Ziemlich alte Helden - Simona Morani - E-Book

Ziemlich alte Helden E-Book

Simona Morani

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis für junge Autoren "Premio Zocca Giovani"

In einem Bergdorf in der italienischen Provinz treffen sich seit (gefühlt) vierzig Jahren fünf alte Männer täglich in der Bar „La Rambla“. Sie trinken Schnaps, qualmen (unerlaubt) Zigaretten und der 96-jährige Gino, der so gut wie blind ist, fährt noch täglich eine kleine Runde auf seiner Ape durchs Dorf. Obwohl gerade ein guter Freund gestorben ist, trotzen die Alten dem Tod mit Humor und Starrsinn. Als ein junger Polizist ins Dorf kommt und die Greise nicht nur zur Ordnung aufruft, sondern sie auch möglichst schnell in das frisch gebaute Altersheim umquartieren möchte, haben sie nur eins im Sinn: dem Grünschnabel zu zeigen, dass sie im Dorf die älteren Rechte haben …

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Seitenzahl: 262

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Simona Morani

Ziemlich alte Helden

Roman

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Quasi arzilli bei Giunti, Mailand.

Dieser Roman ist reine Fiktion. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen und Gegebenheiten wären rein zufällig.

Das Zitat stammt mit freundlicher Genehmigung aus: Daniel Pennac, Paradies der Ungeheuer. Aus dem Französischen von Eveline Passet. © 2001, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

Copyright © 2015 Giunti Editore S.p.A.,Firenze – Milano

Per accordo di Thèsis Contents S.r.l., Firenze – Milano

www.giunti.it Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by carl’s books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18373-8 V003

www.carlsbooks.de

»Also habe ich versucht wieder einzuschlafen.Was mir gelungen sein muss, denn ich bin heute Morgen aufgewacht.«

Daniel Pennac, Paradies der Ungeheuer

PROLOG Albtraum im Mondschein

Es war ein harter, rhythmischer, abweisender Ton. Wo er herkam, ob von links oder rechts, von weither oder aus der Nähe, konnte Ettore nicht sagen. In dieser Finsternis war es unmöglich, sich zu orientieren. Als würde jemand zügig im Takt marschieren, obwohl es auch irgendwie hölzern klang. Da, plötzlich hörte das Geräusch auf. Und jetzt setzte es mit einem dumpfen Echo wieder ein. Ettore versuchte sich zurechtzufinden, doch sein Schädel fühlte sich so schwer an, als hätte er zwei Tage durchgeschlafen. Nein, das waren keine Schritte, das waren Knöchel, die auf etwas einhämmerten. Auf eine Tür oder ein Möbelstück. Und es war auch gar nicht so weit entfernt, wie er zunächst dachte, ganz im Gegenteil (übrigens, wie spät war es wohl?). Es schien, als klopfe jemand unmittelbar vor ihm, nur wenige Zentimeter entfernt. Zöge man eine imaginäre Linie vom Ausgangspunkt des Geräuschs zu seinem Körper, würde sie ihn genau auf Höhe seines Bauchnabels treffen. Aber wo war er? Gab es hier denn kein Licht? Stand er, oder lag er? Er wollte die Arme ausbreiten, doch es ging nicht. Er wurde von zwei Wänden eingeengt, die seine Bewegungsfreiheit einschränkten. Und wenn die Fingerknöchel an eine Tür vor ihm klopften, na, dann konnte das nur heißen, dass er sich in einem winzigen Zimmer befand. Oder in einem Schrank. Oder an irgendeinem anderen schrecklich klaustrophobischen Ort. Vielleicht in einem Sarg? Aber wie war er dort bloß hineingeraten?

»Aufwachen! Aufwachen!« Von der anderen Seite der Tür rief ihn jemand. »Wann kommst du endlich raus? Nun mach schon!« Er erkannte die Stimme sofort. Sie klang hell, kräftig und entschieden. Es war die Stimme seines Freundes Ermenegildo.

»Ermenegildo, was machst du denn hier? Wie spät ist es?«, fragte er verblüfft. Eine mehr als verständliche Reaktion, schließlich war Ermenegildo, den er noch vor nicht allzu langer Zeit zusammen mit den anderen Kameraden in der Bar getroffen hatte, vor ein paar Tagen von ihnen gegangen … für immer.

Ettores Herz begann wild zu schlagen. Mit einem Schrei wachte er endlich auf. Obwohl er schweißgebadet war, fror er; die Kälte fuhr ihm bis in die Knochen. Er machte Licht und sah, dass er in seinem Bett lag, im Schlafzimmer, in der wirklichen Welt. Die Uhr zeigte drei Uhr vierzig. Noch über zwei Stunden bis zum Tagesanbruch, aber er würde bestimmt nicht wieder einschlafen können. Nicht nach so einem Albtraum.

Ermenegildo hatte ihn zu sich gerufen, ins Reich der Toten. Aber warum ausgerechnet ihn? Er dachte an seine Kumpel aus der Bar, die aus unterschiedlichen Gründen den Vortritt verdient hätten. Gino war viel älter als er, Riccardo hatte ein ausschweifendes Leben geführt, und Basilio mit seinem tyrannischen Wesen … Ettore rieb sich das Gesicht. Was war nur in ihn gefahren? Vor lauter Scham und schlechtem Gewissen verspürte er erste Anzeichen von Unwohlsein: ein Beklemmungsgefühl in der Brust, Sehstörungen und so ein seltsames Jucken in der rechten Kniekehle. Er zog sich die Jacke über und ging hinaus frische Luft schnappen. Die Blätter an seinen Weinreben, die im Mondlicht silbrig glänzten, schaukelten leicht im Wind. Ettore fühlte sich gleich besser.

Das wird schon nichts Schlimmes sein, beruhigte er sich, nur eine leichte Ohnmacht oder niedriger Blutdruck. Bald würde der Tag anbrechen, dann würde er seinen gewohnten Abstecher in die Bar machen. Er würde tun, was er immer getan hatte, denn es gab keinen Grund, etwas daran zu ändern. Eventuell würde er mal beim Arzt vorbeischauen, nur so, vorsichtshalber. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er das letzte Mal einen Arzt aufgesucht hatte. Von Ärzten und Krankenhäusern bekam er Ausschlag. Schon als er klein war, hatte seine Mutter immer gesagt: »Ich war kerngesund, bis ich beim Arzt war.«

Doch dieser Traum von Ermenegildo ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Eine kurze Untersuchung würde doch niemandem schaden. Ja, beschloss er, dieses eine Mal würde er zum Arzt gehen.

1 Eine harmlose Wette

»Ich tippe auf Iole.«

»Wenn ihr mich fragt, ist es Greta.«

»Iole.«

»Und ich sage euch, es ist Greta, was wetten wir?«

»Einen Kaffee mit Sambuca, dass sie es ist.«

»Greta?«

»Iole!«

»Abgemacht!«

In der verqualmten Bar donnerte seine Faust auf den Tisch und wirbelte den Geruch von Kaffee, abgestandenem Wein, Zigarren und Kölnisch Wasser durcheinander. Als das schiefe Läuten der sonntäglichen Glocken verklungen war, drangen wieder Absatzgeklapper, Gezeter, quietschende Fahrradbremsen und Hundegebell von der Straße herein.

»Was muss ich da schon wieder hören?« Ettore bahnte sich einen Weg an den über Stuhllehnen baumelnden Sakkos vorbei und setzte sich zu seinen Gefährten an den Tisch. »Wenn Don Giuseppe das mitbekommen würde, wäre er nicht sehr erfreut.«

Er bekreuzigte sich rasch und bestellte durch ein kurzes Nicken das Übliche. Elvis spülte noch ein paar Gläser fertig, bevor er ihm mit tropfnassen Händen sein Viertel Roten servierte.

Die Stimmung war im Keller, die Partie Briscola wurde nur halbherzig und ohne große Begeisterung weitergespielt.

»Also, was machen wir jetzt?«, grummelte Cesare gereizt.

»Na, wir müssen nachsehen.« Begleitet von lautstarkem Protest beendete Gino die Partie, indem er seine Karten auf den Tisch schleuderte. Dann stand er wie in Zeitlupe auf und schlurfte in den Hof der Bar. Dort baute er sich für alle Passanten gut sichtbar auf und inspizierte die Schatten, die ihn umgaben. Da jegliche Drohworte und Flüche ausblieben, schloss er auf die Abwesenheit von Corrado, dem neuen Jungspund der Gemeindepolizei, und steuerte daher ungestört die Garage hinter der Bar an. Dort stieg er in ein wassergrünes und von Rost geädertes Gefährt, seine geliebte alte Ape.

Er hatte sie im Winter 1994 gekauft, nachdem die Straßenverkehrsbehörde ihm nach einer medizinischen Untersuchung endgültig bescheinigt hatte, dass er eine öffentliche Gefahr sei und sie ihm nicht einmal für Geld, ganze Schinken oder Parmesanlaibe die Fahrerlaubnis erteilen würden. Danach hatte er all seinen Mut zusammengenommen, sich schon im nächsten Morgengrauen zum Schrottplatz begeben und gewartet, bis Domenichini das Tor öffnete. Ein Berg von bereits gepressten Autos im Endstadium, viele nicht mehr zu erkennen, andere vom Leben gezeichnet: eine lange Narbe an der Wagentür, ein verblichener Wunderbaum-Aufhänger, ein mit dem Zeigefinger an die Windschutzscheibe geschmiertes »Auch du wirst eines Tages sterben«. Dann konnten sie genauso gut zusammen krepieren, sagte sich Gino und verharrte am Steuer seines fuchsbraunen Pandas.

»Was ist, willst du nicht aussteigen?«, fragte Domenichini, nachdem er das Tor geöffnet hatte.

»Nein. Ohne Auto hat mein Leben keinen Sinn mehr. Wir gehören beide zum alten Eisen«, zischte Gino bissig.

Es folgten Tritte, Stöße und Handgreiflichkeiten, weil Gino sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, den Wagen zu verlassen, bis Domenichini die Erleuchtung kam.

»Guck mal, das Auto da drüben. Siehst du das?«

»Nein, ich bin blind. Lass mich sterben.«

»Ich meine die Ape da hinten, neben dem Geländewagen.«

»Was ist damit?«

»Genauso eine harte Nuss wie du. Sieben Besitzer, vier Unfälle, zweimal geklaut und wieder aufgetaucht. Die hat fünfzehn Länder durchquert und hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Buckel, aber der Motor schnurrt noch immer wie eine Eins. Nimm sie mit, ich schenke sie dir, aber hör um Gottes willen auf, vom Sterben zu sprechen!«

»Und was ist mit meinen Papieren?«

»Vergiss die Papiere. Ich gebe dir einen Wisch für deinen Panda, beim Straßenverkehrsamt existierst du dann nicht mehr.«

Als sie sich die Hand gaben, beschlich Domenichini eine böse Ahnung: Er hatte zwar ein Leben verlängert, doch damit viele andere in Gefahr gebracht.

»Diese Signorina auf drei Rädern wird dich noch überdauern, wirst schon sehen.« Mit dieser prophetisch klingenden Warnung verabschiedete er sich schließlich von ihm.

Gino beugte sich vor, tastete mit seinem schwieligen Daumen das Armaturenbrett nach dem Schlitz ab und stocherte vergeblich mit dem Schlüssel herum. Vorbei die guten Zeiten, wo Sandra, die junge Altenpflegerin von der Gemeinde, ihm zweimal die Woche unter die Arme griff und das Zündschloss mit einem feuerroten Filzstift einrahmte. Eines schönen Tages hatte sie gesagt: »Allein schaffe ich das nicht mehr, Gino. Sie brauchen professionelle Hilfe, und zwar rund um die Uhr. Das neue Seniorenheim wird doch demnächst eröffnet, wäre das nichts für Sie?« Worauf er sie – ZACK! – vor die Tür gesetzt und nie wieder hereingelassen hatte. Und die Folgen seiner Borniertheit bündelten sich nun in diesem rosafarbenen Filzstiftkringel, der inzwischen viel zu blass und undeutlich war, um eine wirkliche Hilfe zu sein.

»Komm, gib her, ich mach das!« In seiner jovialen Art hatte Basilio, ehedem Kommandant der sechsundzwanzigsten Garibaldi-Brigade, seinen Strubbelkopf ins Innere des kleinen Autos gesteckt, um sich mit seinen Raubvogelklauen die Schlüssel zu krallen. Gino fuchtelte mit den Armen, um ihn zu verjagen. »Ah, hau ab, du Nervensäge! Seit zwanzig Jahren bringe ich die Karre sechsmal täglich zum Laufen, das krieg ich schon noch allein hin!«

»Aber bestimmt nicht mit deinem Hausschlüssel.« Eine sanfte Stimme hatte sich eingemischt. Gino drehte den Kopf zur Seite, und diesmal erschien das verschwommene Gesicht von Ettore am Fenster, der ihn mit seinem fürsorglichen und geduldigen Blick ansah. Hinter ihm in frommer Erwartung die Köpfe von Basilio, Cesare und Riccardo. Wutschnaubend und mit großer Geste ließ er den Motor der alten Kiste aufheulen. Ein Rülpser aus dem Jenseits, der Basilios Brust vor Stolz anschwellen ließ: Den Motor hatte nämlich er frisiert.

Anders als man vermuten könnte, hatte er das keineswegs getan, um Corrado auf die Palme zu bringen. Sein Überlebensinstinkt hatte ihm eingeflüstert, mit irgendeinem Kniff dafür zu sorgen, dass die Dorfbewohner Ginos unmittelbares Kommen hören und sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

»Und, was ist? Hinten ist noch Platz, soll ich einen von euch Eseln mitnehmen?«

»Fahr ruhig alleine, wir warten so lange hier auf dich«, antworteten sie fast im Chor und traten einen großen Schritt zur Seite.

Gino jagte sie mit einer zittrigen Handbewegung zum Teufel, löste die Handbremse und kroch unter lautem Reifenquietschen bis zum höchsten Punkt der Steigung. Von dort ließ er sich gemütlich die engen Kurven des Berghangs hinunterrollen.

Der frische Frühlingswind strömte durch die Seitenfenster und kraulte ihm seinen Flausenkopf. Das weiße Zottelhaar kitzelte Gino in den Ohren, und seine buschigen Augenbrauen, die ihm den feierlichen Ausdruck einer alten Eule verliehen, hingen ihm vor den Augen wie Gardinen. Er fuhr am Zeitungskiosk vorbei, an der Tankstelle und am Obst- und Gemüseladen, der seit dem Ableben des alten Ermenegildo wegen Geschäftsübergabe geschlossen war. Als er plötzlich das kristallklare Lachen seines kürzlich verstorbenen Kumpels hörte, als säße er leibhaftig neben ihm, bekam er augenblicklich Herzrasen.

Mit Mühe und Not schaffte er es gerade noch auf den Parkplatz vor der Geschäftsstelle des Roten Kreuzes, wo er, von einer Staubwolke verschluckt, mitten in einem Gestrüpp zum Stehen kam. Kurz darauf stand er wie ein kraftloser Zombie schwankend vor der großen Anschlagstafel und studierte die Aushänge und Ankündigungen von Volksfesten. Auf dem kleinen Vorplatz jagten sich drei Jungen kreischend und gackernd mit dem Ball, um plötzlich wie Schaufensterpuppen in wackeligen Positionen zu erstarren.

»He, Kleiner!« Gino rief nach dem Jungen, der ihm am nächsten stand.

Keine Antwort.

»He, dich meine ich!«

»Ich heiße Michela!«, empörte sich das Mädchen und löste sich aus der Erstarrung. Die beiden anderen prusteten los.

»Ah!« Gino rieb sich die verklebten Augen, sah aber immer noch die Umrisse eines Jungen in kurzen Hosen, der ihn an seinen Sohn Nicola vor fünfzig Jahren erinnerte. An die Zeit, als Schwarz-Weiß-Fotos noch einen verschnörkelten Rand hatten wie hausgemachte Ravioli und die Straße, die ihn hierhergeführt hatte, kaum mehr war als ein Haufen Steine.

»Kannst du schon lesen, Michelina?«

»Klar, ich bin in der dritten Klasse«, erwiderte sie leicht pikiert. Hinter ihr war erneutes Kichern und Prusten zu hören.

»Gut. Dann sag mir mal, was da oben steht«, forderte Gino sie auf und zeigte auf die Bekanntmachungen. Die Kinder verstummten augenblicklich. Michela nickte, trat zwei Schritte vor, räusperte sich und las:

»Iole Dolci, verwitwete Lorenzi, dreiundachtzig Jahre. Die traurige Nachricht verkünden ihre Schwester Greta, ihre Söhne Fernando und Ignazio, ihre Cousins Paolo und Giambattista, ihre Enkeltöchter Gisella, Berenice und Cosetta im Namen aller Angehörigen. Trauerfeier am Dienstag um 15 Uhr in der Chiesa di Santo Stefano.«

Gino senkte den Kopf und schloss einige Sekunden lang die Augen, als sei er schlagartig in eine Art Winterschlaf gefallen. Die Kinder blickten sich fragend an, bis plötzlich ein melancholischer Seufzer der Resignation dem Alten wieder Leben einzuhauchen schien.

Er schluckte bitter und sagte schließlich: »Gut gemacht, Michelina. Hast schön gelesen. Jetzt könnt ihr weiterspielen.«

Er ging zurück zu seiner Ape, die unerklärlicherweise zur Hälfte unter einem verhedderten Wust aus Buchsbaum und Alteisen begraben war. Er drehte sich um, steckte zwei Finger in den Mund und gab einen Pfiff zum Besten, der einen ganzen Taubenschwarm aufscheuchte.

Die alte Cordelia, die schlimmste Dorftratsche von Le Casette di Sotto, versteckte sich am Küchenfenster hinter den Gardinen und beobachtete, wie der Alte und die Kinder die Ape von dem Grünzeug befreiten, Gino dann einstieg und die Kinder die Schrottlaube mit krummen Rücken anschoben, bis der Motor dankbar aufstöhnte, sie in eine stinkende Abgaswolke hüllte und mitten auf der Straße zurückließ.

Auf dem Rückweg fuhr Gino dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung und kämpfte sich die Kurven und die kurzen geraden Abschnitte dazwischen den Berg hinauf wie ein Lachs auf seiner letzten Reise gegen die Strömung. Oben angekommen bog er, ohne zu blinken, auf den Platz vor der Bar ein, fuhr um das Haus herum auf Elvis’ bereits offen stehende Garage zu und flehte den Herrgott an, dass er die Lücke auch diesmal erwischte.

Als sie das unverwechselbare Dröhnen hörten, liefen seine Kumpel aus der Bar in den Hof und begannen, mit den Schuhsohlen kräftig durch den Kies zu schlurfen, um schnell jede Spur der Ape zu verwischen. Cesare rückte sich die Brille auf der Nase zurecht, ging an die Straße, schaute prüfend nach links und rechts und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Alles in Ordnung, Jungs, die Luft ist rein!«

Sie umringten ihn voller Neugier, endlich zu erfahren, wer die Wette gewonnen hatte, für die sich jeder von ihnen im Grunde seines Herzens ein wenig schämte.

»Und, ist es Greta oder Iole?« Fünf Augenpaare musterten ihn ungeduldig.

Gino zögerte, stützte einen Arm in die Seite und renkte seinen Rücken mit einem beeindruckenden Knarzen wieder ein. Er blinzelte, knirschte mit dem Unterkiefer, massierte sich den Nacken, bohrte sich mit dem Zeigefinger erst in dem einen, dann in dem anderen Ohr, um seine Gedanken zu sammeln, und brachte schließlich einen langen, von katarrhartigem Husten begleiteten Ächzer hervor.

»Mist!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich hab’s vergessen!«

2 Ein schwieriger Patient

»Der Nächste!«

Ettore erhob sich von seinem Stuhl und gab das Kärtchen mit der Nummer siebenundzwanzig ab. Er nahm immer den letzten der von Hand beschriebenen Zettel vom Stapel, die Dottor Minelli vorbereitet hatte, um Streitereien im Wartezimmer zu vermeiden. Er betrat das Untersuchungszimmer auf Zehenspitzen, um nicht zu stören, obwohl er der letzte Patient war. Er kam absichtlich immer erst gegen halb zehn, wenn der Warteraum schon voll war, denn so konnte er den Vormittag auf kurzweilige Art totschlagen und die Zuwendung einer jungen Frau, die Unschuld eines Kindes und das fröhliche Rascheln der Seiten bunter Illustrierter genießen, die von rot lackierten Zeigefingern durchgeblättert wurden.

Gelegentlich saß er neben Orvilla der Katzenfrau, einer Alten mit knotigen Händen voller Narben, die krampfhaft den Griff ihres Transportkäfigs umklammerten. Darin hockte gewöhnlich irgendeine ausgemergelte Katze, die Orvilla von Dottor Minelli behandeln lassen wollte, obwohl der sie regelmäßig wieder nach Hause schickte. Dieser Käfig war eine Art Multifunktionsgerät, das ihr wahlweise als Handtasche, Einkaufskorb, Wäschetonne, Werkzeugkiste und Ähnliches diente. Nicht selten schloss sie sich dem Geschwafel von Cordelia und den anderen Giftschleudern an, um die Wartezeit totzuschlagen. Ettore ignorierte ihre dummen Lästereien. Er wollte den wertvollen Augenblick, den er hier in Gesellschaft anderer verbrachte, nicht mit hässlichen Gedanken verderben; die kamen noch früh genug, wenn Dottor Minelli die letzte Nummer für den Vormittag aufrief und er in sein Sprechzimmer schlüpfte.

»Guten Tag, Ettore, setzen Sie sich. Wie geht es uns denn heute Morgen?«

»Na ja, man soll ja nicht klagen«, seufzte er als Antwort und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder.

Der Geruch von Desinfektionsmittel erfüllte den Raum. Der Tischkalender zeigte wieder eine Zahl mehr als gestern, was den erleichterten Ettore daran erinnerte, dass ein weiterer Tag begonnen hatte und er abermals ein Teil davon war. Doch der feine weiße Sand rieselte so unvermeidlich und ohne jede Aussicht auf ein Innehalten oder eine Umkehr durch die Sanduhr, die so nackt da oben auf dem Regal stand, ohne Zahlen und Wörter oder andere weltliche Bezüge, dass es ihm in den Wangen kribbelte und ganz schwindlig wurde. Er wandte den Blick ab und knöpfte sich den Hemdsärmel auf.

»Nein, lassen Sie die Knöpfe ruhig zu. Gestern war der Blutdruck einwandfrei, wir warten noch ein bisschen, bevor wir ihn wieder messen.«

Ettore nickte gehorsam und streifte den Ärmel wieder glatt.

»Wie war die Nacht?«

»Eine Panikattacke, eine einzige. Gegen vier.«

Dottor Minelli stützte sein Kinn auf die gefalteten Hände.

»Und was haben Sie dagegen getan?«

Ettore zückte sein kariertes Taschentuch und begann, nervös daran herumzuzupfen.

»Ich habe mal eine neue Technik ausprobiert.« Er wartete verstohlen die Reaktion seines Arztes ab. »Die habe ich selbst erfunden.«

»Ach, wirklich?«, der Arzt richtete sich in seinem Ledersessel auf, um anschließend umso tiefer in der Lehne zu versinken.

»Ja«, bestätigte Ettore schüchtern, »ich habe das Licht angemacht und versucht, mich auf alle möglichen Gegenstände zu konzentrieren.«

Praktisch das genaue Gegenteil von dem, was Dottor Minelli ihm geraten hatte. Doch schon der bloße Gedanke daran hatte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt, obwohl der Rat seines Arztes auf den ersten Blick vollkommen lächerlich wirkte: Er hatte ihm empfohlen, im Dunkeln und in absoluter Stille mit den Händen auf dem Bauch dazuliegen, tief durchzuatmen und sich auf den eigenen Herzschlag zu konzentrieren. Tu-tum … tu-tum … tu-tum … tu-tum … Er hatte es nicht einmal bis zum fünften Herzschlag geschafft, da hatten ihn heftige Stöße in seinem Brustkorb aus dem Bett gejagt, so, als wäre in seinem Inneren ein unsichtbares wildes Tier aufgewacht, das mit allen vieren strampelte, um sich aus einer Falle aus menschlichen Rippen zu befreien.

Von Panik ergriffen und kaltes Gift schwitzend hatte er sich an den Lichtschalter gekrallt und zwanzig Minuten gebraucht, um sich wieder zu beruhigen. Tolle Methode! Dieser Neuling war doch der reinste Kurpfuscher!

Aber genau in diesem Moment, als er sich erst an die Leselampe, dann an den Nachttisch geklammert, anschließend die kalte, raue Wand abgetastet und die glatte Oberfläche des Schranks gefühlt hatte, genau da war ihm die Idee mit den Gegenständen in den Sinn gekommen. Die beruhigende, solide Beschaffenheit der vertrauten Möbelstücke und Dinge ringsum hatte ihn langsam ins Hier und Jetzt zurückgeholt, in den Kosmos des Materiellen und menschliche Dimensionen von Zeit. Also tastete, schnupperte und forschte er weiter, bis sein Rundgang durch das Haus wieder genau an seinem Ausgangspunkt endete, in seinem Schlafzimmer. Er schlüpfte unter die noch warme Bettdecke und starrte mit aufgerissenen Augen seine leuchtende Leselampe an, die er erst beim Morgengrauen ausschaltete.

»Und hat Ihnen das geholfen?«

»Es ist etwas besser geworden … aber schlafen konnte ich trotzdem nicht«, gab er gesenkten Hauptes zu.

Der Arzt nickte mit aufeinandergepressten Lippen, dann zeichnete er in einem Zug zwei Halbkreise, die auf den ersten Blick den Flügeln einer Möwe oder einem halben Herz ähnelten. In Wirklichkeit handelte es sich um die stilisierte Darstellung des runden, goldbraunen und butterweichen Hinterns von Marilena, mit der Minelli einen leidenschaftlichen Sonntag verlebt hatte.

Sie waren ohne konkretes Ziel ganz früh mit dem Motorrad in die Berge aufgebrochen und hatten um die Mittagszeit den Gipfel erreicht, als die Sonne über dem Katzenwelssee Diamanten zu verstreuen schien. Dort hatten sie in einem rustikalen Wirtshaus zu Mittag gegessen, zwischen dem süßen Bukett der Geranien und dem deftigen Aroma vom Grill. Nach dem Zitronensorbet hatte Marilena sich entschuldigt und war in der Damentoilette verschwunden, um die Motorradkleidung gegen ein ziemlich knappes Baumwollkleidchen einzutauschen. Sie waren über die kahlen Wege gewandert, bis sie einen Felsen fanden, hinter dem sie ungestört waren. Dort hatte Marilena den Rock angehoben, unter dem sie zur großen Verwunderung von Dottor Minelli nichts weiter trug. Er hatte kaum Zeit, einen Blick aus der Nähe zu riskieren, da saß sie auch schon rittlings auf ihm, obwohl jeden Moment jemand vorbeikommen konnte.

»Hörst du das?«

»Was?«

»Ich glaube, da kommt wer!«

Also sorgte sie mit wenigen, präzise abgezirkelten Hüftkreisen dafür, dass er kam, brach noch keuchend in Gelächter aus und nannte ihn »verrückter Kerl!«, als wäre es nicht ihre eigene Idee gewesen. Allein bei dem Gedanken daran spürte Dottor Minelli, wie sich in seiner Hose eine heftige Erektion anbahnte, die er zu unterdrücken versuchte, indem er sich auf Ettores einzigen Zahn konzentrierte, der hier und da zwischen den Worten aufblitzte.

»Hm, verstehe. Haben Sie gestern Abend etwas Leichtes gegessen?«

»Minestrone wie immer, habe ich doch gerade gesagt, Dottore.«

»Ja, richtig. Und was ist mit Baldrian?«

»Nehm ich nicht mehr«, gab Ettore zu. »Ich habe festgestellt, dass mich das so duselig macht, also Schluss damit. Ich bleibe lieber klar im Kopf.«

»Aber dann kann es ja nicht besser werden«, ermahnte Minelli ihn mit väterlicher Strenge, obwohl er Ettores Sohn sein konnte, wenn nicht gar sein Enkel.

Er nahm die Brille ab und versuchte, einen nicht zu forschen Ton anzuschlagen: »Trinken Sie wenigstens einen Melissen-, Lindenblüten- oder Kamillentee, wenn Sie schon keine Medikamente nehmen wollen.«

Ettore nickte matt, um ihn zufriedenzustellen, und beschloss zu gehen. Was konnte der schon über ihn und über seinen Kummer wissen? Er war zu jung, um ihn zu verstehen. Wie dumm von ihm, sich jeden Tag aufs Neue Hoffnungen zu machen! Aber obwohl er das schon gestern und vorgestern gedacht hatte, war er heute trotzdem wieder hergekommen, um ihm Dinge zu erzählen, die er nicht verstehen konnte.

»Wissen Sie, dass ich im ganzen Haus nur dreiundsechzig Sachen gezählt habe? Nach vierundachtzig Lebensjahren. Kein großer Reichtum, was?«

Die Worte rutschten ihm einfach so heraus, sie klangen fast etwas schrill, weil er gleichzeitig den Kloß im Hals herunterzuschlucken versuchte, und waren an die Tür gerichtet, die er gleich mit dem Hut auf dem Kopf schweren Herzens durchschreiten würde, um erneut dem niederträchtigen Leben dort draußen die Stirn zu bieten.

»Und wissen Sie, was mir am meisten wehgetan hat?«, fragte er, um das Schweigen zu überbrücken.

»Sagen Sie’s mir«, ermunterte ihn Minelli.

»Dass es alles meine Sachen waren. Der kleine Topf, in dem ich mir die Minestra warm mache, der Holzlöffel, mit dem ich sie umrühre, das Rasiermesser, ein Kamm, die zwei Anzüge im Kleiderschrank. Ich brauche nicht mal mehr eine Zahnbürste.«

Sein kurzes Stocken war von einer tiefen Betrübnis erfüllt. Er faltete die Hände.

»Wenn ich einmal abtrete, werde ich nichts hinterlassen, weder Wertgegenstände noch Erinnerungen. Aber am schlimmsten ist, dass niemand da sein wird, um meine wenigen Habseligkeiten einzusammeln. Als hätte es mich nie gegeben.«

Der Arzt ging auf ihn zu, nachdem er einen kurzen Blick auf die Uhr geworfen hatte.

»Ettore, Sie müssen sich damit abfinden. Ermenegildo war krank, aber Sie sind kerngesund, Sie haben noch viele … also, noch einige gute Jahre vor sich.«

Als Ettore den Namen seines Freundes hörte, verfinsterte sich seine Miene, und er hob die Hand, um Minelli zu unterbrechen.

»Ich möchte nicht mehr darüber sprechen …«

»Wie Sie meinen, allerdings glaube ich, dass …«

»Apropos, Herr Doktor, ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, dass ich mich gestern Abend versehentlich auf eine Wespe gesetzt habe, und jetzt ist mir an der rechten Pobacke ein sooo großer Hubbel gewachsen«, fiel Ettore plötzlich ein. »Möchten Sie ihn noch anschauen, oder machen wir das morgen?«

Dottor Minelli verdrehte die Augen und lotste den Alten mit ausgestrecktem Arm zur Tür hinaus.

»Ehrlich gesagt bin ich jetzt zum Mittagessen verabredet … Tut es denn sehr weh?«

»Na ja, es geht.«

»Eins nach dem anderen, Ettore. Um den Hubbel kümmern wir uns dann also morgen.«

3 Ein leichtes Opfer

Corrado, der Dorfpolizist, stand vor dem verwaisten Schreibtisch, spielte mit seiner Dienstmarke und wartete auf den Bürgermeister. Der hatte ihn zu sich gebeten, damit sie gemeinsam ein Resümee seines ersten Dienstjahres im Ort ziehen konnten. Von Zeit zu Zeit stemmte er die Hände in die Hüften und drehte eine nervöse Runde durch den kleinen Raum. Dabei grübelte er über sein Leben nach und über die Veränderungen, die der Umzug in die Berge mit sich gebracht hatte. Er betrachtete seine schicke Uniform, die schmal geschnittene Hose, den weißen Schultergürtel, die goldglänzenden Knöpfe an der Jacke. Es war, als hätte allein schon das Tragen einer Uniform einen anderen aus ihm gemacht. Er fühlte sich tatsächlich wie ein ganz anderer Mensch, und dennoch ließen die Früchte seiner Arbeit auf sich warten.

Wie er so dastand in der Mitte des leeren Raums, kam ihm eine Szene aus der vierten Klasse seiner Grundschulzeit in den Sinn: er in einer Ecke des Klassenzimmers kniend, während seine Kameraden mit dem Finger auf ihn zeigten und ihn wegen seines Habsburger Kinns und seiner Boxernase auslachten. Auf der Mittelschule kam dann noch die Brille dazu und auf der Oberschule die Akne, was seinem Selbstvertrauen den Rest gab. Selbst als die Schulzeit längst vorbei war und das ästhetische Trauerspiel der Pubertät langsam nachließ, konnte er die Erinnerung daran nie ganz abschütteln, nicht einmal als berufstätiger Mann. Er hatte sich als Vertreter versucht, aber die Unsicherheit, die ihm aus jeder Pore trat, brachte die Kunden instinktiv dazu, ihn auf übelste Weise fortzujagen. Später war er in einem Transportunternehmen gelandet, doch der Chef hatte vom ersten Tag an kapiert, dass er ihn nach Belieben tyrannisieren konnte, und machte ihm das Leben zur Hölle. Vor eineinhalb Jahren hatte er schließlich diesen folgenreichen Anruf von seinem Onkel Goffredo bekommen, der Bürgermeister eines verschlafenen Nestes in den Wäldern des Apennins war. Am Telefon hatte Zio Goffredo gesagt: »Wenn du ein bisschen lernst und dich bei der Prüfung nicht völlig blöd anstellst, gehört der Posten bei der Gemeindepolizei dir.« Er musste dafür seine kleine Industriestadt im Tal verlassen und in die ländliche Bergregion ziehen, aber was man ihm dort in Aussicht stellte, war schon sehr verlockend: die Macht, Befehle zu erteilen, und die Gewissheit, dass sein Gegenüber sie zu befolgen hatte.

Die positive Wirkung seiner neuen Rolle konnte er bereits unmittelbar nach seiner Ankunft beobachten. Kaum trat er mit dem noch nicht getrockneten Stempel in seinem Dienstausweis aus dem Rathaus, wandte sich auch schon eine kleine weibliche Gesandtschaft aus dem Dorf an ihn: Cordelia und ihre Clique waren fest entschlossen, ihm die Ehre zu erweisen, indem sie ihr gesamtes Wissen mit ihm teilten.

Corrado setzte sich auf das Mäuerchen des Denkmals für die Kriegsopfer, stützte die Arme auf die Knie und ließ sich von ihnen einweisen. Die weißhaarige Delegation wusste zu berichten, dass in einer Bar namens La Rambla eine Horde übler Tattergreise ihr Unwesen trieb. Mit dem Einverständnis des Besitzers hätten sie sich in dem Lokal eingenistet und würden andere, vor allem Frauen und Kinder, vergraulen, gegen das Rauchverbot verstoßen, Unmengen an Alkohol konsumieren und den Großteil ihrer Renten beim Kartenspiel verprassen.

Für seine erste offizielle Amtshandlung pickte Corrado sich einen dieser Saufkumpane heraus, bei dem er leichtes Spiel zu haben glaubte: Gino, ein fast erblindeter Sechsundneunzigjähriger, der mit seiner Ape die Straßen unsicher machte und weder Führerschein noch Kfz-Versicherung besaß.

Bislang hatte sich hier noch niemand die Mühe gemacht, für Recht und Ordnung zu sorgen, aber er, Corrado, war nicht bereit, sich auf Kompromisse einzulassen, und hatte sich in den Kopf gesetzt, das Fahrzeug zu beschlagnahmen und dem Alten eine saftige Geldstrafe aufzubrummen, an die er sich zeit seines Lebens erinnern würde – und sei die noch so knapp bemessen. Schluss mit dem Schlendrian! Die Welt gehörte der Jugend!

Ihn auf frischer Tat zu ertappen, erwies sich allerdings als erstaunlich schwierig. Körperlich war Gino eindeutig im Nachteil, dafür genoss er jedoch einen Heimvorteil, und das schon ziemlich lange, sodass es ihm seit Corrados Ankunft vor einem Jahr gelungen war, ihn zu meiden wie die Pest. Der Polizist hatte sich mittlerweile so auf Gino eingeschossen, dass er jedes Mal, wenn die Dorftratsche »Da hinten ist er!« rief, alles stehen und liegen ließ und nach da hinten eilte. Und jedes Mal, wenn die Dorftratsche »Da vorne ist er!« rief, ließ er alles stehen und liegen und eilte nach da vorne. Doch jedes Mal, wenn er den Ort des Verbrechens erreichte, war da nichts als eine große Staubwolke und vielleicht noch ein Bauer mit einer Mistgabel in der Hand, der ihn hinter seinem Rücken verspottete.

Es sah ganz so aus, als versuchte auch diese kleine unbedeutende Gemeinschaft von Bergbewohnern, ihn an seiner Selbstverwirklichung zu hindern. Doch im Gegensatz zu früher verfügte er nun über die Macht des Gesetzes, und er war entschiedener denn je, sich kraft seines Amtes durchzusetzen.

»Dein Onkel hat angerufen. Er kommt eine halbe Stunde später.«

Corrado hob sein vorstehendes Kinn und sah das blasse Gesicht der Sekretärin im Türrahmen. Dieser vertrauliche Ton gefiel ihm gar nicht. Es gab keinen Grund, ihn so respektlos zu behandeln und überall hinauszuposaunen, dass er mit dem Bürgermeister verwandt war. Streng genommen war er im Dienst, etwas mehr Ehrfurcht vor der Uniform durfte man da schon verlangen.

»Noch eine halbe Stunde kann ich aber nicht warten«, antwortete er mit ebenso lauter Stimme, um das Gefälle in der Hierarchie deutlich zu machen.

»Dreh doch eine Runde und komm dann wieder«, entgegnete die Sekretärin forsch.

Corrado schnaubte, überlegte, was er tun sollte, und trabte schließlich von dannen, wobei er entnervt mit dem Kopf schüttelte, wie jemand, der furchtbar viel zu tun hat und durch die Schuld eines anderen wertvolle Minuten verliert.

Äußerst widerwillig begab er sich auf Streife durchs Dorf, doch als er die Rambla-Bar erblickte, kam ihm die Schnapsidee, ihr einen kleinen Überraschungsbesuch abzustatten. Er näherte sich achtsam, um nicht schon aus der Ferne erkannt zu werden. Als er auf dem Kiesweg im Hof Spuren entdeckte, musste er jedoch kurz stehen bleiben, einen Moment nur, aber lang genug, um den bedrohlichen Schatten seiner Uniform auf das Fenster der Bar zu werfen.

Basilio erblickte ihn als Erster: »Verflixt, da ist Corrado!«, zischte er durch die Zähne. »Los, Beeilung!«

Sie bildeten eine Kette und reichten die bis zum Rand mit Kippen gefüllten Aschenbecher bis zum Tresen weiter, wo Elvis sie eilig im Mülleimer entsorgte und mit Kaffeesatz bedeckte. Anschließend wedelten sie wild mit den Armen, um den Zigarettengestank zu vertreiben.