Zerreißprobe - Patricia Vandenberg - E-Book

Zerreißprobe E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Felix Norden lag im Bett. Obwohl er wach war, hielt er die Augen geschlossen. Er fühlte sich wie erschlagen. Als ob er am Abend zuvor zu viel getrunken hätte. Sein Kopf dröhnte vor Schmerz, etwas an seiner Hand juckte. Instinktiv wollte er sich kratzen. Aber was war das? »Eine Infusion?« Seine Stimme war ihm seltsam fremd. »Warum hab ich eine Infusion?« Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung, einer Erinnerung. Bevor er aber einen klaren Gedanken fassen konnte, war die Frage schon wieder aus seinem Gedächtnis verschwunden. Stattdessen blitzten plötzlich alte Bilder auf. Felix' Zwillingsschwester im Sandkasten beim Sandkuchenbacken. Silvester mit April, als sie sich in die Gardine eingewickelt hatte. Und dann wieder ein großer Sprung zurück zur Fahrprüfung. Nein, nicht diese Erinnerung! Felix wehrte sich verzweifelt. Vergeblich. Schon saß er im Fahrschulwagen und fuhr mit angezogener Handbremse durch die Stadt.

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Dr. Norden – 19 –

Zerreißprobe

Fee Norden braucht jetzt starke Nerven

Patricia Vandenberg

Felix Norden lag im Bett. Obwohl er wach war, hielt er die Augen geschlossen. Er fühlte sich wie erschlagen. Als ob er am Abend zuvor zu viel getrunken hätte. Sein Kopf dröhnte vor Schmerz, etwas an seiner Hand juckte. Instinktiv wollte er sich kratzen. Aber was war das?

»Eine Infusion?« Seine Stimme war ihm seltsam fremd. »Warum hab ich eine Infusion?« Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung, einer Erinnerung. Bevor er aber einen klaren Gedanken fassen konnte, war die Frage schon wieder aus seinem Gedächtnis verschwunden. Stattdessen blitzten plötzlich alte Bilder auf. Felix’ Zwillingsschwester im Sandkasten beim Sandkuchenbacken. Silvester mit April, als sie sich in die Gardine eingewickelt hatte. Und dann wieder ein großer Sprung zurück zur Fahrprüfung. Nein, nicht diese Erinnerung! Felix wehrte sich verzweifelt. Vergeblich. Schon saß er im Fahrschulwagen und fuhr mit angezogener Handbremse durch die Stadt. Bis er sein Versehen bemerkte, die Bremse panisch löste und den Wagen mitten auf einer Kreuzung abwürgte. In letzter Sekunde gelang es dem entgegenkommenden Fahrer, einen Aufprall zu verhindern.

Vor Schreck riss Felix die Augen auf.

»Hallo, da bist du ja wieder.« Seine Mutter saß am Bett und lächelte ihn tapfer an.

»Mum?«

»Weißt du, wo du bist?«

Felix Blick flog hin und her.

»Das wollte ich dich gerade fragen.«

»Keine Idee?« Fees Lächeln wurde verzweifelt.

Er verneinte und schloss die Augen. Sehen war anstrengend.

»Du bist seit ein paar Tagen in der Behnisch-Klinik und wurdest hier operiert«, hörte er Fees bedrückte Stimme.

Sie warf einen Blick auf die Instrumente, die unablässig die Vitalfunktionen überwachten und aufzeichneten.

Zumindest die Werte gaben keinen Anlass zur Sorge.

»Hatte ich einen Unfall?«

Diesmal konnte Fee das Seufzen nicht länger zurückhalten.

»Weißt du wirklich gar nichts mehr?«

Felix öffnete die Augen wieder.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Fee bemerkte die Panik in seinem Blick und legte ihm behutsam die Hand auf den Arm.

»Das hängt mit deinem Schädel-Hirn-Trauma zusammen. Außerdem hattest du eine komplizierte Beckenfraktur. Jenny hatte jede Menge Arbeit damit, dich wieder zusammenzuflicken.«

Felix lag im Bett und starrte vor sich hin. Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte.

Deshalb öffnete sie die Nachttischschublade und zog einen Notizblock hervor.

»Ich habe eine retrograde Amnesie und kann mich nicht an die vergangenen sechs Wochen erinnern«, las sie ihm das vor, was er vor ein paar Tagen selbst notiert hatte. »Meine letzte Erinnerung ist Ostern, als April mir Schokolade in die Hosentasche gesteckt hat und mich alle ausgelacht haben.«

»Stimmt!« Felix versuchte ein Grinsen. Es gelang leidlich. »Mann, war das mal wieder eine peinliche Aktion.«

»Wir fanden’s lustig und haben sehr gelacht.« Fee griff nach einem Stift und schrieb in das Buch.

»Was machst du?«, erkundigte sich Felix. Tapfer kämpfte er gegen die Erschöpfung an.

»Ich schreibe eine Notiz für Dr. Merizani. Das ist der Neurologe, der dich hier behandelt.« Wieder war ihr Blick voller Sorge. »Du erinnerst dich nicht an ihn?«

»War ich wach, wenn er hier war?«

»Manchmal.«

Felix biss sich auf die Unterlippe. Er hatte keine Ahnung. Außerdem wollten seine Augen schon wieder zufallen.

Doch noch wehrte er sich tapfer dagegen.

»Was für ein Unfall war das überhaupt?«

»Ein Flugzeugabsturz. Du warst mit deinem Freund Manuel in einer geliehenen Cessna in Berlin. Auf dem Rückweg seid ihr kurz vor der Landung abgestürzt.«

Während sie erzählte, wurde Felix` Miene immer panischer.

»Waaass?« Er konnte es nicht glauben. Dort, wo die Bilder hätten sein sollen, war nichts als ein großes, schwarzes Loch. Verzweifelt suchte er nach einer Erinnerung. Vor Anstrengung fielen ihm die Augen zu.

Bedrückt saß Dr. Felicitas Norden am Bett ihres zweitältesten Sohnes.

Natürlich war es ein Trost, dass er nach dem künstlichen Koma aufgewacht und die Operation gut verlaufen war. Auch, dass er wieder angefangen hatte zu sprechen, war ein positives Zeichen. Dass er sich aber nicht erinnerte, grenzte an eine Katastrophe.

In ihre Gedanken hinein fühlte sie eine Hand, die sich sanft auf ihre Schulter legte.

»Machen Sie sich nicht so viele Sorgen.« Die warme, dunkle Stimme mit fremdem Akzent gehörte dem iranischen Neurologen Amir Merizani. Er kümmerte sich rührend um Felix. Schon deshalb konnte sich Fee nicht erklären, warum sie auf einmal böse wurde.

»Sie reden sich leicht! Immerhin liegt hier nicht Ihr Sohn, der sich nicht erinnern kann. Dem außerdem vorgeworfen wird, ein geliehenes Flugzeug durch ein leichtsinniges Manöver zum Absturz gebracht und einen Freund schwer verletzt zu haben«, empörte sie sich. »Der Vater hat schon Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung erstattet. Nicht genug damit, macht uns die Versicherung das Leben momentan auch zur Hölle«, schimpfte sie weiter.

Das gütige Lächeln auf Dr. Merizanis Gesicht veränderte sich nicht.

»Wisse, dass es kein Leid gibt, dem nicht Freude folgt, kein Unglück, das nicht irgendein Glück nach sich zöge.« Mit Samtstimme zitierte er ein persisches Sprichwort und nahm Fee damit allen Wind aus den Segeln.

Sie fuhr sich über die Augen.

»Sie haben natürlich recht. Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich und stand auf. Es wurde Zeit, an die Arbeit zurückzukehren.

Dr. Merizani lächelte sie schweigend an. Er war kein Freund vieler Worte und gerade deshalb einigen Kollegen unheimlich. Das konnte Fee nicht von sich behaupten. Ganz im Gegenteil hegte sie eine große Sympathie für den Neurologen und setzte alle Hoffnungen in ihn, dass er Felix helfen konnte.

*

»Ich bin kein Freund von operativen Eingriffen und ziehe sie nur in Betracht, wenn alle anderen Therapiemöglichkeiten gescheitert respektive ausgeschöpft sind«, versicherte Dr. Daniel Norden auf dem Weg zum Schreibtisch.

Angelika Kramer folgte ihm, ihre Tochter Mathilda an der Hand. Er zog einen zweiten Stuhl für das Mädchen heran, ehe er sich setzte und die beiden aufmerksam musterte.

»In Mathildas Fall sehe ich leider keine andere Möglichkeit, um sie von ihrer Qual zu befreien.«

»Aber ist das nicht gefährlich?«, fragte Angelika sichtlich besorgt.

»Natürlich birgt jede Operation eine Gefahr«, musste Daniel einräumen. »Bei der Entfernung der Gaumenmandeln handelt es sich allerdings um einen Routineeingriff. Ich schätze das Risiko als relativ gering ein.«

Angelika hatte ihm aufmerksam zugehört. Sie sah hinüber zu ihrer Tochter, die teilnahmslos auf dem Stuhl saß.

»Hast du das gehört, mein Schätzchen? Du musst operiert werden.«

Im Gegensatz zu ihrer Mutter schien die Siebenjährige nicht weiter beunruhigt. Sie zuckte nur mit den Schultern und starrte weiter auf einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden.

»Wie gesagt, das ist kein Grund zur Sorge«, versicherte Dr. Norden noch einmal. »Es ist gar nicht immer nötig, die kompletten Organe herauszunehmen. Wenn sie nur vergrößert, aber nicht entzündet sind, wird heutzutage nur noch ein Teil mit Laser entfernt. Dieser Eingriff gilt im Vergleich zur Gesamtentfernung als wesentlich sanfter.« Er wandte sich an seine kleine Patientin. »In ein paar Tagen bekommst du endlich genug Luft, um nach Herzenslust mit anderen Kindern herumzutoben.«

Ein dünnes Lächeln spielte um Mathildas Lippen.

»Das wär schön.« Mehr sagte sie nicht, wie sie überhaupt ein sehr stilles Kind war.

Doch darüber machte sich Dr. Norden keine Gedanken. Er schob diesen Umstand auf die beständige Atemnot seiner kleinen Patientin, die ihr den Spaß am Leben inzwischen fast völlig vergällte.

»Gut.« Er nickte zufrieden, zog die Tastatur des Computers zu sich und begann zu tippen. »Sie bekommen eine Überweisung für die Behnisch-Klinik. Wenn Sie wollen, mache ich gleich einen Termin. Dann können Sie Mathilda schon heute dorthin bringen.«

»So schnell?«, entfuhr es Angelika.

Daniel legte den Kopf schief.

»Ich sehe keinen Grund, noch länger zu warten. Mathilda ist gesund und in einer stabilen Verfassung«, erwiderte er.

Die Mutter haderte mit sich. Schließlich stimmte sie Daniels Vorschlag zu und verließ wenig später in seiner Begleitung das Sprechzimmer. Ernsthaft wanderte das Mädchen neben den Erwachsenen her.

»Komisches Kind«, bemerkte Janine, nachdem Mutter und Tochter die Praxis verlassen hatten. »Wenn sie nicht so klein wäre, würde ich denken, dass sie Drogen nimmt.«

Dr. Nordens langjährige Assistentin Wendy musterte ihre Freundin und Kollegin belustigt.

»Zu viel Brennpunkt-TV geschaut, was?«, sagte sie ihr auf den Kopf zu.

Unwillig zog Daniel die Stirn kraus.

»Ehrlich gesagt hatte ich Ihnen ein bisschen mehr Einfühlungsvermögen zugetraut«, tadelte er sie schroffer als beabsichtigt.

Seit Felix in der Klinik lag, war auch ihm der unbeschwerte Tonfall abhandengekommen. Er griff nach einer der Patientenkarten auf seinem Stapel, um gleich darauf mit dem Patienten den Flur hinunter zu gehen. Mit leisem Klacken fiel die Tür des Sprechzimmers hinter den beiden ins Schloss.

Auf diesen Moment hatte Janine gewartet.

»Die Stimmung hier war aber auch schon mal besser«, murrte sie und ging in die Küche nebenan. »Da braucht man ja eine Überdosis Serotonin, um das unbeschadet zu überstehen.«

»Du suchst doch nur nach einem Grund, um noch ein zweites Schokocroissant zu essen«, vermutete Wendy und lachte, als Janine zurückkam.

Ihre Backen waren rund und ihre Mundwinkel mit Bröseln garniert. In der Hand hielt sie das Objekt der Begierde.

»Woher haft du daf nur gewufft?«, nuschelte sie mit vollem Mund.

»Ich kenne meine Pappenheimer eben«, erwiderte Wendy lächelnd und machte ihre Freundin mit einem vielsagenden Blick auf den nächsten Patienten aufmerksam, der eben die Praxis betrat.

Schnell schluckte Janine das Croissant herunter und setzte ein strahlendes Lächeln auf, nichtahnend, dass ihr Mund mit einem schönen Schokorand verziert war.

*

»Tut mir leid, ich kann nicht anders.« Felicitas Norden klappte die Akte zu und lehnte sich zurück, um ihr Gegenüber anzusehen. Innerlich bebte sie vor Zorn. Doch sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Sie haben mehrfach versäumt, Medikamentengaben zu notieren. Um ein Haar wäre es zu einer lebensgefährlichen Wechselwirkung gekommen. Das kann ich unmöglich hinnehmen. Deshalb ist die Abmahnung unumgänglich.«

Der Kinderarzt Götz Grabmann konnte nicht länger still sitzen. Empört sprang er auf und begann, rastlos vor dem Schreibtisch seiner Chefin auf und ab zu laufen.

»Wie oft soll ich noch sagen, dass das nicht stimmt! Ich leide doch nicht an Amnesie!« Das letzte Wort war ihm so rausgerutscht. Er hatte es kaum ausgesprochen, als er schon wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wie von einem Peitschenhieb getroffen, zuckte Felicitas zusammen. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich zerknirscht.

Doch es war zu spät. Fees Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Noch ein falsches Wort, und sie konnte für nichts mehr garantieren.

»Das reicht!« , erklärte sie mühsam beherrscht und stand auf zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Gehen wir wieder an die Arbeit.« Daniel hatte sie über die Ankunft von Mathilda Kramer informiert und darüber, dass die Mutter Bedenken bezüglich der Operation hatte. Deshalb wollte sie die beiden selbst in Empfang nehmen. Sie ging an Götz vorbei und hielt ihm die Tür auf. Als er ihrer Aufforderung folgte, schickte er ihr einen waidwunden Blick.

»Ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe keinen Fehler gemacht«, bekräftigte er noch einmal, ehe er um die Ecke verschwand.

Felicitas blieb kurz in der Tür stehen, ehe auch sie sich auf den Weg machte. Sie glaubte ihm. Und doch sprachen die Tatsachen gegen ihn. Dabei tat es ihr leid, dass es ausgerechnet Grabmann getroffen hatte. Der neue Kinderarzt war der heimliche Stern am Himmel der Pädiatrie. Gutaussehend, intelligent, charmant. Und Single. Nicht nur die Schwestern steckten hinter seinem Rücken die Köpfe zusammen und tuschelten. Auch die Ärztinnen buhlten um Götz’ Gunst. Sogar Felicitas erwischte sich manchmal morgens dabei, ihrem Spiegelbild einen prüfenden Blick zuzuwerfen und sich zu fragen, ob sie Götz wohl gefiel. Natürlich schob sie diesen Gedanken jedes Mal energisch beiseite. Und doch schlummerte er tief versteckt in ihrem Inneren.

Umso enttäuschter war sie nun von seinem Versehen. Es fehlten gleich drei wichtige Vermerke zu Medikamentengaben. Ein Mal wäre es um ein Haar zu einem verhängnisvollen Fehler gekommen. Wie der Zufall es wollte, war es ausgerechnet ihr ungeliebter Stellvertreter Volker Lammers gewesen, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufgetaucht war und die Kastanien aus dem Feuer geholt hatte.

Fee war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie fast mit Schwester Elena zusammengestoßen wäre.

»Hoppla, da ist die Chefin ja schon!«, verkündete die Schwester demonstrativ.

Gleichzeitig fühlte Fee, wie sie an den Schultern festgehalten wurde. Elena suchte ihren Blick.

»Alles in Ordnung?«, raunte sie ihrer Kollegin zu, die ihr über die Jahre und einige schwierige Fälle hinweg zu einer Freundin geworden war.

Fee sammelte sich schnell.

»Alles klar. Ich hab nur nachgedacht.«