Ziemlich wunderbares Leben - Katie Marsh - E-Book

Ziemlich wunderbares Leben E-Book

Katie Marsh

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Beschreibung

Das Schicksal hat Abi eine zweite Chance gegeben. Sie erholt sich nach einer schweren Krankheit und will, den Kopf voller Pläne, wieder da anknüpfen, wo ihr Leben aufgehört hat. Doch bald merkt sie, dass es kein Zurück mehr gibt. Ihre Ehe kriselt, und auch ihr Sohn ist nach dem Schicksalsschlag nicht mehr derselbe. Wird es Abi gelingen, die Menschen, die sie am meisten liebt, wieder zueinander zu bringen?

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Der Roman

Das Schicksal hat Abi eine zweite Chance gegeben. Sie erholt sich nach einer schweren Krankheit und will, den Kopf voller Pläne, wieder da anknüpfen, wo ihr Leben aufgehört hat. Doch bald merkt sie, dass es kein Zurück mehr gibt. Ihre Ehe kriselt, und auch ihr Sohn ist nach dem Schicksalsschlag nicht mehr derselbe. Wird es Abi gelingen, die Menschen, die sie am meisten liebt, wieder zueinander zu bringen?

Die Autorin

Bevor ihr Bestsellerdebüt »Die Liebe ist ein schlechter Verlierer« erschien, war KATIE MARSH im Gesundheitswesen tätig. Ihre Bücher sind inspiriert von der Tapferkeit der Menschen, die ihr bei ihrer Arbeit begegnet sind. Mehr über die Autorin und ihre lieferbaren Romane finden Sie unter Katie Marsh im Diana Verlag.

KATIE MARSH

ZIEMLICH

WUNDERBARES

LEBEN

ROMAN

Aus dem Englischen

von

Angelika Naujokat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 08/2019

Copyright © 2017 by Katie Marsh

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel This Beautiful Life bei Hodder & Stoughton Ltd., an Hachette UK Company, London

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Hauf

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Skorik Ekaterina, Romashka2, Gluiki / shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-22780-7V002

www.diana-verlag.de

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Für Mel, Chris, Kate

und die vielen Menschen, die von ihnen geliebt werden.

2. SEPTEMBER 2014

Meine Jungs,

so, jetzt kennen wir also endlich den Grund für die rasante Fahrt in die Notaufnahme mit Schmerzen, die mich zu zerreißen drohten. Den Grund für all die Untersuchungen, bei denen ich in dem dünnen Krankenhaushemd vor mich hingezittert habe. Den Grund für all die Ärzte, die sich an Stellen meines Körpers zu schaffen gemacht haben, die normalerweise privat sind. Letzte Woche hat mir die Chirurgin endlich unter dieser Uhr, die ständig auf fünf zu stehen scheint, das Urteil verkündet: Krebs.

So, es sieht ganz danach aus, als würde ich meinen Geburtstag morgen nicht mit ein paar Gläschen warmem Weißwein im Pub feiern, sondern stattdessen unter gleißend hellem Licht auf dem OP-Tisch liegen und mir einige Lymphknoten und einen großen Teil meines Dickdarms entfernen lassen. Nicht ganz die Art von Feier, die ich mir vorgestellt hatte. Ich frage mich, welche Musik sich die Chirurgin wohl anhören wird, während sie an mir herumschnippelt. Ich bete zu Gott, nicht Enya! Ich weiß, dass ich narkotisiert sein werde, aber ich schwöre, ich werde aufstehen und ihnen den Schrecken ihres Lebens einjagen!

Vor drei Wochen habe ich mich noch mit der Frage beschäftigt, ob es mir gelingen wird, mich zu meinem 36. Geburtstag in mein silbernes Kleid zu quetschen. Nun werde ich der Welt diesen Anblick ersparen, denn offenbar habe ich Krebs. Selbst wenn ich diese Worte schwarz auf weiß geschrieben sehe, vermag ich sie immer noch nicht zu glauben. Ich war mir so sicher, dass alles in Ordnung sei und meine Chili-Soßen-Sucht der Grund gewesen wäre, warum ich nicht mehr vom Klo herunterkam, oder es an dem nicht ganz astreinen selbstgebrauten Bier meines Vaters lag, dass ich wahnsinnige Magenschmerzen hatte und so müde war, dass ich jeden Abend schon um acht ins Bett ging.

Ich sitze hier in meinem Lieblingssessel und bete, dass ein Wunder geschehen möge. Dass ich nicht zu lange gewartet habe. Dass der Krebs nicht gestreut hat. Ich eine zweite Chance bekomme. Ich möchte mehr Zeit mit euch beiden haben. Seb und John. Meine Jungs. Ich werde nicht aufgeben. Werde immer weiter versuchen, am Leben zu bleiben. Aber ich schreibe diese Zeilen und lege sie für den Fall für euch beiseite, dass meine Geschichte doch hier enden sollte.

Es euch beiden zu sagen war der schlimmste Teil. Ich wollte euch beschützen, doch stattdessen musste ich euch in all das hineinziehen. Allein dies zu schreiben fällt mir so unendlich schwer. Dabei sollte man doch meinen, dass gerade ich die nötigen Worte finden würde. Wo ihr mich doch ständig anfleht, einmal still zu sein, und ich niemals auf euch höre. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus. Ich bin ein mitteilsamer Mensch. Ich rede schon morgens um halb acht über irgendwelche Fernsehsendungen, auch wenn ihr versucht, euch hinter den Cornflakes-Packungen zu verstecken. Aber jetzt habe ich keine Ahnung, was ich sagen soll. Weil ich euch Worte mitgeben muss, die ihr bewahren könnt. Worte für das ganze Leben.

Wenn ich euch jetzt verlassen muss, werde ich so viel vermissen. Nicht die nervigen Dinge, wie den Riesenriss in der Badezimmerdecke oder meine Bügelversuche. Aber all das, was euch zwei ausmacht, und vor allem euer Lachen. John, ich höre dir schrecklich gern zu, wenn du mit dem Auto redest und glaubst, dass es keiner mitbekommt. Und ich finde es toll, dass du aus einem Beutel Tortilla-Chips und etwas Schlehenschnaps eine ganze Party machen kannst. Ich liebe es, deine Wange an der meinen zu spüren, und ich mag dein freundliches Wesen und deine komplizierte Art zu kochen und dass du immer so tust, als würde dir meine aktuelle Lieblingsband gefallen.

Und Seb. Unser wundervoller Sohn. Mir ist bewusst, dass ich meist aufs Geratewohl durch die Gegend schreie, aber ich tue es mit Vorliebe am Rande des Fußballfeldes, wenn ich mit einer Thermoskanne Kaffee in der Hand deinen Namen brülle, und mir dabei der unvermeidliche Regen wieder einmal die Wimperntusche verschmiert. Ich danke dir, dass du mich nie verleugnest – selbst wenn alle Väter mich anstarren, als gehörte ich in eine Gummizelle. Du bist groß genug, um mich in die Höhe zu heben und mir den Kopf zu tätscheln (SO nervig), doch wenn ich dich jetzt betrachte, dann sehe ich den Jungen, der sich ans Eingangstor geklammert hat, weil er nicht ohne mich in die Schule gehen wollte. Ich möchte dich nicht zurücklassen. Dich nicht im Stich lassen. Du bist sechzehn und stark, und mir ist klar, dass du momentan mehr Zeit mit deinem Smartphone verbringst als mit mir, aber ich hasse die Vorstellung, dass du ohne mich aufwächst. Nicht da zu sein, wenn du eine Umarmung brauchst oder ein Lächeln oder jemanden, der dir sagt, wie verdammt genial du bist.

Und dann sind da all diese unglaublichen Dinge, die du einmal tun wirst. Ich will nicht eine Minute davon verpassen. Ich möchte dein Gesicht sehen, wenn deine wunderschöne Verlobte zu dir vor den Altar tritt. Ich möchte deine Kinder kennenlernen – die witzig und voller Enthusiasmus sein werden und unglaublich gut mit dem linken Fuß genau wie du. Ich möchte jubeln, wenn du deine Prüfungsergebnisse erfährst oder so tun, als würde ich nicht weinen, wenn du deine geliebten Fußballschuhe in den Rucksack stopfst und dich ins Abenteuer stürzt.

Ich weiß, wie wütend ihr beide seid, dass ich Krebs habe. Mein Gott, ich auch. Die Leute erzählen mir ständig wie tapfer ich bin, dabei bin ich in Wahrheit voller Wut. Ich frage mich andauernd, warum es mich getroffen hat – ob das nun die Rache für all die Jahre ist, in denen ich beim Kneipenquiz gemogelt und beim Kuchenbasar in der Schule behauptet habe, die mitgebrachten Plätzchen selbst gebacken zu haben. Es passiert einfach alles zu früh und zu schnell. Doch während ich hier sitze und Bob Dylan lausche, gefesselt von Melancholie, ist mein Glaube an euch beide ungebrochen. Ich weiß, wie viel ihr auch ohne mich erreichen werdet, sollte sich herausstellen, dass meine Zeit tatsächlich abgelaufen ist.

John, du könntest endlich diese Fahrradtour über die Britischen Inseln machen, die du machen wolltest, seit ich dich kenne. Seb, du kannst dich durchaus mit Chloë Grace Moretz verabreden (was übrigens beweist, was du für einen guten Geschmack hast!), ohne deinen Plan aufzugeben, Chirurg zu werden, den du bereits im Alter von zehn nach einer Folge von Emergency Room gefasst hattest. Und sollte der Tag kommen, wenn nur noch dieser Stuhl hier steht und ich fort bin, dann schaut bitte im Regal nach und nehmt die CD mit Silberrand heraus. Ich weiß, dass heute keiner mehr CDs hört, Seb, aber bitte habe Nachsicht mit mir! Man kann etwas in die Hüllen hineinschreiben, und genau das habe ich getan. Es ist die Playlist meiner Überlebensmusik – der Musik, die mich an die Menschen erinnert, für die ich am Leben bleiben will und die mir das Leben ins Gedächtnis ruft, das ich jetzt noch nicht verlassen möchte.

Also, John, stell Radio 5 live aus – ich verspreche dir, dass dein Herz dadurch bestimmt nicht aufhören wird zu schlagen! Und Seb, mir ist durchaus bewusst, dass einige dieser Songs – an dieser Stelle solltest du flüstern – verdammt alt sind, aber lass Milde walten, sie bewahren etwas, das sich zu entdecken lohnt! Sie werden mich jeden Tag begleiten, werden in den kommenden Wochen und Monaten mein Leben untermalen: An den Tagen, wenn ich auf die Rückseite des Krankenhauses zugehe, vorbei an den Mülltonnen und den Mitarbeitern, die die »Rauchen verboten«-Schilder ignorieren, und ich diese Welt der Sprechstunden und der Chemotherapie betrete, wo mich Ärzte mit mitleidigen Blicken bedenken, vor denen es mir schon jetzt graut.

Und während ihr euch Queen und die Lemonheads anhört und mit Black Beauty heimwärts galoppiert, erinnert euch bitte an meine guten Momente. Die Momente, als ich es geschafft habe, das Richtige zu sagen oder eine Mahlzeit für euch zu kochen, bei der ich nicht jeden einzelnen Topf benutzt habe, den die Küche zu bieten hat. Daran, wie ihr zwei euch totgelacht habt, als ich mir bei »Walk Like an Egyptian« beinahe den Hals verrenkt habe. Daran, wie ich euch in die Arme nehme. Aber um nicht zu sentimental zu werden, erinnert euch auch an den Rest von mir. Daran, wie ich euch an jenem denkwürdigen Weihnachtsfest angebrüllt habe, den Truthahn aufzuheben, der mir, kurz bevor alle eintrafen, auf diesem etwas schmuddeligen Stück neben dem Abfalleimer hingefallen war. Daran, wie oft sich der Start zu einem Familienausflug verzögert hat, weil ich mal wieder endlos lang nach meinem Schlüsselbund gesucht habe. Daran, wie ich in Calais im Kreis herumgefahren bin, sodass wir wieder am Fährhafen landeten, während die Feier zu Mums 60. Geburtstag losging.

Was auch immer euch einfallen wird, ihr sollt wissen, dass ich an euch denken werde. Euch lieben werde. Und euch bei allem ermutigen werde, was auch immer die Zukunft für euch bereithält.

Ich hatte schon über die Hälfte meines Lebens gelebt, bevor ich euch getroffen habe, und ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass ich noch viele weitere Jahre vor mir haben werde. Ihr zwei seid der Grund dafür. Und ihr werdet es immer bleiben. Das hat nichts mit Tapferkeit zu tun – das ist blanker Egoismus. Denn ich möchte keine einzige Minute verpassen.

Ich liebe euch.

Abi/Mum xxx

SEPTEMBER

»Don’t Stop Me Now«

Queen

Das ist für dich, John – in Erinnerung an die »romantische« Hochzeitsfeier von Jenny und Noah in dieser Scheune irgendwo auf einem Feld in der Nähe von Avebury. Weißt du noch, wie es überall nach Mist gestunken hat? Und fast ein Feuer ausgebrochen wäre, weil jemand eine Zigarette in einen Heuballen geworfen hat? Und der Apfelwein schmeckte nach Essig. Ich war ausnahmsweise einmal nüchtern, was auch gut war, weil Seb ohne mein Wissen bereits meinen widerwilligen Eierstöcken die Stirn geboten hatte und in mir wuchs – unser winziges polyzytisches Wunder. Dieser Song (und fünf Bier à einem halben Liter) brachten dich auf die Tanzfläche, und nachdem du dich deines Jacketts und deiner Krawatte entledigt hattest, wurde mir klar, dass du dich tatsächlich richtig gut bewegen konntest. Und dann hast du dich auf die Knie fallen lassen und bist über den halben Tanzboden mit ausgebreiteten Armen auf mich zugerutscht. Als ich auf dich hinabblickte und du mich mit diesem umwerfenden Lächeln ansahst, da war es um mich geschehen. Mein Herz gehörte dir. Wenigstens hast du dir deine Hose nicht umsonst ruiniert.

ABI

»Jetzt ist es also offiziell. Du hast es geschafft?«

Abi schob die Erinnerung an Johns Gesichtsausdruck am gestrigen Abend beiseite und erwiderte Lesleys Lächeln. »Ja. So ist es.« Sie spielte mit dem Ehering an ihrem Finger. Er saß inzwischen so locker, dass sie ihn enger machen lassen sollte. »Ich bin offiziell in Remission.« Die Worte kamen ihr irgendwie überhaupt nicht real vor. Noch nicht. Sie spürte immer noch, wie ihr Herz geklopft hatte, als sie mit John auf das Urteil der Ärztin wartete. Wie ihr der Atem stockte, als man sie in dasselbe Sprechzimmer rief, in dem sich ihre Welt vor einem Jahr in einen Albtraum verwandelt hatte.

Lesley grinste. »Das ist toll! Ich wusste, dass du es schaffst.«

»Wirklich?« Abi konnte es selbst kaum glauben. Sie musste alle drei Monate zur Blutuntersuchung, hoffte aber, dass sie das Darmkrebs-Team erst bei ihrer jährlichen Kontrolluntersuchung im nächsten Jahr um diese Zeit wiedersehen würde.

»Ja.« Das Gesicht ihrer Freundin spiegelte eine Zuversicht wider, von der Abi gar nicht mehr wusste, wie sich so etwas anfühlte. »Wie wäre es, wenn wir nachher zur Feier des Tages das Tanzbein schwingen? Bei dir gab’s doch kein Halten mehr, wenn sie in diesem Klub neben deiner Wohnung in Bayswater ›Ice Ice Baby‹ spielten.«

Es gab eine Menge Dinge, die Abi einmal gern getan hatte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem schon gewachsen bin. Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Mal getanzt habe.«

»Na gut.« Lesley dachte für einen Moment nach. »Wie wäre es stattdessen mit etwas Luftgitarre?« Sie befreite ihr dunkles Haar von dem Gummi, das den Pferdeschwanz hielt, den sie im Büroalltag trug, fuhr mit den Händen hinein und puffte es auf. Aus ihren Augen blitzte der Schalk, als sie sich anschließend in die Wangen kniff, um Farbe hineinzubringen. »Ich werde später was von Oasis auflegen. Das bringt dich doch immer in Fahrt.«

»Solange es nicht ›I Will Survive‹ ist.« Abi schüttelte den Kopf. »Das kann ich nämlich wirklich nicht mehr hören.«

Sie blickte zu den Birken auf, die den Garten auf der Rückseite des Pubs umrahmten und bewunderte die rosafarbenen und blauen Wimpel, die an die Zweige gebunden waren. »Schöne Deko.«

»Ja.« Lesley zog einen Taschenspiegel hervor und trug etwas Lippenstift auf. »Wir dachten, das würde dir gefallen – bei eurer Hochzeit konnte man sich ja kaum rühren, ohne von den Dingern erwürgt zu werden. Deine Mutter hat deinen Vater fast den ganzen Nachmittag die Leiter hochgejagt, um sie aufzuhängen.«

»Armer Dad.«

»Quatsch. Das hat er gern gemacht. Er wollte sogar noch die Regenrinne sauber machen, aber glücklicherweise hat ihn jemand rechtzeitig davon abgehalten, bevor er sich selbst schaden konnte. Die beiden haben auch das ganze Ballongeschäft leergekauft.« Lesley deutete auf das farbenfrohe Knäuel aus violetten, gelben und silbernen Ballons an der Hintertür des Pubs. »Es wurden keine Kosten und Mühen für deine Survivalparty gescheut, meine Liebe.«

Abi blickte zum Himmel hinauf, rechnete fast damit, dass ein Blitz auf sie niedergehen würde. Sie hatte inzwischen Angst davor, das Schicksal herauszufordern. Denn jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, es gehe ihr besser, kam eine unangenehme Überraschung auf sie zu. Eine Wundinfektion nach der OP, die eine Verlängerung ihres Krankenhausaufenthalts nach sich zog. Ein Fieber, das derartig in die Höhe schoss, dass man sie mit Blaulicht in die Notaufnahme und von dort auf die Intensivstation bringen musste. Ein Blutgerinnsel, das dazu führte, dass ihr Arm zu seiner doppelten Größe anschwoll und tagelang furchtbar schmerzte. Seit Monaten hatte sich ihr Körper nun geweigert, sie darauf vertrauen zu lassen, dass es ein Morgen für sie gab. Doch nun war es an der Zeit, dass sich das änderte.

Wenn sie nur wüsste, wie sie es anstellen sollte.

Lesley ließ den Lippenstift wieder in ihrer Handtasche verschwinden und schlang ihre Arme um Abi. »Du meine Güte, an dir ist wirklich nichts mehr dran.«

Abi lächelte an der Schulter ihrer Freundin. »Die Krebsdiät. Ein echter Knaller.«

»Damit hast du dir das Geld für die Magenband-OP gespart!«

Abi stimmte nicht in ihr Lachen ein.

»Noch zu früh?«, erkundigte sich Lesley.

Abi nickte. »Ja. Solche Brüller kannst du bringen, wenn ich die vierzig geschafft habe. Dann fühle ich mich vielleicht sicherer. Aber bis dahin bitte keine Krebswitze, ja?«

»In Ordnung.« Lesley umarmte sie noch etwas fester. Ihre Freundin wusste nur zu gut, dass dieses letzte Jahr alles andere als lustig gewesen war. Obwohl sie sich mitten im Scheidungskrieg befand, war sie fast immer an Abis Seite gewesen – ob bei der Diagnose oder der OP oder beim Erwachen aus der Narkose mit dem Stomabeutel, von dem sie gehofft hatte, dass er ihr erspart bleiben würde. Und auch während der Chemo und all den Untersuchungen in fensterlosen Räumen, wo es die klassische Musik vom Band nicht schaffte, das unablässige Klicken der Scanner zu übertönen. Darmspiegelungen. Einläufe. Bestrahlungstattoos. Narben, die ein Leben lang blieben. Nie hatte Lesley sich versteckt. Oder aufmunternde Textnachrichten geschickt, ohne sich blicken zu lassen, wie es manche von Abis sogenannten Freunden getan hatten. Nein, sie hatte Abis Hand gehalten, als sie in den OP gefahren wurde. Hatte Suppe gekocht. Playlisten erstellt, bei denen sie ihren eigenen poplastigen Geschmack ungeniert mit den Titelmelodien von Fernsehsendungen aus ihrer Kindheit vermischte, um Abi beispielsweise mit dem Titellied der Wombles von ihrem Chemo-Blues abzulenken.

Sie war dankbar für ihre Freundin, mit der sie durch dick und dünn ging. Seit dem ersten Schuljahr, als sie es auf dem Schulhof gemeinsam mit den Hammond-Schwestern aufgenommen hatten, die dort mit ihren Duftstickern das Regiment führten, hatte sie nichts mehr auseinanderbringen können. Lesley traute sich auf das große Klettergerüst, und bald schon hatte sie Abi trotz deren anfänglichen Widerstands dazu überredet, es auch zu wagen. Lesleys Motto lautete: »Niemals aufgeben«, was sie im letzten Jahr zweifelsfrei immer wieder bewiesen hatte.

Sie wichen beide zurück, und Abi presste ihre Hand auf die Stelle, wo einmal der Stomabeutel gewesen war und verspürte dabei ein Gefühl von Freiheit. Kein Ausleeren mehr. Kein Verbergen unter weiter Kleidung. Kein Abwenden mehr, wenn John den Raum betrat und sie gerade damit beschäftigt war, ihn zu säubern oder zu Boden starren, wenn er verstopft war und sie solche Schmerzen hatte, dass sie ihren Mann bitten musste, ihr zu helfen.

Im Laufe des letzten Jahres war es leichter geworden, ihren Körper von außen zu betrachten – nun rang sie um das Gefühl, dass er wieder ganz und gar ihr gehörte.

»Keine Krebswitze mehr. Versprochen.« Lesley tätschelte Abis Arm. »Aber ich finde, es ist an der Zeit für ein Gläschen Blubberwasser. Schließlich ist das hier deine Party!« Sie deutete auf das riesige Spruchband, das über dem Smoker-Grill hing. GLÜCKWUNSCH, ABI! stand darauf in violetten Buchstaben auf einem mit silbernen Sternen bedeckten Hintergrund zu lesen.

»Das hört sich gut an.« Abi versuchte ihre Nervosität zu unterdrücken, die kleine Stimme in ihrem Inneren zum Schweigen zu bringen, die sie mahnte, dass es doch eigentlich noch zu früh zum Feiern war. Sie fühlte sich einfach überfordert.

Lesley nahm zwei gefüllte Champagnergläser aus den Reihen, die auf einem Tapeziertisch standen und reichte Abi eins davon. »Auf meine unglaubliche Freundin. Auf dich, Abi! Ich bin verdammt froh, dass du wieder in Ordnung bist. Und ich bin gespannt auf das, was du vorhast, jetzt, wo alles vorbei ist.«

»Ich auch.« Abi dachte an diese Idee, mit der sie sich gestern intensiver beschäftigt hatte – eine Idee, die langsam konkrete Formen annahm und sie mit einer Begeisterung erfüllte, die sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Eine neue Zukunft. Ein Neubeginn.

Sie nahm einen winzigen Schluck Champagner und verspürte sogleich eine leichte Übelkeit. Peng – noch eins ihrer liebsten Dinge verschwand. Danke, Krebs. Lesley stürzte gleich ein halbes Glas hinunter, während Abi das ihre abstellte und ihre Gedanken wieder zum gestrigen Abend zurückkehrten und den Schatten auf Johns Gesicht. Die grauen Strähnen, die sich langsam in sein hellblondes Haar schlichen. Das Wippen seines Beins, während sein Blick über das Display seines Smartphones flog.

Der Fenstertisch in ihrem Lieblingsrestaurant war ihr noch nie so breit vorgekommen.

»Hallo! Dranbleiben!« Lesleys Worte holten Abi in die Gegenwart zurück, und sie sah zu, wie ihre Freundin sich ein zweites Glas griff. »So …«, sagte sie und blickte sich erwartungsvoll um, »Zeit, sich unter die Leute zu mischen.« In dem Moment gab ihr Smartphone einen Piepton von sich. »Mist.« Sie kramte es aus ihrer Handtasche hervor und warf einen Blick darauf. »Die Arbeit. Tut mir leid, da muss ich rangehen.«

»Also, wenn du unbedingt befördert werden willst.« Abi tätschelte ihr den Rücken. »Nur zu. Immer schön fleißig und Eindruck schinden. Mach den Deal!«

»Du weißt, ich spiele keine Rolle in der Anwaltsserie Suits, oder?« Lesley verdrehte die Augen und marschierte ein paar Schritte davon. Abi starrte auf ihren Rücken und dachte darüber nach, wie sehr sich das Leben ihrer Freundin in dem Jahr, in dem Abi krank gewesen war, verändert und sich diese dabei weiterentwickelt hatte. Neuerdings Single. Neuer Job. Neues Haus. Sie schien den Spruch Carpe diem verinnerlicht zu haben. Abi musste aufholen.

Lesley drehte sich um und legte eine Hand über ihr Handy. »Warum unterhältst du dich nicht mal mit deinem umwerfenden Ehemann?«

»Natürlich.«

»Gut.« Lesleys Stimme klang eine Tonlage höher. »Nein, ich habe nicht mit dir gesprochen, Simon.« Sie wandte sich wieder ab und schlüpfte mühelos in die Rolle der selbstbewussten Managerin, die aus ihr geworden war.

Der Garten des Pubs füllte sich langsam. Sonnenbrillen und weiße Oberteile überwogen, da die Leute die Reste ihrer Sommerferienbräune zur Schau stellten. Sie waren alle gekommen. Abis Kollegen aus der Verwaltung des gefäßmedizinischen Bereichs des Krankenhauses, die über Getränke und Grissinis herfielen wie Möwen über einen Picknickkorb. Johns Kunden und Kollegen, die Top-Grilltipps austauschten und darüber spekulierten, welche Geschäftsführer Weihnachten noch einen Job haben würden.

Aber am allerwichtigsten war, dass Seb sich herbemüht und sogar die Fußballklamotten, die er normalerweise trug, gegen ein elegantes schwarzes Hemd und eine Jeans getauscht hatte, die nach einem weiteren heftigen Wachstumsschub nun auch schon wieder etwas zu kurz war. Das dunkelblonde Haar fiel ihm in die Augen, während er und seine Freundin Jess in der Nähe der Pimm’s-Bowle herumlungerten und versuchten, ein Glas davon zu stibitzen, wenn Abis Bruder, Rob, nicht hinsah. Und wenn der weiter so angestrengt in den Himmel hinaufschaute, wäre ihr Plan höchstwahrscheinlich von Erfolg gekrönt.

Während Abis Blick über die vertrauten Gesichter wanderte, vermochte sie beinahe ihr altes Ich inmitten der Gästeschar zu sehen, das lachend den Lieblingsrosé hinunterstürzte und »Viva la Vida« mitsang, das aus den Boxen ertönte. Sie hatte immer so gerne gefeiert – die Hitze, die Musik und all das genossen, was eine Party an Möglichkeiten bereithielt, wenn man geschminkt und farbenfroh gekleidet den vollen Raum betrat. Doch dieses Gefühl war schon lange verschwunden. Es kam ihr so vor, als stünde sie am Rand. Sei nur Zuschauerin. Warte darauf, dass ihr altes Ich zurückkehrte.

Ein tiefes Gefühl der Zuneigung überkam sie, als sie die groß gewachsene Gestalt ihres Mannes erblickte, der fleißig an dem riesigen Grill beschäftigt war, geschickt mit einer Hand die Würste und Hamburger wendete und dabei in der anderen eine Bierflasche hielt. Der Pub hatte zwar angeboten, für die Speisen und Getränke zu sorgen, doch das kam für John nicht infrage. Er gehörte zu der Sorte von Männern, die das Grillen als ihre Bestimmung betrachteten. Die Flammen, das Fleisch, die überdimensionierte Zange – er trug sogar eine gewaltige Kochmütze, um seine Haare zu bändigen.

Er zuckte zusammen, als eine Flamme gefährlich nah an seinem Arm züngelte. Sie kannte diesen finsteren Blick nur zu gut, und gestern Abend hatten sich die Falten so tief in seine Stirn gegraben, dass sie ihn kaum wiedererkannt hatte. Sein Handy hatte bei ihrem gestrigen Festessen beim Japaner in der Nähe seines Büros ständig vibriert. Er hatte sich sehr um sie bemüht – ihr erklärt, wie glücklich er über ihre Testergebnisse war, ihr mit leuchtenden blauen Augen versichert, wie sehr er sie liebte und all das aufgezählt, worauf sie sich beide freuen konnten. Sie wusste, dass er es wirklich so meinte, aber sie sah ihm auch an, dass ihn etwas anderes beschäftigte. In den letzten Wochen hatte sie bemerkt, dass er immer dann, wenn sie ins Zimmer kam, einen anderen Gesichtsausdruck aufsetzte oder seinen Laptop zuklappte, wenn ihr Blick auf den Bildschirm fiel. Sie hatte angenommen, dass ihre Erkrankung der Grund für diese neue Heimlichtuerei war, doch gestern Abend war ihr klar geworden, dass sie sich getäuscht hatte.

Während im Hintergrund die leisen Unterhaltungen der anderen Gäste bei Sushi und Edamame vor sich hinplätscherten, hatte sie versucht, ihn darauf anzusprechen, aber nur Beschwichtigungen und die Aufforderung geerntet, erneut auf ihre Genesung anzustoßen, als er ein weiteres Glas Asahi hob. Sie hätte seinen Dementis nur zu gern geglaubt, aber sie sah, wie seine langen Finger mit der Serviette spielten und dass er jedes Mal zusammenzuckte, wenn sein Handy auch nur das kleinste Geräusch von sich gab. Das letzte Mal, als sie ihn so erlebt hatte, war vor achtzehn Jahren gewesen, als er JCN Recruitment gegründet hatte. Als er zwei Jahre auf Kredit lebte und darauf wartete Gewinn zu machen. Jedem Kunden nachjagte, Vorstellungsgespräche führte, um zuverlässiges Personal zu finden, Restaurants und Hotels ausfindig machte, die Serviceteams für die Küchen- und Zimmerreinigung über Nacht benötigten.

Damals war John allerdings enthusiastisch gewesen. Hoffnungsvoll. Gestern Abend kam er ihr niedergeschlagen vor.

Und als sie dann heute Morgen erwachte, war er wie ausgewechselt. Er hatte gelächelt, Witze gerissen und verkündet, dass sie eine Party veranstalten würden, um die Neuigkeit angemessen zu feiern. Er war den ganzen Tag wie ein Besessener herumgehetzt, hatte Textnachrichten verschickt, Anrufe gemacht und Einkäufe erledigt. All ihre Angebote zu helfen waren freundlich aber bestimmt zurückgewiesen worden. Sie müsse sich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Sie müsse sich um sich selbst kümmern und ihre Energie für den heutigen Abend aufsparen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war sie mittendrin gewesen, doch heute fühlte sie sich mit jedem beschwichtigenden Satz immer nur noch weiter von dieser Frau entfernt, die sie einmal gewesen war.

Aber er passte ja nur auf sie auf. Darin hatte er inzwischen schließlich genug Übung. Lesley mochte während der Therapie ihre rechte Hand gewesen sein, aber John war ihre linke gewesen. Er war so lange Zeit fürsorglich und lieb zu ihr gewesen – er hatte diesen Augenblick knallender Korken an einem sonnigen Septemberabend verdient. Diese gebräunten Hände, die die Brenner einstellten, hatten sie mit Eiswürfeln gefüttert. Ihr Bett neu bezogen. Erbrochenes vom Teppich aufgewischt und ihr das dünner werdende Haar gewaschen. Sie hatten in den endlosen Nächten auf der Station ihre Hand gestreichelt, sie mit Schmerzmitteln versorgt und ihre Tränen getrocknet. So unglaublich viele Tränen.

Er hatte sich nun vom Grill abgewendet und half Abis Mutter dabei, die Kuchen zu arrangieren, die verschiedene Freunde zur Feier des Tages gebacken hatten. Natürlich hatte ihre Mutter sie alle mit einem riesigen Ungetüm in Form einer Champagnerflasche übertroffen. Sie ließ sich nun mal nicht gern ausstechen. Ihre Kreation war doppelt so groß wie die der nächsten Herausforderin und sogar mit einem Buttermilchguss versehen, der sich in kleinen Bläschen auf das Silbertablett ergoss, um das Knallen des Korkens nachzubilden.

Abi spürte, wie ihr Magen rebellierte.

»Komm schon, Abi.« John hielt ihr ein Glas hin. »Runter damit! Wird Zeit, dass du wieder bis fünf Uhr Früh auf den Tischen tanzt!«

Abi würde viel lieber die Füße hochlegen und sich eine Folge EastEnders anschauen.

Sie umklammerte das Glas. »Okay.« Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Zweifel beiseitezuschieben. Sie würde schon noch lernen, ihrem Körper wieder zu vertrauen. Und sie hatte solches Glück, hier zu sein – all diese Gesichter zu sehen, diese Stimmen zu vernehmen und wieder Teil der großen weiten Welt zu sein. Sie trat näher auf John zu und legte ihre Arme um ihn. Hinter ihm sah sie, wie sich ihre frühere Chefin vorbeischlängelte und in Simeons Lachen einstimmte, einer von Johns größten Kunden. Es war die Art von Lachen, das zu einem Date gehörte, von dem beide wussten, dass es nicht enden würde, wenn die Rechnung kam. Abis und Johns Dates waren früher einmal auch so verlaufen. Wenn sie sich doch nur vorstellen könnte, dass es wieder so sein würde. Es eine Zeit gäbe, wenn er aufhörte, ihr Pfleger zu sein, und sie stattdessen einfach nur wieder lieben würde.

John wich zurück. »Alles in Ordnung mit dir, Abi?« Sie hasste den ängstlichen Ausdruck in seinen Augen. Einst hatte sie ihn zum Lachen gebracht. Er war stolz auf sie gewesen. Nun gehörte sie zu den Sorgen auf seiner langen Liste. Aber sie hatte vor, das zu ändern. Die Dinge wieder auf Kurs zu bringen. Heute Abend würde sie ihm von ihrem Vorhaben erzählen. Und sie wusste schon jetzt, wie froh er darüber sein würde. Er bat sie seit Jahren darum, es zu tun, und nun war sie endlich bereit dazu.

»Mir geht’s gut.« Sie versuchte ihn zu küssen, aber genau in dem Moment wandte er sich ab und sie verlor das Gleichgewicht, hätte beinahe den Burgern auf dem Grill Gesellschaft geleistet.

»Wunderbar.« Er wandte sich ihr wieder zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Früher hatte er sie nie dort geküsst. Immer nur auf den Mund oder den Hals oder auf interessantere, tiefer gelegenere Stellen. Jetzt waren seine Küsse leidenschaftslos. Sachte. Krebsküsse. »Tut mir leid, ich will keine Nervensäge sein.«

»Das bist du nicht.« Sie ergriff seine Hand. »Aber lass uns für einen Abend mal diese Kranke-und-Pfleger-Nummer vergessen. Es geht mir großartig.« Dabei ignorierte sie die Müdigkeit, die sie zu überwältigen drohte. »Okay?«

»Hört sich gut an.« Er ließ ihre Finger los und wandte sich wieder den anstehenden Aufgaben zu.

»Schön.« Sie versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern, wie sie es in der Vergangenheit schon tausendmal getan hatte und wünschte nur, es würde sich nicht so gezwungen anfühlen. Sie mussten sich wohl noch an all die Tage und Nächte gewöhnen, die vor ihnen lagen. Daran, eine Zukunft zu haben.

Sie griff nach ihrem Glas und nahm einen Schluck. Wieder schmeckte der Champagner bitter auf ihrer Zunge. Sie war so damit beschäftigt, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihn hinunterbekommen sollte, dass sie im ersten Moment gar nicht bemerkte, dass John an sein Glas klopfte.

Oh Gott. Sie würgte den Champagner hinunter.

»Nein, John.« Sie wollte nicht, dass er ihr Glück laut aussprach. Sie wollte es für sich behalten. Eine schützende Hand darum halten, wie um eine flackernde Kerze.

Sie spürte die Blicke aller auf sich ruhen und wäre am liebsten im Boden versunken. Nun begriff sie, warum Rob es immer vorgezogen hatte, ein Schattendasein zu führen. Dort ging es ruhig zu. Friedlich. Sie starrte auf ihre Flip-Flops hinab, zählte die winzigen rosafarbenen Perlen, die über die Riemen verstreut waren.

John sprach mit bewegter Stimme. »Ihr alle kennt den Grund, warum wir hier sind.« Er holte tief Luft. »Sie hat es geschafft. Sie hat uns zwischendurch immer mal wieder einen Schrecken eingejagt, aber unser wunderbares Mädchen hat’s, verdammt noch mal, geschafft!«

Die Gästeschar jubelte und klatschte Beifall. Abi versuchte Lesley einen »Rette mich!«-Blick zuzuwerfen, aber ihre Freundin war viel zu sehr damit beschäftigt, mit einem Mann in einer roten Chinohose zu kichern, um es zu bemerken.

John wartete, bis der Lärm nachgelassen hatte. Er war immer souverän, wenn er vor einer Menschenmenge sprach – was wohl daher kam, dass er Leuten andauernd die Leistungen seiner Firma anpries, die im Allgemeinen gar nicht wussten, dass sie sie überhaupt benötigten.

»Ein großes Dankeschön an euch alle. Danke für eure Hilfe. Danke für all die Aufläufe und Suppen und sämtliche Staffeln von Game of Thrones.« Sein Smartphone klingelte, und ein Zucken lief über sein Gesicht. Er zog es hervor und warf einen so furchterfüllten Blick darauf, als hielte er eine Handgranate mit gezogenem Stift. Abi hätte viel darum gegeben, einen Blick auf das Display werfen zu können, doch er stopfte das Handy wieder in die Hosentasche zurück. »Tut mir leid, Leute. Ja, das war meins und ja, ihr dürft euch später über mich lustig machen.«

Er setzte ein Lächeln auf. »Jetzt lasst uns trinken. Und essen. Und feiern. Denn unsere Abi bleibt uns erhalten. Und nichts auf dieser Welt könnte mich glücklicher machen.« Er sah sie an, und sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Ich bin so unglaublich froh, dass ich noch mehr von meinem Leben mit diesem wunderschönen, verrückten kleinen Wirbelwind verbringen darf!«

Abi blickte erneut zum Himmel hinauf. Er schien nicht einzustürzen. Sie bemerkte, dass sich ihre Nägel in ihre Handflächen gruben und streckte vorsichtig die Finger.

John hob sein Glas. »Auf Abi!«

»Auf Abi!« Die Gäste folgten seinem Beispiel.

Abi lächelte und verspürte dabei etwas, das sie als Glücklichsein in Erinnerung hatte.

Glücklich. Ja. Das war sie. Tief in ihrem Inneren spürte sie diese Leichtigkeit, die sie aus ihrem alten Leben kannte. Sie würde es gewiss schon bald lernen, ihr wieder zu vertrauen.

Ihr Mann hob die Hand, um die Gästeschar zum Schweigen zu bringen.

»Also lasst uns feiern! Und keiner verlässt die Party, bis sich nicht der Erste übergeben hat, und es nicht mindestens einen Versuch gab, einen Klapptisch zu klauen!«

Erneut wurde gejubelt und geklatscht. Dann teilte sich die Menge in kleine Gruppen auf. Abi atmete den Rauch der Grillkohle ein, als rieche sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.

»Du trinkst nicht schnell genug.« Lesley war wieder an ihrer Seite.

»Ich laufe mich ja gerade erst warm.« Abi nahm einen weiteren Schluck und spürte bereits, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. »Wie war das?«

»Halbherzig.« Lesley kniff die Augen zusammen. »Aber immerhin ein Anfang. Wir werden schon dafür sorgen, dass du dich bald wieder ganz normal fühlst.«

»Das will ich stark hoffen.« Erst als sich Lesley abwandte, um Jagd auf ein paar Käsestangen zu machen, wurde sich Abi bewusst, dass sie gar keine Ahnung mehr hatte, was »normal« eigentlich bedeutete. Sie hatte mit all diesen Tagen gar nicht mehr gerechnet. Mit diesem ganzen Leben, das nun darauf wartete, gelebt zu werden. Sie konnte wieder Pläne schmieden. Sie in die Tat umsetzen. Träume verwirklichen.

Dann änderte sich die Musik, und »Don’t Stop Me Now« schallte durch den Garten. John wandte sich ihr mit ausgestreckter Hand zu.

»Komm schon. Sie spielen unser Lied.«

Sie lachte. »Und ich dachte schon, du hättest es aufgelegt, weil es eins der wenigen ist, das du tatsächlich kennst.«

»Frechdachs.« Er hielt sie fest und schwang sie dann von sich weg. In ihrem Kopf drehte sich alles, aber ihr Herz schwebte, als er sie wieder an sich zog. »Du nimmst mich auf den Arm, Abs, also muss es dir wohl besser gehen.«

Er wirbelte sie herum, immer schneller und schneller, und etwas in ihr fing Feuer. Freude umgab sie – sie spiegelte sich in den lächelnden Gesichtern und den Blicken ihrer Freunde und Familienmitgliedern wider. Die Menschen, für die sie überlebt hatte. Sie vergaß das Morgen. Schmiegte sich stattdessen in Johns Arme, und sie wiegten sich gemeinsam. Dankbarkeit erfüllte Abi. Dankbarkeit, weil ihre Lungen noch funktionierten, ihr Herz noch schlug und weil sie noch hier war.

SEB

Dan schickte schon wieder Bilder von Gigi Hadid.

Noch ein Brummen. Noch ein Strand. Noch ein Bikini.

Sieh dir das an.

Seb tat es.

Nice.

Seb zog eine Augenbraue in die Höhe, die Daumen bereit zum Tippen.

Jess spähte über seine Schulter. »Oh Gott. Jungs sind doch alle gleich!«

Seb errötete und stopfte sein Smartphone in die Hosentasche zurück. Er blickte aus dem Fenster des Pubs in den Garten, wo seine Mutter mit seiner Großmutter auf einer Bank in der Ecke saß. Sie kuschelte sich in diese furchtbare graue Strickjacke, die er so hasste. Er hatte versucht, sie in die Kleidersammlung zu geben, aber sie hatte sie wieder vom Stapel geschnappt und angezogen, obwohl sie das verdammte Ding so krank aussehen ließ. Er seufzte. Sie sollte kein Grau tragen, sondern Violett und Punkte und Kleider, von Leuten designt, die Orange mit Limonengrün kombinierten.

Er scharrte wütend mit seinem Sneaker über den abgetretenen roten Teppich, blickte dann wieder hinaus und murmelte vor sich hin: »Sie behauptet, es gehe ihr besser, aber das stimmt nicht.«

»Was meinst du damit?« Jess wickelte sich eine Strähne ihres dunklen Haars um den Finger. Ihre langen schwarzen Nägel gingen ihm auf die Nerven. »Sie sieht prima aus. Hör auf zu stressen.«

Er schüttelte verärgert den Kopf. »Du schaust nicht richtig hin. Sieh doch!« Er zeigte auf seine Mutter, die gerade zu etwas nickte, das seine Großmutter sagte. Sie sah unbeteiligt und ruhig aus. »Sie sitzt einfach nur da. Sie hat kaum mit jemandem gesprochen.«

»Na und? Auf mich macht sie einen ziemlich glücklichen Eindruck.« Jess drückte seine Hand. »Wahrscheinlich ist sie noch etwas geschafft von ihrer Stoma-Rückverlagerung vor ein paar Wochen.« Ihre Finger fühlten sich warm an. Sie schaffte es immer, dass er sich besser fühlte. Er hatte keine Ahnung, wie er das letzte Jahre ohne sie geschafft hätte – ohne ihren sicheren Instinkt, immer den richtigen Song zu spielen, immer das Richtige zu sagen oder im richtigen Moment einfach still neben ihm zu sitzen und seine Hand zu halten.

Sie legte ihre Stirn für einen Augenblick an die seine, bevor sie dem Barkeeper ein weiteres bezauberndes Lächeln schenkte. Der schüttelte entschieden den Kopf. »Keine Chance.« Ihr gefälschter Studentenausweis hatte mal wieder versagt. Seb würde sich den kleinen Scheißer aus der Zwölften morgen vornehmen und sein Geld zurückverlangen.

»Na schön«, sagte Jess und zuckte die Schultern. »Dann versuchen wir es eben mit der Bowle. Gerade ist dein Onkel Rob weggegangen. Wir haben also freie Bahn.« Sie kaute nachdenklich auf dem letzten Kartoffelchip aus der Tüte herum. »Lass uns nach draußen gehen. Heute ist der einzige Abend in dieser Woche, an dem ich nicht lernen muss, das möchte ich auskosten.«

»Okay.« Er dachte immer noch über seine Mutter nach. Doch dann sah er, wie sich sein Vater umdrehte, mit dieser verrückten Grillzange in der Luft herumwedelte und ihm wurde klar, dass das da draußen der letzte Ort war, an dem er im Moment sein wollte. Die letzte Woche war im Hinblick auf ihre Vater-Sohn-Beziehung keine gute Woche gewesen, und nachdem er ihm nun mehrere Tage erfolgreich aus dem Weg gegangen war, wollte er jetzt nicht erwischt werden.

Es war eine gewisse Verschleierungstaktik gefragt. Er packte Jess, die auf der Türschwelle des Pubs stand, an der Hand, wirbelte sie herum, küsste sie und drückte sie dabei mit dem Rücken gegen den Türrahmen, außer Sichtweite seines Vaters. Ihr Mund schmeckte nach Cola light, Käse und Zwiebeln, und er versuchte den Gedanken an seinen Vater zu verdrängen, während er sie küsste.

»Aua!« Sie wand sich aus seinem Griff.

»Was denn?« Er wich zurück.

Sie streckte die Hand aus und ergriff die seine. »Die Kante vom Türrahmen ist nicht gerade weich!« Sie senkte die Stimme. »Aber lass uns doch verschwinden!« Sie schaute vielsagend zum Ausgang hinüber. »Es ist niemand zu Hause, und wenn du möchtest, dann …«

»Ich kann nicht.« Er sah, wie sein Vater auf ihn zukam und wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass er könnte. »Dieser Abend gehört meiner Mutter. Da kann ich mich nicht einfach verdrücken.«

»Aber … wann dann?« Diesen Schmollmund bekam er in letzter Zeit immer häufiger zu sehen. »Wir müssen vor unseren Eignungstests für die Uni noch so viel erledigen, und du arbeitest an den Wochenenden ja auch noch als Ehrenamtler im Krankenhaus. Dabei gibt es in deinem Lebenslauf wirklich nichts mehr aufzubessern.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist doch jetzt schon klar, dass du mal ein toller Arzt werden wirst! Du bist ein todsicherer Kandidat für einen Studienplatz an der UCL – selbst wenn du nie wieder ein Buch in die Hand nimmst.«

Er mied ihren Blick. Er war weit davon entfernt, irgendetwas als todsicher anzusehen. Da sie eine Mädchenschule besuchte, bekam sie nicht mit, wie er im Unterricht war, wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren. Es war pures Glück, dass er bei den Klausuren, die bereits fürs Abitur zählten, so gut abgeschnitten hatte, denn jedes Mal, als er im Sommer versucht hatte, für die Prüfungen zu lernen, da hatte sich sein Gehirn einfach abgeschaltet, weil zu viel anderes vor sich ging. Zu viele Sorgen in seinem Kopf herumspukten und ihn bis drei Uhr nachts wach hielten.

Jess legte eine Hand auf seine. »Ich könnte etwas Ablenkung gebrauchen, Babe.«

»Ich helfe gern«, erwiderte er, mied aber ihren Blick, als er hinzusetzte: »Dr. White.«

Sie versetzte ihm einen kleinen Schubser. »Ich habe dir doch gesagt, dass du das nicht laut aussprechen sollst. Fordere das Schicksal nicht heraus!«

»Das ist doch absoluter Müll.« Er lachte. »Du wirst mit Bestnoten in Oxford landen.«

»Seb.«

Mist. Sein Vater. Er ließ Jess’ Hand nicht los, in der Hoffnung mit einer schnellen Runde durch den Garten davonzukommen.

»Hallo, Dad. Amüsierst du dich?«

»Na klar.« Er hatte ganz vergessen, von welch einem durchdringenden Blau die Augen seines Vaters waren, selbst wenn darunter dunkle Schatten lagen, die ihn aussehen ließen, als hätte er fünf Nächte durchgefeiert. »Wie war’s heute in der Schule?«

Seb stellte sich gerade hin, um den guten Zentimeter zu betonen, mit dem er ihn überragte.

»Gut.«

Sein Blick huschte über das Gesicht seines Vaters hinweg, und er erkannte, dass seine Sorgen überflüssig waren: Sein Dad hörte ihm überhaupt nicht zu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit dem vertrauten Stirnrunzeln auf das Display seines Smartphones zu starren. Das Ding schien eher ein Folterinstrument zu sein als ein Gerät, das einem die Möglichkeit bot, mit Freunden und Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben. Seine Hände zitterten, als er den Anruf umleitete und sich die Haare aus den Augen strich. Seb wünschte, er würde sie sich einfach schneiden lassen und endlich damit aufhören, so zu tun, als wäre er nicht schon Mitte vierzig! Er klopfte Seb auf die Schulter. »Ich habe draußen im Auto noch Brot – könntest du mitkommen und mir beim Tragen helfen?«

Seb hatte das Gefühl, dass es gar nicht darum ging, Brot zu holen. Sein Vater wollte offenbar diese Unterhaltung mit ihm führen, die Seb bisher mit allen Mitteln zu vermeiden versucht hatte. Er blickte sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber der Antilope, dem Pub, in dem sie feierten, fehlte es schon immer an Geheimtüren.

»Okay.« Er gab Jess einen Kuss, der gerade lange genug dauerte, um seinen Vater nur noch mehr zu verärgern.

»Wir sehen uns draußen.« Er wandte sich noch einmal zu ihr um, als er sich aufmachte, seinem alten Herrn zu folgen und zog dabei eine alberne Grimasse – ein Talent, womit er überhaupt erst Jess’ Aufmerksamkeit gewonnen hatte und die sie erstaunlicherweise anziehend fand. Am Eiscremetresen bei Nando’s. Da hatte alles angefangen.

Sie gingen hinaus auf den Parkplatz, wo sein Vater den alltäglichen Kampf mit dem Schloss des ramponierten blauen Volvos aufnahm, der seit Urzeiten im Besitz der Familie war. Sein schwarzer Audi war auf geheimnisvolle Weise vor drei Monaten verschwunden. Genauso wie seine Golfschläger und sein überteuertes Mountainbike, von dem Seb gehofft hatte, dass er es sich eines Tages einmal unter den Nagel reißen könnte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der Seb glaubte, seinen Vater alles fragen zu können – nun ja, alles, außer, wieso die Queen’s Park Rangers nie die Liga gewannen. Aber er hatte immer noch den Knall in den Ohren, mit dem der Teller seines Vaters in der Spüle gelandet war, als Seb herumgewitzelte hatte, dass er nach der Arbeit den Audi wohl nach ein paar Whiskys zu viel geschrottet haben musste.

Sein Vater war ihm an dem Abend wie ein anderer Mann vorgekommen, hatte an seinem Bier gehangen, als wäre es das Einzige, was ihn am Leben hielt. »Ich fahre nicht, wenn ich getrunken habe, Seb. Das weißt du doch.«

»Schon gut.« Seb sah eine Wut, von der er gar nicht gewusst hatte, dass sein Vater dazu überhaupt fähig war. Sein Dad war ein Vater, mit dem man eine gute Zeit hatte. Ein Vater, der Seb und seine Freunde mit ins Wembley-Stadion nahm und ihnen allen hinterher Hamburger spendierte. Ein Vater, der ihm mit zwölf zum ersten Mal erlaubt hatte, ein Bier zu trinken. Aber er war noch mehr als das. Er war auch ein Vater, der sich, als Mum krank geworden und Seb nachts schreiend aufgewacht war, zu ihm ans Bett gesetzt und ihm die Sport-Schlagzeilen vorgelesen hatte, bis er wieder einschlief. Ein Vater, der während Mums Krankheit jeden Sonntag etwas mit ihm unternommen hatte – Touren mit dem Mountainbike, gemeinsam joggen oder Fußballspiele im Pub anschauen. Ein Vater, der auf seiner Seite war.

Doch an dem Abend, als der Audi verschwunden war, hatte sich alles verändert. Sein Vater hatte mit leiser Stimme gesagt: »Du solltest mich besser kennen, Seb.«

»Ich habe ja nur einen Witz gemacht.«

»Der aber überhaupt nicht lustig war.« Sein Vater hatte den Mund geöffnet, um mehr zu sagen, ihn dann aber wieder geschlossen, als sie über sich Schritte vernahmen. Die Toilettenspülung ertönte, dann herrschte Stille. Es war erst acht Uhr abends, und Mum war schon auf dem Weg ins Bett. Sie hätte hier unten bei ihnen sein sollen, sie zwingen, sich Bands mit obskuren Namen anzuhören und Spaghetti bolognese kochen, die zu fünfzig Prozent aus Rotwein bestand. Traurigkeit erfüllte die Stimmung zwischen ihnen und sein Vater war für einen Moment am Tisch in sich zusammengesunken, ehe er sich dem Kühlschrank zuwandte, um ein weiteres Bier zu holen. Er hatte Seb wortlos auch eine Flasche gereicht, und sie hatten mit der Freude von Verwandten auf dem Weg in die Leichenhalle angestoßen.

»Seb?« Ein Flugzeug dröhnte über ihnen hinweg, und er blinzelte zurück zum Parkplatz. Sein Vater hatte den Kampf mit der Autotür gewonnen und beugte sich ins Wageninnere, um etwas herauszuziehen, das wie tausend Weißbrötchen aussah. Seb streckte die Arme aus und schwankte schon bald unter der Last von mindestens zwanzig Sechserpackungen.

»Läuft es immer noch gut mit dir und Jess?«

»Japp.« Seb versuchte die rutschigen Packungen unter Zuhilfenahme seines Kinns festzuhalten. Sein Vater hatte noch nie ein Gefühl für gutes Timing bewiesen, wenn es um eine private Unterhaltung ging. So fand ihr Gespräch über Bienchen und Blümchen auf dem Oberdeck eines offenen Doppeldeckerbusses in Gegenwart von Zwillingen im Kleinkindalter und ihrer entsetzten Eltern statt.

»Gut.« Sein Vater lehnte sich vorsichtig mit dem Rücken gegen die Tür, um sie zu schließen, ohne dass sie sich dabei aushängte, wie es für gewöhnlich geschah, wenn man in Eile war. Ausnahmsweise tat ihm die Tür einmal den Gefallen und schnappte mit einem klackenden Laut ins Schloss. »Gut. Du bist dir auch wirklich sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Seb wehrte ab – zumindest soweit dies möglich war, wenn man ungefähr eine halbe Tonne Weißbrot trug. »Worauf willst du hinaus, Dad?«

»Na ja, wir haben uns immer noch nicht über das unterhalten, was letzte Woche passiert ist.« Sein Vater schob die Schlüssel wieder in die Tasche seiner Jeans zurück und streckte die Hände aus, um Seb einige der Brötchenpackungen abzunehmen. »Du kannst von Glück sagen, dass sie dich nicht vom Unterricht ausgeschlossen haben.«

Seb überkamen für einen Moment Schuldgefühle, die er aber beiseiteschob. »Wieso reden wir jetzt darüber? Ich dachte, das hier soll eine Party sein, verdammt noch mal!«

»Wir reden jetzt darüber, weil du mir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen bist. Und lass die Flucherei!«

»Komm schon, Dad.« Seb schüttelte den Kopf. »Ich bin dir nicht aus dem Weg gegangen – ich muss lernen. Ich stecke mitten in den Prüfungen, weißt du? Und was das Fluchen angeht, das hast du mir beigebracht. All die Fußballspiele, bei denen der Gegner mit Kraftausdrücken und Sprechchören beschimpft wurde. Hast du das etwa alles schon vergessen?«

Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht seines Vaters, und für einen Moment war er wieder ganz der Alte. Seb erwiderte das Lächeln unwillkürlich und fühlte sich zurückversetzt in die Zeit auf den Stadionstehplätzen, als sie einander über eine Tasse Rindfleischbrühe hinweg anlässlich des letzten Tores der Queens Park Rangers angegrinst hatten.

Sein Vater gab ein Hüsteln von sich. »Hör zu, tut mir leid, dass der Zeitpunkt schlecht gewählt ist, aber ich habe dich kaum zu Gesicht bekommen.«

»Das liegt aber nicht nur an mir. Du hast dich auch selten blicken lassen.«

Sein Vater nickte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Stimmt auch wieder. Aber da war deine Mutter und die Arbeit ist, na ja … «

»Ich weiß schon. Ziemlich Scheiße.« Seb war versucht, hinzuzufügen, dass sein Vater neuerdings mehr Zeit beim Joggen verbrachte als zu Hause. Es war nicht nur die Arbeit, die ihn fernhielt. Aber er hatte keinen Bock darauf. Stattdessen wandte er sich ab, um in den Pub zurückzukehren. »Lass uns wieder reingehen, ja?«

»Seb?«

Seb seufzte und drehte sich um. »Hat das nicht noch Zeit? Ich weiß, dass du mir die Meinung geigen und mir verklickern musst, so etwas nie wieder zu tun. Aber das hier ist Mums Abend, und ich möchte bei ihr sein.«

»Es ist nur …« Sein Vater verstummte mitten im Satz, und sein Blick löste sich von Seb und wanderte in die Ferne.

»Was denn?«, fragte Seb leicht irritiert.

Ein gelber Skoda bog auf den Parkplatz, während sein Vater an seiner Lippe kaute, wie er es in letzter Zeit immer öfter tat. »Ich habe deiner Mutter noch nichts über das, was in der Schule passiert ist, erzählt – über das, was du getan hast.« Er trat von einem Fuß auf den anderen, schien nicht in der Lage stillzustehen. »Ich wollte – ich will – vermeiden, dass sie sich aufregt, deshalb hast du immer noch dein Smartphone und keinen Hausarrest.«

Seb wartete ab. Ihm war klar, dass er glimpflich davongekommen war, und er wollte seine Freiheit nicht aufs Spiel setzen.

Sein Vater blies die Wangen auf. »Sie würde ausrasten, wenn sie davon erführe. Also solltest du es besser nicht noch mal tun, kapiert?«

»Kapiert.« Seb beobachtete eine Taube, die auf dem Parkplatz ein Bad in einer trüben Pfütze nahm. Ihr Abend verlief definitiv besser als seiner.

Sein Vater lächelte. »Du bist der Grund, warum sie weitergekämpft hat, Seb. Du und dein Fußball und deine guten Noten und weil du dich jetzt um einen Studienplatz in Medizin bewirbst.« Seine Augen nahmen einen weicheren Ausdruck an. »Sie setzt so große Hoffnungen in dich.«

Noch mehr Druck. Super. »Dad, ich …«

»Bleib auf Kurs, ja?« Sein Vater blickte ihm in die Augen. »Sie braucht die Gewissheit, dass bei dir alles in Ordnung ist und nicht, dass es Schwierigkeiten in der Schule gibt. Gott sei Dank hat das Sekretariat mich angerufen und nicht sie, das ist alles, was ich dazu sagen werde.«

Seb ballte die Fäuste angesichts all der Antworten, die ihm dabei durch den Kopf schossen, von denen er aber keine tatsächlich laut aussprechen konnte.

Also sagte er lediglich: »Kann ich jetzt gehen, Dad?«

»Einen Moment noch.« Sein Vater schluckte. »Da gibt es noch etwas anderes, das ich dir sagen muss, bevor …«

»Sebastian!«

Gerettet. Seb wandte sich um und erblickte Mrs. Greene, ihre Nachbarin mit dem schlechten Atem und den unförmigen Strickjacken. Er hatte sich noch nie so gefreut, sie zu sehen.

Sie blinzelte hinter orangefarbenen Brillengläsern. »Wie geht es dir, mein Bengel?«

Zu alt um Bengel genannt zu werden, so viel war sicher.

»Gut, vielen Dank.« Die Brötchenpackungen knisterten und rutschten in seinen Armen.

»Wie läuft’s denn beim Bolzen?«

Niemand sonst sagte bolzen.

»Großartig.« Er setzte sich wieder Richtung Pub in Bewegung. Wollte ihr Auftauchen nutzen, um sich endlich aus dem Staub zu machen.

»Spielst du immer noch für …?« Ihre Stirn legte sich in Falten.

»Meine Schule.« Er nickte. »Jep.«

Sein Vater trat vor. »Er ist in diesem Jahr Kapitän der ersten Mannschaft.«

»Stimmt.« Seb nickte. »Nächste Woche spielen wir gegen die Academy und wir …«

»Das ist ja wunderbar.« Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, wo beim Fußball die Tore standen, und es scherte sie wohl auch nicht im Geringsten. »Und wie geht es deiner Mutter?«

»Der geht’s großartig, Mrs. Green.« Er ging einfach weiter. Er brauchte jetzt unbedingt ein Bier. Und eine heimliche Zigarette.

Sie öffnete den Mund, um ihm eine weitere Frage zu stellen, aber er machte sich davon. »Wir sehen uns dann drinnen, Dad.« Er marschierte jetzt mit großen Schritten davon, duckte sich, um nicht gegen den Türrahmen zu stoßen und trug die Brötchen durch den Pub nach draußen. Dort legte er sie auf einen freien Klapptisch, ging zu seiner Mutter hinüber, setzte sich neben sie und schlang seinen Arm um ihre knochige Schulter. Einst hatte er seinen Kopf daran gekuschelt, um sich über zahllose kindliche Enttäuschungen hinwegtrösten zu lassen. Nun fühlte sie sich ungefähr so behaglich an wie ein Schneidebrett.

»Hallo, Seb.« Es tat weh, die Erschöpfung in ihren Augen zu sehen, obwohl sie sie mit einem Lächeln zu überspielen versuchte. »Amüsierst du dich?«

Seine Antwort war gelogen. Wieder einmal. Ihr zuliebe. Um sie zu schützen. Um das Lächeln auf ihrem Gesicht zu bewahren. »Oh ja. Tue ich.« Er lehnte sich vor und faltete dabei die Hände vor seinem Körper. »Ich würde mich allerdings noch mehr amüsieren, wenn ich ein Bier hätte«, sagte er mit hoffnungsvoll in die Höhe gezogener Augenbraue.

Sie verdrehte die Augen. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis du wieder damit ankommst.«

»Immerhin habe ich schon versucht, meinen gefälschten Studentenausweis zu benutzen.«

»Hat wieder nicht geklappt?«

»Jep.«

»Also, die meisten Leute würden es als Kompliment betrachten, jugendlich auszusehen.« Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Ihr Haar war immer noch so dünn, dass man praktisch die Kopfhaut sehen konnte, und sie trug nicht einmal Ohrringe, obwohl sie vor ihrer Krankheit die Pat Butcher von Oxford gewesen war und wie die Figur aus EastEnders nie ohne diese Dinger aus dem Haus ging. Er spürte wieder einmal, wie sich sein Magen vor Angst zusammenzog. Aber es ging ihr besser, versuchte er sich einzureden. Es musste ihr einfach besser gehen.

Er dachte an diesen schrecklichen Tag zurück, als sie ihm gesagt hatte, dass sie an Krebs erkrankt war, und er immer nur die leere Stelle an der Seitenlinie bei seinen samstäglichen Fußballspielen vor sich sah, wo sie eigentlich stehen sollte. Er durchlebte diesen Moment immer und immer wieder in seinen Albträumen. Eine Serie von Schnappschüssen. Ihre bleiche Haut. Die Tränenspuren auf ihren Wangen, und doch für ihn ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht. Sie und Dad hatten sich über den Tisch hinweg an den Händen gehalten und die Arme nach ihm ausgestreckt, um den Kreis zu schließen. Er hatte ihre Finger gepackt, zu ihrem Handgelenk hinaufgegriffen, um ihren schnellen, fiebrigen Pulsschlag zu spüren. Um sich zu vergewissern, dass sie noch da war.

Später, als sie beide im Bett lagen, war er noch einmal aufgestanden, hatte sich sein Handy und seine letzten zehn Pfund geschnappt und war nach Summertown gejoggt, wo er einen Mann aufgetrieben hatte, der bereit gewesen war, ihm eine Flasche Wodka aus dem Supermarkt mitzubringen. Dann hatte er seinen Freunden getextet, und sie hatten bis in die frühen Morgenstunden im Park gesessen, getrunken und geraucht und versucht, die Bäume hinaufzuklettern, die so hoch waren, dass sie bis in den Himmel hinaufzureichen schienen. Dann war er nach Hause gegangen und hatte einfach weitergemacht. Das Geschirr gespült. Den Müll rausgebracht. War mit den Haarbüscheln im Waschbecken fertiggeworden und mit der abgeschlossenen Badezimmertür. Hatte gelächelt und das schlurfende Skelett umarmt, das einst seine Mutter gewesen war, die schmutzige Witze erzählte und keine Party vor Mitternacht verließ.

Nun behaupteten die Ärzte, dass sie krebsfrei sei. Doch er vermochte die Zeit nicht zurückzudrehen, zurück zu den Tagen, als er noch wirklich über alles mit ihr reden konnte, was er auf dem Herzen hatte. Er wünschte, er wäre dazu imstande. Er benötigte ihre Hilfe, hätte ihr am liebsten gestanden, was letzte Woche in der Schule passiert war, um ihre Meinung dazu zu hören, und ob sie ihm Rückendeckung geben würde. Aber dafür ging es ihr noch nicht gut genug – ein Blick in ihr erschöpftes Gesicht reichte aus, um dies zu erkennen.

Er musste allein damit klarkommen.

Sie sah ihn jetzt an, und ihre Augen strahlten vor Liebe. »Geht’s dir gut?«

Er öffnete den Mund, doch in dem Moment tauchte Jess auf. Minirock, eng anliegendes Top und Lippen, die danach schrien, geküsst zu werden. Sie kuschelte sich in seinen Schoß, und er hielt sie fest, begann automatisch ihren Rücken zu streicheln, spürte die Wärme unter dem leichten Stoff und die hervortretenden Häkchen ihres Büstenhalters.

»Ja, Mum, alles gut.«

Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte, also lehnte er sich zu Jess hinauf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Finger verflochten sich mit den seinen, hielten sie so fest, als ob sie niemals wieder loslassen wollte.

Doch das würde sie. Wenn sie ihn letzte Woche in der Schule erlebt hätte. Sein Gebrüll. Der Schlag seiner Faust. Das Knirschen von Knochen.

Er konnte es sich einfach nicht verzeihen.

Er mochte hier sein auf der Survivalparty seiner Mutter, mit dem Kapitänstrikot in der Tasche und dem perfekten Mädchen auf dem Schoß. Aber er wusste, dass es nicht von Dauer sein würde.

Er wusste, dass ihn das alles einholen würde.

ABI

»Lass uns mal kurz anhalten.«

»In Ordnung.« Abi schaute durch die Windschutzscheibe zu den Bäumen hinauf, die in den Himmel ragten und nahm den Anblick des Mondes und der Sterne begierig in sich auf.

John lenkte den Wagen an den Rand und blieb an der Kurve, direkt unter Abis Lieblingseiche stehen. Die großen Häuser zu beiden Seiten wirkten still, die Fenster waren dunkel und die Holztore der breiten Kiesauffahrten geschlossen. Auch wenn das Zentrum von Oxford mit seinen Glocken und Schlaguhren und rumpelnden Bussen nur eine halbe Meile entfernt lag, war es hier ruhig und friedlich.

»Was ist los, John?«

Sie wandte sich ihm zu, als er den Motor abschaltete, erinnerte sich an die vielen Gespräche, die sie auf den zunehmend schäbiger werdenden Sitzen geführt hatten. Neben ihrem linken Bein befand sich ein Teefleck von einem fehlgeschlagenen Picknick, bei dem Sturmwolken aufgezogen waren, und sie gezwungen hatten, ihre Pasteten im Wagen zu verspeisen. Wenn sie die Hand hob, könnte sie die Einkerbung im Dachhimmel ertasten, die Seb als Kleinkind bei seiner beherzten Erforschung der Scherenwelt hinterlassen hatte und wenn sie nach rechts blickte, würde sie erkennen, dass der Seitenspiegel immer noch die Spuren des Zusammentreffens mit dem Tor trug, als ihre Magenschmerzen damals an jenem Abend so schlimm gewesen waren, dass selbst sie begriffen hatte, dass etwas nicht stimmte.

Sie liebte dieses Auto. Es hatte sie sicher zu ihrer Chemo gefahren. Und wieder zurück. Es war ein Talisman unter den vielen, die im Haus und im Garten verstreut waren. Die Statue des kleinen Jungen, der hinter dem Rosenbusch hervorspähte, den sie von ihrem Sessel aus in der sonnigen Ecke des Wohnzimmers angestarrte hatte. Das grüne bunt gestreifte Notizbuch, das sie überall hin begleitet hatte. Ihre gelben Kopfhörer. Ihr heiß geliebtes Album der Stone Roses. Die grüne Plattentasche mit der Unterschrift von Stevie Nicks, in der sie ihre Chemo-Tabletten aufbewahrt hatte und die riesige violette Brille, die die Leute von all den schrecklichen wunden Stellen auf ihrer Haut ablenken sollte.

Das Auto war nur eines der Dinge in ihrer Sammlung, die sie am Leben gehalten hatten. Trotz ihrer Müdigkeit lächelte sie, als sie sich in den nicht gerade bequemen Sitz zurücklehnte. John hatte ihr sogar hier im Wagen den Heiratsantrag gemacht. Vor siebzehn Jahren. Damals war sie zwanzig gewesen und naiv und so damit beschäftigt, Party zu machen, dass ihr erst nach zwei Monaten auffiel, dass ihre Periode ausgeblieben war.

Sie wandte sich ihrem Mann zu. Die Straßenbeleuchtung betonte seinen zusammengepressten Kiefer, Muskeln, die in seinen Mundwinkeln zuckten, als er sich anschickte zu sprechen. Das Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad sagten ihr, dass es sich um etwas Wichtiges handelte und sie erinnerte sich wieder an sein Gesicht am Vorabend. Irgendetwas stimmte nicht. Während sie ihn beobachtete, fragte sie sich, welchen neuen Abschnitt ihrer Geschichte der Wagen nun bezeugen würde.

Er starrte vor sich hin. »Hat dir die Party gefallen, Abi?«