater dort weiter lehrte, war anzunehmen, auch dort könnten sich relevante Quellen aus den Jahren 1955–1957 befinden. Das Universitätsarchiv in Fribourg verfügte aber nicht über solche Unterlagen. Ebenso führten die Recherchen im Archiv der Schweizer Bischofskonferenz in Fribourg leider nicht zum erhofften Ergebnis. Es fanden sich keine Unterlagen in dieser Angelegenheit. Der Nachlass des Mainzer Weihbischofs Reuß enthielt ebenso keine Korrespondenzen mit bzw. über Crottogini, obwohl sich einige seiner Briefe im Nachlass von Crottogini befanden.35 Die um Korrespondenzen, interne Notizen oder ähnlich erhaltene Schriftstücke angefragten Priesterausbildungsstätten, in denen Crottogini seine Studie hatte durchführen dürfen, antworteten entweder leider gar nicht oder konnten keine positive Rückmeldung geben.36 Viele dieser Einrichtungen waren inzwischen auch geschlossen. Unter Umständen bedeutete aber eine Fehlanzeige in einem Archiv oder eine negative Rückmeldung dennoch einen Befund, weil sich damit die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person oder Institution sei involviert gewesen, verringerte.

Die vorhandenen Quellen konnten in eine chronologische Reihenfolge gebracht und Handlungsstränge und Protagonisten herausgearbeitet werden. Die Quellen konnten oftmals von zeitgenössischer Literatur gestützt werden, die sich zwar nicht immer ausdrücklich mit Crottogini und dem Priesterberuf auseinandersetzte, aber doch Rückschlüsse auf das (kirchenpolitische) Klima dieser Jahre zuließ.

0.4 Ziel und Schrittfolge

Im Rahmen einer kanonistischen Fallanalyse soll in der vorliegenden Arbeit anhand der verfügbaren Quellen der „Zensurfall Crottogini“ historisch und rechtlich rekonstruiert werden. Auf der Grundlage des altkodikarischen (Lehr-)Rechts und ergänzender Rechtsquellen soll dieser spezielle Zensurfall einerseits biographisch eingeordnet und andererseits untersucht werden, inwieweit sich die einzelnen kirchlichen Autoritäten und speziell das Hl. Offizium an das geltende Recht hielten bzw. gebunden sahen. Die zeitgeschichtliche Kontextuierung unter Einbeziehung spezifischer kirchenamtlicher Sensibilitäten und der selektiven Rezeption sozialwissenschaftlicher Ergebnisse durch die kirchliche Hierarchie kann die Konturen des Falles schärfen.

Dem entspricht die Schrittfolge: Ein erster Teil behandelt die Vorgeschichte des Zensurfalls, ein zweiter Teil die Zeit ab dem Zensurfall. Ausgehend von der Lebensgeschichte Crottoginis (1.), seiner persönlichen Motivation, den Priesterberuf abzufassen, und den näheren Entstehungsbedingungen seiner Studie (2.), werden zur näheren Kontextuierung das zeitgenössische Priesterbild und die darauf zielende Priesterbildung eingeblendet (2.1). Für das Verständnis der späteren Buchbeanstandung sind Methode, Durchführung und Befunde der Crottogini-Studie ebenso aufschlussreich (2.2) wie die (fach-)wissenschaftliche Rezeption seiner Arbeit, die Kritiker erst auf seine Arbeit aufmerksam machte (2.3). Die kirchliche Ablehnung geschah vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der vermeintlich prüden 1950er Jahre, als die katholische Kirche die Sexualität der Gläubigen streng zu normieren und zu regulieren versuchte (3.). Im zweiten Teil folgen auf die historischen Hintergründe und die zeitgeschichtliche Einbettung die Rekonstruktion des Verfahrens und seine kanonistische, näherhin lehrrechtliche Einordnung (4.). Im Umfeld des II. Vatikanums und der auf ihm angeregten Reformen für die Büchergesetzgebung geriet Crottogini Anfang der 1960er Jahre ein weiteres Mal ins Visier des Hl. Offiziums, kurz bevor sich die kirchliche Büchergesetzgebung 1966 grundlegend änderte (5.). In einer Zusammenfassung werden schließlich die Ergebnisse der historischen Rekonstruktion und kanonistischen Analyse des Zensurfalls vorgestellt und gewürdigt (6.).

1 Dies geschieht in Anlehnung an SCHULZE, Johannes, Richtlinien für die äußere Textgestaltung bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Geschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 98 (1962) 1–11.

2 Vf.in folgt der Vorlage von STOLZ, Michael/SCHÖLLER, Robert/VIEHAUSER, Gabriel, Transkriptionsrichtlinien des Parzival-Projekts, in: Beiheft zu editio 26 (2007) 295-326, hier 316.

3 Ebd.

4 Vgl. ZIEMANN, Kirche, 207.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Vgl. ebd.

8 Im Folgenden wird der Titel mit „Priesterberuf“ abgekürzt.

9 Vgl. GATZ, Zweiter Weltkrieg, 205; STENGER, Wissenschaft, 12; GRIESL, Ende, 40 und STELZER, Seelsorgestudie, 148 Anm. 5.

10 In einem Spiegel-Artikel von 1971 hieß es knapp, der Priesterberuf sei „bekämpft worden“ (AA. VV., Massenflucht, 92). Etwas aussagekräftiger waren ein Jahr später die Ausführungen von PFÜRTNER, Kirche, 276f.: Der Priesterberuf sei „schnell unterdrückt [worden]: Das Buch musste seinerzeit auf obrigkeitliches Geheiß nach seinem Erscheinen aus dem Handel gezogen werden.“ Welche Obrigkeit, blieb offen. Da das Buch nie offiziell erschienen war, konnte es dementsprechend auch nicht aus dem Handel gezogen werden. Pfürtner gab nicht an, woher die Informationen stammten. Ob er das Verbot als Konsequenz von Crottoginis (aus Sicht der 1970er Jahre) „methodisch reichlich unvollkommene[m] Versuch“ (ebd.) betrachtete, ist nicht erkennbar. Auch FORSTNER, Priester, 109 Anm. 71 hat den Sachverhalt inkorrekt wiedergegeben, wenn er schreibt, Crottogini habe „gegen offenbar nicht geringen innerkirchlichen Widerstand“ statistisches Material gesammelt. Das Sammeln des statistischen Materials hatte aber tatsächlich kaum innerkirchlichen Widerstand ausgelöst, erst die geplante Veröffentlichung rief die Kritiker auf den Plan. Im Jahr 2000 berichtete MEIER, Ehe- und Sexualmoral, 569 Anm. 9, der Priesterberuf habe trotz bischöflicher Druckerlaubnis „auf Betreiben der Deutschen Bischofskonferenz nicht ausgeliefert“ werden dürfen. Wie er zu der Aussage gelangen konnte, zu dem Verbot sei es durch die Deutsche Bischofskonferenz gekommen, ist unklar und unbelegt. Zudem muss er mit der Deutschen Bischofskonferenz die Fuldaer Bischofskonferenz gemeint haben, wie der Vorgängerzusammenschluss bis 1965 hieß. Ein ehemaliger Schüler Crottoginis berichtete 2013, es sei damals geflüstert worden, Crottogini habe „aufsehenerregende Forschungen zur männlichen Sexualität betrieben […] und dass seine Arbeit in kirchlichen Kreisen Tabus verletzte. Er hatte damit ganz gefährliche Bereiche tangiert. Denn schon eine Befragung über Sex wurde als Skandal angesehen. Über so etwas sprach man nicht – auch nicht im wissenschaftlichen Kontext. […] Die Oberen sollen gezittert haben, hieß es unter uns jungen Studenten; selbst uns packte ein Schauer“ (IMFELD, Straßen, 179). Über nähere Details verfügte er jedoch auch nicht. Am zutreffendsten, aber gleichfalls ungenau, berichtete in einem Nachruf auf Crottogini BARGETZI, Crottogini, 2, der Priesterberuf sei bereits gedruckt gewesen, doch „,von oben‘ kam ein rigoroses Verkaufsverbot“. STELZER, Krisendiagnosen, 3–6 hat sich ebenfalls mit dem Buchverbot beschäftigt, übernahm aber nur die (unkritischen) Ausführungen der bereits genannten Sekundärliteratur und kam nicht darüber hinaus.

11 Es sei die Pflicht der Kirche, Berufungen „liebevoll zu fördern, anzunehmen und zu begleiten“, betonte PAPST FRANZISKUS in seiner Ansprache an die Vollversammlung der Kongregation für den Klerus am 3. Okt. 2014, 15 die Wichtigkeit von Berufungen. Eine Berufung sei ein „,Rohdiamant‘, der mit Sorgfalt, Achtung vor dem Gewissen der Personen und Geduld bearbeitet werden muss, um inmitten des Gottesvolkes zu erstrahlen“ (ebd.), wozu die Priesterausbildung ihren Teil beitrage. Die Vollversammlung fand im Oktober 2014 statt, um den ersten Entwurf einer neuen Ratio fundamentalis zu besprechen, einem Ausführungsdekret gemäß c. 31 § 1 CIC/1983 für die kodikarischen Normen über die Priesterausbildung, die 2016 erschien (vgl. C CLER, Ratio fundamentalis sowie ergänzend SCHNEIDER, Sonderwelt, 27-31). Die bis 1988 zuständige Kongregation für das katholische Bildungswesen hatte am 6. Januar 1970 eine erste Ratio fundamentalis veröffentlicht (vgl. SC INSTCATH, Ratio fundamentalis, 321–384 und dazu SCHNEIDER, Auslaufmodell, 94–98), die mit den Aussagen über die Priesterausbildung des Zweiten Vatikanischen Konzils übereinstimmen sollte. 1985 folgte eine für den CIC/1983 aktualisierte Fassung, die wiederum von der 2016er Ratio fundamentalis abgelöst wurde.

12 Die 2011 veröffentlichte John Jay-Studie etwa, die die Ursachen und den Kontext des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Priester in den USA zwischen 1950 und 2010 untersuchte, hat ermittelt, besonders die Weihejahrgänge der 1940er und 1950er Jahre hätten Schwierigkeiten mit Intimität gehabt. Dies könnte auch eine Konsequenz von Ausbildungsdefiziten sein, die eine angemessene psychosexuelle Reifung zum Teil be- bzw. verhindert hätten. Vielen späteren Tätern sei in der Ausbildung ein Zugang zur „human formation“ (TERRY u. a. [Hg.], Causes, 5) verwehrt geblieben. Viele Täter hätten deshalb eine „‘confused’ sexual identity“ gezeigt (ebd.). Exemplarisch machten auch HILPERT, Problem, 173–176 und KEENAN, Child Sexual Abuse auf die Wechselwirkungen zwischen psychosexueller (Un-)Reife, Seminarerziehung, Zölibatsverpflichtung und sexuellem Missbrauch aufmerksam und vgl. auch BUCHER, Geiz, 152. Dass einige Priester Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität bzw. dem Zölibat hatten, war der kirchlichen Autorität bekannt. Am 16. März 1962 gab es eine Neuauflage der geheimen Instruktion von 1922 „De modo procedendi in causis sollicitationis“ des Hl. Offiziums, was den Schluss nahelegt, das Hl. Offizium muss über sexuelle Missbräuche und Übergriffe informiert gewesen sein. PALLENBERG, Türen, 233 sprach sogar von einer Vielzahl an (wenn auch nicht immer begründeten) Meldungen an die örtlichen kirchlichen Instanzen und an das Hl. Offizium, sodass es „ein Formular zum Ausfüllen hat drucken lassen“. Bis es zu der Einleitung eines Verfahrens gekommen sei, habe man allerdings bis zur „dritte[n] Denunzierung“ gewartet (ebd.).

13 BÜNKER/HUSISTEIN, Zwischenhalt, 66.

14 Vgl. ebd.

15 Ebd., 65f

16 Vgl. ebd., 66.

17 Ein erster Teil des Nachlasses lag in digitaler Form (als Farbscans) seit Januar 2015 vor. Dieser erste Teil umfasste bereits 524 Scans. Im Dezember 2015 folgten weitere 57 Farbscans. Die einzelnen Dokumente waren nicht paginiert, aber grob chronologisch sortiert. Sie wurden von der zuständigen Archivarin im Staatsarchiv Luzern, Frau Elisabeth Vetter, zusammengestellt.

18 VETTER an Prof. Norbert Lüdecke per E-Mail am 17. Juli 2013. Die E-Mail liegt Vf.in vor.

19 Vgl. ebd.

20 StaLu, FREI, Interview v. 28. März 2007, 1. Der vorliegende Text ist mit einer Notiz versehen: „Notizen nach einem Interview mit einem elektronischen Gerät. Eine Fehlmanipulation des Interviewers nach Beendigung des Gesprächs löschte leider das Ton-Dokument. – Das Interview folgte einem schriftlich vorliegenden Plan. Diese Aktennotiz ersetzt das Ton-Dokument. Sie wurde von J. Crottogini am 3.4.2007 eingesehen, korrigiert und ergänzt“ (ebd.).

21 Ebd., 3.

22 Vgl. StaLu, MEIER u. a., Biographie.

23 Vgl. SCHELBERT, SMB-Archiv, o. S. sowie KANTON LUZERN, Staatsarchiv, o. S.

24 Beschreibungen etwaiger Besonderheiten wie z. B. handschriftliche Vermerke finden sich meist in den jeweiligen Anmerkungen.

25 In dem 2004er Interview mit Studierenden erzählte er, er habe immer gesagt, „es wäre ein Skandal, wenn ich jetzt ein Buch herausgeben würde über das Buch“ (StaLu, MEIER u. a., Biographie, 9). Darin dürfte aber mehr seine Enttäuschung über seine Erfahrungen mit dem Hl. Offizium erkennbar werden als eine tatsächliche Absicht, die Ereignisse zu veröffentlichen. Denn in keinem erhaltenen Brief an seinen Verleger hat er ein solches Vorhaben jemals angesprochen.

26 HENNING, Selbstzeugnisse, 135. Der sehr lange Nachruf für einen Mitbruder im Jahr 1999 habe ihn „zur Überprüfung meines eigenen Lebens und zu dessen möglicher Berichterstattung im Todesfall angeregt“, notierte Crottogini am 26. Feb. 2002 (StaLu, CROTTOGINI, Vorspann, 1).

27 Vgl. dazu ARNOLD, Umgang, 51.

28 StaLu, CROTTOGINI, Dokumentation, 2.

29 Archivar Albert FISCHER an Verf.in am 1. Sept. 2015 per E-Mail (H. v. Vf.in). Der Churer Generalvikar Martin Grichting bestätigte auf Anfrage vom 25. November 2015 diese Auskunft. Es handele sich um personenbezogenes Archivgut, für das eine Sperrfrist von 30 Jahren seit dem Tod des Betroffenen gelte. „Die Bistumsleitung möchte keinen Präzedenzfall schaffen, indem bereits drei Jahre nach dem Tod der betroffenen Person Archivbestände geöffnet werden.“ (GRICHTING an Norbert Lüdecke, 11. Dez. 2015, Schreiben liegt Verf.in vor). Eine Sondergenehmigung wäre gemäß § 32 der Benutzerordnung des Archivs in Chur („Anordnung über die Sicherung und Nutzung des bischöflichen Archivs Chur“) gleichwohl prinzipiell möglich gewesen, zumal Crottogini sich selbst schon an der Akte interessiert gezeigt hatte. Im August 2015 ging zudem eine Anfrage an den Churer Regens Martin Rohrer mit der Bitte um Auskunft über etwaige Archivbestände hinsichtlich der Fragebögen, die Churer Seminaristen einst für Crottogini ausfüllten. Rohrer leitete die Anfrage an Archivar Fischer weiter. FISCHER antwortete Rohrer am 21. Okt. 2015, er habe der Verf.in bereits mitgeteilt, im Churer Archiv gebe es keinen Nachlass Crottoginis. „Es entzieht sich auch meiner Kenntnis, wo ein solcher liegt bzw. aufbewahrt wird. Sämtliche Akten, welche mit Crottoginis Person in Zusammenhang stehen und bei uns oder in anderen kirchlichen Institutionen des Bistums Chur liegen könnten (z. B. Priesterseminar), so auch die Akten wegen Crottoginis Publikation ‚Werden und Kriese [sic!] des Priesterberufes‘, sind gesperrt (vgl. Sperrfristen in der Benutzerordnung des BAC […]). Es kann und darf also keine Einsichtnahme gewährt werden.“ Regens ROHRER leitete die E-Mail am 21. Okt. 2015 an Verf.in weiter.

30 Vgl. MATHEUS, Grundlagenforschung, 6; WOLF/SCHEPERS, Heiliger Stuhl, 496.

31 Eine Bitte um Erlaubnis zur Einsichtnahme in die Akten des Hl. Offiziums an Luis LADARIA SJ, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, lehnte dieser mit Schreiben vom 16. Jan. 2018 an Norbert Lüdecke ab. Der Brief liegt Vf.in vor. Etwa einhundert solcher Anträge auf Sondergenehmigungen gingen jährlich ein, erklärte jüngst der Archivar des Archivs der Kongregation für die Glaubenslehre Msgr. Alejandro Cifres im Interview (vgl. JUCHEM, Kirchengeschichte, o. S.). Den Zeitpunkt für die offizielle Öffnung der Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. bestimme allein der Papst (vgl. DERS., Licht, o. S.).

32 GULLICKSON an Verf.in, 30. Nov. 2015.

33 Ebd.

34 Vgl. für dieses Rekonstruktions-Verfahren WOLF, Ketzer, 192–197.

35 Per E-Mail erhielt Verf.in auf schriftliche Anfrage vom 21. Aug. 2015 vom Mainzer Dom und Diözesanarchiv diese Auskunft.

36 Rückmeldungen kamen meist per E-Mail: von den Verantwortlichen des Africanum / der Afrikamissionare – Weisse Väter der Schweiz am 27. Aug. 2015, des Priesterseminars St. Beat in Luzern am 27. Aug. 2015, des Klosters Einsiedeln am 1. Sept. 2015, der Kapuzinerklöster in der Schweiz (Luzern, Stans und des Provinzarchivs) am 2. Sept. 2015, des Canisianums in Innsbruck am 3. Sept. 2015, des Klosters Engelberg am 7. Sept. 2015, des Priesterseminars Eichstätt am 7. Sept. 2015, des Priesterseminars Graz-Seckau am 15. Sept. 2015 und des Priesterseminars Freiburg i. Br. am 15. Oktober 2015. Sie alle bedauerten, über keine Unterlagen in dieser Angelegenheit zu verfügen.

ERSTER TEIL

1. Biografie

1.1 Kindheit und Ausbildung (1919–1940)

Jakob „Jaime“ Crottogini wurde am 9. August 1919 im Haus seiner Eltern in Chur geboren. Er kam als viertes von sieben Kindern zur Welt und wuchs im Kreise seiner Geschwister zunächst unbeschwert auf. Trotz der nachkriegsbedingten37 materiellen Engpässe mangelte es der Familie vergleichsweise an nichts. Der Vater war selbstständiger Maler, spezialisiert auf Kulissenmalerei, und die Familie hatte ein gutes Auskommen.38

Im Sommer 1924 sollte der fünfjährige Jakob einige Wochen auf dem Bergbauernhof der Großeltern im 10 km entfernten Churwalden/Pradaschier verbringen. Kurz nach seiner Ankunft auf dem Bauernhof verunglückte der Vater und starb wenige Tage später. Crottoginis Mutter wurde mit 32 Jahren zur Witwe und blieb mit sieben kleinen Kindern allein zurück.39 Aus den ursprünglich geplanten wenigen Wochen auf dem Bauernhof wurde deshalb ein Aufenthalt von einem Jahr. Von dem Tod seines Vaters erfuhr der Junge vorerst nichts und verbrachte eine schöne Zeit bei seinen Großeltern: „[A]ls Bergbauer hat mir das kolossal gut gefallen.“40 So gut, dass Crottogini später einmal selbst Bergbauer werden wollte.41 Nach einem Jahr kehrte er für die Einschulung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern zurück. Auf die Frage nach dem Vater erklärte ihm die Mutter, der Vater sei inzwischen im Himmel.42 Es schien ihn nicht dauerhaft belastet zu haben: „Ich ging in den Kindergarten in Chur und dort haben uns die Schwestern erzählt, im Himmel sei es sehr schön, und sehr interessant, und sehr lustig und da dachte ich, das ist ja wunderschön.“43 Den Betrieb ihres verstorbenen Mannes musste seine Mutter bald verkaufen, um sich und die Kinder versorgen zu können. Finanziell wurde es trotzdem bald schwierig für die Witwe, weshalb „man […] die Kinder verteilen“44 wollte, wogegen sie sich aber wehren konnte. Von den Existenzsorgen und den finanziellen Nöten bekamen die Kinder dennoch kaum etwas mit.45 Im Gegenteil: „Von ihr habe ich das Urvertrauen mitbekommen, das mich auch in den dunklen Stunden nie ganz verlassen hat“46, so Crottogini über seine Mutter.

„Meine Mutter war eine gläubige, aber in keiner Weise bigotte Frau. Sie zeichnete mir ein Kreuz auf die Stirne, bevor ich zur Schule ging. Auch abends hat sie uns mit einem Kreuzzeichen in den Schlaf entlassen. Ihr hart geprüftes Gottvertrauen hat ihr die Kraft gegeben, uns alle durch ihre mit mütterlicher Güte gepaarte Strenge zu tüchtigen, selbständigen Frauen und Männern heranwachsen zu lassen.“47

Ab 1926 besuchte Crottogini die Primarschule (Volksschule) an der katholischen Hofschule in Chur. Unter dem Dach der Hofschule vereinten sich die Primar- und die Sekundarschule. Die katholische Hofschule, so Crottogini, „zählte zu meiner Zeit zirka 700 Schülerinnen und Schüler. Ohne Unterstützung der Stadt musste sie finanziell von den Katholiken allein getragen und darum sehr sparsam geführt werden.“48 Religions- und auch Geschichtsunterricht gaben dort oft die Domherren der Kathedrale von Chur. So war es etwa der Dompfarrer und spätere Bischof von Chur, Christian Caminada, der in Crottoginis Jahrgang Kirchengeschichte unterrichtete.49

In der Sekundarschule kam Crottogini durch einen Lehrer zum ersten Mal mit der Missionsgesellschaft Bethlehem (Societas Missionum Exterarum de Bethlehem in Helvetia)50 (SMB) in Kontakt. Anton, der Sohn eines Lehrers, war als Missionar dieser Missionsgesellschaft in China eingesetzt. Sein Vater berichtete oft und ausführlich von den Tätigkeiten des Sohnes, die die Phantasie der Kinder anregten:

„Im Klassenzimmer hing eine grosse Karte von China. Mit Fähnchen war darauf markiert, wo die einzelnen Missionare aus der Schweiz im Einsatz standen. Der ‚Täta‘ las uns jeden Brief vor, den er […] aus der Mandschurei erhielt. Damals tyrannisierten plündernde Räuberbanden die Bevölkerung dieses nördlichen Landstrichs Chinas. Die dramatischen Berichte aus der Mandschurei faszinierten mich. Sie weckten in mir den Wunsch nach einem ebenso abenteuerlichen Missionarsleben wie jenes von Pater Anton. Im zweiten Sekundarschuljahr erreichte uns die Meldung, Pater Toni sei von einem Banditen erschossen worden. Diese Nachricht hat uns alle erschüttert.“51

Crottogini war dennoch beeindruckt:

„[U]nd ich habe dann […] gedacht, ja, das wäre auch noch glatt einmal [etwas für mich; J. S.] so als Missionar da in China unten, wo es diese Räuberbanden gibt, die aufeinander losgehen. [S]o eine richtige Romantik habe ich mir gepflegt. Dann habe ich dann mal, schüchtern, ich sagte niemandem was, meinen Religionslehrer gefragt, der uns Kirchengeschichte lehrte, was muss man denn machen, wenn man Missionar werden will. Dann sagte er: ‚Dann geht man nach Bethlehem‘, da dachte ich ‚Ohalätz, jetzt muss ich noch auf Palästina‘“52.

Das Missverständnis ließ sich klären, sodass er nicht nach Palästina reiste, sondern an das etwa 120 km entfernte Gymnasium Bethlehem der SMB in Immensee wechselte.53 Ab 1934 war Crottogini dort als Internatsschüler untergebracht. „Die Ausbildung [zum Missionar; J. S.] […] beginnt schon am ersten Tage der Gymnasialjahre, wo der Knabe, beseelt vom Wunsche, Missionar zu werden, den ersten Schritt auf dem langen Weg tut, der ihn zum Primizaltar führen soll“54. Die strenge Internatsordnung mit all ihren Auflagen wie tägliche Messbesuche, Meditationen und Gebete waren Crottogini lästig, aber er betrachtete sie als unabdingbare Voraussetzungen für die angestrebte Missionstätigkeit.55 Er hielt an seinem Wunsch fest, Missionar zu werden.

Ein Jahr früher als nötig besuchte Crottogini schon 1938 mit einem Großteil seiner Klasse die Rekrutenschule56 in Zürich, um sich anschließend – so zumindest der Plan – auf die Maturaprüfungen konzentrieren zu können. Aber der Plan ging nicht auf: Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verlängerte sich der Aktivdienst bis Ende des Jahres 1939. Zu den schriftlichen Prüfungen im Frühling 1940 konnten die Schüler antreten, doch unmittelbar danach kam es im Mai 1940 zur Totalmobilmachung und die Schüler mussten zurück in den Aktivdienst. Die mündlichen Prüfungen entfielen, die Schüler bekamen die Zeugnisse mit der Post.57

1.2 Noviziat und Studium (1940–1954)

Noch im selben Jahr trat Crottogini in das Noviziat58 bei der SMB im Bruder-Klausen Seminar, dem Ausbildungsseminar der SMB, in Schöneck ein.59 Für sein Noviziat beantragte er ein Jahr Urlaub vom Aktivdienst.60 Das Noviziat wurde dennoch zweimal durch längere Mobilmachungsaufgebote unterbrochen. Im darauffolgenden Jahr, am 23. September 1941, wurde er zur ersten Promissio zugelassen.61 Aufgrund seiner Abwesenheiten hatte Crottogini allerdings im Probejahr „[s]pirituell […] wenig mitbekommen.“62 In den vorgesehenen zwei Jahren des Philosophiestudiums versuchte er seine spirituellen Defizite wieder auszugleichen. Vor allem Prof. Gebhard Frei SMB beeindruckte Crottogini sehr, wenn er die Studenten „mit den verschiedensten, spannenden Denkmodellen zeitgenössischer Dichter, Philosophen, Psychologen und Schriftstellern“63 konfrontierte.64 Auch an den nüchternen Vorlesungen seines Professors für Naturphilosophie fand der junge Student Gefallen.65

An das Philosophiestudium schloss sich ein vierjähriges Theologiestudium an. Seine Professoren, viele unter ihnen waren aus Hitler-Deutschland geflohene Jesuiten66, schätzte Crottogini, doch hatte er mit dem Studium Schwierigkeiten. Die Professoren etwa sah er „durch amtskirchliche Erlasse zu eingeengt. […] Eine Bibeltheologie, die diesen Namen verdient hätte, gab es damals […] noch nicht.“67 Einzig sein Professor für Moraltheologie, Josef Zürcher SMB, beeindruckte ihn, weil er „seiner Zeit weit voraus war.“68 Auch litt das Studium unter den wiederholten Unterbrechungen durch die Militärdienstzeiten.69 Crottogini empfand es als ein Studium, in dessen Mittelpunkt nur das Bestehen der Examen stand. Für eine „gründliche, persönliche Auseinandersetzung mit den fundamentalen Fragen des Glaubens“70 habe es während des Krieges an Ruhe und Zeit gemangelt. Später nannte er es deshalb selbst ein Studium der „Schmalspurtheologie“71.

Vor der Priesterweihe war mit dem Generaloberen Eduard Blatter72 das nächste Ziel Crottoginis besprochen: China. Er bereitete sich maßgeblich auf dieses Missionsziel vor, indem er sich Wissen über chinesische Philosophie und chinesische Geschichte anlas. Wegen aufkommender politischer Unruhen in China aufgrund des Mao-Vormarsches sandte die SMB allerdings vorerst keine Missionare mehr dorthin aus. Man wollte „keine Märtyrer haben […], sondern lebendige Mitglieder.“73 Alternativ zog man deshalb in Betracht, Crottogini im darauffolgenden Jahr für ein Jahr nach Japan zu schicken, und wartete zunächst seine unmittelbar bevorstehende Priesterweihe ab. Er empfing sie am 30. März 1947 von seinem ehemaligen Lehrer - inzwischen Bischof von Chur – Christian Caminada74 mit fünf weiteren Alumnen in Immensee. Die Primiz feierte er am 7. April 1947 in der Kathedrale von Chur.75

Kurz nach der Weihe bat der Generalobere Crottogini, für ein Jahr – bis zur geplanten Japan-Mission – Schuldienst und damit verbunden die Aufgaben des Präfekten am Progymnasium76 der SMB in Rebstein zu übernehmen. Crottogini willigte ein, aber vor dem Hintergrund, bald in die Mission gehen zu dürfen.

„[D]amals meinte man, wenn einer Philosophie und Theologie studierte, könne er auch Schule geben, aber ich hatte keine Ahnung, was das eigentlich hiess […]. Im ersten und zweiten Gymi [den ersten beiden Gymnasialstufen; J. S. ], dort hatten wir Klassen à sechzig Leute, Doppelklassen à dreissig und dann musste ich noch Deutsch übernehmen und jeden Tag haben wir in der Schule ein Diktat gemacht, damit sie Deutsch lernen. Aus der ganzen Schweiz waren Knaben da, und jede Woche einen Aufsatz. Ich musste da jeden Tag 60 Hefter korrigieren, ich kam meistens gar nicht nach. […] Und noch Präfekt [für die Internatsschüler; J. S.] spielen, da wusste ich auch nicht so recht, was das ist. […] [D]ie mussten gemeinsam ins Bett, gemeinsam aufstehen, und ich in einer Kabine dazwischen, zwischen diesen grossen Schlafsälen. Ich bin jeweils nachts um zwölf todmüde ins Bett gefallen und habe gleich geschlafen.“77

Auf sein erstes Jahr am Gymnasium folgte dann die große Enttäuschung: Crottogini sollte nicht wie ursprünglich vereinbart in die Mission nach Japan geschickt werden. Stattdessen griff man auf Missionare für Japan zurück, die sich bereits in Peking im Sprachstudium und somit schon rein geographisch näher am Missionsland befanden. Crottogini hingegen bat man, ein weiteres Jahr am Gymnasium zu unterrichten. Dort brauche man momentan dringend Lehrer, nach Japan könne er schließlich im Anschluss noch immer.78

Mit seinem Eid hatte sich Crottogini gemäß Art. 2 der Konstitutionen SMB zum Dienst am Missionswerk der Gesellschaft und zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßigen Oberen verpflichtet. Crottogini sah darin das Versprechen, sich für einen missionarischen Einsatz zur Verfügung zu stellen, wenn auch nicht geographisch festgelegt. Dazu merkte er an: „Aber man wird normalerweise gefragt, wohin man will.“79 Als er 1949 gebeten wurde, im Schuldienst zu bleiben, lehnte er ab. Doch man ließ ihm keine Wahl. Man erinnerte ihn, er habe letztlich im Gehorsam dem Befehl des Oberen zu folgen.80

Um längerfristig als Lehrer am Gymnasium mit Maturitätsberechtigung eingesetzt zu werden, fehlte Crottogini eine klassische Lehrerausbildung, d. h. ein akademischer Titel, der zum Unterrichten an staatlichen Schulen berechtigte. Von der ursprünglichen Japan-Planung blieb 1949 damit nicht viel übrig: Aus einem Missionseinsatz in Asien sollte ein Hochschulstudium in der Schweiz werden.81 Gegen seinen Wunsch wurde die „China-Destination in ‚Schuldienst in der Heimat‘ umgewandelt, mit der Auflage eines vorgängigen Spezialstudiums, versehen mit dem ‚Trostpflästerchen‘ ein späterer Missionseinsatz bleibe dadurch durchaus offen.“82

Crottogini immatrikulierte sich deshalb zum Wintersemester 1950/51 an der Philosophischen Fakultät der Universität Fribourg. Rückblickend gibt es keine Hinweise darauf, aus welchen Gründen seine Wahl auf die Universität Fribourg fiel. Vielleicht war es die Wahl des Generaloberen gewesen oder eine gemeinsame Entscheidung. Dass die SMB allerdings auch eine Schule in Fribourg unterhielt, und Crottogini somit immerhin schon einen Anlaufpunkt in der Stadt hatte, könnte die Entscheidung begünstigt haben. Die Aussage Crottoginis, man sei normalerweise gefragt worden, wohin bzw. was man wollte, traf für ihn dann zumindest bei der Wahl der Studienfächer zu. Die einzige Auflage war gewesen, einen Abschluss zu erwerben, der ihn als Lehrer qualifizierte.

In seinem ersten Semester an der Universität Fribourg besuchte Crottogini Veranstaltungen in verschiedenen Fachbereichen, bevor er sich im zweiten Semester auf seine Hauptfächer festlegte. Aus Interesse wählte er Pädagogische Psychologie/Berufspsychologie und Heilpädagogik zu seinen Hauptfächern.83 Als Nebenfächer belegte er Deutsche Literatur und Geschichte, um auch Schulfächer abzudecken. Entgegen seiner anfänglichen Lustlosigkeit am Studium war er aber nach wenigen Monaten von seinen Studienfächern – vor allem von der Berufspsychologie – fasziniert.84 Das Studium verlief problemlos und unspektakulär.85

Mit der Wahl der Hauptfächer fand er auf Anregung einer seiner Professoren auch schon im zweiten Semester sein Dissertationsthema.86 Léon Walther87, Professor für Arbeits- und Berufspsychologie am Pädagogischen Institut der Universität Fribourg, gab Crottogini den „ersten Anstoß und wertvolle Anregungen“88, im Bereich der Berufsgenese von Priestern zu promovieren und half ihm bei der Ausarbeitung. Walther hatte zuvor selbst eine Arbeit über die Berufsmotivation reformierter Pfarrer verfasst und befasste sich seinerzeit mit den Motivationen angehender Ordensschwestern. In diesem Kontext kam Crottogini „die Idee, eine ähnliche Untersuchung für Priesteramtskandidaten durchzuführen. Mich interessierte allerdings dabei nicht nur ihre Berufsmotivation, ich wollte vielmehr auch den Einflussbedingungen der Genese ihres Berufswunsches nachspüren.“89

Zum Wintersemester 1952/53 begann er mit den empirischen Erhebungen für sein Dissertationsprojekt. Hierfür musste er viel reisen, um anhand eines von ihm entwickelten Fragebogens in der Schweiz, in Deutschland und auch in Randgebieten Frankreichs Seminaristen zu ihrer Berufsmotivation zu befragen. „Das Hauptanliegen [der Dissertation; J. S.] ist die Erforschung der empirisch faßbaren Faktoren, die bei der Wahl des Priesterberufes von Bedeutung sind.“90 Aber auch nach seiner Rückkehr war sein Projekt noch immer sehr arbeitsintensiv. So arbeitete Crottogini „[n]achts […] damals […] bis morgens 02.00 Uhr durch[] und [feierte] um 06.00 Uhr schon wieder mit den Schwestern des Kantonsspitals die Frühmesse“91.

Schließlich reichte er seine Dissertation mit dem Titel Die Wahl des Priesterberufes als psychologisch-pädagogisches Problem im Frühjahr 1954 bei dem katholischen Erstgutachter Prof. Eduard Montalta92 ein, weil es Walther als Protestant am „letzte[n] Verständnis für [die] tiefere Wirklichkeit des Priesterberufes“93 gefehlt habe. Bei Montalta hatte Crottogini zuvor Vorlesungen in der Heilpädagogik und der Kinder- und Jugendpsychologie gehört.94 Seine letzte Prüfung an der Universität legte Crottogini am 15. Mai 1954 ab. Über den Abschluss seines Studiums berichtete er seinem Generaloberen Blatter: „Es ist alles weit besser gegangen, als ich zu hoffen wagte. Sowohl für die schriftliche wie mündliche Arbeit erhielt ich ein Summa cum laude.“95 Nachdem die Anzahl der Pflichtexemplare erst von 50 auf 30 reduziert worden war96, hatte der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät Crottogini 1956 von der Ablieferung der Pflichtexemplare ausnahmsweise gänzlich befreit.97 Die Exemplare waren zwar bereits gedruckt, durften aber aufgrund eines Publikationsverbots vom Hl. Stuhl nicht verbreitet werden. Der Abschluss des Promotionsverfahrens verzögerte sich entsprechend, weshalb er seine offizielle Doktorurkunde erst im Sommer 1956 erhielt.

1.3 Gymnasiallehrer und Novizenmeister (1954–1967)

Nach seinen Prüfungen kehrte Crottogini im Herbst an das Progymnasium Rebstein zurück, wo er erneut als Lehrer und Präfekt eingesetzt wurde. Er übernahm die Aufgabe im Gehorsam, ließ seinen Oberen aber wissen, dass weiterhin die Mission sein Ziel war:

„Ich freue mich, wieder eine konkretere Arbeit leisten zu dürfen. Noch lieber als Rebstein wäre ich nach Japan gezogen. Sie wissen ja darum. Denken Sie bitte daran, wenn sich diesbezüglich in Japan plötzlich eine dringende Notwendigkeit ergeben sollte. Augenblicklich würde ich mich für einen solchen Wechsel noch für fähig halten. In zwei, drei Jahren wird das kaum mehr der Fall sein.“98

Über sein Empfinden am Gymnasium berichtete er dem Verleger seiner Dissertation Oscar Bettschart: „Ich habe hier in Rebstein als Präfekt über hundert Boys im besten Flegelalter zu bändigen und das ist neben der Schule und den vielen Aushilfen eine so ermüdende Angelegenheit, dass ich vorderhand zu gar nichts mehr komme, geschweige denn zu einer soliden wissenschaftlichen Arbeit.“99 In den nächsten beiden Jahren änderte sich daran nichts, vielmehr berichtete Crottogini im April 1956: „Gegenwärtig haben wir 124 Boys hier. Damit ist das Haus bis auf den letzten Platz besetzt.“100 Eine Änderung war für Crottogini erst absehbar, als er Josef Böhler, den bisherigen Novizenmeister, im Missionsseminar der SMB in Schöneck ablösen sollte.

Der Generalobere Blatter hatte ihn schon früher zu einer Einwilligung gedrängt, dieses Amt zu übernehmen, doch hatte Crottogini ursprünglich noch ein paar Bedingungen aushandeln können: Er hatte gefordert, ihm zur Vorbereitung vorab „ein Jahr zur spirituellen Vertiefung in Bibeltheologie und Katechetik“101 zuzugestehen. Ein solches Studienjahr, das er in München oder Paris hatte verbringen wollen, wurde ihm zunächst auch zugesagt.102 Gründe für eine abrupte Übergabe des Amtes nannte Crottogini keine, doch beschrieb er, „[v]öllig überrascht musste ich von einem Tag auf den anderen P. Josef Böhler […] ablösen.“103 Das vereinbarte Jahr zur Vertiefung seiner Studien trat Crottogini so nie an. Nur knapp eine Woche nachdem er seinem ehemaligen Lehrer Bischof Caminada noch von seinen Plänen berichtet hatte, gratulierte ihm bereits sein Mitbruder Fridolin Stöckli zu seiner neuen Aufgabe als Novizenmeister.104

Crottogini war über seine neue Tätigkeit hingegen nicht glücklich. Bis 1967 war er schließlich als Novizenmeister tätig und von „Jahr zu Jahr hat [ihn] diese Verantwortung mehr belastet.“105 Seine als defizitär empfundene eigene theologische und auch spirituelle Ausbildung sorgte ihn, aber auch die festgefahrenen Strukturen in der Ausbildung und im Umgang mit den Novizen waren ihm zuwider. Aus psychologischer Sicht sei ihm die reglementierte Tagesordnung wie ein „Kindergartenprogramm“106 vorgekommen:

„Die jungen Männer, die sich nach der Matura oder nach einer abgeschlossenen Berufslehre für die SMB interessierten, wurden mit dem Eintritt ins Noviziat von den gefährlichen Einflüssen des Weltgeschehens ausserhalb des Seminars fast hermetisch abgeschirmt. Offiziell gab es für sie keine Zeitungen, kein Radio, keine TV. In der für sie zugänglichen Hausbibliothek gab es keine Belletristik, nur harmlose theologische und aszetische Literatur. Der persönliche Kontakt mit Außenstehenden, vor allem mit Frauen, wurde auf ein Minimum reduziert. Die kleinste Änderung dieser Tradition stiess anfänglich bei der Seminarleitung […] auf harte Kritik. […] Von Jahr zu Jahr wurden die persönlichen, religiösen und beruflichen Probleme der jungen Männer drängender. Die Berufsentscheidung, zu der sie im Laufe des Jahres und dann vor allem während der Grossen Exerzitien herausgefordert wurden, belastete sie und mich enorm. Rund die Hälfte der SMB-Aspiranten entschied sich in diesen Wochen für eine andere Berufslaufbahn. Der Abschied vom angestrebten Priester- oder Missionsberuf ist diesen Kandidaten, den im Seminar zurückbleibenden Novizen und auch mir alles andere als leicht gefallen.“107

Um diesem Druck zu entgehen, bot Crottogini seinem Oberen den Verzicht auf sein Amt an. Sein Oberer lehnte aber ab.108 Kurz vor Ostern 1966, nur wenige Monate nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils im Dezember 1965, hatte Crottogini einen Motorradunfall. Seine Verletzungen waren so schwer, dass er vier Monate im Krankenhaus gepflegt werden musste. Gerade in den ersten Tagen waren die Schmerzen sogar so stark, dass er Gott bat, zu sterben.109 Als er nach dem Krankenhausaufenthalt und anschließender Rehabilitation ins Missionsseminar zurückkehrte, stand schon bald das erste Generalkapitel nach dem Konzil an.

1.4 Generalvikar (1967–1981)

Im Rahmen des Generalkapitels wurde Crottogini 1967 für eine Amtsperiode von sieben Jahren zum Generalvikar110 und sein Mitbruder Josef Amstutz zum Generaloberen gewählt.111 Für Crottogini bedeutete auch dieses Amt wieder einen Neuanfang, denn erstmalig wurden ihm keine Lehrtätigkeiten, sondern Leitungsaufgaben übertragen. Und auch für Amstutz waren die Aufgaben eines Generaloberen neu. Plötzlich waren sie es, die „hauptamtlich diese Missionsgesellschaft führten und verantworteten.“112 Doch die beiden Männer nutzen ihre Chance und wollten die SMB in eine neue Richtung lenken. In Anknüpfung an das gerade beendete Konzil wollten sie das Verständnis von Mission erneuern und bedürfnisorientierter vorgehen. Wie

„man bisher in Lateinamerika und Afrika Mission verstanden hat, da irgendwo ins Nirgends einen Pfarrer zu schicken, das bringt nichts, das kann nicht unsere Aufgabe sein. Wir müssen also hingehen und zuerst mal schauen, was brauchen diese Leute und wie kann man sie zur Selbständigkeit bringen, dass sie aus ihrem Elend, aus ihrer Armut allmählich rausfinden. Was sind die Grundursachen für die bestehende Armut“113?

Zusammen planten sie die ersten missionarischen Equipeneinsätze, die zum festen Bestandteil der SMB wurden: Im Rahmen dieser Einsätze sollten nicht nur Priester in die Mission geschickt werden, sondern auch Vertreter anderer Berufsgruppen, wie etwa Lehrer, Bauern, Krankenschwestern und Sozialarbeiter, um den verschiedenen Bedürfnissen in den verschiedenen Missionsgebieten gerecht zu werden. Die psychologische Vorauswahl der Bewerberinnen und Bewerber und deren Vorbereitung auf den Auslandseinsatz fiel Crottogini zu. Dies kostete ihn „[v]iel Kraft und Zeit […] [neben der] Begleitung von Mitbrüdern, die schwere Zölibatskrisen zu bestehen hatten. Nicht wenige, auf die wir grosse Hoffnungen gesetzt hatten, gaben damals den Priesterberuf auf und schieden dadurch aus der SMB aus.“114 Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Equipeneinsätze, die nicht Mitglieder der SMB waren, sondern sich durch einen Arbeitsvertrag verpflichtet hatten, schieden oft frühzeitig wieder aus. Man habe ihnen zwar von den Schwierigkeiten erzählt, „die es da so gibt im Equipo und im Land, wo sie da hingingen […]. Aber Tatsache war, du kannst den Ernstfall nicht proben, […] in den ersten zehn Jahren sind gut dreissig Prozent frühzeitig wieder nach Hause gekommen von diesen Equipo-Leuten.“115

Gemeinsam mit dem Generaloberen war es als Generalvikar außerdem Crottoginis Aufgabe, zweimal in der siebenjährigen Amtsperiode alle Einsatzgebiete der SMB für Visitationsgespräche zu besuchen. Der Generalobere bereiste überwiegend die (latein-)amerikanischen Gebiete, während Crottogini die Reisen nach Afrika und Asien antrat. Und spätestens dort wurde ihm bewusst, dass es auch für ihn immer noch eine Option war, selbst noch einmal in die Mission zu gehen, denn diese Reisen „liessen [ihn] jedes Mal einen befreienden Abstand zu den oft zu gross geschriebenen Problemen der Heimatregion gewinnen.“116

Im engeren Umfeld Crottoginis gab es vor allem in den früheren Jahren seiner Amtszeit gesundheitliche Sorgenfälle, die ihn sehr belasteten. So starb zwischen Weihnachten und Silvester 1970 zuerst seine Mutter. Ein halbes Jahr später, im Juni 1971, erlitt der Generalobere Amstutz einen Herzinfarkt. Amstutz erholte sich zwar vollständig, doch fiel er bis Ende September aus, sodass die alleinige Verantwortung in dieser Zeit bei Crottogini lag. Nach Visitationsreisen war es schließlich zuletzt im März 1973 Crottogini selbst, der aufgrund eines schweren Skiunfalls für einige Zeit ausfiel.117

1974 wurde Crottogini erneut zum Generalvikar und Amstutz ein weiteres Mal zum Generaloberen gewählt. In dieser zweiten Amtsperiode standen wieder Reisen in die Missionsgebiete an. Und noch immer hatte Crottogini die Idee im Hinterkopf, noch in die Mission zu gehen.118 Alternativ konnte er sich vorstellen, nach seiner Zeit als Generalvikar als Kaplan in die Nähe von Chur zurückzukehren,

„wo ich nichts zu tun habe, ausser am Sonntag einen Gottesdienst zu feiern. […] [W]ährend der Woche […] hätte ich dann die Gelegenheit gehabt, […] eine neue Arbeit über die Berufskrise des höheren Klerus [zu schreiben], vom Bischof aufwärts bis zum Papst […], das hätte ja auch einige Schwierigkeiten ausgelöst.“119

Als schließlich 1981 ein neuer Generalrat gewählt wurde, wurden Crottogini als Generalvikar und Amstutz als Generaloberer abgelöst. Die Ablösung empfand Crottogini als Erleichterung, weil die vergangenen „vierzehn, alle Kräfte herausfordernden Jahre [der] Weiterführung der nachkonziliare[n] Erneuerung der SMB“120 für ihn in dieser verantwortungsvollen Position nun beendet waren.

1.5 Missionseinsätze (1982–1996)

Trotz seiner 63 Jahre hegte Crottogini noch immer den Wunsch, in die Mission zu gehen. Seines Alters und auch der fehlenden Fremdsprachenkenntnisse war er sich sehr wohl bewusst. Aber das Versprechen, das ihm der Generalobere Blatter einst gegeben hatte, Crottogini könne eines Tages noch in den Missionseinsatz gehen, jenes „Trostpflästerchen“121, wollte er eingelöst wissen – und die neue Leitung der SMB stimmte seinem Anliegen zu.

Im April 1982 trat Crottogini seinen ersten Missionseinsatz in Kolumbien an. Er bedauerte, dass er anstelle eines Sprachstudiums zuerst für mehrere Wochen den Pfarrer der deutschsprachigen Pfarrei in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, vertreten sollte.122 Im Anschluss erst konnte er sich dem Sprachstudium widmen, das er als „hartes Brot“123 bezeichnete. Aber er blieb zuversichtlich und plante, nach seinem Sprachkurs für

„einige Monate auf Wanderschaft [zu] gehen. Das heisst, ich werde bei einigen unserer Equipen eine ‚Schnupperlehre‘ absolvieren. Bei dieser Gelegenheit wird sich zeigen, wie weit ich das bisher Gelernte in der Praxis anwenden kann. Gleichzeitig hoffe ich zu sehen, ob und wo für mich noch ein sinnvoller Einsatz zu leisten ist.“124

Das Erlebte, so schrieb er in einem Rundbrief zum Weihnachtsfest 1982, könne er aber bisher nicht „auch nur einigermassen objektiv einordnen.“125 Weder beschwerte er sich noch brach er den Einsatz frühzeitig ab, doch fielen seine Erfahrungsberichte nüchtern aus:

„Seit meinem Aufenthalt in Kolumbien bin ich zweimal ‚unter die Räuber‘ gekommen. […] Das Schlimme ist nicht der Verlust des Geldes, der Kleider und der andern Utensilien, um die ich und meine Begleiter bei dieser Gelegenheit erleichtert wurden. Weit schlimmer scheint mir die Tatsache zu sein, dass die ‚Ladrones‘ meist sehr junge Leute sind, die keine andere Möglichkeit sehen, als sich durch solche Überfälle die nackte Existenz zu sichern. Die tägliche Konfrontation mit den harten sozialen Gegensätzen hier in Bogotá macht mir mehr Mühe als die Diebereien im Bus“126.

Nach dem Abschluss seines Sprachstudiums und nach Einblicken in die Tätigkeiten verschiedener Equipen in Kolumbien wurde er zu Beginn des Jahres 1984 für einige Monate nach El Rosario/Nariono gebeten. Dort sollte er bei den Vorbereitungen helfen, die dortige Pfarrei in die Selbstständigkeit zu entlassen, die bisher von der SMB betreut worden war.127

Mit zwei SMB-Mitarbeiterinnen aus der Schweiz begann er anschließend mit der Arbeit in einem Armenviertel der karibischen Hafenstadt Cartagena. Hier wurde er über die Jahre Zeuge, wie Leute „Tag für Tag um das nackte Überleben kämpfen“128. Die Hilfe zur Selbsthilfe, die er leisten wollte, war den meisten Bewohnern des Viertels zu abstrakt, in den meisten Fällen erhofften sie sich „Direkthilfe, […] Brot für sich und ihre Familien, […] ärztliche Betreuung der Kranken und Schulunterricht für die Kinder.“129 Crottogini wurde in dieser Zeit sehr „gefordert und das bei einer Temperatur, die nachts noch 30 Grad zählte. Dabei wurden wir mit allem konfrontiert, was es im Leben gibt und, nach europäischen Vorstellungen, nicht geben kann. Rückblickend ist diese Zeit die abwechslungsreichste, intensivste Wegstrecke meines Lebens.“130 Im Mai 1990 wurde er fernab des Ufers auf offenem Meer beim Schwimmen von einem Motorboot erfasst. Seine Verletzungen waren lebensbedrohlich, doch wurde er gerade noch rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht. Infolge des Unfalls musste er für ein Jahr aus dem Dienst ausscheiden und war nun selbst in der Rolle des Hilfsbedürftigen. In dieser Rolle fühlte er sich nicht wohl, schämte sich anfangs sogar, empfand sich aber letztlich als „der von ihnen [den eigentlich Hilfsbedürftigen; J. S.] Beschenkte.“131

Zum Jahresende 1991 flog er für knapp ein Jahr zurück in die Schweiz, wo er mit einer Evaluation der Equipeneinsätze der SMB begann. Diese Arbeit setzte er ab Oktober 1992 in Kolumbien fort. „Um zu erfahren, was von unseren missionarischen Einsätzen vor Ort aus der Sicht der Einheimischen geblieben ist, musste ich auf all diesen Plätzen mit der Bevölkerung ins Gespräch kommen. Der ständige Orts- und Klimawechsel war recht ermüdend.“132 Im Rahmen dieser Evaluationsarbeit reiste Crottogini Anfang 1996 außerdem nach Ecuador, Peru und Bolivien.

1.6 Rückkehr in die Schweiz (1996–2012)

Im Sommer 1996 kehrte Crottogini endgültig zurück in die Schweiz, wo er zunächst in seiner Heimatstadt und -region Chur in der Seelsorge tätig war.133 Crottogini nannte es selbst den „Beginn einer neuen ‚Missionsarbeit‘“, weil ihm auch kleinere „Diasporagemeinden“134 übertragen wurden. Im darauffolgenden Jahr feierte er den fünfzigsten Jahrestag seiner Priesterweihe in seiner Primizkirche, der Kathedrale von Chur. Im Jahr 2000 wurde er für vier Monate vertreten, um die einst begonnene Evaluationsarbeit abzuschließen.135 Für drei Wochen reiste er zudem noch ein letztes Mal nach Kolumbien. 2001 kehrte er schweren Herzens nach Immensee zurück. Nach der langen Abwesenheit und wegen der vielen freien Zeit ohne konkrete Aufgabe fiel es Crottogini zunächst schwer, sich in Immensee wieder einzuleben. Der Anschluss an Gesprächsgruppen erleichterte ihm die Rückkehr schließlich. Bis auf altersbedingte Krankheiten und einen Unfall im Mai 2002, bei dem er sich am rechten Schultergelenk verletzte, erfreute sich Crottogini guter Gesundheit.136 So hielt er 2002 auch noch einmal schriftlich fest, man möge nach seinem Tod seinen Leichnam „dem Anatomischen Institut der Universität [Fribourg; J. S.] […] zur Verfügung stellen.“137

Schließlich verstarb Jakob Crottogini im Alter von 93 Jahren am 7. Mai 2012 in Immensee. Dort fand am 19. Mai 2012 ein Gedenkgottesdienst für ihn statt. Eine Beerdigung gab es nicht, weil man seinem letzten Wunsch entsprach und seinen Körper der Forschung vermachte.138

37„Obwohl militärisch neutral, war die Schweiz als Exportnation in den Krieg und dessen Folgen voll involviert und zwar mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen. […] Im europäischen Vergleich war die Schweiz mehr als glimpflich davongekommen. Doch diese Einschätzung entsprach nicht der Wahrnehmung der kleinen Leute, die sich als Leidtragende der Entwicklung sahen. Sie hatten mit jahrelangem Militärdienst bei minimalem Sold und durch die Verteuerung von Lebensmitteln die Hauptlast des Krieges getragen.“ (REINHARDT, Geschichte, 419).

38 Vgl. StaLu, MEIER u. a., Biographie, 6 und StaLu, CROTTOGINI, Skizzen, 1.

39 Vgl. StaLu, DERS., Chronologie, 1. Crottoginis älteste Schwester war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre, die jüngste Schwester war drei Jahre alt (vgl. ebd.).

40 StaLu, MEIER u. a., Biographie, 6.

41 Vgl. ebd. sowie StaLu, CROTTOGINI, Skizzen, 1.

42 Vgl. StaLu, MEIER u. a., Biographie, 6.

43 Ebd.

44 Ebd.

45 „Was sie in dieser Zeit ohne Sozialhilfe, ohne Witwenrente oder anderweitige Unterstützung in der Stadt mit sieben unmündige[n] Kinder[n] durchgemacht hat, von dem hatte ich damals keine Ahnung. Das ist mir erst viel später aufgegangen“, so Crottogini im Alter von 83 Jahren (vgl. StaLu, CROTTOGINI, Skizzen, 1 und StaLu, MEIER u. a., Biographie, 6).

46 StaLu, CROTTOGINI, Skizzen, 1.

47 Ebd.

48 StaLu, DERS., In memoriam Caminada, 1.

49 Vgl. ebd., 1f. Christian Caminada (1876–1962) empfing 1900 die Priesterweihe, war seit 1934 Generalvikar und 1941 wählte ihn das Domkapitel zum Bischof von Chur (vgl. SURCHAT, Caminada, 122f. und SAUSER, Caminada, 285). Bei den Kindern, die den hageren Dompfarrer „Plattfuss Indianer“ (StaLu, CROTTOGINI, In memoriam Caminada, 1) nannten, war er beliebt. Dies lag nicht zuletzt an den beiden Vatikanmarken, die der Schüler mit den besten Antworten am Ende einer jeden Unterrichtsstunde bekam. Die Marken seien unter den Schülern begehrt gewesen (vgl. ebd.).

50 Der Grundstein für die SMB wurde 1895 mit der Gründung der Apostolischen Schule Institut Bethlehem in Meggen bei Luzern gelegt. Der Gründer, Pierre Marie Barral, beabsichtigte, mittellosen Familien die Ausbildung der Söhne zu Priestern für Gebiete mit Priestermangel zu ermöglichen, etwa für „arme[] Diözesen, in der Diaspora und den Missionen“ (MEIER, Missionsgesellschaft, 209). Bereits 1896 wurde die Schule nach Immensee verlegt. 1916 wurde der Churer Diözesanarchivar Pietro Bondolfi vom Bischof von Chur zum neuen Institutsdirektor ernannt. 1920 erhielt die Schule das Recht, die staatliche Matura abzunehmen. Mit Dekret v. 30. Mai 1921 wurde die Missionsgesellschaft Bethlehem errichtet und der Jurisdiktion der Sacra Congregatio de propaganda fide