Du erinnerst mich an morgen - Katie Marsh - E-Book

Du erinnerst mich an morgen E-Book

Katie Marsh

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Beschreibung

Zoe will gerade die Zukunft mit ihrer großen Liebe Jamie beginnen, als sie ihre Vergangenheit einholt. Kurz vor der Trauung erreicht sie der Hilferuf ihrer Mutter, mit der sie seit Jahren nicht gesprochen hat. Ohne nachzudenken verlässt Zoe die eigene Hochzeit und findet eine veränderte Mutter. Die Neuigkeit trifft sie mit voller Wucht: Gina ist mit gerade mal Anfang fünfzig an Alzheimer erkrankt. Der Alltag wird bedrohlicher, die Versöhnung mit ihrer Tochter immer dringlicher. Zoe will Gina beistehen, ist aber auch damit konfrontiert, dass Jamie sie nach der geplatzten Hochzeit verlassen hat. Ist er bereit, ihr eine zweite Chance zu geben? Und können Mutter und Tochter die Vergangenheit überwinden, jetzt da Gina ihre Erinnerung langsam, aber unaufhaltsam verliert?

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Zoe will gerade die Zukunft mit ihrer großen Liebe Jamie beginnen, als sie ihre Vergangenheit einholt. Kurz vor der Trauung erreicht sie der Hilferuf ihrer Mutter, mit der sie seit Jahren nicht gesprochen hat. Ohne nachzudenken verlässt Zoe die eigene Hochzeit und findet eine veränderte Mutter. Die Neuigkeit trifft sie mit voller Wucht: Gina ist mit gerade mal Anfang fünfzig an Alzheimer erkrankt. Der Alltag wird bedrohlicher, die Versöhnung mit ihrer Tochter immer dringlicher. Zoe will Gina beistehen, ist aber auch damit konfrontiert, dass Jamie sie nach der geplatzten Hochzeit verlassen hat. Ist er bereit, ihr eine zweite Chance zu geben? Und können Mutter und Tochter die Vergangenheit überwinden, jetzt da Gina ihre Erinnerung langsam, aber unaufhaltsam verliert?

KATIEMARSH

DU ERINNERST MICH

AN MORGEN

Roman

Aus dem Englischen

von Angelika Naujokat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Katie Marsh

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel A Life Without You bei Hodder & Stoughton Ltd., a division of Hachette UK Ltd., London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heike Hauf

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © IreneArt, Ajgul, Skorik Ekaterina/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-20970-4V003

www.diana-verlag.de

Für Mum und Dad

KAPITEL 1

Das Sandwich war eindeutig ein Fehler gewesen.

Zoe presste eine Hand gegen ihre feuchtkalte Stirn und griff mit der anderen zur Zahnbürste. Der Stapel weicher weißer Handtücher neben dem Marmorbecken schien sie mit seiner duftenden Perfektion zu verspotten, als sie Zahnpasta auftrug und zu putzen begann.

»Komm schon, Zoe.« Ihr Vater klopfte energisch an die Badezimmertür. »Lass dich nicht unterkriegen!« Seine Stimme klang eher drohend als aufmunternd.

Sie spuckte, spülte den Mund aus und richtete sich auf, um in den Spiegel zu blicken, was sie sogleich bereute. Nicht einmal die übereifrige Visagistin hatte es geschafft, die Schatten der Erschöpfung unter ihren Augen zu überschminken.

»Bin gleich da, Dad.« Sie unterdrückte ein erneutes Gähnen. In der letzten Zeit hatte sie viel zu oft in den frühen Morgenstunden wach gelegen. Sie spürte, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach, und versuchte, die Spitze zu lockern, die sich an ihren Hals zu klammern schien. Doch der Stoff weigerte sich beharrlich, und sie gab nach einem kurzen Ringen auf und ließ stattdessen kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Wenigstens war die Übelkeit nicht mehr so schlimm. Blieben nur noch die hämmernden Kopfschmerzen und die Panik.

Sie trocknete sich die Hände ab und sah beim Aufrichten, wie das cremefarbene Seidenkleid, das in eleganten Falten bis zum Boden fiel, ihre Beine umspielte. Sie war wie eine Braut gekleidet, und ihre kunstvoll hochgesteckten Haare waren bereit für den großen Auftritt.

Irgendwie fühlte sie sich auch wie eine Braut. Erwartungsvoll. Glücklich.

Wenn da nicht diese beharrliche Stimme gewesen wäre, die sie fragte, ob es wirklich richtig war, hier zu sein. Ob Jamie und sie nach allem, was geschehen und gesagt worden war, überhaupt jemals miteinander glücklich werden konnten.

Ihr Magen krampfte sich erneut zusammen, sie stürzte zur Toilettenschüssel hinüber und beugte sich über sie. Das hier entsprach nicht so ganz dem erhofften glamourösen Einstieg in ihren Hochzeitstag. Sie wartete vorsichtshalber ab, ob noch irgendein Rest in ihrem Magen übrig war. Offenbar nicht. Wenigstens etwas. Sie richtete sich mit etwas wackeligen Beinen auf.

Es klopfte erneut. »Zoe. Ich muss jetzt wieder runter.«

Sie vernahm die Ungeduld in seiner Stimme. Im Ablaufprogramm ihrer Hochzeit war kein Platz für Krisen irgendwelcher Art. Jede Sekunde des Tages war verplant. Abweichungen nicht gestattet.

Sie holte tief Luft, trat auf die Badezimmertür zu, öffnete sie und versuchte sich an einem Lächeln. Offenbar mit Erfolg, denn ihr Vater grinste sie an.

»Scheint ja alles in Ordnung zu sein. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte er und musterte sie dabei von oben bis unten. Groß gewachsen, wie er war, gab er im Cut eine stattliche Figur ab. Er hatte sich das graue Haar mit Wachs zurückgekämmt, und seine schwarzen Schuhe glänzten. »Kann ich doch immer.«

Sie nickte. »Alles prima. Ich musste nur mal meine Nase pudern.« Ihr Magen gab ein Unheil verheißendes Geräusch von sich, und sie kämpfte schon wieder mit dieser verflixten Übelkeit. Sie erblickte den Stolz in seinen braunen Augen. Er sah immer nur ihre Schokoladenseite. Eine andere hatte sie ihm auch noch nie gezeigt.

»Hier, Zo, für dich.« Ihre Schwester hielt ihr ein Glas Champagner hin.

»Danke, Lily.«

Vielleicht war Alkohol ja die Lösung. Alles andere hatte bisher versagt: Magenmittel, Tiefenatmung, klassische Musik – nichts hatte genützt. Zoe sah, wie die Bläschen im randvoll gefüllten Glas nach oben perlten und platzten, während sich ihre Finger um den Stiel schlossen. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck und setzte das Glas auf dem niedrigen dunklen Eichentisch ab. Atmete langsam aus. Sie würde das schon hinkriegen.

Ihr Vater lächelte, und die blasse Narbe an seinem Kinn verzog sich zu einem nach oben gebogenen schiefen C. Nordirland 1986. Er konnte die Herkunft jeder einzelnen Narbe an seinem Körper benennen, die er in den vielen Jahren seines Militärdienstes davongetragen hatte. »Jamie ist ein Glückspilz. Ich hoffe, er weiß das.« Da war ein warnender Unterton in seiner Stimme. Jamie scherzte manchmal, dass er Zoe erst aus einem brennenden Gebäude retten oder einen Mordanschlag auf sie vereiteln müsste, ehe ihr Vater ihn ihrer würdig erachtete.

»Also dann. Es wird Zeit.« Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die Zimmertür zu, blieb dann aber stehen, kam noch einmal zurück und umarmte Zoe so fest, dass sie spürte, wie sein Herz gegen ihre Rippen schlug. Diese Umarmung war seine Art, ihr zu zeigen, dass er sie liebte. Was er niemals in Worte fassen würde.

Er presste sie noch etwas fester an sich. »Auf einen wunderschönen Tag.«

Nun ja, sie hatte sich seit mindestens fünf Minuten nicht mehr übergeben, also schienen sich die Dinge in die richtige Richtung zu entwickeln.

»Danke, Dad.« Sie kuschelte sich unter sein Kinn, erinnerte sich daran, wie Lily und sie aus den Fenstern einer schier endlosen Reihe von Häusern in Militärwohnanlagen hinausgespäht hatten, um die Ankunft ihres Vaters, des Helden, mitzuerleben. Die Nasen an das Glas gepresst. Die Stimmen erhoben, während sie darum wetteiferten, wer ihn zuerst sah. Dann dieses wundervolle Gefühl, wenn er sie zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in die Arme nahm und an sich drückte.

Er ließ Zoe los, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. »Es wird bestimmt perfekt. Ich kann es kaum erwarten.«

Sie ignorierte ihren schnellen Puls. Die Dunkelheit, die sie erfüllte. Alle hatten sie schon lange vorgewarnt, dass eine Hochzeit nicht unbedingt ein Vergnügen für Braut und Bräutigam war. Vielleicht fühlte sich ja jede Braut wie sie gerade. Überfordert. Unsicher.

Ihr Vater tätschelte ihre Schulter. »Zeit, die Platzanweiser auf Trab zu bringen. Wir sehen uns dann in zwanzig Minuten unten. Verspätet euch nicht!« Er ging zur Tür und öffnete sie.

Zoe hätte ihn um ein Haar aufgehalten. Ihm um ein Haar die Sorgen gestanden, die an ihr nagten. Doch dann schluckte sie sie hinunter. Ihre lebenslange Übung half ihr dabei. Sie war wirklich gut darin, Ruhe zu bewahren und weiterzumachen.

Außerdem konnte sie im Augenblick sowieso nicht viel ausrichten. Die Blumen, das Essen, der Saal, die Gäste – allein der Gedanke daran, diesen Hochzeits-Monstertruck aufzuhalten, reichte schon aus, um in ihr wieder das Bedürfnis zu wecken, ins Badezimmer zu rennen, die Tür abzuschließen und sich einen Fluchttunnel nach Australien zu graben.

»Wir werden pünktlich sein, Dad.«

Als die Tür hinter ihm zufiel, salutierten beide Frauen zum Spaß. Sie sahen einander an und lächelten bei der Erinnerung an ihre Kindheit, in der sie von den Ausflügen ins Museum bis zum Fußballspiel im Garten bei allem immer pünktlich auf die Minute hatten antreten müssen.

Zoe ging zu dem großen Schiebefenster hinüber. Sie hatte ein so beklemmendes Gefühl in der Brust, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie brauchte unbedingt Luft. Doch als sie versuchte, es zu öffnen, rührte es sich nicht. Und als sie daran ruckelte, brach der Riegel ab und fiel zu Boden.

Heute war wirklich nicht ihr Tag.

Sie wandte sich vom Fenster ab und begann sich mit der Hand Luft zuzufächeln. Die Haarklammern, die dafür sorgten, dass ihre Frisur hielt, begannen zu ziepen. Sie massierte sich die Schläfen. »Mein Gott, hast du eine Ahnung, was er mit uns anstellt, wenn wir uns tatsächlich verspäten sollten?«

»Darüber denke ich lieber nicht nach.« Lily schüttelte energisch den Kopf, während sie sich eine Halskette mit einem Silberanhänger anlegte.

»Spielverderberin.«

Zoe musste bei dem Gedanken schlucken, wie viele Menschen unten im Wintergarten des Hotels auf sie warteten. Die Gästeliste war einfach immer länger geworden – von anfänglich vierzig Leuten war sie bis auf hundertfünfzig angewachsen, die nun vermutlich dort herumstanden. Die Freunde ihres Vaters. Jamies und ihre Freunde. Und alle warteten darauf, dass es losging. Warteten nur auf sie.

»Alles in Ordnung?« Lily legte einen schlanken Arm um ihre Schultern. Ihre silbrig lackierten Nägel funkelten im Sonnenlicht.

Zoe nickte. »Ja, alles klar. Aber es trägt nicht gerade zu einer entspannten Atmosphäre bei, Dad in Gefechtsbereitschaft zu erleben.« Sie versuchte sich an einem Lachen, doch es klang eher wie ein spitzer Schrei. Sie war total aufgedreht, ihr Körper übersensibel, als rechne er mit einer Katastrophe, die nur sie kommen sehen würde. Sie war vor Schreck zusammengezuckt, als Lily vorhin ihren Koffer zugeschlagen hatte, und der Hochzeitsfotograf hatte es längst aufgegeben, sie zu fotografieren, und war nach unten verschwunden, um Fotos von Leuten zu schießen, die tatsächlich ein Lächeln zustande brachten.

»Bist du dir sicher, dass das alles ist? Liegt es wirklich nur daran, dass Dad dich stresst?«, erkundigte sich Lily mit leiser Stimme.

Zoe setzte sich auf die Kante des riesigen Doppelbetts. Die purpurrote Bettdecke unter ihr gab ein Rascheln von sich. »Absolut. Einer der Platzanweiser hat mir vorhin sogar eine SMS geschickt, weil ihm Dad Angst einjagt. Er fürchtet, er könnte irgendwo ein altes Armeegewehr versteckt haben, falls einer von ihnen aus der Reihe tanzt. Bei all der Anspannung hab ich ja wohl nicht viel zu lachen, oder?«

Dieses Mal wirkte Lily überzeugter. »Stimmt.« Sie schob sich eine mit Strass besetzte Spange ins kurze blonde Haar. »Ich wollte bloß mal vorsichtshalber nachhaken. Denn du und Jamie, ihr passt einfach so gut zusammen. Ich fände es schrecklich, wenn irgendetwas das kaputtmachen würde.« Ihr Gesicht glühte. »Und in letzter Zeit schienst du ein wenig – nervös.«

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.

»Ich weiß.« Bei der Erwähnung des Namens ihres Verlobten begann Zoes Herz aufgeregt zu flattern. In den letzten Wochen war es ihr eher so vorgekommen, als würden sie ganz und gar nicht gut zusammenpassen. Im Gegenteil.

Sie redete weiter, und das nicht nur, um Lily zu überzeugen, sondern auch, um sich selbst zu beruhigen. »Ich glaube, die ganzen Vorbereitungen für die Hochzeit waren einfach zu viel. Jamie hat mich letzte Woche gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm in den Nahen Osten durchzubrennen, weil es dort bestimmt ruhiger und friedlicher zugeht.« Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich hoffe, das war wirklich nur ein Scherz.«

Eigentlich war sie sich nicht ganz sicher gewesen. Und ein Teil von ihr hätte eigentlich nur zu gern Ja gesagt. Doch stattdessen war sie in Panik ausgebrochen, hatte rasch das Thema gewechselt, und von da an war es bergab gegangen, bis sie wieder in jener Nacht im Mai gelandet waren, als er sie im Dunkeln gefunden hatte, wie sie mit untergeschlagenen Beinen dasaß und die flackernde Laterne draußen vor ihrem Wohnzimmer anstarrte, während ihr Herz zerbrach.

Es tat immer noch weh. War ein wunder Punkt. Manchmal kam es ihr so vor, als wären die Hochzeitsvorbereitungen in letzter Zeit das Einzige gewesen, das sie noch veranlasst hatte, miteinander zu reden. Von dem zunehmenden Schweigen ablenkte, das zwischen ihnen herrschte. Sie runzelte die Stirn, neigte den Kopf erst nach links, dann nach rechts, um ihre verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. Solche Gedanken quälten sie nur, wenn sie zur Ruhe kam, weshalb sie es tunlichst vermied.

Lily ließ sich in einen stattlichen silber- und purpurfarbenen Lehnstuhl sinken. Das Carnegie Hotel hatte sich bei der Einrichtung seiner Hochzeitssuite nicht lumpen lassen. Es war schon alles ziemlich überwältigend. Der Kronleuchter an der Decke erweckte den Eindruck, als wäre er aus echten Diamanten. Und es gab so viel Platz hier, dass Zoe ihre Joggingschuhe hätte mitbringen können, um sich mit ein paar Runden die Zeit zu vertreiben.

Lily betrachtete sie nachdenklich. »Man kann es Jamie nicht verübeln, dass er ausflippt. Seine Familie scheint sehr bodenständig zu sein – vermutlich ist das alles ein bisschen viel für sie.« Sie stand auf, ging zum Fenster hinüber und öffnete es mit einer beschämenden Leichtigkeit.

Von tief unten ertönte das Dröhnen des Verkehrs. London machte sich bereit für einen weiteren schwülen Samstag im Juli. Die Sonne schien. Alles und jeder war auf dem Weg in einen perfekten Tag.

Außer Zoe.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Die Zeit verging. Ihr Magen zog sich vor Panik zusammen. Sie versuchte, die Zweifel und die Fragen zu verdrängen, die zu ihren ständigen Begleitern geworden waren. »Du hast recht, sie sind ziemlich bodenständig. Seine Mutter backt gern Kuchen und liefert ›Essen auf Rädern‹ aus. Vor einigen Monaten hat sie bei einem Gewinnspiel ein paar hundert Pfund gewonnen und davon einen neuen Gartenschuppen gekauft.«

Lily starrte auf ihren Schoß hinab. Zoe wusste, welche Bilder ihrer Schwester gerade durch den Kopf gingen. Schnappschüsse eines Menschen, der heute nicht dabei sein würde. Ein schmales Gesicht mit spitzbübischen braunen Augen. Ein lachender Mund, der Geschichten erzählte oder sie mit strenger Stimme ermahnte, sich zu beeilen und in die Wanne zu steigen, bevor sie beide alt und grau waren. Ein buntes Kleid zu Leggings. Ausgelatschte Flip-Flops. Ein dichter Pony, über dem eine Sonnenbrille im Haar thronte. Mum.

Lily seufzte, und Zoe bemerkte, wie steif ihre blassen Schultern über dem Ausschnitt des grünen Brautjungfernkleides waren. Sie stand auf, ging zu ihr hinüber und legte ihr einen Arm um die Schultern, doch ihre Schwester weigerte sich, den Blick zu heben. Zoe drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du meine Brautjungfer bist, Lil. Ich weiß, wie schwer dir das nach der Sache mit Gary fallen muss.« Lilys Augen füllten sich mit Tränen, und Zoe verfluchte sich dafür, dass sie ihn erwähnt hatte. Gary war Steuerberater. Ein überheblicher und anmaßender Mistkerl, der der Ansicht war, Romantik bestehe darin, sich beim Abendessen das Furzen zu verkneifen. Lily war anderthalb Jahre mit ihm zusammen gewesen.

Ihrer Schwester mangelte es zugegebenermaßen am nötigen Selbstwertgefühl.

Zoe wischte ihr mit geübter Hand etwas verschmierten Lippenstift von der Unterlippe. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Lily fing sich wieder. »Ich möchte einfach Spaß haben. Zum Teufel mit Gary.« Sie stand entschlossen auf und griff nach ihrem Champagnerglas.

Zoe war beeindruckt. »Wow. Du hast seinen Namen ausgesprochen, ohne zu schluchzen. Das nenn ich Fortschritt.«

Das Gesicht ihrer Schwester verzog sich wieder.

Zoe griff nach ihrer Hand. »Zu früh?«

»Zu früh. Ist doch erst einen Monat her.«

»Tut mir leid.« Zoe umarmte ihre Schwester. Ihre Kleider knirschten protestierend, und sie wichen rasch wieder zurück.

Lily leerte ihr Glas. »Schon gut. Mach dir keinen Kopf deswegen. Außerdem ist es mein Hochzeitsgeschenk, deine Brautjungfer zu sein. Was anderes hätte ich mir auch gar nicht leisten können!«

Zoe lachte. »Du hast es geschafft, mein Kleid zuzukriegen – das ist mir schon Geschenk genug!«

Lily nickte. »Stimmt.« Eine seltene Verschmitztheit zauberte Farbe auf ihre Wangen, ließ ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Haut erstrahlen. Zoe wünschte, sie würde öfter so aussehen. »Muss wohl an dem harten Fitnesstraining im Studio liegen.« Lily spannte ihren bleichen Bizeps an, der die Größe einer Erbse hatte.

Sie warf Zoe einen Seitenblick zu. »Denkst du immer noch, es war richtig, Mum nicht einzuladen? Kein Bedauern in der letzten Minute?«

Zoe erstarrte. Sie hatte in letzter Zeit oft von ihrer Mutter geträumt. Nicht von dem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Nicht von der Wut, die sie beide auf Distanz hielt. Nein. Süßere Träume. Trügerische Träume. Wie sie auf einem Stuhl an der Seite ihrer Mutter steht und den Löffel ableckt, während sie gemeinsam einen Schokoladenkuchen backen. Oder Mum, die sich nachts über ihr Bett beugt und ihr langes rotes Haar über Zoes Bauch kitzelt, während sie Schlaf schön, mein Schatz sagt.

Sie spürte wieder einmal ihr schlechtes Gewissen und fragte sich, wie es nur zu diesem Zerwürfnis hatte kommen können und wie groß ihr Anteil daran gewesen war. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um den Gedanken beiseitezuschieben. Sie hatte das Richtige getan. Mum hatte ihr keine andere Wahl gelassen.

»Sie wäre ohnehin nicht gekommen, Lil. Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Und wir waren ohnehin nie wie die Gilmore Girls.« Sie blickte ihrer Schwester in die Augen. »Okay?«

»Okay.« Lily nickte. »Es macht mich nur traurig, dass ihr zwei euch nie seht. Selbst nach so langer Zeit. Ich weiß, dass sie ein paar ziemlich schlimme Dinge gesagt hat, aber …«

»Ja. Das hat sie.« Zoe nickte und wünschte sich, sie hätte Lily damals die Wahrheit gesagt. Doch all die Jahre der Verschwiegenheit machten es ihr nun unmöglich, es nachzuholen. »Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden, Lil.« Sie stand auf. »Sollen wir mal langsam runtergehen?«

Lily sah auf die Uhr. »In fünf Minuten.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, klopfte es an der Tür.

»Mist. Das ist bestimmt wieder Dad. Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder?« Zoes Haut begann zu jucken. Sie wollte nur noch da runtergehen und die Sache irgendwie durchziehen. Ihre Zweifel hinter sich lassen. All die kleinen Messerstiche und Fallstricke der letzten Wochen ignorieren.

Sie öffnete die Tür.

»Jamie!«, rief sie entgeistert und knallte sie instinktiv wieder zu.

»Aua!« Sie vernahm ein gedämpftes Stöhnen auf der anderen Seite und öffnete die Tür gleich wieder.

»Verflixt. Alles in Ordnung?«

»Glaube schon.« Er betastete vorsichtig sein Gesicht. »Mit etwas Glück wird meine Nase wohl gerade so durchkommen.«

Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange, atmete den Zimtgeruch seines Rasierwassers ein. »O Gott, es tut mir ja so leid. Ich bin einfach …«

»In Panik geraten?« Er nickte schuldbewusst. »Ich weiß, dass ich dich nicht sehen darf, bevor wir uns unten treffen. Aber da du jemand bist, der mit Aberglauben so gar nichts am Hut hat, dachte ich, es würde dir nichts ausmachen. Und wenn ich das sagen darf, du siehst echt HEISS aus!«

Sie begegnete seinem Blick, und wie üblich gab ihr seine Gegenwart Auftrieb, tauchte die triste Welt in Neonfarben. Eine schwache Hoffnung begann sich in ihr zu regen.

Er lehnte sich vor und küsste sie. »O Mann, ich kann es kaum erwarten, nachher wieder mit dir hier oben zu sein. Sieh dir nur das Bett an. Es ist ja …«

Sie vernahm ein leises Klicken, als Lily ins Badezimmer verschwand.

Er hatte es auch gehört, und seine Wangen röteten sich.

»Wie peinlich. Habe sie dahinten gar nicht bemerkt. Aber wie sollte ich auch, dieser Raum ist ja größer als unsere ganze Wohnung!« Er trat bewundernd hinein.

»Jamie, ich …« Sie spürte, wie auch sie rot wurde, als ihr die Worte auf der Zunge erstarben, ihr einfach nicht über die Lippen kommen wollten. Ihn hier so zu sehen, im hellen Licht ihres Hochzeitstages in seiner purpurfarbenen Weste und mit den aufgeregten Augen, verbreiterte die Kluft zwischen ihnen nur noch. Er war offenbar bereit für ein »Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage«. Sie dagegen war sich nicht einmal sicher, ob sie so etwas überhaupt verdient hatte.

Sie blickte auf ihren Verlobungsring hinab. Der Diamant funkelte, als er ihre Hand nahm. »Tut mir wirklich leid, dass ich dich einfach so überfalle, Zo.« Er sah sie mit seinen grünen Augen an, und sein Blick war so voller Überzeugung. »Es ist in letzter Zeit nicht so gut mit uns gelaufen. Und ich wollte dich nicht erst unten sehen vor all den Leuten. Ich wollte dir erst noch sagen, wie leid es mir tut.«

»Was tut dir leid?« Zoe vermochte nicht, ihn anzusehen.

»Alles.« Furcht verdunkelte sein Gesicht. »Dass ich mich wie ein Idiot benommen habe. Dass ich andauernd versucht habe, mit dir darüber zu reden, obwohl du es offensichtlich gar nicht wolltest. Ich wusste einfach nicht, was ich empfinden sollte – ich wollte eine Erklärung, verstehst du? Einen Grund.«

Sie nickte. »Ich weiß.«

Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Also habe ich einfach weitergeredet, versucht, dir begreiflich zu machen, unter welchem Stress du gestanden hast – wodurch es natürlich so klang, als sei das, was geschehen ist, deine Schuld gewesen. Es ist kein Wunder, dass wir uns die ganze Zeit gestritten haben.« Er fuhr sich mit der Hand durch die blonde Igelfrisur. »Ich wusste gar nicht, was ich da rede. Und ich würde dir nie die Schuld geben. Das weißt du doch, oder?«

»Ist schon in Ordnung.« Zoe betrachtete die purpurfarbenen Kringel im dicken Teppichboden und zeichnete einen mit der Spitze ihres Satinschuhs nach.

»Nein, ist es nicht.« Er nahm ihre Hände in die seinen. »Ich habe dein Gesicht an jenem Abend gesehen, schon vergessen? So habe ich dich noch nie erlebt. Völlig am Boden zerstört.«

Ihr fehlten die Worte, um darauf zu antworten. Da waren nur Erinnerungen aus der ferneren Vergangenheit. Tränen. Atemzüge. Stundenlang zusammengerollt auf der Seite liegen und darauf warten, dass es vorbeigeht.

Sie schwankte ein wenig, und Jamie legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es sanft an.

»Sag etwas, Zoe.«

Sie starrte ihn an, bemühte sich, die Worte in ihrem Kopf in die richtige Reihenfolge zu bringen. Worte, die ihm verdeutlichen würden, wie verwirrt sie war. Dass sie das Gefühl hatte, wie ein Boot auf dem offenen Meer zu treiben. Wie viel es gab, das sie ihm noch nicht erzählt hatte.

Sie öffnete gerade den Mund, als er seine Fingerspitze an ihrer Wange hinabgleiten ließ. Die Wärme der Berührung hielt sie davon ab.

»Mir geht’s gut, Jamie.« Sie küsste ihn. »Kein Grund zur Beunruhigung.« Sie schaute zur Wanduhr hinüber. »Du musst nach unten.«

»Aber ich möchte hierbleiben und dir klarmachen, wie wunderschön du bist. Und wie stolz ich bin, dass du zu mir gehörst. Und …«

Sie wich zurück. »Solltest du dir das nicht für deine Rede aufsparen?«

»Keine Sorge, wenn du auf eins zählen kannst, dann, dass ich genug zu sagen habe, das weißt du doch.« Er lächelte. »Genauso, wie man immer auf dich zählen kann, wenn’s darum geht, rechtzeitig Klopapier zu kaufen. Das ist übrigens die Pointe in meinem großen Finale.«

Er stahl sich einen weiteren Kuss.

»Wow. Da werden sie sich ja kugeln vor Lachen.« Sie trat von ihm weg, griff nach ihrem Champagnerglas und leerte es in einem Zug. Sie war daran gewöhnt, Zweifel zu verdrängen. Und heute würde sie es einfach wieder tun.

»Los, Jamie, geh jetzt.«

»Aber lass mich zuerst noch das hier tun. Denn ich bin verrückt nach dir.« Er hob sie hoch in die Luft und wirbelte sie herum, und sie musste unwillkürlich lachen.

»Vorsicht! Ich bin mir nicht sicher, ob mein Kleid noch weitere Überraschungen übersteht!«

Er setzte sie wieder auf dem Boden ab und schenkte ihr einen anerkennenden Blick. »Ich frage mich nur, wie zum Teufel ich es aufkriegen soll!«

Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, während ihre Finger über die mit Satin bezogenen Häkchen in ihrem Kreuz glitten. »Ich habe absolut keine Ahnung.«

Er griff wieder nach ihr, und Panik überkam sie, als der Drang zu gestehen zurückkehrte. Doch in dem Moment trat Lily aus dem Badezimmer. »Es wird Zeit, Schwesterherz.«

»Okay.« Zoe nickte, insgeheim erleichtert. Eine Sekunde später, und sie hätte es ihm gesagt. Und dann hätte es kein Zurück mehr gegeben.

»Ich liebe dich.« Seine Augen sahen sie immer noch forschend an.

Er spürte ganz offenbar, dass etwas nicht stimmte. Er war es gewohnt, dass sie alles meisterte. Nie wankte. Nicht aus der Bahn geworfen wurde. Doch heute konnte sie nicht mal so tun als ob. Sie stand neben sich, mit dem Verlobungsring am Finger, der ihn zwei Monatslöhne gekostet hatte.

»Genieß die Zeremonie, Jamie.« Lily beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen. »Vergiss nicht, an der richtigen Stelle Ja zu sagen!«

»Wenn es überhaupt dazu kommt.« Jamie verzog das Gesicht. »Euer Vater könnte mir was antun, weil ich es gewagt habe, so kurz vor der Zeremonie meinen Posten zu verlassen.«

»Nein, das macht er nicht.« Zoe schüttelte den Kopf. »Das würde die Sitzordnung am Tisch ruinieren.«

Lily grinste. »Toll, du hast einen Scherz gemacht! Offenbar geht es dir besser.«

»Es ging dir also schlecht?« Jamie verharrte. »Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt.«

»Geh einfach!« Zoe hielt ihm die Tür auf.

»Ich liebe dich.« Seine Stimme hallte in ihren Ohren wider, als sie die Tür hinter ihm schloss.

Zoe holte tief Luft. Sie tat das Richtige. Ganz bestimmt. Das hier war Jamie. Der Mann mit dem hinreißenden Lächeln, der sie sofort in seinen Bann gezogen hatte, als er vor vier Jahren in ihrem Büro auf ihren Schreibtisch zugeschlendert war, um den Computer zu reparieren. Der Mann, der sich die Zeit nahm, einfach mal innezuhalten und die Welt um sich herum zu betrachten. Der die kleinen Dinge zu schätzen wusste. Ein mit Frost überzogenes Blatt. Wolkenformationen am Himmel. Das Sonnenlicht am Morgen auf ihrem Gesicht.

Das war es, was zählte. Nicht die letzten Wochen.

Lily reichte ihr den Brautstrauß.

»Und was hat er dir dieses Mal geschenkt?«, fragte sie und schnippte behutsam ein Stäubchen von Zoes Unterarm. »Noch mehr Schmuck, der perfekt zu dir passt? Noch mehr handgezeichnete Bilder von Orten, die du liebst? Von Dingen, die dir am Herzen liegen?« Sie seufzte. »Er gibt sich wirklich alle Mühe, den Rest der männlichen Weltbevölkerung wie totale Versager dastehen zu lassen.«

»Er wollte nur mit mir reden.« Zoes Kiefer war so angespannt, dass es sich anfühlte, als könnten ihre Zähne brechen. »Wir hatten ein paar …« Sie hielt inne. Es hatte keinen Sinn, darauf einzugehen. Nicht jetzt, wo doch in fünf Minuten der Hochzeitsmarsch erklingen würde.

Lily blinzelte. »Ein paar was?«

»Ach, ist doch egal.« Zoe schüttelte den Kopf.

»Zoe?«

Lilys Stimme schien von weit her zu kommen. Zoe goss sich noch ein Glas Champagner ein, in der Hoffnung, damit das Loch füllen zu können, das sich in ihrem Herzen auftat. Sie leerte das Glas in einem Zug.

Lily betrachtete sie mit einem besorgten Blick.

»Zoe?«, sagte sie wieder.

Zoe starrte sie an, stand kurz davor zu antworten. Endlich mit der Wahrheit herauszurücken. Doch dann schluckte sie die Worte hinunter, wie sie es immer tat, verbarg sie tief in ihrem Inneren, wo sie sicher waren und niemand sie finden konnte.

»Ist wirklich egal.«

»Ganz bestimmt?«

»Ja.« Zoe nickte. »Und damit haken wir die Sache ab. Ich bin schließlich die Braut, und das hier ist mein Tag. Da hört alles auf mein Kommando!«

»Wie du willst.« Lily zuckte mit den Schultern. »Dann sollten wir jetzt auch gehen.«

»Ja.« Zoe legte die Hand auf den Türgriff. Das hier war ihre letzte Chance. Sie konnte jetzt da runtergehen oder aber auf die Stimme in ihrem Kopf hören, die ihr sagte, dass sie damit nicht davonkommen würde. Dass sie nicht die Frau war, die Jamie verdient hatte.

Sie benötigten beide einen Augenblick, ehe sie bemerkten, dass Lilys Handy läutete. Ihre Schwester beugte sich vor, warf einen Blick auf das Display und runzelte die Stirn. »Ist nur Mags. Wird nicht wichtig sein. Sie kann ja eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.«

Zoe griff nach dem Handy.

»Lass uns drangehen.«

»Nein, Zo. Wir müssen …«

Doch es war bereits zu spät. Zoe strich über das Display, um den Anruf anzunehmen.

Mags. Die beste Freundin ihrer Mutter. Zoe konnte sich noch daran erinnern, wie ihr dunkler Haarschopf die Sonne verdeckte, als sie sich über sie beugte, um etwas Lotion aufzutragen, weil Zoe vom Rad gefallen und mit einem Bein in einem Brennnesselbusch gelandet war.

Lily sah Zoe stirnrunzelnd an, als diese sagte: »Hallo, Mags? Ist gerade nicht so günstig, wir sind im Begriff …«

Zoe drückte das Handy fester ans Ohr, um der Stimme am anderen Ende zu lauschen.

»Was ist denn los?«, fragte Lily leise. Eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen, und Zoe stellte auf Lautsprecher.

Nicht einmal all die Polster und Stoffe und Teppiche in dem luxuriösen Hotelzimmer vermochten das Krächzen von Mags Stimme zu dämpfen, die aus dem Handy erklang. Eine Stimme aus einer anderen Welt. »Es geht um Gina.«

»Was ist passiert?«

»Sie ist …«

Furcht regte sich in Zoes Herzen. Furcht, dass sie nach all dieser Zeit, nach all diesen Jahren des Getrenntseins, nicht mehr die Chance erhalten würde, das Gesicht ihrer Mutter zu sehen.

Mags klang gehetzt. »Tut mir leid, ich kann das nicht am Telefon erklären. Sie verlangt nach Zoe, aber ich habe ihre Nummer nicht, deshalb …«

Zoes Herz geriet ins Holpern. »Ich bin’s, Mags.«

»Gott sei Dank! Sie will, dass du ihr hilfst.«

»Ich? Ganz sicher?«

»Ja«, erwiderte Mags mit einem Nachdruck, der keine Zweifel offenließ. »Du musst herkommen. Jetzt sofort. Du musst sie unbedingt hier rausholen.«

Verheiratetenunterkünfte, Queensbury-Kaserne, Wiltshire

Geburtstagsgeschenk: Geschenke sind dir egal, aber du liebst Geschenkpapier.

Lieblingsmusik: »Funkel, funkel, kleiner Stern«.

15. JUNI 1985

Lieber kleiner Spatz, meine Zo-Zo,

du hast es geschafft! Dein erster Geburtstag! Dabei gab es Zeiten, in denen ich mich gefragt habe, ob du ihn überhaupt erleben wirst.

Eigentlich ist von Anfang an nichts nach Plan verlaufen. Es war nicht gerade die Bilderbuchgeburt, die ich mir erhofft hatte. Ich dachte, Alistair würde meine Hand halten, den starken Mann spielen und mir dabei helfen, mich während dieser WAHNSINNSSCHMERZEN auf meine Atmung zu konzentrieren, aber er war – wie könnte es anders sein – wieder einmal zu einer Übung weg, musste sich auf der Ladefläche eines Lastwagens mitnehmen lassen und kam einen Tag nachdem sie dich in meine Arme gelegt haben. Eigentlich hatte ich bis zum Entbindungstermin noch einen Monat Zeit, doch um ein Haar wärst du im Toilettenraum des Reisebüros zur Welt gekommen, wo ich gearbeitet habe, wenn mich mein armer, mit der Situation ziemlich überforderter Chef Roger nicht in seinem alten Ford Fiesta zum Krankenhaus gefahren hätte. Als wir nach einer knappen halben Stunde dort ankamen, war schon dein Kopf zu sehen, und die ersten Worte, die du in deinem Leben gehört hast, lauteten »Ach du meine Fresse!«, ehe Roger ohnmächtig zu Boden fiel.

Also nicht der glanzvollste Einstieg, aber das war mir egal. Denn du warst da. Hattest zwei Augen, zehn Zehen, roten Flaum auf dem Kopf und warst einfach perfekt. Anfangs gab es für eine ganze Weile nur uns zwei, da Alistair oft fortmusste. Mein Gott, wie habe ich ihn vermisst – ich hasse diesen endlosen Kreislauf aus Pakete schicken, Briefe schreiben, hoffen, dass nicht ich es bin, die den gefürchteten Besuch mit der Nachricht über den Scharfschützen oder die Verletzung erhält –, aber nun warst du ja da, und das machte es leichter. Wir zwei waren glücklich. Na ja, ehrlich gesagt, wir vier, wenn man meine Brüste mitrechnet, die eigentlich das Einzige waren, was dich am Anfang wirklich interessiert hat. In den ersten Wochen herrschte das totale Chaos. Von wegen alles tipptopp und nach Alistair-Manier (dein Daddy findet es ja ganz toll, den Inhalt des Kühlschranks in schnurgeraden Reihen anzuordnen. Ich weiß. Das werden wir ihm noch abgewöhnen). Die Welt bestand nur noch aus Spucktüchern und Windeln, und für mich gab es jeden Tag Biskuittörtchen mit Schokoüberzug, Ravioli aus der Dose und Erbsen. Von den Wohnzimmerwänden blätterte die beige Militärfarbe ab, aber das war egal. Ich habe nichts darauf gegeben, das Einzige, was mich interessierte, warst du.

Hin und wieder besuchte uns meine Mutter – wenn sie es zwischen ihren Friseurterminen mal einrichten konnte, denn sie musste sich ja unbedingt jeden verdammten zweiten Tag die Haare frisieren lassen –, und sie war wie immer voll des Lobes für mich: Ihrer Meinung nach wechselte ich deine Windeln nicht oft genug, und du warst zu klein oder zu mäkelig oder zu rot im Gesicht. Zum Teufel mit ihr! Aber ich habe natürlich jedes Mal brav ein Foto gemacht, wenn sie dich einmal pro Besuch kurz auf den Arm nahm, und ich habe dir im Stillen zugejubelt, wenn du dir ausgerechnet diesen Moment ausgesucht hast, um ihr ins Gesicht zu spucken. Wenn sie ging, drückte ich dich nur noch fester an mich, zeigte ihrem Rücken den Stinkefinger und schloss die Tür hinter ihr ab. Ein Glück, dass wir sie los waren!

Als du drei Monate alt warst, war Alistair eine Weile hier stationiert. Er konnte nicht glauben, wie umwerfend du warst. Du hast dich auf seiner Brust zusammengerollt und all den Schlaf nachgeholt, gegen den du dich, als du mit mir allein warst, so heftig gesträubt hattest. Du hast seinen dicken Daumen umklammert, der ganz schwielig war von all den Wochen, die er damit verbracht hatte, Waffen zu zerlegen oder durchs Gelände zu robben oder was auch immer für kranken Scheiß er anstellt, wenn er seine Jungs anführt. Du hast zu ihm aufgeblickt, und was auch immer in deinen Augen gewesen sein mag, er konnte einfach nicht genug davon bekommen. Er hätte dich am liebsten andauernd abgeknutscht. Dich hoch in die Luft gehoben. Dich im Sonnenlicht geschaukelt auf dem schmalen Rasenstreifen unseres Gartens, während die Lastwagen auf der Straße davor vorbeirumpelten.

Ich habe Stunden damit verbracht, ihn mit dir zu beobachten. Und euch beide deshalb nur noch mehr geliebt. Manchmal habe ich euch nur angestarrt, und das Herz tat mir weh vor lauter Liebe. Als wenn man das Putzwasser aus einem Schwamm herausdrückt, bis nur noch die schmerzende Faust und die Dreckkörnchen übrig bleiben, die einem die Finger zerkratzen. So sehr liebe ich euch beide. Meine Familie.

Nachts war Alistair weniger hilfreich. Oder eher war er besser darin zu schlafen als ich. Du hast die Nacht mit Schluckauf und Schreien und Grimassen verbracht und bei meinem Anblick wild mit den Armen in der Luft herumgerudert wie eine Schauspielerin, die beim Vorsprechen für irgendeine Seifenoper zu dick aufträgt. Er hat natürlich weitergeschlafen. Ich dagegen bin auch in den Zaubernächten wach geworden, in denen du die Augen tatsächlich einmal bis fünf Uhr in der Früh geschlossen hieltest. Ich musste ja nachschauen, ob du noch atmest. Noch immer bei uns warst. Am Morgen sah ich etwa fünfhundert Jahre alt aus. Ihr zwei dagegen hinreißend. Dein Daddy hat dich kurz unter dem Kinn gekrault und ist dann zur Arbeit entschwunden, wo er allen vorschwärmte, was für ein Engel seine Tochter ist. Und ich habe mir einen weiteren Nescafé gemacht und den Tag in Angriff genommen.

Einmal bin ich mit dir zu meinem alten Arbeitsplatz im Reisebüro gefahren. Stimmt. Schlechte Idee. Meine Brüste liefen aus, ich hatte Haferbrei im Haar, und all meine ehemaligen Kolleginnen schauten mich an, als wäre ich vom Mars, während du bei unserem »Ausflug« einfach nicht aufhören wolltest zu schreien. Als ich dich gerade im Hinterzimmer stillte, kam Roger herein. Als hätte er nicht schon genug von mir gesehen. Er wirkte, als hätte er eine Druckerpatrone verschluckt. Ich habe einen Lachanfall bekommen, und du hast auf den Kopierer gekotzt. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder vorbeischauen werde.

Aber ich werde sie auch nicht vermissen – sie behaupten, Alistair sei zu ernst für mich, aber ich weiß, dass sie alle nur eifersüchtig sind. Schließlich hat er MICH an jenem Abend gewählt. Ich war es, mit der er zu den nervtötenden Klängen dieser schrecklichen Hochzeitsband tanzen wollte, die jeden Hit killte, den ABBA jemals gehabt hat. Ich erinnere mich noch an die Gesichter von Mel und Tiff und den anderen: grün vor Neid. Da war ich nun in Alistairs Armen, blickte zu diesen unglaublichen Wangenknochen auf, diesem dichten dunklen Haar und dankte dem Herrn, dass ich, wenn alles gut lief, ausnahmsweise einmal einen Mann küssen würde, dessen Vorstellung davon, eine Frau von den Füßen zu reißen, nicht darin bestand, ihr literweise Apfelwein einzuflößen. Seine Hände waren auf meinem Rücken. Sein Körper dem meinen nah. Die Welt war in Ordnung.

Das hat sich nicht geändert. Ich liebe ihn so sehr. Und er liebt mich, das spüre ich in jedem seiner Blicke und in jeder seiner Umarmungen. Er nennt mich seine Chaosqueen und lächelt nachsichtig, wenn ich eine Spur aus Klamotten und Schuhen und Make-up-Pinseln in unserem Schlafzimmer hinterlasse. Er ist völlig vernarrt in uns beide. Seine Mädels. Er kann gar nicht genug davon bekommen, wenn du ihn anlächelst, dich an seinen Händen hochziehst und auf unsicheren Beinchen zu irgendeinem Spielzeug tappst. Er baut dir schrecklich gern Sandburgen oder kunstvolle Bananentürme zum Frühstück. Du bist Daddys Goldkind, und diese Sonntagnachmittage, wenn wir unter uns im Garten sind, sind in der Tat goldene Zeiten. Sie sind so kurz. So kostbar. Er muss nächste Woche zum Einsatz. Wieder Nordirland. Viereinhalb Monate. Eine lange Zeit. So viele Wochen in der Nähe von Menschen, die ihm nach dem Leben trachten und die nur Stacheldraht und Gewehre davon abhalten.

Das macht mir Angst. Aber ich habe ja dich. Meine kleine Maus. Du lächelst und gluckst und grinst. Wir haben inzwischen eine Routine entwickelt. Füttern (du). Schlafen (du). Mit Sachen werfen (du). Auf Dinge zeigen (du). Putzen, kochen, wischen, trösten, waschen, aufheben, wegräumen (ich). Um halb acht mit einem Bier in der Hand auf dem Sofa einschlafen (ich).

Manchmal, wenn du endlich die Augen schließt, bleibe ich in deinem Zimmer stehen, vermag mich einfach nicht von dir zu trennen. Ich lausche deinem Atem, sehe zu, wie sich beim Träumen deine winzigen Hände öffnen und schließen, und ich denke darüber nach, wie weit wir gekommen sind. Ich atme dich ein und koste es aus. Kann nicht genug von dir bekommen.

Bevor ich dich bekam, mochte ich Babys nicht besonders. Ich nahm sie für eine Minute auf den Arm und gab dann vor, auf die Toilette zu müssen, um sie zurückreichen zu können. Aber jetzt? Jetzt hungere ich nach dir. Tue alles in meiner Macht Stehende für dich. Zieh dich warm an. Putze deine winzigen Zähnchen. Feile deine Nägel, wenn du schläfst, damit du dir nicht das Gesicht zerkratzt. Und ich werde von dir dafür belohnt. Ja, das werde ich. Du blinzelst mich mit deinen wundervollen, katzengleichen Augen an und lächelst, und ich sehe, dass dein Herz von mir erfüllt ist. Ich kann es kaum erwarten, zu hören, wie du eines Tages »Mum« sagst. Und »ich liebe dich«.

Ich liebe dich, weiß Gott, auch.

Alles Gute zu deinem ersten Geburtstag.

Mum

KAPITEL 2

Zoe konnte nicht glauben, was sie getan hatte.

Sie starrte aus dem Fenster des Taxis, ignorierte die neugierigen Blicke des Fahrers im Rückspiegel, während der Londoner Verkehr alles tat, um zu verhindern, dass sie ihrer Mutter zu Hilfe eilte. Sie standen wieder einmal vor einer roten Ampel, und sie betrachtete die Räder des Busses, der neben ihnen hielt. Als sie den Kopf drehte, erblickte sie auf der anderen Straßenseite eine Kirche. Zwei Uhr nachmittags. Eine gute Zeit, um zu heiraten. Und tatsächlich erklang fröhliches Glockengeläut anlässlich einer Hochzeitsfeier, die vermutlich auch tatsächlich stattfinden würde.

Zoe vermochte ihren Blick nicht von dem Bild loszureißen, das sich ihr darbot: Männer in vornehmen Cuts, die auf breiten Steinstufen miteinander lachten, und Frauen in schicken Kleidern, mit passenden Hüten, winzige Taschen umklammernd, die auf ihren eleganten High Heels dem Eingang zustrebten.

Zoe befingerte die schweren Falten ihres Kleides. Ihre Freunde würden gerade auf sie warten. Ebenso wie ihr Vater. Und Jamie. Wie enttäuscht er von ihr sein musste. Wie enttäuscht sie alle von ihr sein mussten. Seit Jahren schon versuchte sie, vor dem Gefühl davonzulaufen, das sie nun wieder empfand: Scham.

Glücklicherweise fuhr das Taxi in dem Moment los, als der lange weiße Wagen mit der Braut darin vor der Kirche hielt. Das Herz wurde ihr schwer, als sie an die Musik dachte, zu der sie eigentlich bei ihrer eigenen Hochzeit den Gang hinunterschreiten sollte. Ein Vorspiel von Debussy, das Jamie und sie bereits im April gemeinsam ausgesucht hatten. Sie hatte mit ihm in der winzigen Küche gesessen, dem Anschwellen der Musik gelauscht und war damals von ganzem Herzen überzeugt gewesen, dass sie ihn heiraten wollte. Sie hatte ihn angelächelt, seine Hand gehalten, und sie hatten sich beide auf eine gemeinsame Zukunft gefreut.

Dann kam alles ganz anders. Und als sie heute den Anruf erhielt, da hatte sie instinktiv gespürt, dass sie gehen musste. Mit einem Mal schien alles einen Sinn zu ergeben. Die Träume von ihrer Mutter. Die Streitereien mit Jamie. Die wachsende Unsicherheit. Mags Anruf war wie ein Zeichen gewesen. Doch nun, da sie hier saß, war von diesem Moment der Überzeugung nichts mehr übrig. Das Einzige, was sie spürte, waren Schock und Fassungslosigkeit. Sie hätte Jamie erklären müssen, was sie empfand und aus welchem Grund. Warum sie davonlief. Aber dafür war es jetzt zu spät.

Lily hatte es inzwischen bestimmt schon allen gesagt. Zoe würde wohl niemals den Ausdruck in den Augen ihrer Schwester vergessen, als sie das Hotelzimmer verließ, denn die sanfte Lily hatte sie mit blankem Entsetzen angestarrt. Zoe konnte es ihr nicht verübeln. Insbesondere, da ihr nun die Aufgabe zufiel, Dad beizubringen, dass die Hochzeit ausfiel. Lily hatte ihr sogar angeboten, an ihrer Stelle Mum zu helfen. Sie hatte sich an Zoes Arm geklammert und auf sie eingeredet, sie davon zu überzeugen versucht, wie wichtig die Hochzeit war und dass Zoe unbedingt bleiben müsse.

Aber sie hatte nicht auf sie gehört. Denn in diesem einen Moment hatte Klarheit geherrscht statt Zweifel, und Zoe hatte gewusst, was zu tun war.

Doch nun kam es ihr eher wie eine Kurzschlusshandlung vor oder als hätte sie einen Aussetzer gehabt. Und trotzdem war da etwas, das sie daran hinderte umzukehren. Sie trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel, griff dann hinüber zu ihrem Handy und stellte es aus, bevor sie sich wieder zurücklehnte. Doch da wollte das Frisuren-Ungetüm auf ihrem Kopf nicht mitspielen und versuchte, sie mithilfe der Kopfstütze aufzuspießen.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?« Der Taxifahrer sah sie im Rückspiegel an.

»Ja, alles wunderbar.« Nachdem sie sich wieder bequemer hingesetzt hatte, starrte sie demonstrativ aus dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, um den Fahrer zu entmutigen, eine Unterhaltung zu beginnen. Sie hatte später noch genug zu erklären. Kein Grund, jetzt schon damit zu beginnen.

Bald floss der Verkehr schneller dahin, und der Glanz der Innenstadt wich von den Straßen. Sie erblickte einen Zeitschriftenladen, dessen Schild schief herabhing, eine Matratze, die an einer Wand lehnte, einen Hund, der sich an einem zerbeulten Briefkasten rieb. Eine Gruppe von Männern mit von der Sonne geröteter Haut schlenderte mit Bierdosen in den Händen über den Bürgersteig. Sie spürte einen schwülwarmen Lufthauch auf ihrem Gesicht und dachte zurück an den parfümierten Luxus der Suite, in der sie sich vor einer halben Stunde noch aufgehalten hatte. Es kam ihr bereits vor wie ein anderes Leben.

Und dann erblickte sie sie.

Zoe beugte sich vor, bat den Fahrer anzuhalten, und er kam genau an der Stelle zum Stehen, wo Mags an einem Geländer lehnte. Es war schon so lange her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und dennoch sah sie genauso aus wie früher. Trug immer noch Jeans und Adidas-Sportschuhe, das dunkle Haar kurz geschnitten und den dreieckigen Goldanhänger an einer Kette um den Hals.

»Zoe!« Mags begann bereits auf sie einzureden, während sie noch damit beschäftigt war, den Fahrer mit ihrem Notfall-Zwanziger zu bezahlen und die Tür zu öffnen, um aus dem Wagen zu steigen – was angesichts des voluminösen Kleides gar nicht so leicht war. Sie schwang die Beine hinaus und stolperte auf den Bürgersteig. Mags hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Du meine Güte. Ich wusste ja nicht, dass du heute …«

Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, während sie sie anstarrte. Ein kleiner Hundewelpe mit zotteligem Fell kam auf Zoe zu, beäugte sie ebenfalls und machte Anstalten, das Hinterbein zu heben, doch sie warf ihm einen so scharfen Blick zu, dass er sich klugerweise entschloss, das Weite zu suchen.

Mags sah sie mit offenem Mund an. »Hast du etwa heute geheiratet?«

»Nein, noch nicht.« Zoe schloss die Wagentür.

»Wie bitte?«

»Egal.«

Mags runzelte die Stirn. »Und du hast Gina nicht zu deiner Hochzeit eingeladen?«

Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um sich auf eine solche Diskussion einzulassen.

»Nein. Hab ich nicht. Lass uns reingehen.« Sie zog Mags unter den neugierigen Blicken einiger Passanten, die sich gegenseitig mit den Ellenbogen anstubsten, mit sich.

»Aber …« Mags klopfte mit der flachen Hand wiederholt auf ihre Jeans und kaute krampfhaft auf einem Stück Kaugummi herum, das immer wieder zwischen ihren Zähnen auftauchte. Das war nicht die Mags aus Zoes Erinnerung. Sie war immer so gelassen gewesen, hatte es sich mit einem Glas Wein in der Hand auf einem Liegestuhl oder einem Sofa gemütlich gemacht. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Sie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ihr Sohn Johnny aus Versehen die Küche in Brand gesetzt hatte. Jetzt wirkte sie verstört. Ihre Bewegungen waren fahrig, die Sprache abgehackt. Jedes Wort schien darum zu kämpfen, als erstes aus ihrem Mund zu kommen.

»O Gott, was für ein Albtraum.« Mags hielt sich die Hand an die Stirn und blieb stehen. Zoe folgte notgedrungen, wenn auch widerstrebend, ihrem Beispiel, und im selben Moment ertönte von der anderen Straßenseite ein durchdringender bewundernder Pfiff.

Zoe richtete ihr Augenmerk auf Mags. »Erzähl mir einfach, was passiert ist.«

»Nun ja, Gina ist wohl ein bisschen durcheinandergeraten –«

»Na und? Sie ist doch kein kleines Kind mehr, oder? Sie kann doch sicherlich sehr gut selbst auf sich aufpassen!«

Mags schüttelte den Kopf. »Ist wohl schon verdammt lange her, dass du sie das letzte Mal gesehen hast, nicht wahr?«, sagte sie und stemmte dabei die Hände in ihre Hüften.

Zoe blickte sie nur trotzig an.

Mags fuhr fort. »Wir haben uns auf einen Kaffee getroffen, und sie wollte bei Sainsbury’s reinschauen, während ich ein paar Besorgungen gemacht habe. Als ich dort ankam, war bereits die Polizei vor Ort, und sie schrie sie an, sie sollten sie in Ruhe lassen, sie habe nichts getan. Und dann haben sie sie verhaftet und in einen Transporter verfrachtet.« Sie presste die Lippen aufeinander, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie haben sie in Handschellen abgeführt, Zoe.« Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Wir reden hier von Gina, Herrgott noch mal. Sie hat zwar eine große Klappe, aber sie würde doch niemals irgendjemandem etwas zuleide tun!«

Zoe schluckte. »Was hat sie denn angestellt?«

»Sie soll etwas zu essen gestohlen haben. Der Kaufhausdetektiv hat sie beim Hinausgehen erwischt und die Polizei gerufen.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Deshalb ist sie hier?« Zoe blickte sich um, um sicherzugehen, dass sich die Welt noch drehte und das hier nicht ein überaus lebhafter Vor-Hochzeits-Albtraum war.

Schön wär’s!

Okay. Das hier geschah also wirklich. Sie hätte ihre Mutter am liebsten zum Mond geschossen. So viel also dazu, dass der Anruf ein Zeichen gewesen war. Bei Mags hatte es geklungen, als sei sie wirklich in Not, dabei hatte sie bloß Lust auf einen kleinen Snack gehabt und vergessen zu bezahlen. »Ist so was schon mal vorgekommen, Mags?«

»Gott, nein!« Mags sah sie so entgeistert an, dass Zoe ihr auf Anhieb glaubte. »Ich weiß, dass es schon eine Weile her ist, seitdem ihr miteinander gesprochen habt, aber du solltest deine Mutter doch eigentlich besser kennen!«

Gerade weil sie ihre Mutter so gut kannte, wusste Zoe, dass sie zu allem fähig war.

Aber wenn sie nun schon einmal hier war, konnte sie auch versuchen, die Sache zu regeln.

»Wie geht es ihr denn?« Zoe vernahm ein knisterndes Geräusch, als sie sich daranmachten, die breiten Stufen zu dem großen braunen Gebäude hinaufzusteigen. Eine leere Chipstüte hatte sich an ihrer Schuhspitze verfangen. Sie wedelte ein paar Mal mit dem Fuß, versuchte dann, sich vorzubeugen, um sie abzuziehen. Doch ihr Kleid setzte seine heimliche Sabotagekampagne fort und ließ sie notgedrungen auf Taillenhöhe verharren. Als sie sich wieder aufrichtete, erklang hinter ihr das Sirenengeheul eines Polizeiwagens.

»Keine Ahnung. Sie wollen mich nicht zu ihr lassen.« Mags gab sich alle Mühe, Schritt zu halten, als Zoe, so gut es ging, die Treppe hinaufsprintete. Bei der Vorstellung ihrer Mutter hinter Gittern überkam sie trotz allem ein ungutes Gefühl. Sie eilte an einer Frau vorbei, die stank, als hätte sie in einer Mülltonne übernachtet, und erreichte eine braune Doppeltür, auf der in einschüchternd großen Buchstaben POLIZEIWACHEKENNINGTON zu lesen stand. Sie schluckte, stieß dann mit gerecktem Kinn die Tür auf und stürmte los. Wenn einer ihre Mutter hier rausboxen konnte, dann sie! Und sie war gerade in Kampfstimmung.

Als die Tür hinter ihr zufiel, hatte Zoe so viel Schwung, dass sie gleich in eine hünenhafte Gestalt hineinstolperte, die einen lächerlich kleinen Rucksack über die rechte Schulter geschlungen hatte. Er erinnerte sie an den, den Jamie immer zum Joggen trug, und sie versuchte sogleich, das Bild von einem im Wintergarten neben einem Blumenarrangement auf sie wartenden Jamie aus dem Kopf zu bekommen.

Sie musste sich konzentrieren. Durfte sich nicht ablenken lassen.

»Oh, Entschuldigung!« Sie blickte um den Mann herum nach vorn und sah sich mit einer Warteschlange konfrontiert, an deren Ende sie nun stand.

»So ein Mist!«, murmelte sie in sich hinein. Ein sonniger Samstag. Jede Menge Touristen, die die Sehenswürdigkeiten bestaunten und sich beklauen ließen. Kein Wunder, dass die Verbrechensrate in die Höhe schoss.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich irgendwie vorzudrängeln.

»Setz dich doch da drüben hin«, schlug sie Mags vor. »Du kannst es dir bequem machen, während du auf mich wartest. Sie werden mich bestimmt zu ihr lassen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Mags zögerte, als wolle sie mehr sagen. »Du solltest …«

»Schon gut. Ich kriege das irgendwie hin«, schnitt ihr Zoe das Wort ab und wandte sich wieder dem kleinen Rucksack zu. Sie vernahm das Quietschen von Mags’ Turnschuhen, als sich diese abwandte und Platz nahm. Gut. Zoe war nicht in der Stimmung für eine Diskussion. Sie betrachtete den Rucksack. Ein winziger Faden hing an einer Ecke herunter, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, ihn abzureißen.

Sie war mit Adrenalin vollgepumpt.

»Entschuldigung.« Sie tippte dem Mann auf die Schulter. Doch der reagierte nicht.

»Entschuldi…« Sie bemerkte die weißen Kabel, die von seinen Ohren herabbaumelten, griff mit der Hand nach einem und zog daran, sodass ein Ohrhörer herausfiel. »Könnten Sie mich bitte …«

»WASZUMTEUFELSOLLDAS?« Dafür, dass er ein solcher Brocken von einem Mann war, fuhr er verdammt schnell herum. Und jetzt, wo Zoe seine Augen sah, musste sie zugeben, dass die ziemlich Furcht einflößend waren.

Scheiße.

Was soll’s. Sie hatte ja schließlich nichts zu verlieren. Und wenigstens hatte sie nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Hören Sie, meine Mutter ist dahinten in einer Zelle.« Sie deutete zu dem Schild mit der Aufschrift »Gewahrsamsbereich« hinüber. »Ich muss dringend zu ihr, und es wäre wirklich ganz toll, wenn Sie mich …« – sein wenig ermutigender Gesichtsausdruck ließ sie zögern, doch es blieb ihr ja nichts anderes übrig, als fortzufahren – »… freundlicherweise vorlassen würden.«

»Verpiss dich«, erwiderte er nur und drehte sich nach vorn um. Sie beobachtete das Muskelspiel in seinem Rücken, als er den Ohrhörer wieder an Ort und Stelle verfrachtete.

Hm. Zoes Blick wanderte zu den schwarzen Flecken auf dem Linoleum hinunter, und sie überlegte gerade, womit sie ihn wohl überzeugen könnte, als er sich ihr unerwartet wieder zuwandte. Hoffnung keimte in ihr auf.

Er fuhr sich mit einer fleischigen Hand über den spärlichen braunen Bart und sagte: »Du siehst in dem Kleid übrigens total bescheuert aus.«

Na toll. Wut durchzuckte sie, als er sich wieder nach vorn drehte. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie schaute zur Wanduhr hinüber. Jetzt sollte sie eigentlich mit dem Ehering am Finger bei ihrem Hochzeitsempfang sein. Doch stattdessen saß sie mit diesem Charmebolzen in einem Raum voller Leute fest, die offensichtlich fanden, dass sie es mit ihrer Garderobe ein wenig übertrieben hatte.

Sie drehte sich zu der Frau um, die inzwischen hinter ihr das Ende der Schlange bildete, doch statt dort die erhoffte Rückendeckung zu erhalten, musste sie sich zehn Minuten lang anhören, wie diese mit lauter Stimme über die Person wetterte, die ihr in den Wagen gefahren war. Es dauerte fünf Minuten, bis sich Zoe zusammengereimt hatte, dass besagte Person in Wirklichkeit ein Poller gewesen war. Und weitere zwei, dass die Frau selbst die Schuld an dem Unfall trug.

Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich, als die Frau den Aufprall mit einer solchen Übertreibung schilderte, dass sie dabei im Eifer des Gefechts auf den Saum von Zoes Kleid trat und ein reißendes Geräusch ertönte, das Frauen auf der ganzen Welt das Fürchten lehrt. Zoe blickte über die Schulter an ihrem Rücken hinunter und stellte fest, dass sämtliche Anwesenden einen freien Blick auf ihre Brautunterwäsche genossen. Dies schloss den betrunkenen Teenager mit ein, der an der Wand lehnte, den Kopf zur Seite geneigt, und sie mit offenem Mund bewundernd anstarrte.

Sie überlegte krampfhaft, wie sie ihr Kleid zusammenhalten sollte, als sie – wie könnte es anders sein – ausgerechnet in diesem Moment endlich an die Reihe kam. Sie raffte den Stoff mit einer Hand zusammen und gab sich Mühe, trotz allem einen Respekt einflößenden Eindruck zu machen.

»Hallo«, sagte sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln.

Doch der Polizist hinter dem Glas wirkte völlig unbeeindruckt.

»Ja?« Er starrte sie mit einem Blick an, der besagte, dass er schon alles gesehen hatte. »Was wünschen Sie?«

Sie spürte, wie das Loch in ihrem Kleid wieder aufzuklaffen begann, und versuchte verzweifelt, den Stoff hochzuziehen. Der Polizist bürstete mit leichter Hand über eine seiner schwarzen Schulterklappen, und Zoe sah, wie eine Wolke aus weißen Haarschuppen zu Boden fiel.

»Auf der Suche nach ’nem Ehemann, Schätzchen?«, fragte er barsch.

»Nein.« Sie richtete sich in dem Versuch, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren, zu ihrer vollen Größe auf. »Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter. Gina Whittaker. Offenbar wurde sie zur Befragung in Gewahrsam genommen.«

»Ach ja?« Er tippte auf der Tastatur herum. »Und was hat sie an? Ein Ballkleid?«

Er fand seinen Witz offenbar irrsinnig komisch und brach in ein asthmatisches Lachen aus, das eine Ewigkeit zu dauern schien. Zoe bezwang ihre Ungeduld, während ein Mann mit rasiertem Schädel und einem Haufen Tattoos von der Bank an ihrer Seite knurrte.

»Hören Sie, könnten Sie mich bitte einfach durchlassen?«

Während sie wartete, warf sie einen Blick über ihre Schulter in den Raum. In einer Ecke brabbelte eine Frau laut vor sich hin, die mit Nachdruck forderte, sich gegen das System zu wehren, und dabei trotzig ihre verbundenen Handgelenke in die Höhe hielt, während ihr das graue Haar in das verhärmte Gesicht fiel. Zwei Männer, die an einer Wand lehnten, debattierten über die aktuelle Aufstellung des FC-Sheffield und über den Manager, der wahlweise ein Idiot oder ein Genie war. Ein Mann mit unordentlichen blonden Haaren stöhnte unablässig über die Bürokratie, während er auf seinen Knien ein langes Formular ausfüllte. Kein Wunder, dass der Polizist vor ihr dringend etwas Zerstreuung benötigte. Das würde sie an seiner Stelle wohl auch.

Er tippte weiter auf seiner abgegriffenen Tastatur herum und schaute angestrengt auf den Bildschirm.

»Gina …?« Er blickte sie fragend an.

»Gina Whittaker.« Zoe verspürte den Drang zu schreien, und der Körpergeruch des Mannes neben ihr war auch nicht gerade hilfreich.

»Finde ich hier nicht.« Seine speckigen Finger trommelten gegen sein Kinn.

»Sie muss aber drinstehen. Sie wurde heute am frühen Nachmittag verhaftet.«

»War sie denn nicht bei Ihrer Feier?«, erkundigte er sich sichtlich überrascht.

»Nein.« Zoe ging sogleich in die Defensive. Aber war das ein Wunder, wo sie doch daran gewöhnt war, all diese bedeutenden Mutter-Tochter-Erfahrungen zu verpassen, über die sie ständig in irgendwelchen Frauenzeitschriften las? Wellnesstage im Spa. Einkaufsbummel. Gemeinsames Schönmachen für die Hochzeit, um sich anschließend der gesamten applaudierenden Familie zu präsentierten und einander einen freudigen, verstehenden Blick zuzuwerfen.

So war es bei ihnen beiden nie gewesen. Der letzte gemeinsame Einkaufsbummel hatte stattgefunden, als Zoe dreizehn war und ihre Mutter ihr die ersten Tampons gekauft hatte. Mum war wie üblich erschöpft gewesen, und die gemeinsame Zeit bei diesem für sie so wichtigen Schritt ins Erwachsenenleben hatte darin bestanden, dass sie die Schachtel in den Einkaufswagen warf und anschließend fragte, ob Zoe Fischstäbchen oder Hähnchennuggets zum Abendessen haben wollte.

Sie sollte sich konzentrieren. Beugte sich zum Glas vor. »Ich muss sie unbedingt sehen.«

Der Mann tippte wieder auf der Tastatur herum – mit einem Finger.

Sie würde wohl niemals zu ihrer Mutter kommen.

Es war so schwül hier drinnen. Ihre Handflächen waren ganz verschwitzt. »Haben Sie sie schon gefunden?«

Sie war sich sicher, dass sie den Computer stöhnen hörte.

»Ja. Hab sie.« Er nickte.

Zoes Magen zog sich zusammen. »Und?«

»Sie wird zurzeit vernommen.«

»Darf ich zu ihr?«

Er runzelte die Stirn. »Wer, sagten Sie, sind Sie noch gleich?«

»Ihre Tochter.«

»Ach ja. Natürlich.« Sein misstrauischer Blick bewirkte, dass Zoes Geduldsfaden riss.

»Hören Sie, heute ist mein verdammter Hochzeitstag! Glauben Sie im Ernst, dass ich aus lauter Jux und Tollerei eine Beziehung zu jemandem vortäusche? Dass ich Lust hatte, genau in dem Moment auf einen Sprung in einer Polizeiwache vorbeizuschauen, als ich eigentlich ›Ja‹ sagen wollte?«

»Schon gut, Schätzchen.« Er wirkte völlig ungerührt. Wahrscheinlich war sie im Vergleich zu den meisten Leuten, denen er hier begegnete, ein Schmusekätzchen. »Regen Sie sich mal wieder ab, sonst wird aus ihrem hübschen Frisürchen noch Kopfsalat.«

Zoe hatte niemanden, an dem sie ihren Frust auslassen konnte. »Dürfte ich bitte zu meiner Mutter?«, sagte sie mit gepresster Stimme.

»Also, die Sache ist die …«

Zoe sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Sie können NICHT zu ihr. Sie müssen hier warten, bis die Vernehmung beendet ist und entschieden wurde, was mit ihr geschehen soll.« Er schaute an ihr vorbei. »Der Nächste.«

Scheiß drauf!

»Aber ich mussUNBEDINGTzu ihr.«

Damit hatte sie den Bogen ganz offenbar etwas überspannt. »Geht nicht. Nur Rechtsanwälte«, knurrte der Polizist.

Ihr Herz vollführte einen Hüpfer. »Ich bin Rechtsanwältin.«

»Wirklich? Weisen Sie sich aus.«

Verdammt. Selbst wenn Sie wirklich Anwältin wäre, hätte sie ganz bestimmt nicht probiert, einen Ausweis in ihre winzige Satintasche zu quetschen.

Sie versuchte, sich herauszureden. »Ich habe leider keine Papiere dabei.«

Er schüttelte den Kopf. »Netter Versuch. Der Nächste.«

Hinter der Doppeltür vernahm Zoe ein dumpfes Krachen. Dann Schreien und Fluchen.

Ihre Mutter war da drin. Verängstigt und allein.

Sie versuchte es erneut. »Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen? Sie verstehen nicht, wie wichtig …«

»Nein.«

»Aber …«

»Nein! Und jetzt treten Sie zur Seite.«

Zoe blieb nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben. Sie sackte in sich zusammen, drehte sich um und ging zu Mags hinüber, um neben ihr auf einer der Plastikbänke Platz zu nehmen, die an den Wänden entlangliefen. Die Schleppe ihres Kleides eignete sich dabei hervorragend, um jedes Stäubchen und jedes bisschen Schmutz vom Boden aufzusammeln. Und davon gab es eine Menge. Der Teenager warf ihr einen anzüglichen Blick zu, als sie an ihm vorbeiging, und sie packte den Stoff in ihrem Kreuz, der sich in Wohlgefallen aufzulösen drohte, noch ein bisschen fester.

»Krieg ich deine Nummer, Süße?«, raunte er ihr zu.

OGOTT!

Als sie sich setzte, legte Mags eine warme Hand auf ihren Arm. »Du hast dein Bestes getan. Nun müssen wir eben warten.« Sie kramte in ihrer Handtasche herum, die sie sich über die Schulter geschlungen hatte, und brachte eine Sicherheitsnadel zum Vorschein. »Möchtest du die hier haben?«

»Ja, vielen Dank.« Zoe schluckte ihre Verlegenheit hinunter und rutschte ein Stück nach vorn, damit Mags das Kleid hinten mit der Nadel zusammenstecken konnte. Sie musste unbedingt irgendwie durch diese Tür gelangen. Sie war es nicht gewohnt, zu versagen – und das gleich zweimal an einem Tag. Das weckte Erinnerungen an jene schrecklichen Sommertage aus der fernen Vergangenheit. An das Gefühl, als das Metall gegen ihren Bauch schlug. Die Worte, die sie zu vergessen versucht hatte, die aber wochenlang durch ihre Träume gegeistert waren. Seine Worte. Jeden Morgen hatten sie sie auf dem Weg ins Büro in der Bahn verspottet. Und jeden Abend bildeten sie die Hintergrundmusik, zu der sie heimkehrte.