Die Liebe ist ein schlechter Verlierer - Katie Marsh - E-Book
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Die Liebe ist ein schlechter Verlierer E-Book

Katie Marsh

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Beschreibung

Was, wenn der Moment, in dem du gehen willst, der Moment ist, in dem er dich am meisten braucht?

Hannah will Tom verlassen. Morgen sagt sie es ihm. Und dann erfüllt sie sich ihren Traum, nach Afrika zu gehen. Tom will an seiner Ehe festhalten, sei sie noch so eingefahren. Er ignoriert die Probleme, will einfach nur neben Hannah einschlafen und morgen ins Büro fahren.

Doch dazu kommt es nicht …

Hannah und Tom wissen nicht, dass morgen alles anders sein wird. Dass Hannah ihre Pläne aufgeben muss und Tom nie wieder in sein altes Leben zurückkehren kann. Auch wissen sie nicht, dass ihre Liebesgeschichte noch nicht zu Ende ist und dass manche Träume einen Umweg nehmen müssen, bevor sie in Erfüllung gehen …

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Seitenzahl: 538

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Das Buch

An dem Tag, als Hannah den Entschluss fasst, sich von ihrem Mann zu trennen, erleidet er einen Schlaganfall. Tom ist gerade 32 geworden, kann nicht mehr alleine gehen, essen, geschweige denn Hannah in den Arm nehmen. Seit fünf Jahren sind sie verheiratet, haben sich stürmisch verliebt und ihr gemeinsames Leben aufgebaut. Dennoch haben sie einander verloren: Tom hat sich auf die Karriere konzentriert, Hannah träumt einem Job in Afrika hinterher. Der Ausweg war da, zum Greifen nahe, doch wie kann sie Tom jetzt verlassen? Und selbst wenn sie bleibt, ist es aus Mitleid oder aus Liebe?

»Eine fesselnde und entwaffnende Geschichte voll Herzschmerz und Hoffnung, über Liebe, Lernen und Loslassen – sowohl umwerfend traurig als auch wunderschön romantisch.«     Heat Magazine

»Eine bewegende und tiefgründige Geschichte über Liebe und zweite Chancen.«     Sunday Mirror

Die Autorin

Katie Marsh lebt mit ihrer Familie in London, schreibt Bücher und ist im Gesundheitswesen tätig. Die Inspiration zu ihrem Debüt Die Liebe ist ein schlechter Verlierer verdankt sie ihrer Arbeit mit Schlaganfallpatienten. Sie liebt es, mit ihrer Tochter im Park zu toben, ihrem Mann den Toast zu stehlen und Karaoke zu singen. Ihr zweiter Roman ist bereits in Arbeit.

KATIEMARSH

DIE LIEBE IST EIN

SCHLECHTER VERLIERER

Roman

Aus dem Englischen von Angelika Naujokat

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2015 by Katie Marsh

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel My Everything bei Hodder & Stoughton Ltd., London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Melike Karamustafa

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © shutterstock / L. Kramer, Nikolaeva und AlisaRed

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-18256-4V002

www.penguin.de

Für Max und Evie

KAPITEL 1

Hannah öffnet widerwillig blinzelnd die Augen. Ein Stück Toast klebt an ihrer Wange, und ihr Mund fühlt sich pelzig an. Sie blickt angestrengt auf die Wanduhr und schließt rasch wieder die Augen. Zwei Uhr nachts. Warum musste ausgerechnet dieser Tag so beginnen? Dabei sollte sich ab heute alles ändern. Ein Neubeginn.

Hannah zieht sich den durchweichten Toast von der Wange, lässt ihn auf den Teller fallen und reibt sich über den schmerzenden Nacken. Ihr Smartphone ist dank der Shuffle-Wiedergabe in die peinlicheren Tiefen ihrer Playlist vorgedrungen, und sie drückt hastig die Pausetaste. Ihr Körper fühlt sich an, als gehöre er auf die Innenseite der Kreidelinie eines Tatorts.

Sie stemmt sich mit den Ellbogen in die Höhe und betrachtet die korrigierten Seiten, die über den Küchentisch verstreut liegen. »Verdammt«, murmelt sie leise. Irgendwie hatte sie es geschafft, im Schlaf ihr Weinglas umzustoßen, und nun sehen die Essays der zehnten Klasse über Shakespeares Macbeth aus, als wären sie mit Blut bespritzt.

Ob sie wohl mit der Behauptung durchkäme, es mit Absicht getan zu haben, um dem Stück Leben einzuhauchen? Angesichts der Vorstellung der skeptischen Mienen ihrer Schüler eher unwahrscheinlich. Teenager besitzen Antennen für Skandale jeglicher Art, und vermutlich würde die Gerüchteküche der Schule dafür sorgen, dass sie spätestens Ende der Woche zum Direktor gerufen wurde.

Ihr Handy gibt einen Piepton von sich. Eine SMS von Steph, die sich wahrscheinlich in einem ähnlichen Korrigiermarathon befindet.

Ist er schon zu Hause? Hast du es ihm gesagt? x

Hannah tippt ihre Antwort ein. Nein und nein.

Steph textet sogleich zurück. Aber du wirst es tun! Versprochen?

Ja. Sonst killst du mich noch. Und ich würde wirklich gern die nächste Staffel von Scandal sehen.

Viel Glück. Du schaffst das. x

Als Hannah den Stuhl zurückschiebt, kollidiert sie mit dem Ergebnis ihres letzten gescheiterten Versuchs, an einem Buchladen vorbeizugehen, ohne etwas zu kaufen. Sie streicht über das glatte, tröstliche Cover des obersten Exemplars im Stapel. Die Versuchung ist groß, die ganze Nacht wach zu bleiben und sich in der Geschichte eines anderen zu verlieren. Doch dann fällt ihr wieder ein, was sie heute vorhat. Widerstrebend steht sie auf und atmet dabei langsam aus, um die Nerven zu beruhigen, die sich an jeden Atemzug klammern.

Tom. Ich verlasse dich. Angst durchfährt sie bei dem Gedanken daran, die Worte laut auszusprechen. Zu sehen, wie er den Mund öffnet und sich seine Augen zu schmalen Schlitzen verengen, während er sich darauf vorbereitet, sie ein letztes Mal zu attackieren. Das kann er wirklich gut. Ob mit E-Mails, Mailboxnachrichten oder einfach nur durch gutes, altes Anschreien. Er wusste schon immer, wie er sie am besten verletzen konnte.

Hannah trägt den Teller zur vollen Spüle hinüber und quetscht ihn zwischen eine leere Dose gebackene Bohnen und eine Pfanne, in der sich gerade eine neue Lebensform zu entwickeln scheint.

Morgen. Darum wird sie sich morgen kümmern. Sie schaltet das Licht aus und knöpft auf der Treppe im Hinaufgehen ihr graues Kleid auf. Vor dem Schlafzimmer hält sie überrascht inne. Der rasselnde Atem ihres Mannes dringt durch die geschlossene Tür. Sie hat angenommen, dass er immer noch im Büro ist. Ein weiterer Deal. Eine weitere Nacht, die sie getrennt voneinander verbrachten.

Leise betritt sie das Zimmer und schlüpft unter die Bettdecke. »Warum hast du mich nicht geweckt, als du nach Hause gekommen bist?«

Toms einzige Antwort ist ein Schnarchen.

Schrrrrrapp.

Hannah zieht sich das Kissen über den Kopf.

Schrrrrrapp.

Sie kann es immer noch hören. Steckt den Kopf hervor und sieht auf die Uhr. Halb fünf. Viel zu früh. Sie fühlt sich wie erschlagen nach nur wenigen Stunden Schlaf.

Da ist es schon wieder.

Sie dreht sich um. »Tom, hey, hör auf zu schnarchen.« Ihre Stimme klingt wie ein Krächzen. »Ich versuche zu schlafen.« Es wäre toll, wenn er ihr ausnahmsweise einmal zuhören würde. Aber das konnte sie sich abschminken.

Stattdessen murmelt er etwas Unverständliches. Seine Stimme klingt belegt und verwaschen. »K…K…Kannni.«

Hannah lehnt sich widerwillig zu ihm hinüber und versucht, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine Gestalt liegt auf dem Boden vor dem Bett. Na super. Offenbar hat er sich wieder einmal mehr mit Whisky als mit seiner Arbeit beschäftigt. Sie greift hinüber und stupst ihn an, aber er stöhnt nur. »Herrgott noch mal.« Hannah reibt sich über die schmerzenden Augen.

»Kannni … Hilllllmiiiiiir.«

Erschöpft schaltet Hannah die Nachttischlampe ein und blinzelt in der plötzlichen Helligkeit auf ihn hinab.

Irgendetwas stimmt nicht.

Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht.

Tom liegt auf dem Boden, sein Körper ist gekrümmt, und in seinen weit aufgerissenen Augen liegt ein flehentlicher Ausdruck. Sein Gesicht ist kreidebleich und hängt auf einer Seite schief herab, der verzerrte Mund versucht, Worte zu formen, die Hannah nicht versteht. Schockiert sieht sie zu, wie seine rechte Hand kraftlos über das Holz am Fußende des Betts schrammt. Schrrrapp. Sein linker Arm liegt unter ihm, die Hand ist in einem unmöglichen Winkel gekrümmt, sodass sie aussieht wie ein missgestalteter Schnabel.

Hannahs Puls beginnt zu rasen. Hastig klettert sie aus dem Bett und versucht instinktiv, ihren Mann hochzuziehen. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengt, sein Körper ist zu schwer für sie, und er sackt wieder auf den Teppich zurück. Sie zuckt zusammen, als sie ihn stöhnen hört. Hoffentlich hat sie nicht alles noch schlimmer gemacht. Ihr Mund ist staubtrocken, und die Panik droht sie zu ersticken.

Sie brauchen Hilfe.

»Keine Sorge, Tom«, flüstert sie, während sie mit zittrigen Fingern nach dem Telefon greift, um den Notruf zu wählen. »Keine Sorge. Alles wird wieder gut. Alles wird wieder gut.« Wenn sie es nur oft genug wiederholt, glaubt sie es vielleicht selbst irgendwann.

Ihre Stimme bebt, als sie dem Rettungsdienst ihre Adresse nennt. Die Worte laut auszusprechen macht sie so entsetzlich real. In Toms Augen steht die nackte Angst, und sie streicht ihm über das dunkle Haar. Es ist so weich. Wie lange ist es her, seit sie es das letzte Mal berührt hat?

Eine Männerstimme stellt ihr Fragen, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kennt. Was ist geschehen? Wer? Wann? Wo? Langsam bekommt Hannah das Zittern in ihrer Stimme unter Kontrolle. Der Mann teilt ihr mit, dass ein Krankenwagen auf dem Weg sei. Absurderweise fragt sie sich, wer der Mann am anderen Ende der Leitung ist. Wie er aussieht. Und ob er ihr verraten kann, was die Zukunft bringt. Aber vielleicht ist es besser, es nicht zu wissen.

Sie legt auf und steht für einen Moment wie erstarrt da, bis sie Tom ein Wort nuscheln hört, das ihr Name sein könnte. Sie setzt sich auf den Boden, legt seinen Kopf vorsichtig in ihren Schoß, verdrängt jeden Gedanken an die Zukunft und versucht, ihm all den Trost zu spenden, den sie aufbringen kann. Als sie seine rechte Hand in ihre nimmt, umklammert er ihre Finger. Gemeinsam warten sie auf das, was auch immer als Nächstes kommen wird. Seine Hand fühlt sich kalt an. Schwer. Nach Verantwortung.

Minuten später trifft der Krankenwagen mit zwei Sanitätern ein – ein Mann und eine Frau, deren Namen Hannah sofort vergisst, deren Gesichter sich aber in ihr Gedächtnis brennen. Sie folgt ihren grünen Uniformen die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

»Was ist los mit ihm? Was hat er?« Hannah beginnt wieder zu zittern. In dem vergeblichen Versuch, Wärme und Trost zu finden, verschränkt sie die Arme fest vor der Brust.

Der kastanienbraune Pferdeschwanz der Sanitäterin wippt hin und her, als sie sich neben Tom kniet. Sie scheint kaum alt genug zu sein, um Alkohol kaufen zu dürfen, aber die ruhige, konzentrierte Art, mit der sie sich ihm zuwendet und seinen Puls misst, lässt Hannah ein wenig ruhiger werden. »Ich bin mir noch nicht sicher. Wir müssen ihn erst untersuchen.« Sie blickt ihm forschend ins Gesicht. »Hallo, Tom. Wie geht es Ihnen?«

»Kannni aufschn…«

»In Ordnung.« Die junge Frau nickt, als habe er sich vollkommen verständlich ausgedrückt. »Ich werde jetzt ein paar kleine Tests durchführen, damit wir es Ihnen anschließend etwas bequemer machen können. Würden Sie bitte Ihre Arme heben?«

Hannah hält den Atem an und fleht ihn stumm an. Komm schon, Tom!

Er hebt den rechten Arm, aber sein linker bewegt sich nicht.

Hannah versucht, ihn durch pure Willenskraft dazu zu bringen, ihn hochzuheben. Doch er rührt sich nicht. Panik steigt in ihr auf, und sie wendet sich an den Sanitäter, der neben ihr steht. »Was ist denn nur mit ihm?«

Er sieht sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der ihr bedeutet, dass ihr nicht gefallen wird, was er zu sagen hat. »Die eine Gesichtshälfte hängt herab. Dazu kommen Sprach- und Bewegungsprobleme. Vermutlich hat er einen Schlaganfall erlitten. Aber wir müssen noch weitere Untersuchungen durchführen, um sicher sein zu können.«

»Ein Schlaganfall? O Gott.« Sie versucht, die schreckliche Kindheitserinnerung an ihre Babysitterin zu unterdrücken, die sabbernd in einem Krankenhausbett liegt.

»Wir werden Ihren Mann so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen.« Die Stimme des Mannes ist sachlich und fest.

»In Ordnung.« Es fällt Hannah schwer, sich zu konzentrieren. Ihr Verstand schreit permanent »Schlaganfall«. Ihr Atem kommt stoßweise, und sie gräbt die Fingernägel in die Handflächen, um die Tränen zurückzuhalten. »Kann ich mitkommen?«

»Natürlich.« Der Sanitäter senkt taktvoll den Blick. »Aber vielleicht sollten Sie sich erst etwas anziehen.«

Hannah schaut an sich herab und bemerkt erst jetzt, dass sie nur ein knappes rosafarbenes T-Shirt und einen Slip trägt. Ja, Anziehen wäre sicher eine gute Idee. Sie zerrt rasch ein paar Klamotten aus dem Schrank und geht damit ins Badezimmer.

Sie fummelt noch an dem Knopf ihrer Jeans herum, als sie wieder das Schlafzimmer betritt und sieht, dass Tom in einem Tragestuhl sitzt und die Sanitäter ihn die Treppe hinunterschleppen. Sein kurzes Haar ist schweißnass, und sein Blick hat jeglichen Ausdruck verloren. Das Gesicht sieht wächsern aus, und sein Kopf hängt nach rechts – ein grausamer Kontrast zu dem vitalen, fröhlichen Mann auf den Hochzeitsfotos, die an den Wänden hängen. Was für ein Schock, ihn so hilflos zu sehen. So sterblich.

Tränen schießen ihr in die Augen. Sie muss ihm helfen. Alles tun, was in ihrer Macht steht.

Hannah wirft sich die Jacke über und zerrt ihre Handtasche vom Haken im Flur, bevor sie hinausrennt. Im dunklen Glas der Haustür erhascht sie einen Blick auf ein bleiches Gesicht, wirr um den Kopf stehende Locken und ängstlich aufgerissene Augen, die im Blaulicht des Krankenwagens aufblitzen. Sie braucht eine Sekunde, um zu begreifen, dass es ihr Spiegelbild ist.

Der Krankenwagen rast mit quietschenden Reifen durch die Straßen Südlondons. Zehn Minuten später kommen sie am Krankenhaus an. Es ist offensichtlich, dass jede Sekunde zählt.

Tom ist in Gefahr.

Tom könnte sterben.

Darüber darf sie jetzt nicht nachdenken. Als sich die Tür öffnet, tritt Hannah auf den Asphalt hinunter und wappnet sich gegen den peitschenden Januarwind, indem sie ihre Jacke fest vor dem Körper zusammenzieht.

Die Sanitäter rollen die Trage auf den roten Schriftzug Notaufnahme zu, der unheilvoll im Dunkeln aufleuchtet. Hannah greift nach Toms Hand, als sie an einem ausgemergelten Mann vorbeieilen, der neben einem großen Rauchen-Verboten-Schild steht. Er qualmt trotzig eine Zigarette und zwinkert ihr zu. Die Geste ist so unangemessen, dass Hannah ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte.

Drinnen kommt ihnen ein groß gewachsener Mann mit eiligen Schritten entgegen. Seine Bartstoppeln sind so dunkel wie seine Tränensäcke. Er steckt sich die Krawatte ins Hemd, und Hannah erahnt die Erschöpfung hinter seinem Lächeln. »Hallo, ich bin Dr. Malik, diensthabender Arzt der Intensivstation für Schlaganfallpatienten. Und Sie sind …?«

»Hannah.«

Doch der Arzt hat sich bereits den Sanitätern zugewandt, die Tom weiter den Flur entlangschieben, und stellt ihnen eine Frage nach der anderen. Begriffe wie »Hirnschlagader« und »mögliche Hämorrhagie« fallen. Jedes einzelne Wort schürt Hannahs Angst.

Tom ist das stille Auge des Sturms. Sie drückt seine Finger, aber er reagiert nicht mehr und hat die Augen geschlossen. Aber sie wird nicht zulassen, dass er aufgibt. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und beugt sich zu ihm hinab, bis ihr Mund ganz nahe an seinem Ohr ist. »Halte durch, Soldat.«

Die Zärtlichkeit aus früheren Tagen lässt seine Lider flattern, bis sie sich schließlich einen Spaltbreit öffnen. Für einen Augenblick treffen sich ihre Blicke, und Hannah spürt Hoffnung in sich aufkeimen. Dann schließt er die Augen wieder.

»Tom?«

Nichts.

»Tom?« Nein. Das hier darf einfach nicht passieren. Hannah wendet sich den Sanitätern zu, aber die schieben ihn bereits durch eine cremefarbene Flügeltür, auf der Schockraum zu lesen ist. Sie macht Anstalten, ihnen zu folgen, doch Dr. Malik hält sie davon ab. Bevor sich die Türen schließen, erspäht sie helles Licht und nimmt den metallischen Geruch von Blut wahr. Als sie Übelkeit in sich aufsteigen spürt, atmet sie tief durch.

»Wir werden weitere Untersuchungen bei Ihrem Mann vornehmen«, erklärt ihr der Arzt. »Anschließend kann ich Ihnen dann mehr sagen.« Er deutet zu einer Gruppe von grauen Plastikstühlen. »Warten Sie bitte dort. Sie können auch jemanden anrufen, wenn Sie möchten.«

»Ich …« Aber er ist bereits verschwunden, und sie ist allein. Beängstigend allein.

Als sie sich setzt, stellt sie fest, dass die Stühle offenbar konstruiert wurden, um einen Bandscheibenvorfall zu verursachen. Sie springt wieder auf und starrt auf die abblätternde Wand vor sich. Die Farbe erinnert sie an Toms Gesicht an dem Morgen, als er am Vorabend einen verdorbenen Döner gegessen hatte. Sie denkt daran, wie er jetzt dort liegt. Hilflos. Sie ballt die Fäuste. Halte durch, Tom.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?« Hannah fährt herum, als sich der Raucher von draußen schwerfällig auf zwei Stühle gleichzeitig fallen lässt. Als er sich in ihre Richtung lehnt, wird sie in eine unappetitliche Wolke aus abgestandenem Biermief gehüllt.

»Nein. Es ist nicht alles in Ordnung.« Hannah macht einen Schritt zur Seite. Auf einmal ist es doch ziemlich verlockend, allein zu sein.

Als der Mann hustet, hört Hannah den Schleim in seiner Brust rasseln. »Ist das Ihr Mann da drin?« Er nickt in Richtung der cremefarbenen Flügeltür, lehnt sich dann zurück und setzt sich noch breitbeiniger hin.

Hannah wendet angesichts des unglücklich platzierten Lochs in seiner Hose den Blick ab. »Ja«, erwidert sie mit gepresster Stimme.

»Schon lange verheiratet?«

Hannah blickt zur Flügeltür hinüber. Sie muss unbedingt wissen, was dahinter vor sich geht. »Fünfeinhalb Jahre.«

Er nickt. »Hab’s nie so weit geschafft.«

Hannah ist nicht überrascht.

Sie zuckt zusammen, als Dr. Malik durch die Tür tritt. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist so ernst, dass sie gar nicht erst versuchen will, ihn näher zu ergründen.

»Kommen Sie bitte herein, Hannah. Wir sind jetzt so weit.«

»Viel Glück.« Der Mann reckt beide Daumen in die Höhe. »Wird schon wieder.«

»Das will ich hoffen«, erwidert Hannah und fühlt sich, als würde sie nach dem letzten Strohhalm greifen. Dann holt sie tief Luft und folgt Dr. Malik in den Schockraum.

SOMMER 2006

UNTERSETZER AUS COCO’S DINER,SOHO

Er trank einen Milchshake, als er ihr zum ersten Mal begegnete. Hannah. Eine Kellnerin in einem unglaublichen Minirock, die widerwilligen schwarzen Locken unter einer pinkfarbenen Baseballkappe zusammengebunden. Er hätte am liebsten augenblicklich die Hand ausgestreckt und sie befreit.

Sie war lebhaft, lachte viel, redete gern und spielte ganz offensichtlich in einer anderen Liga als er. Wenn er sich umsah, kam es ihm so vor, als wären die meisten Männer im Diner in sie verliebt – eingeschlossen derer, die zum anderen Geschlecht neigten. Er war lediglich der stille Student in der Ecke. Immer wenn sie ihn bediente, versteckte er sich hinter seinen Jurabüchern, und jegliches Selbstvertrauen löste sich in undeutlichem Gemurmel auf und dem schrecklichen Drang, irgendeinen Verlegenheitswitz zu machen. Trotzdem wartete er immer wieder auf den richtigen Augenblick und trank dabei so viele überteuerte Milchshakes, dass er Überstunden im Pub machen und außerdem ein Loch in seinem Gürtel hinzufügen musste. Doch eines Tages wurde seine Geduld belohnt.

Er traf gerade beim Diner ein, als sie aus der Tür trat, um eine Zigarettenpause einzulegen. Schüchtern begrüßte er sie und hielt ihr sein Union-Jack-Feuerzeug hin. Eine Chance, sie zu beeindrucken. Eine Unterhaltung zu beginnen. Endlich.

Doch das Feuerzeug funktionierte nicht. Er versuchte es erneut – ohne Erfolg. Panik stieg in ihm auf.

Doch dann legte sie ihre kleine Hand beruhigend auf seine, und wie durch ein Wunder erwachte die Flamme zum Leben. Forschend sah sie ihn aus ihren großen braunen Augen an, bis sich ihre roten Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Sie war ihm so nah, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Der Geruch der Marlboro Red parfümierte die Luft. Jetzt oder nie.

Seine Lippen bewegten sich. Sie schienen plötzlich ein Eigenleben zu führen. »Eigentlich steh ich sonst nicht auf Frauen, die Baseballkappen tragen.« Nicht gerade seine Sternstunde. Stille machte sich breit, die ihn um mindestens zehn Jahre altern ließ. Er senkte den Blick. Mist. Das hatte er ordentlich vergeigt. Doch dann …

»Und ich steh eigentlich nicht auf Jungs, die nicht mal eine Zigarette anzünden können.« Ihr Tonfall war todernst. Er hob den Blick, um ihr prüfend ins Gesicht zu sehen. Da war ein verschmitzter Ausdruck in ihren braunen Augen, als sie eine perfekte kleine Rauchwolke über die Lippen blies. »Ich hab mich schon gefragt, wie oft du wohl noch vorbeikommen würdest, ehe du mich endlich ansprichst.« Sie lächelte. »War eine lange Reise, Soldat.«

Langsam atmete er aus. »Na ja, ich wollte eben den richtigen Moment erwischen.« Im selben Augenblick zog kreischend eine Horde Junggesellinnen auf ihrem Weg durch die Bars und Pubs von Soho an ihnen vorbei. Er grinste sie an und fügte hinzu: »Du weißt schon – nur wir beide, ganz allein.« Eine Taube flatterte über sie hinweg, und mit einem Mal spürte er etwas Warmes auf seiner Stirn. Er berührte die Stelle mit der Hand und stöhnte laut auf. »Vogelscheiße war allerdings nicht Teil des Plans.«

Erst kicherte sie verhalten, doch dann warf sie den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus.

Er sah sie an und stimmte in ihr Lachen ein. Und gleichzeitig schwor er sich, einfach alles zu tun, um dieses umwerfende Mädchen zu kriegen. Einfach alles.

KAPITEL 2

Als Hannah den Schockraum betritt, sticht ihr sofort der scharfe Geruch von Antiseptika in die Nase. Sie blinzelt, um ihre Augen an das Neonlicht zu gewöhnen.

Als Dr. Malik sie bemerkt, wendet er sich ihr zu und fährt sich mit der Hand durch sein immer unordentlicher werdendes Haar. »Würden Sie mir bitte noch einmal sagen, wann genau Sie die ersten Anzeichen bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt, Hannah?«

Hannah sucht nach einer Antwort, doch sie kann an nichts anderes denken als an Toms Körper auf dem Boden. An seine langsam zufallenden Lider. Den linken Arm, der wie tot an seiner Seite liegt.

Sie schüttelt den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. Sie muss sich erinnern, muss helfen. »Ich weiß es nicht genau. Vor ungefähr einer Stunde vielleicht.«

»Und wissen Sie, ob er vorher schon irgendwelche Symptome gezeigt hat?«

»Nein.« Es fühlt sich an, als würde sie bei einem Test durchfallen. »Tut mir leid. Er schlief tief und fest, als ich um zwei ins Bett kam.« Hinter einem rosafarbenen Vorhang zu ihrer Linken erhascht sie einen Blick auf einen Mann, der röchelnd in eine Sauerstoffmaske atmet, als könnte jeder Atemzug sein letzter sein.

»Wie würden Sie seinen allgemeinen Gesundheitszustand beschreiben? Ist er körperlich fit?«

»Ich denke schon. Er spielt Fußball. Und joggt gelegentlich. Na ja, zumindest hat er beides mal getan.« Ein Gefühl der Frustration macht sich in ihr breit. Sie sollte mehr über ihren Ehemann wissen. Sollte mehr sagen können. Aber die Wahrheit ist, dass sie in den letzten Wochen häufiger mit dem Zeitungshändler gesprochen hat als mit ihrem Mann.

»Raucht er?« Dr. Malik setzt sich in Bewegung, Hannah folgt ihm.

»Ja. Aber eigentlich nicht viel.« Sie gehen an Regalen vorbei, die mit Schläuchen und Nadeln gefüllt sind. »In den letzten Monaten ist es allerdings mehr geworden.«

»Hat er irgendwelche wiederkehrenden Beschwerden gehabt?«

Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. »Was zum Beispiel?«

»Kopfschmerzen? Unachtsamkeiten? Vergesslichkeit?«

Sie versucht, sich zu erinnern. »Er bekommt häufig Kopfschmerzen, wenn er etwas getrunken hat.«

»Und wie oft kommt das vor?«

»In letzter Zeit eigentlich täglich.«

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass er davor immer Alkohol zu sich genommen hat?«

»Ja.« Sie nickt, obwohl sie sich bereits im selben Moment nicht mehr sicher ist. Sie macht sich schon länger nicht mehr die Mühe, ihren Mann zu fragen, was er am Abend so treibt.

Hannah folgt Dr. Malik zum letzten durch Vorhänge abgeteilten Bett, in dem ein Mann in einem rosafarbenen Krankenhaushemd liegt. Ein Gewirr aus Kabeln und Schläuchen ist mit seiner Brust verbunden, und ein schwarzer Monitor zeigt piepsend die Vitalzeichen an. Eine Krankenschwester in einer dunkelblauen Uniform legt ihm gerade eine Sauerstoffmaske an und spricht beruhigend auf ihn ein, als sie das Gummiband über seinen Kopf zieht.

Hannah will gerade weitergehen, als sie bemerkt, dass Dr. Malik stehen geblieben ist und das metallene Seitengitter am Bett des Patienten in die Höhe zieht.

Sie schaut sich den Mann genauer an. Seine dunklen Haare. Den Ehering.

Es ist Tom.

Ein Schluchzen entfährt ihr, das sie nur mühsam unterdrücken kann, indem sie sich die Hand auf den Mund presst. Der Körper vor ihr scheint nur aus Kabeln, Venen und Gliedmaßen zu bestehen. Dies kann unmöglich derselbe Mann sein, der sie vor so vielen Jahren jauchzend über die Schwelle getragen hat, der auf ihrer Verlobungsparty einen furchtbaren violetten Cocktail mit dem Namen »Hantini« erfunden hat, der mit seinem in die Jahre gekommenen Ford Escort die ganze Nacht durchgefahren ist, um ihr an ihrem ersten Schultag als Lehrerin einen Korb mit Kuchen, Blue Stilton und Amaretto vorbeizubringen.

Plötzlich kann sie sich nur noch an die guten Zeiten erinnern.

»Wir müssen weiter.« Dr. Malik bugsiert Toms fahrbares Krankenbett auf den Flur. Ein bärtiger Pfleger übernimmt, damit sich der Arzt auf seinen Patienten konzentrieren kann. Die Schwester bleibt am Kopfende, um sie durch den Hindernisparcours aus leeren Rollwagen, Pappkartons und sperrigen Metallkäfigen zu steuern, in denen sich Betttücher stapeln.

Hannah muss beinahe rennen, um Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«

Dr. Malik hebt Toms linken Arm leicht an, doch er fällt kraftlos auf das Laken zurück. »Wir werden ein CT machen, um zu sehen, was in seinem Gehirn vor sich geht.«

Hannahs Magen krampft sich zusammen. »Wonach suchen Sie?«

Sie betreten einen Aufzug. Die schweren grauen Türen schließen sich, und er setzt sich ruckelnd und scheinbar viel zu langsam in Bewegung.

Dr. Malik überprüft Toms Puls und hebt dann den Blick, um Hannah anzusehen. »Schlaganfälle passieren, wenn die Blutzufuhr des Gehirns unterbrochen wird – entweder durch die Verstopfung einer Arterie oder eine Blutung im Kopf. Verstehen Sie?«

Hannah schluckt. »Ich glaube schon.«

»Das CT wird uns zeigen, was genau bei Tom passiert ist.«

Hannah hat sich den Riemen ihrer Handtasche so fest um die Hand gewickelt, dass er ihr in die Handfläche schneidet.

Dr. Maliks Blick wandert wieder zu Tom hinüber. »Sobald wir wissen, was genau vor sich geht, können wir ihn entsprechend behandeln.«

»Okay.« Hannah starrt auf Tom herab, bis der Aufzug endlich das richtige Stockwerk erreicht hat. Seine Reglosigkeit macht ihr Angst. Sie denkt an ihren letzten Streit zurück. Toms unbändige Wut, mit der er um sie herummarschiert war und alle ihre Schwächen aufgezählt hatte. Sie sei naiv. Egoistisch. Immer dieselbe alte Leier. Jetzt wo er so still daliegt, wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass er sie wieder anschreit.

Dr. Malik hilft dabei, das Bett aus dem Aufzug zu manövrieren. Sie laufen einen Gang hinunter, biegen um eine Ecke und betreten die Radiologie. Der Empfangsbereich ist dunkel und wenig einladend. Der Arzt gibt ihr ein Zeichen stehen zu bleiben. »Bitte warten Sie hier, Hannah.«

»Nein.« Sie ballt die Hände zu Fäusten. »Ich möchte bei ihm bleiben.«

Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Sie können nicht mitkommen.«

»Bitte!«

»Die Strahlenbelastung ist zu hoch. Sie müssen hier draußen warten.« Ungeduldig trommelt er mit den Fingern auf Toms Krankenblatt. »Wir müssen ihn jetzt reinbringen – jede Sekunde zählt.«

»Okay.« Hannahs Schultern sacken nach vorn, als Tom davongefahren wird und sie schon wieder allein zurückbleibt. Sie geht zum Wasserspender hinüber, aber es gibt keine Plastikbecher mehr. Ihr Magen knurrt. Als sie auf die Uhr ihres Handys schaut, stellt sie fest, dass es bereits halb sechs ist.

Sie hört, wie irgendwo in der Nähe surrend eine Maschine anspringt, während sie auf der Suche nach etwas Essbarem in ihrer Handtasche herumkramt. Sie fördert eine alte Tüte Maltesers-Schokokugeln zutage und reißt sie auf. Die Schokohülle der ersten Kugel ist zwar schon ziemlich gequetscht, aber der Zucker beruhigt ihre Nerven, und sie steckt sich eine weitere in den Mund. Und dann noch eine. Und noch eine. Plötzlich stopft sie die Kugeln nur so in sich hinein, als könnte das ihre Welt daran hindern entzweizubrechen. Neun. Zehn. Elf. Sie schließt die Augen, und alles reduziert sich auf die Schokolade und das Knirschen der Malzfüllung zwischen ihren Zähnen.

Wenig später hört sie Schritte, und Dr. Malik setzt sich neben sie. »Hannah.«

»Ja?«

»Der Scan hat bestätigt, dass Tom einen Schlaganfall erlitten hat.«

Das kann unmöglich sein. »Aber er ist doch erst zweiunddreißig!«

Dr. Malik schüttelt den Kopf. »Ich fürchte, das spielt keine Rolle. Der Blutfluss zu dem Teil seines Gehirns, der seine linke Seite kontrolliert, ist blockiert, und wir können auf dem Scan einen kleinen geschädigten Bereich erkennen.«

»O Gott!« Hannah hat ihre Hände so fest ineinander verschlungen, dass ihre Finger langsam taub werden.

»Da wir nicht genau wissen, wann die ersten Symptome aufgetreten sind, müssen wir ihn auf der Intensivstation behalten und sorgfältig überwachen. Wir werden ihn gleich hinaufbringen.« Der Arzt steht auf, schenkt ihr ein angespanntes Lächeln und geht mit großen Schritten davon.

Hannah sitzt da und starrt zu Boden, während die letzte Schokokugel langsam in ihrer Handfläche schmilzt. Sie schließt die Augen und versucht, sich daran zu erinnern, wie man betet.

Als die Schwestern Tom aus dem CT-Raum rollen, springt Hannah auf und nimmt seine Hand. Sie ist eiskalt.

Der Aufzug transportiert sie widerwillig nach oben, und bei ihrer Ankunft im richtigen Stockwerk wird Tom durch eine weitere Flügeltür geschoben. Ein Blick auf das Schild darüber sagt Hannah, dass sie die Intensivstation für Schlaganfallpatienten betreten.

Dr. Malik ist zurück. »Wir werden uns vorerst hier um Tom kümmern.« Er zeigt auf die dunkle Station hinter sich. »Zurzeit ist sein Zustand stabil, aber wir werden ihn genau beobachten.« Die Station ist erfüllt von Atemzügen und nächtlichen Geräuschen. Der Arzt vollführt eine Bewegung in Richtung einer Schwester, die hinter dem Empfangstresen steht. Sie kommt hervor und hilft dabei, Tom auf den freien Platz zu schieben. »Wir werden Tom jetzt in ein Bett legen und alles Nötige in die Wege leiten, damit er bestens versorgt ist. Würden Sie bitte dort warten?« Dr. Malik zeigt zu einer Tür hinüber, auf der Ruheraum steht. »Es wird nicht lange dauern.«

»Warum?« Zorn wallt in Hannah auf. »Ich sollte bei ihm sein.«

»Wir brauchen nur ein paar Minuten. Dann können Sie zu ihm.«

Erneut ist Tom von Menschen umgeben, während Hannah alleine bleibt. Sie betritt den Ruheraum und geht zum Fenster, von wo sie auf eine hässliche, mit viel zu grellen Schweinwerfern angestrahlte Skulptur im Hof hinabblickt. Sie denkt an all die Anrufe, die sie machen, die schlimmen Neuigkeiten, die sie überbringen muss, und würde am liebsten ihren Kopf gegen einen spitzen Gegenstand schlagen. Sie begreift ja selbst kaum, was hier gerade geschieht, wie soll sie es da anderen Menschen erklären?

Sie lässt sich auf einen der Plastikstühle fallen und kramt ihr Handy aus der Tasche. Dann holt sie tief Luft und ruft Julie an. Während es am anderen Ende läutet, stellt sie sich vor, wie sich Toms Schwester aus der Umarmung des Mannes befreit, mit dem sie in dieser Woche gerade zusammen ist. Nicht dass sie überhaupt damit rechnen würde, dass ihre Schwägerin ans Telefon geht. Julie befindet sich erfahrungsgemäß bis mittags im Tiefschlaf und ist davor nur selten ansprechbar.

Zu Hannahs Überraschung ertönt jetzt jedoch ein gedehntes: »Jaaaa?«

»Julie. Hier ist Hannah.« Sie versucht, ihrer Stimme einen ruhigen, tröstlichen Klang zu verleihen, worin sie kläglich scheitert. Julie ist ein Mensch, der geradezu nach Katastrophen hungert. Selbst unter den glücklichsten Umständen findet sie noch das berüchtigte Haar in der Suppe.

»Was ist los? Was ist passiert?«

Hannah senkt ihre Stimme. »Tom ist im Krankenhaus. Er hatte einen Schlaganfall.«

»Was?« Julie nimmt die Nachricht mit einem Hustenanfall auf, der in einer TB-Klinik behandelt werden sollte. »Ist er …? Ist er noch …?«

»Ja, Julie. Er lebt. Sein Zustand ist im Augenblick stabil, und sie überwachen ihn jetzt im Krankenhaus.«

»Scheiße.« Hannah hört ein Rascheln und dann das wiederholte Klicken eines Feuerzeugs. »Scheiße!«

»Julie?«

Die einzige Antwort ist ein Klatschen wie von einer Hand, die auf nackte Haut schlägt. Im Hintergrund ertönt ein entrüstetes Knurren. Julies Bettgenosse wird heute Nacht sicher nicht mehr viel Schlaf bekommen. Julie fährt ihn wütend an. »Könntest du vielleicht dafür sorgen, dass dieses blöde Feuerzeug funktioniert?«

Eine tiefe Stimme antwortet: »Wir haben gerade mal sechs, Jules. Schlaf weiter.«

Hannah reibt sich die Augen, um die schmerzhafte Anspannung über ihren Brauen zu lösen.

Weiteres Knurren ist zu hören, dann sagt Julie: »Ich hab gerade echt schlechte Nachrichten bekommen, also könntest du mir verdammt noch mal ’ne Kippe anzünden?«

Hannah seufzt. »Julie?«

»Ja. Eine Sekunde.« Hannah hört wieder das hektische Klicken. »Das Scheißding funktioniert nicht. Bring’s in Ordnung, okay? Mein Bruder hatte gerade einen Schlaganfall.«

Hannah beschleicht der dumpfe Verdacht, dass diese Beziehung keine Zukunft hat. Sie holt tief Luft. »Hör zu, Jules, es geht ihm wirklich schlecht, aber er liegt jetzt auf der Intensivstation, wo sie ihn genau überwachen und behandeln können.«

»Also kommt er wieder in Ordnung?«

»Das weiß ich nicht.« Die Erschöpfung droht sie zu überwältigen. »Ich muss jetzt Schluss machen, aber komm bitte so schnell wie möglich her, ja?«

»Aber das Auto ist kaputt. Ich habe keine Ahnung, wie ich …«

Hannah fällt ihr ins Wort. Julie würde sich ausnahmsweise einmal selbst helfen müssen. »Nimm den Zug oder was weiß ich. Wir sind auf der Intensivstation für Schlaganfallpatienten im King’s Lane Hospital. Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich zurück zu Tom.«

»Okay.« Julies Stimme klingt mit einem Mal brüchig. »Sag ihm, dass ich ihn liebe, ja?«

»Mache ich. Bis bald.« Bevor sie das Gespräch beendet, hört sie, wie Julie zu schluchzen beginnt.

Als Hannah endlich auf die Station darf, liegt Tom festgezurrt in einem Bett. Der gesamte Raum scheint nur aus Piepstönen und Nadeln zu bestehen. Ein durchsichtiger Infusionsbeutel hängt an einem Ständer über ihm. Furcht steigt wie bittere Galle aus ihrem Magen auf, als sie sich in einen Sessel an der Seite seines Betts sinken lässt und seine Hand ergreift.

Dr. Malik lehnt sich gegen die Wand und sieht sie an. Dann sagt er mit leiser Stimme: »Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend. Wir werden darauf achten, ob es Komplikationen gibt, und versuchen herauszufinden, warum er den Schlaganfall erlitten hat und wie viel Reha er benötigen wird.«

Hannah beobachtet Toms Brustkorb, der sich langsam hebt und senkt. Ein. Aus. Sie hat das Gefühl, nicht wegsehen zu dürfen, weil er sonst aufhören könnte zu atmen.

Tränen schießen ihr in die Augen. »Wie lange kann ich hier bei ihm bleiben?«

»Solange Sie möchten.«

»Danke.«

Nachdem der Arzt gegangen ist, wendet sie sich Tom zu. Sie ist erstaunt, wie jung er aussieht. Im Halbdunkel scheinen die tiefen Furchen auf seiner Stirn, die er der Kanzlei verdankt, wie weggewischt. Plötzlich sieht er wieder aus wie der Mann, der in dem Diner in Soho den Blick nicht von ihr wenden konnte. Glückliche Zeiten … Sie blickt zu den verhängnisvollen Linien auf dem Monitor, und die Tränen laufen ihr über die Wangen. Das Gefühl, wie viel sie beide verloren haben, ist plötzlich geradezu überwältigend.

Als Hannah einen leichten Druck an ihren Fingern spürt, blickt sie hinunter und sieht, dass sich Toms rechte Hand um ihre geschlossen hat. Seine Augen schimmern feucht. Sie hat ihn schon seit Jahren nicht mehr weinen sehen.

Tom. Oh, Tom.

Sie streichelt sein Gesicht und wartet schweigend, bis er die Augen wieder schließt. Als seine Atmung tiefer wird, denkt sie darüber nach, was sie ihm heute hatte sagen wollen. Die Worte, die sich seit Wochen – Monaten – in ihr angestaut haben. Sie legt den Kopf in die Hände und flüstert eine Bitte in die Dunkelheit der Station. Doch niemand hört sie.

SOMMER 2006

BEWIRTUNGSBELEG: £ 35.75,RAINBOW BAR

Ihre erste Verabredung endete in einer Schwulenbar.

»Nicht ganz die romantische Atmosphäre, die mir vorgeschwebt hat.« Tom spürte, wie er langsam von dem Barhocker im Leopardenfell-Look hinunterrutschte, und stützte sich mit den Ellbogen auf den winzigen Metalltisch ab.

»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.« Hannah ließ die Lederjacke von den Armen gleiten und hängte sie an einen Haken unter der Bar. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die üppigen Locken. Ein Lächeln umspielte ihre glänzenden Lippen. Er sehnte sich danach, sie zu küssen, doch jedes Mal, wenn er seinen Mut zusammengenommen hatte, schien sie gerade einen Schluck aus ihrem Glas oder einen Bissen von ihrem Essen zu nehmen.

Das machte ihn verrückt.

Hannah saß anmutig auf ihrem Hocker. »Was könnte romantischer sein, als Margaritas aus einem fluoreszierenden pinkfarbenen Eimer zu trinken?«

»Das ist allerdings wahr«, erwiderte er. »Das ist das Material, aus dem Filme gemacht werden.« Er saugte an seinem Strohhalm und wandte den Blick ab, als sich zwei Brustkästen an die Bar lehnten, die wesentlich männlicher waren als sein eigener. »Ich meinte eher die Musik.«

»Wie bitte?« Hannah machte ein übertrieben schockiertes Gesicht. »Und ich dachte, dass du dem DJ extra was zugesteckt hast!«

Er schüttelte den Kopf, als der Refrain von a-has Take on Me aus den Lautsprechern dröhnte. »Nicht schuldig.« Er legte eine Hand auf ihre und jubilierte innerlich, als sie sie nicht wegzog. Ihre Finger waren warm.

»Typisch Jurastudent. Viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst ernst zu nehmen, um einen guten, altmodischen Popsong wie diesen zu schätzen zu wissen.«

Er verdrehte die Augen. »Sagt die unkultivierte Englischstudentin, die es nicht besser weiß.« Er schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. »Falls du ein Fan von diesem Mist sein solltest, dann fürchte ich, dass ich deinen Namen von meiner Liste für zweite Dates streichen muss.«

»Ach, wirklich?« Sie lehnte sich so weit zu ihm hinüber, dass er ein weiteres Mal an diesem Abend den Ausblick genießen konnte, den ihm ihr tief ausgeschnittenes Top gewährte. »Und wer sind meine Konkurrentinnen auf dieser Liste?«

Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Da gibt es viel zu viele Kandidatinnen, um sie alle einzeln aufzuzählen, fürchte ich.«

Sie lehnte sich wieder zurück. »Verstehe. Also warst du an all diesen Abenden in der letzten Woche, als du behauptet hast, du müsstest im Pub arbeiten, in Wahrheit mit anderen Frauen aus?« Sie hatte es in einem neckenden Tonfall gesagt, aber für einen Moment sah er Besorgnis in ihren Augen aufblitzen, ehe sie ihren Blick auf den Tisch senkte. »Gut zu wissen, wo ich stehe.«

Tom war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte. Er lehnte sich vor, um wieder ihre Hand zu nehmen, doch der Barhocker machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Für einen Moment schwankte er gefährlich hin und her, ehe er sein Gleichgewicht zurückerlangte.

Cool, Tom, supercool.

»Glaub mir, Hannah, mir rennen die Frauen wirklich nicht die Bude ein. In meinem Leben gibt es nur meine Mutter und meine Schwester. Und ich mag die Frau vom Kiosk, die mir die Samstagszeitung verkauft. Sie ist wirklich nett, auch wenn es etwas nervig ist, dass sie mir dauernd Fotos von irgendwelchen Enkelkindern zeigt. Das sind dann aber wirklich auch schon alle.«

Hannah hielt den Blick gesenkt. »Ehrlich?«

»Ehrlich.«

Als sie den Kopf hob und einen Schluck trank, war er erleichtert, ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. »Ich hab mir natürlich nicht ernsthaft Sorgen gemacht«, sagte sie schließlich. »Immerhin werde ich geradezu von Bewunderern belagert, wo ich auch gehe und stehe.«

Tom vermutete, dass das sogar der Wahrheit entsprach, obwohl sie sich ihrer Wirkung offensichtlich gar nicht bewusst war. Und dafür mochte er sie umso mehr. »Nun, ich werde sie alle vermöbeln. Was offensichtlich kein Problem für mich ist.« Er versuchte, einen Bizeps anzuspannen, was ihm kläglich misslang.

Hannah lehnte sich wieder zu ihm hinüber. »Offensichtlich. Das würde ich wirklich gerne sehen.«

»Würdest du das?«, entgegnete er möglichst gelassen und mit so viel gespielter Coolness, wie er nur aufbringen konnte.

»Ja.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Aber verrate mir lieber, was ich verpassen würde, wenn ich nicht in die Auswahl für ein zweites Date kommen sollte.«

Tom machte eine Geste mit den Fingern, als würde er einen imaginären Reißverschluss vor seinem Mund zuziehen, und schüttelte den Kopf.

»Oh, ich verstehe.« Ein Lichtstrahl der Discobeleuchtung traf den Silberanhänger an ihrem Hals. »Du spielst wieder den Geheimnisvollen.«

»So ist es.« Er lehnte sich ebenfalls vor, sodass ihre Lippen nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Endlich.

»Vibriert dein Handy in der Tasche, oder freust du dich einfach nur, mich zu sehen?«

Tom brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie meinte. Er zog das Handy aus seiner Hose. »Ist bloß meine Mum.« Er schaltete es aus und steckte es wieder in die Tasche.

»So spät noch?« Hannah wirkte besorgt. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du kannst sie ruhig zurückrufen, wenn du willst.«

»Es ist alles okay. Sie klingelt nur gern mal durch, wenn ihre Schicht zu Ende ist«, sagte Tom und nahm dann all seinen Mut zusammen, um Hannah eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. »Lass uns noch mal darauf zurückkommen, wie geheimnisvoll ich bin. Das hat mir gefallen.«

Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Halt die Klappe und küss mich endlich.«

Und das tat er. Sie schmeckte nach Zitrone und Hoffnung. Im Hintergrund erklang ein Song von Take That, aber das bemerkte er nicht einmal.

KAPITEL 3

»Mir geht’s gut.« Julie nickt entschlossen. »Alles gut.«

Hannah wirft einen Blick in den Abfallbehälter neben Toms leerem Bett. Sie zählt die Cola-Light-Dosen, die darin liegen.

Vier Stück.

Es ist gerade neun Uhr morgens.

Julie geht es ganz und gar nicht gut.

»Bist du sicher?«

»Ja.« Während Hannah Toms Schwester forschend ansieht, greift die in ihre Tasche und zieht einen Schokoriegel hervor. Mit ihren zitternden Händen und dem hohen Koffeinkonsum kommt Julie Hannah eher vor wie eine panische Schülerin vor der Abschlussprüfung als die dreiundzwanzigjährige Frau, die sie in Wahrheit ist. Wenn sie jetzt noch eine Dose Red Bull trank, wäre das Bild komplett.

»Hättest du gern etwas Wasser, Jules?« Hannah deutet auf den Plastikkrug auf dem schwenkbaren Tisch neben dem Bett. »Es ist furchtbar warm hier drin.« Der Schweiß kribbelt in ihren Achselhöhlen, und sie versucht, ihren Tee abzustellen, um die Strickjacke auszuziehen. Zwischen den Karten, Blumen und Geschenken auf dem weißen Schrank neben Toms Bett ist jedoch kaum ein freier Fleck zu finden. Toms Firma hat sich selbst übertroffen und einen Früchtekorb von Selfridges von der Größe eines Labradors geschickt. Gekrönt wird das Ungetüm von einer Ananas, die eine Schleife in einem aufdringlichen Türkiston ziert, und das Ganze ist umhüllt von mehreren Lagen silbriger Folie, die bei jeder Berührung knistert.

Hannah verdreht frustriert die Augen. Toms Kollegen haben ganz offensichtlich keine Ahnung, wie schlimm es um ihn steht. Eine Woche nach seinem Schlaganfall ist er immer noch so geschwächt, dass er kaum kauen kann, ganz zu schweigen davon, sich mit dieser exzellenten Leistung aus der Geschenkverpackungsabteilung von Selfridges abzumühen.

Julie gibt entnervt auf, den Schokoriegel mit den Fingern zu bearbeiten, und versucht es stattdessen mit den Zähnen. »Ich will kein Wasser«, knurrt sie. »Verdammt.« Sie beugt sich vor und vergräbt den Kopf in den Händen.

»Schon gut, Schätzchen«, ertönt eine Stimme aus dem Nachbarbett, wo ein Mann gerade voller Konzentration die buschigen Augenbrauen zusammenzieht und versucht, seine Frühstückscornflakes zu essen. Milch tropft auf die Vorderseite seines blau gestreiften Pyjamas, als seine rechte Hand ruckartig nach oben zuckt. Das wächserne Gelb seiner Haut bildet einen grausamen Kontrast zu dem betont fröhlichen Rosa der Wände, einzelne weiße Haarsträhnen stehen von seinem Kopf ab, als versuchten sie, dem Elend mit letzter Kraft zu entkommen.

»Guten Morgen, John. Wie geht es Ihnen?«, fragt Hannah und schenkt ihm ein Lächeln, als Julie sich ebenfalls in seine Richtung umdreht. Einen grässlichen Moment lang befürchtet Hannah, dass ihre Schwägerin heute zum vierten Mal seit ihrer Ankunft in die Luft geht.

»Prima«, erwidert John mit einem schiefen Lächeln. Er verliert seinen Kampf mit dem Löffel, und die orangefarbenen Cornflakes verteilen sich über die graue Krankenhausbettdecke. Seine durchdringenden blauen Augen funkeln, als er den Kopf mit einem unbeholfenen Rucken in ihre Richtung dreht. »Könnte schlimmer sein, Schätzchen.« Sein heiseres Kichern scheint eher in einen Pub zu gehören, wo nach der Sperrstunde noch in geschlossener Gesellschaft weitergesoffen wird. »Wenigstens schmücken Sie sich nicht mit Ihrem Frühstück.«

Julie verzieht ihre Lippen zu einer Art Lächeln.

Hannah weiß, dass sie nicht besonders begeistert von solchen Unterbrechungen ist, und schreitet ein, bevor sie etwas sagen kann. »Aber Sie tun es mit so viel Stil, John.«

»Ja, nicht wahr?« Der alte Mann deutet auf die milchige Schweinerei in seinem Schoß. »Die reinste Verkörperung von Stil und Anmut. Früher, da …«

»Jaja, wirklich interessant. Aber ich brauche kurz mal einen Moment. Sorry.« Julie steht auf und zieht den grün gestreiften Vorhang zwischen den Betten zu. Hannahs Lippen formen eine stumme Entschuldigung in Johns Richtung, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwindet.

»O Mann! Hier drin hat man wirklich null Privatsphäre.« Als Julie sich gereizt nach den anderen beiden Patienten in ihren Betten umsieht, zieht Hannah für einen kurzen Moment in Betracht, sich das Wort »Entschuldigung« auf die Stirn tätowieren zu lassen. Das könnte ihr eine Menge Zeit ersparen.

»Ich brauche einfach etwas Freiraum, um das hier zu verarbeiten, verstehst du?« Julie versucht immer noch, die Verpackung des Schokoriegels zu öffnen. Endlich reißt sie sie mit einem Ruck auf und schiebt sich zwei dunkle Schokoquadrate in den Mund, ohne Hannah etwas anzubieten. Keine große Überraschung. »Ich mach mir einfach Sorgen, weißt du. Wenn bei Tom so einfach diese …«

»Die Karotis«, ergänzt Hannah hilfreich.

»Ja, genau.« Julie nickt ungeduldig. »… die Karotis reißen kann und er einen Schlaganfall bekommt, dann …« Entsetzt reißt sie die Augen auf und verstummt.

Hannah schweigt und überlegt verzweifelt, was sie ihr antworten könnte. Etwas Tröstendes. Etwas Wahres. Denn sie weiß, was Julie denkt. Was ihr Angst macht. Was auch ihr Angst machen würde.

Julie steckt sich ein weiteres Stück Schokoriegel in den Mund. »Dann könnte es doch sein, dass … dass …«

»Dass es dir auch passiert?«, beendet Hannah den Satz für sie.

»Ja«, sagt sie leise.

Hannah bemerkt die Schatten unter ihren großen grünen Augen und die Angst darin. Sie will etwas sagen, doch Julie knüllt die Verpackung zu einem Ball zusammen und schleudert ihn in den Abfalleimer. Der Moment ist vorbei.

»Was soll’s. Bringt ja nichts, darüber nachzudenken.« Julie steht auf und beginnt, um Toms Bett herumzulaufen. »Bringt überhaupt nichts.« Sie bewegt sich schnell. Zum Fenster. Zurück. Zum Vorhang. Zurück.

Hannah runzelt die Stirn. Sie spürt die ersten Anzeichen des Kopfschmerzes, der sie inzwischen täglich quält. In dem vergeblichen Versuch, den Schmerz aufzuhalten, presst sie die Handflächen gegen die Schläfen und atmet einmal tief ein. Doch da sind nur der Geruch nach abgestandenem Frühstück und der Zitrusduft der Antiseptika. Sie sehnt sich nach frischer Luft, einem Feld oder einem Blumenstrauß. Selbst der Krankenhausparkplatz voller Londons feinster Abgase wäre jetzt wohltuend.

Sie schaut Julie an. »Erinnern wir uns doch lieber daran, was gut läuft, okay? Tom ist stabil. Er spricht wieder. Er weiß, wer er ist.« Sie schluckt. »Die Ärzte sagen, dass er sich gut macht.«

Julie schnaubt verächtlich und richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Sogar auf ihren höchsten Absätzen würde Hannah immer noch eine Leiter benötigen, um bis an ihr Schlüsselbein zu reichen. »Na klar. Das haben sie auch von meiner Mutter behauptet. Heißt also überhaupt nichts.«

Darauf weiß Hannah keine Antwort. Stattdessen starrt sie auf Toms leeres, zerwühltes Bett und erinnert sich an die höllische, endlose erste Nacht im Krankenhaus. Auch wenn Tom stabil ist, kann sie nicht aufhören, ihn zu beobachten. Während aus Tagen Nächte und wieder Tage werden, beobachtet sie, wie sich seine Brust hebt und senkt, sein Mund versucht, Worte zu formen, seine Gliedmaßen zuckende Bewegungen machen. Wenn sie auch nur für eine Sekunde nicht hinschaut, könnte es wieder passieren. Das darf sie nicht zulassen, sie fühlt sich ohnehin schon schuldig genug.

Als Julie sich zu ihr umdreht, machen ihre Stiefel ein quietschendes Geräusch auf dem Boden. »Was weißt du im Übrigen schon davon?« Hannah seufzt, als Julie zum Fenster stolziert und auf die inspirierende Betonmauer gegenüber starrt. Sie ist es gewöhnt, die Zielscheibe von Julies Wut zu sein. »Du hast dir ja nicht mal die Mühe gemacht aufzukreuzen, als Mum krank war.«

Hannah öffnet den Mund, um sich zu verteidigen, schließt ihn jedoch gleich wieder. Seit einem Jahrzehnt versucht sie nun schon, Julie dazu zu bringen, ihre Sicht der Dinge zu verstehen. Doch die angespannte Situation hier würde sie kaum dazu ermuntern, ihre Meinung zu ändern.

Julie wirft ihr langes dunkles Haar über die Schulter zurück. »Kannst du mir einen Zehner leihen?«

»Noch einen?«, entfährt es Hannah, bevor sie sich eines Besseren besinnen kann.

»Ja.« Julie verschränkt die Arme vor der Brust, sodass sich ihr grüner Pulli noch enger über ihrer Brust spannt. »Ich brauch noch was zu essen, damit ich das hier durchhalte. Ist nicht gerade leicht für mich, weißt du.«

»Ja. Ich weiß.« Hannah ist versucht, sie darauf hinzuweisen, dass sie sich auch nicht gerade königlich amüsiert. Seit sie Tom in jener Nacht neben dem Bett gefunden hat, findet sie keinen Schlaf mehr. Sobald sie ihre Augen schließt, sieht sie ihn wieder dort liegen. Jetzt wo er stabil ist, darf sie nicht mehr über die Besuchszeiten hinaus bei ihm bleiben. Also verbringt sie die Nächte zu Hause, starrt auf die Uhr und trinkt sich durch die Stunden, bis es wieder Zeit fürs Krankenhaus ist.

Ihre Augen brennen vor Müdigkeit. Die Haut spannt. Sie kann förmlich spüren, wie sie altert. Hannah holt tief Luft. »Kannst du nicht den Geldautomaten im Foyer benutzen?«

Julie sieht sie an, als sei sie der letzte Dreck. »Ich brauche nur einen Zehner.« Sie klopft sich ungeduldig auf den Oberschenkel. »Ihr zwei schwimmt doch im Geld. Da dürfte es ja wohl kaum ein Problem sein, mir einen Zehner zu leihen, oder?«

Hannah unterdrückt ein weiteres Mal den Drang, Julie zu belehren und ihr etwas über Furcht einflößende Hypotheken oder die Tatsache zu erzählen, dass die Hälfte der Menschen, die einen Schlaganfall erleiden, danach nie wieder arbeiten können. Stattdessen versucht sie es mit einer anderen Taktik. »Ich kann dir was aus der Cafeteria mitbringen. Ich wollte sowieso gerade frühstücken gehen.« Sie lächelt. »Oder hast du Lust mitzukommen?«

Julie denkt ungefähr eine Nanosekunde über ihren Vorschlag nach, bevor sie den Kopf schüttelt. »Nein. Geh du nur. Ich will hier sein, wenn sie Tom zurückbringen. Er soll nicht allein sein, weil … weil …« Ihre Stimme klingt erstickt. Sie streicht mit der Hand über das Bett, während sie versucht, sich zu sammeln. Ihre Augen glänzen verräterisch, und sie atmet einmal hastig tief ein. Als sie das Kissen glatt streicht, sagt sie eher zu sich selbst: »Als wir klein waren, haben wir nach der Schule jeden Tag Krankenhaus gespielt. Nichts und niemand konnte uns davon abhalten. Ich war besessen von der australischen Soap Home and Away, deshalb hat Tom immer so getan, als sei er dieser australische Arzt auf einem Surfboard: Dr. Monk.«

Hannah nickt nur. Sie wagt nicht, etwas zu sagen, das den Bann brechen könnte. Julie zieht die Bettdecke gerade. Hannah sieht die Zärtlichkeit in ihrem Gesicht und kann sie sich gut als kleines Mädchen vorstellen, das als Krankenschwester verkleidet in der Nähe der Haustür darauf wartet, dass der geliebte große Bruder nach Hause kommt. Tom hat oft erzählt, wie nah sie sich damals standen.

Julie seufzt. »Er kam immer reingerannt und hat das Leben meines Teddys oder meiner Barbie gerettet, bevor er auf sein Fantasie-Surfbrett sprang und davonpreschte.« Als sie lächelt, erhellt sich ihr ganzes Gesicht. »Er hat sich wohl von meiner Begeisterung anstecken lassen – oder zumindest hat er das immer behauptet. Er hat stundenlang mit mir gespielt, selbst wenn er zum Fußballtraining musste oder mit einem Mädchen verabredet war.« Julie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, ihre Stimme bricht. »Er hat so gerne Fußball gespielt. Ich frage mich, ob er das wohl jemals wieder können wird.«

»Natürlich wird er das.«

»Das weißt du nicht.«

»Nein. Aber ich glaube daran.« Hannah streckt die Hand aus und legt sie vorsichtig auf Julies Arm. »Wenn es jemanden gibt, der das schaffen kann, dann er.« Julie bleibt stumm, aber Hannah versucht es weiter. »Ich weiß, wie du dich fühlen musst, aber …«

Julie reißt ihren Arm weg. »Nein. Tust du nicht.« Ihr Gesichtsausdruck verhärtet sich. »Du hast nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nicht mal, warum ich dir das alles erzähle. Hör zu, ich brauche einfach nur einen Zehner, okay?«

Seufzend holt Hannah ihr Portemonnaie heraus und reicht ihr das Geld.

Julie nimmt es ohne ein Dankeschön entgegen. »Ich zahl es dir zurück.«

Hannah ist sich absolut sicher, dass sie das nicht tun wird. »Klar.«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

Hannah hebt den Blick zur Decke. Ihre Geduld ist beinahe erschöpft. Wenn sie noch länger hierbleibt, könnte sie etwas sagen, das sie nachher möglicherweise bereuen würde. »Ich werde jetzt frühstücken gehen.« Sie greift nach ihrer Tasche und wendet sich ab.

Julies wütende Stimme folgt ihr. »Was ist dein Problem, Hannah?«

Mein Mann hatte einen Schlaganfall. An dem Tag, an dem ich ihn verlassen wollte.

Eine Schrecksekunde lang befürchtet Hannah, dass sie die Worte laut ausgesprochen hat. Sie schluckt jeden weiteren Kommentar hinunter und geht Richtung Tür. John zwinkert ihr zu, als sie an seinem Bett vorbeikommt. Aber sein Gesicht ist grau und sein Lächeln gequält. Sie gibt sich große Mühe, es zu erwidern.

»Gerade rechtzeitig, Hannah.«

Hannah beschleunigt ihren Schritt, als sie sieht, dass Tom aus dem Bad zurück ist, das schwarze Haar vom Duschen feucht und aus dem Gesicht gekämmt. Julie ist schon wieder verschwunden – vermutlich, um sich mal wieder irgendetwas Süßes zu besorgen. Oder Zigaretten. Oder beides.

Neben Tom steht Sandra. Sie trägt das weiße Oberteil und die dunkelblaue Hose des Physiotherapieteams, ihre Hand liegt auf der Rückenlehne seines Rollstuhls. Toms Körper steckt in einem Trainingsanzug und ist mit Kissen gepolstert, die beinahe so weiß sind wie seine Haut. Sein linker Arm hängt schlaff über der Armstütze. Der wuchtige grau-schwarze Rollstuhl, dessen Räder ihren ganz eigenen Willen zu haben scheinen, erinnert an die Ära der Dampflokomotiven.

»Möchten Sie ihm ins Bett zurückhelfen, Hannah?« Vermutlich würde es einer Machete bedürfen, um das unermüdliche Lächeln aus Sandras Gesicht zu entfernen.

»Gern«, sagt Hannah und stellt traurig fest, dass sie immer geübter im Lügen wird.

»Ich.« Tom holt tief Luft. »Kann das.« Er artikuliert jedes Wort mit größter Sorgfalt. Zwar lässt das nach, wenn er müde wird, aber seine Sprache wird von Tag zu Tag deutlicher. Ebenso wie die Tatsache, dass er wütend ist. Verloren.

Hannah hat noch nie erlebt, dass er sich geschlagen gibt. Sie beißt sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten, von denen sie weiß, dass er sie hasst. Sie kann sie später weinen.

»Noch ist es nicht ganz so weit, Tom.« Sandra schüttelt den Kopf. »Aber es dauert nicht mehr lange. Bis dahin müssen wir Ihre Kraft noch ein wenig aufbauen, in Ordnung?«

Tom gibt ein Knurren von sich.

»Großartig.« An Sandra scheint alle Negativität einfach abzuprallen – ein Selbstschutz, der sicherlich vonnöten ist, um hier arbeiten zu können. Sie sieht Hannah an und fragt: »Bereit?« Dann drückt sie auf einen Knopf, und das Krankenhausbett senkt sich, bis es sich auf derselben Höhe befindet wie der Rollstuhl.

»Ja.«

»Stellen Sie sich bitte auf seine linke Seite.«

Toms nackte Füße sehen seltsam verletzlich aus, als Hannah an die gewünschte Stelle tritt. Die graue Sporthose schlabbert ihm traurig um die Beine.

»Gut. Machen Sie sich bereit, seinen Oberkörper zu stützen, während er sich hochdrückt.«

Hannah legt ihm locker die Arme um den Körper.

»Jetzt zu Ihnen, Tom. Drücken Sie sich mit rechts hoch. Hannah, Sie stabilisieren ihn falls nötig … ja, genau. Richtig so!«

Aber es fühlt sich gar nicht richtig an. Hannah wird furchtbar heiß, und in ihrem rechten Arm spürt sie wieder dieses nervöse Zittern, das auch immer dann auftritt, wenn sie im Pub mehr als ein Glas zum Tisch tragen muss. Tom zittert ebenfalls vor Anstrengung. Hannah steht breitbeinig neben ihm und bemüht sich, ihn nicht fallen zu lassen. Zwar hat er im Krankenhaus bislang kaum etwas gegessen, aber trotzdem hat sie Angst, ihn nicht stützen zu können. Hinter dem Vorhang, der sie vom Nachbarbett trennt, hört sie John würgen. Sie fühlt sich ähnlich.

Sandra fährt mit forscher Stimme fort: »Sehr gut, Tom. Sie stehen. Jetzt greifen Sie das Bett mit Ihrer rechten Hand. Hannah, bereiten Sie sich darauf vor, sein Knie zu unterstützen.«

»Was?«

»Sie wissen doch. Stützen Sie sein linkes Knie mit Ihrem eigenen, falls es wegknicken sollte.«

»Okay.« Hannah verändert ihre Position und wirft einen Blick in Toms Gesicht. Es ist kreidebleich. Sein Arm rudert schlaff in der Luft. Hannah merkt, wie ihr der Schweiß zwischen den Brüsten hinabrinnt. Ihr rechtes Auge beginnt zu tränen.

Tom bekommt endlich das Bett zu fassen.

»Sehr gut, Tom!« Sandra klatscht begeistert in die Hände. »Und jetzt verlagern Sie Ihr Gewicht auf diesen Arm und drehen sich zum Bett. Hannah ist da, um Sie zu stützen.«

Die Frage ist nur, wie lange noch, denkt Hannah. Sie befürchtet, dass sie schon bald eine Rückenverletzung außer Gefecht setzen wird. Trotzdem nimmt sie all ihre noch verbliebene Kraft zusammen. »Komm schon, Tom. Wir schaffen das.«

Schweißperlen stehen auf Toms Stirn, als er sich dreht und schwer aufs Bett fallen lässt.

Sandra verhindert, dass er nach links kippt, und grinst, wobei sie eine Reihe außergewöhnlich gerader Zähne entblößt. »Gute Arbeit.«

Als Tom sich abwendet, bemerkt Hannah, dass ihm eine Träne über die Wange läuft.

Sandras Stimme befindet sich immer noch im Aufmunterungsmodus. »Und so bekommen Sie Tom wieder ins Bett zurück.«

»Super.« Hannah streckt die schmerzenden Arme über dem Kopf. »Das war ja ein Kinderspiel.«

»Und auch auf die Toilette und wieder herunter.« Sandra nickt zufrieden. »Das werden wir als Nächstes üben.«

»Juhu«, entschlüpft es Hannah sarkastisch.

Die Physiotherapeutin wirft ihr einen strafenden Blick zu und fährt rasch fort: »Wir werden bei Tom ab sofort mit dem vollen Therapieprogramm weitermachen, um ihm dabei zu helfen, seine körperlichen Fähigkeiten wiederzuerlangen.« Sie gestikuliert mit einer Hand. »Rasieren, sitzen, kochen und so weiter. Und schon bald werden wir ihm mit einer Gehhilfe wieder auf die Füße helfen.«

Tom seufzt. Hannah legt ihm eine Hand auf die Schulter, doch er schüttelt sie mit einem Achselzucken ab. Und wieder einmal kommt sie sich wie eine Versagerin vor. Sie hat keine Ahnung, wie sie ihm helfen soll.

Er blickt zu Sandra auf. »Ich will … reden … mit …« Er nickt mit dem Kopf zu Hannah hinüber.

Sandra wirft einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. »In Ordnung.« Ihre weißen Turnschuhe quietschen, als sie sich umdreht. »Ich bin bald wieder da.«

Hannah sieht Tom an. »Was ist los, Soldat?«

Er starrt zur Decke hinauf und scheint darum zu ringen, die Worte herauszubringen. »Nicht. Nenn mich nicht so«, stößt er schließlich hervor.

»Tut mir leid.« Sie hält ihm ein Wasserglas hin.

Er schiebt es beiseite. »Ich kann nicht mal trinken. Ohne dich.« Wut flackert in seinen Gesichtszügen auf.

Sie zuckt zusammen und stellt das Glas auf dem Tisch ab. »Ich weiß, dass es schwer ist, aber …«

»Schwer?« Er starrt sie ungläubig an. »Sieh mich an.« Die Frustration über seine Situation treibt ihm die Tränen in die Augen. »Ich kann nicht alleine pissen. Rasieren. Kann mich nicht hinsetzen. Eben war ich noch Anwalt mit …« Sein Gesicht ist jetzt fast grau vor Erschöpfung, aber er zwingt sich weiterzusprechen. »Mit einem Sportwagen, und jetzt schicken sie mir Obstkörbe.« Er greift hinüber und versucht, das verhasste Objekt vom Tisch zu stoßen. »Dabei mag ich das Grünzeug nicht mal.« Der Korb bewegt sich nicht von der Stelle, aber einige Karten segeln lautlos hinunter und bilden ein buntes Mosaik falscher Hoffnung auf dem Boden.

Hannah steht wie erstarrt da und wünscht sich nichts sehnlicher, als ihm irgendwie den Schmerz nehmen zu können, den sie in seinem Gesicht zwischen den wütenden Zügen liest.

»Scheiße.« Tränen fließen seine Wangen hinunter. »Warum ist das nur passiert?« Hannah holt ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und wischt ihm schweigend das Gesicht ab. »Und warum heule ich?« Er schließt die Augen, als könne er damit die Tränen zurückhalten. »Ich weine nie.«

Als Hannah den Mund öffnet, kommt ihr die eigene Stimme seltsam angespannt vor. »Ich weiß es nicht.«

»Natürlich weißt du es nicht.«

Die Wut in seinen Augen ist nichts Neues für Hannah. Bereits seit Monaten lebt sie damit. Vor dem Schlaganfall hat er behauptet, dass sie der Grund dafür sei. Weil sie so egoistisch sei und so viel Aufmerksamkeit fordere. So viele Fehler mache. Sie kann nichts für seinen Schlaganfall – und trotzdem fühlt sie sich schuldig.

Tom versucht weiterzureden, obwohl seine Stimme immer gepresster klingt. »Keine Ahnung, warum ich so was sage. Du kannst schließlich auch nichts daran ändern.«

»Ich weiß, Tom. Aber wir können uns zumindest gemeinsam darauf konzentrieren, alles zu tun, damit es dir bald besser geht.«

»Besser?« Er spuckt das Wort förmlich aus. »Es wird nicht besser werden.« Sein Blick ist kalt, als er sie ansieht. »Finde dich damit ab. Ich bin ein Krüppel.«

»Nein, Tom.« Hannah sucht verzweifelt nach den richtigen Worten. »Das bist du nicht.«

Er hebt seine linke Hand mit der rechten an und lässt sie aufs Bett zurückfallen. »Doch, das bin ich.«

»Die Ärzte sagen …«

»Die Ärzte …« Er tut ihre Worte mit einem Kopfschütteln ab.

»Komm schon, Tom.«

»Nein.« Er deutet auf seine reglose linke Seite. »Das ist die Realität. Du Glückspilz.«

»Tom, ich …«

»Hey, Kumpel«, unterbricht sie eine tiefe Männerstimme, »was soll dieser schreckliche Trainingsanzug? Du weißt doch, dass Grau nicht deine Farbe ist!«

»Nick.« Hannah war noch nie glücklicher, ihn zu sehen.

»Hey.« Tom wischt sich hastig die Tränen weg, als sein bester Freund auf das Bett zutritt.