Zimtfieber - Madita Tietgen - E-Book
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Madita Tietgen

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Beschreibung

Im alten Café ihrer Granny riecht es nicht nur nach den köstlichsten Leckereien – es liegt auch Liebe in der Luft. Und Mara kann diesem Duft unmöglich widerstehen …  Mara McMillan ist ein Taugenichts – zumindest in den Augen ihrer Familie. Als Maras Großmutter und damit einzige Fürsprecherin stirbt, erbt die junge Irin das Café ihrer Granny. Dieses liegt zwar perfekt in der Dubliner Innenstadt, ist jedoch auch hoch verschuldet. Doch Mara entschließt sich gegen den Verkauf der Immobilie und für die Wiedereröffnung des Cafés, denn für sie ist es die Chance sich endlich zu beweisen! Tatsächlich blüht Mara zwischen Kaffee und Zimtschnecken auf. Allerdings scheint nicht jeder glücklich darüber zu sein, denn fortan werden hinterhältige Anschläge auf das Café verübt. Gut, dass Mara mit der Unterstützung von Cliff Maguire, dem attraktiven Pub-Besitzer von gegenüber, rechnen kann. Doch auch Cliff verfolgt seine eigenen Ziele und schlägt Mara schließlich einen unmoralischen Deal vor.  Nun hat Mara ein ganz anderes Problem: Wie soll sie sich auf die Rettung ihres Cafés konzentrieren, während Cliff ihr immer näher kommt? Die herzergreifende und humorvolle Liebesroman-Reihe »Irland – Von Cider bis Liebe« geht in die zweite Runde! Alle Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Zimtfieber

Madita Tietgen

Für Stefan.

Weil er immer an mich geglaubt hat – und mich einfach jederzeit zum Lachen bringt.

1

Mara stand wie versteinert da. Sie wusste, dass sie etwas sagen musste, doch sie konnte nicht. Die Worte kamen einfach nicht aus ihr heraus. Die Stille um sie herum wurde unerträglich. Hilfesuchend blickte sie sich um. Ihre Eltern sahen sie erwartungsvoll an. Einige ältere Damen schnieften leise in ihre Taschentücher. Ihr Bruder Matt saß neben ihren Eltern und legte den Arm um seine Frau und seinen fünfjährigen Sohn.

Mara schluckte. Ihr würde niemand zu Hilfe eilen. Die Person, die es getan hätte, war für immer aus ihrem Leben getreten. Ihre Großmutter Mary war vor zwei Tagen überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Obwohl sie mit sechsundachtzig Jahren ein stolzes Alter erreicht hatte, kam ihr Tod für Mara viel zu früh. Sie brauchte ihre Granny. Sie war die Einzige, die immer hinter Mara gestanden hatte. Tränen stiegen in Mara auf. Wie sollte sie die Zukunft nur ohne Granny Mary überstehen?

Das Räuspern ihres Vaters holte Mara zurück in die Gegenwart. Die wenigen Anwesenden auf Grannys Beerdigung warteten auf die Grabrede, die Mara halten sollte. Doch noch immer bekam sie keinen Satz zustande. Sie bewegte die Lippen, aber nichts ertönte. Sie blickte in das offene Grab ihrer Großmutter. Mara hatte das Zeitgefühl verloren. Wie lange war sie schon hier und versuchte ihre Rede zu halten? Sie wusste es nicht. Sie sah auf die roten Dahlien in ihrer Hand und warf sie schließlich auf den Sarg. Mit einem dumpfen Plumps kamen sie auf der matten Oberfläche auf. Mara liefen Tränen über die Wangen. Sie hielt sie nicht zurück. Sie konnte nicht. Sie fühlte sich alleingelassen und orientierungslos.

Es war ihre Mutter, die Mara schließlich am Arm nahm und sie vom Grab ihrer geliebten Granny fortführte. Mara war betäubt. Die Fahrt zum Café, das ihrer Großmutter bis zu ihrem Tod gehört hatte, erlebte sie wie im Nebel. Sie musste sich zusammenreißen. Sonst würde sie die kleine Trauerfeier nie überstehen.

»Schätzchen, ist alles in Ordnung?« Ihre Mum öffnete die hintere Wagentür, als sie angekommen waren.

Mara stieg aus. »Ja, es geht schon.«

»Ich weiß, dass dir Grannys Tod zusetzt. Aber denk daran, es war unvermeidlich. Wir wussten, dass es irgendwann passieren würde. Sie war einfach zu alt, um allein ein Café zu führen.«

Mara atmete scharf ein. Das war typisch für ihre Mutter. Sie ignorierte die tatsächliche Faktenlage. »Erstens war Granny fit wie ein Turnschuh, und zweitens war sie nicht allein.«

Mitfühlend sah Ellen McMillan ihre Tochter an. »Wir wollen uns heute nicht streiten, Liebes.« Sie ging um den Wagen herum und hakte sich bei ihrem Mann ein. »Komm, die Gäste warten sicherlich schon auf uns.«

Mit energischen Schritten eilten Maras Eltern voran ins Café. Maras Erschöpfung nahm zu, und am liebsten hätte sie die Feier geschwänzt. Ihre Großmutter hätte ohnehin nur wenig auf diese Geste gegeben. Granny hielt nicht viel von Trauerfeiern. Viele ihrer Freunde waren bereits gestorben, doch anstatt auf den Leichenschmaus nach der Beerdigung zu gehen, hatte sie sich an ihren Lieblingsplatz im Café gesetzt und Mara all die schönen Geschichten erzählt, die sie mit den Verstorbenen verband. Granny hatte Abschied genommen, indem sie die Erinnerung an ihre Liebsten wachgehalten hatte. Mara verspürte den Drang, es ihr gleichzutun.

Verloren blickte sie sich um. Das Café befand sich in der Nähe von Temple Bar, dem Dubliner Viertel, in dem sich ein Pub neben dem anderen reihte und die Touristen aus aller Welt magisch anzog. Maras Augen folgten einer schmalen Gasse direkt neben dem Café ihrer Großmutter bis zum Ufer des Liffey, des Flusses, der sich hinter Temple Bar quer durch Dublin schlängelte. Wie oft waren sie gemeinsam durch die Gasse zum Liffey spaziert und hatten sich dort auf eine Bank gesetzt und sich unterhalten? Manchmal hatten sie auch einfach nur dagesessen und die Möwen beobachtet. Tränen stiegen in Mara auf. Schnell wandte sie den Blick ab und schielte durch die Fenster des Cafés.

Der Laden hatte sich bereits mit Menschen gefüllt, die der Familie McMillan ihr Beileid aussprechen wollten. Sie müsste jetzt ins Café gehen, Hände schütteln und betroffen nicken, doch als sie sich in Bewegung setzte, gehorchte Maras Körper ihr nicht. Statt in das kleine Café zu gehen, lief sie auf die gegenüberliegende Straßenseite. Seufzend betrachtete sie die unterschiedlich hohen Backsteingebäude. Rechts neben dem Café ihrer Großmutter lud eine violette Fassade mit goldenen Buchstaben und zahlreichen aufgereihten Pflanzen in Annie’s Blumenladen ein. Daneben folgten ein kleiner Andenken-Shop mit hellgrüner Holzfassade um die Schaufenster sowie ein Schuhladen, dessen Front aus einer grauen Steinmauer und grünen Kletterpflanzen bestand. Über dem Eingang hing ein rostiges Metallschild in Form eines Herrenschuhs.

Mara sog den Anblick in sich auf. Sie kannte – ebenso wie Granny Mary – jeden der Ladenbesitzerinnen und Boutiqueninhaber. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die Maras Großmutter regelmäßig auf eine Plauschrunde ins Café eingeladen hatte. Schon als Kind war Mara oft bei ihnen am Tisch gesessen und hatte aufgeregt zugehört, was sich in Dublins kleiner Boutiquenwelt gerade tat.

Mara wandte das Gesicht von den bunten Fassaden und dem Café ihrer Granny ab und sah hinter sich. Die schwere schwarze Holzverkleidung war frisch gestrichen, und die Fensterbänke zierten kürzlich gepflanzte rote und weiße Geranien. In großen geschwungenen Buchstaben war über dem Eingang ›Cassidy’s‹ zu lesen.

Den Pub, direkt gegenüber von Mary’s Café, gab es schon, solange sie denken konnte. Und obwohl sie so viel Zeit in Grannys Laden verbracht hatte – gefühlt ihr halbes Leben –, war sie noch nie im Cassidy’s gewesen. Mara schaute auf ihre Armbanduhr. Es war bereits nach fünf, er müsste also offen haben. Ohne nachzudenken, erklomm sie die beiden Stufen und öffnete die schwere Tür.

Der Geruch von schalem Bier und altem Leder wehte ihr entgegen. Der Pub war höchstens halbvoll. Die meisten Gäste kamen vermutlich erst nach Feierabend, also in ein bis zwei Stunden. Suchend sah sie sich um. Die Wände waren mit rustikalem Backstein verkleidet. Obwohl die Decke recht niedrig zu sein schien, wirkte das Lokal nicht beengt. Im Gegenteil. Großzügig verteilte Tische, mal mit Stühlen, mal mit Bänken versehen, und moderne Sessel sorgten für eine gemütliche und zugleich erfrischende Atmosphäre. Von der Decke hingen dicke Glühbirnen im Industriedesign. In der Mitte des Raumes versprach eine kleine erhöhte Bühne, dass es hier regelmäßig Livemusik geben musste. An den Wänden hingen alte Schwarzweißfotos von Dublin und der Guinness-Brauerei, die sich nur ein paar Straßen weiter befand. Wie in jedem guten Pub befanden sich auch hier zahlreiche alte Werbeschilder aus Metall zwischen den Bildern. Leere Whiskey-Flaschen hatte man mit Kerzen versehen und auf kleinen Wandvorsprüngen platziert. Trotz der vielen Details wirkte der Raum nicht überladen, sondern gemütlich und modern zugleich.

Was mache ich hier?, fragte sich Mara gedanklich und fasste sich mit der Hand an die Stirn.

Du nimmst Abschied, so wie es sich gehört. Die Stimme von Maras Großmutter ertönte in ihrem Kopf.

Mara seufzte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Der Barkeeper winkte ihr zu.

Mit einem Ruck hob sie den Kopf und betrachtete die Bar, die auf der linken Seite des Pubs untergebracht war.

»Bitte?« Mara hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink vertragen«, stellte der Mann hinter dem Tresen fest.

Mara schloss für einen Moment die Augen. Ihre Eltern würden ausflippen, wenn sie nicht auf der Feier im Café auftauchte. Und wenn schon? Die Stimme ihrer Großmutter schlich sich wieder in ihr Ohr. Mara öffnete die Augen und sah den Barkeeper an. Wen interessiert schon ein Totenschmaus? Die Toten bestimmt nicht. Mara hörte das kehlige Lachen ihrer Granny im Kopf und musste beinahe schmunzeln.

»Geben Sie mir etwas Starkes.« Mit diesen Worten setzte sich Mara schließlich an die Bar. Sie legte ihren Mantel über den Hocker neben sich und atmete tief durch. Sie bemühte sich, ihr Gewissen zu ignorieren. Sie konnte es ihren Eltern sowieso nie recht machen. Was machte es da schon, wenn sie der Feier fernblieb? Am Ende würde sie sowieso kein Wort vor Kummer herausbringen – so wie eben erst am Grab ihrer Großmutter.

Der Barkeeper stellte ihr ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit hin.

»Schlimmen Tag gehabt?«

Mara nahm einen Schluck und hustete. »›Schlimm‹ ist noch untertrieben.«

»Dann geht der aufs Haus.«

Mara schüttelte den Kopf. »Nein, ich bezahle. Danke trotzdem.«

Der Barkeeper nickte und ging zu einem anderen Gast, um eine Bestellung entgegenzunehmen. Die Theke, ebenso schwarz wie die Front des Pubs, wurde von den gedimmten Glühbirnen im Industriedesign in ein gemütliches Licht getaucht. Die Wand hinter der Bar schmückten zahlreiche Regale mit allerlei Flaschen, besonders die beachtliche Whiskey-Auswahl fiel Mara auf. Um den Raum größer erscheinen zu lassen, waren zwischen den dunklen Brettern Spiegelelemente angebracht. Sie verfehlten ihre Wirkung nicht, wie Mara feststellen musste.

Er ist scharf, oder? Grannys Kichern riss Mara aus ihren Gedanken. Der Barkeeper natürlich, nicht der Pub …

Mara musste lächeln. Granny mochte sechsundachtzig gewesen sein, doch innerlich war sie immer eine junge Frau geblieben, die das Leben genoss. Sie hatte nur getan, was sie für richtig hielt, und sich nie etwas vorschreiben lassen. Eine Eigenschaft, um die Mara sie stets beneidet hatte. Viel zu oft redeten Maras Eltern ihr in ihr Leben rein und hinderten sie daran, das zu tun, wovon sie träumte. Dauernd hielten sie ihr vor, dass sie nicht so wie ihr älterer Bruder Matt war. Er war der perfekte Sohn. Er hatte Jura studiert, war jüngster Partner in der Kanzlei, für die er arbeitete, hatte eine nette Frau gefunden, geheiratet und ein Jahr später einen perfekten Sohn bekommen. Die Finanzen stimmten, das Haus war abbezahlt und die Aktien angelegt – Matt machte einfach immer alles richtig.

Mara hingegen war von Geburt an zum Scheitern verurteilt. Schon in der Schule hatte sie sich schwergetan, Begeisterung fürs Lernen zu entwickeln. Und der Druck, den ihre Eltern auf sie ausübten, hatte nicht gerade dazu beigetragen, dass sie nach der zwölften Klasse ein vorzeigbares Abschlusszeugnis hervorgebracht hatte. Nach der Schule hatte Mara ein Jahr durch Europa reisen und etwas von der Welt sehen wollen, doch ihre Eltern hatten sie an der Uni für Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben. Sie hatte keine Wahl gehabt, sie musste die Kurse besuchen. Doch der trockene Stoff begeisterte Mara kein bisschen. Dementsprechend war sie durch die meisten Prüfungen des ersten Semesters gefallen.

Mit Grannys Hilfe hatte sie ihre Eltern schließlich überzeugt, dass ihr Herz für die Kunst des Backens schlug. Das gefiel ihnen zwar überhaupt nicht, doch sie mussten einsehen, dass die viele Zeit, die Mara bei Granny verbracht hatte, ihre Spuren hinterlassen hatte. Mit zwanzig Jahren hatte Mara die Konditorenausbildung endlich begonnen. Sie hatte jeden Tag davon geliebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl gehabt, etwas Sinnvolles zu lernen. Gemeinsam mit Granny hatte sie ihre Fertigkeiten, die sie in der Ausbildung gelernt hatte, weiter verfeinert. Nach zwei Jahren hatte schließlich die Abschlussprüfung vor der Tür gestanden.

Mara hatte sich mit allen Sinnen darauf vorbereitet. Doch ein Streit mit ihren Eltern, wie ihre Zukunft anschließend aussehen sollte, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie war unsicher geworden und hatte es vermasselt. Ihre Eltern fanden darin lediglich die Bestätigung, dass Mara ein Taugenichts war. Damals hatte sich Mara einen ganzen Abend lang bei Granny ausgeheult. Die hatte ihr Mut zugesprochen und sie in den Arm genommen. Mara vermisste die liebevollen Umarmungen ihrer Großmutter. In ihnen hatte sie sich immer am sichersten gefühlt. Unantastbar und geborgen.

Mara nahm einen großen Schluck vom Whiskey. Dieser ging ihr nun schon leichter die Kehle hinunter, und sie musste nicht mehr husten.

Ihre Gedanken kreisten weiter. Nachdem sie die Abschlussprüfung vergeigt hatte, hatten ihre Eltern ihr ein Ultimatum gestellt. Entweder sie würde sich wieder an der Uni einschreiben und etwas Zukunftsorientiertes studieren oder sie würden sie nicht länger finanziell unterstützen. Das beinhaltete übrigens auch, dass Mara von zuhause ausziehen musste, sollte sie sich gegen den Wunsch ihrer Eltern entscheiden.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie rebelliert. Mara hatte sich geweigert. Sie wollte nichts studieren, wofür sie sich nicht begeistern konnte. Am gleichen Abend hatte sie mit ihrem Koffer vor Grannys Tür gestanden. Ein knappes Jahr hatte sie bei ihrer Großmutter gelebt. Mit ihren Eltern hatte sie in der Zeit nur spärlichen Kontakt gehabt. Schließlich hatte Mara eine Anstellung in einer Bäckerei gefunden. Zwar nicht für das beste Gehalt, doch es hatte gereicht, um sich eine kleine Wohnung zu mieten und alleine über die Runden zu kommen. Sie drehte jeden Penny dreimal um, doch sie liebte ihre Unabhängigkeit. Sie hatte sie sich hart erkämpft und ohne die Unterstützung ihrer Granny vermutlich nie erreicht.

Mara wischte sich eine Träne von der Wange.

»Das ging ja schneller, als ich dachte.«

Sie sah auf. Der Barkeeper stand wieder vor ihr hinterm Tresen. Er deutete auf ihr leeres Glas.

»Bekomme ich noch so einen?«, fragte Mara.

»Nur, wenn Sie mir verraten, was Sie bedrückt«, sagte der Barkeeper.

Herrlich! Schnapp ihn dir, meine Kleine! Mara bildete sich ein, das Lachen ihrer Großmutter zu hören. Sie lächelte. Dann musterte sie den Barkeeper zum ersten Mal. Er war nicht viel älter als sie und trug eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd, das seinen muskulösen Oberkörper perfekt betonte. Seine feinen Gesichtszüge erinnerten Mara an die männlichen Models, die für teure Uhren warben. Sie hätte ihn sich mühelos auf einer der Plakatwände draußen vorstellen können. Sein dunkles Haar kringelte sich ein wenig, doch das verlieh ihm erst recht eine verführerische Note. Trotzdem wirkte er nicht wie ein junger Aufschneider. Irgendetwas an ihm sorgte für einen rauen Ausdruck, den Ton eines erwachsenen Mannes. Mara beobachtete, wie er mit seinen starken Händen die Flaschen im Regal neu sortierte, während sie überlegte.

»Also gut. Schenken Sie nach, dann erzähl ich es Ihnen.« Mara ließ ihren Blick auf dem Barkeeper ruhen.

»Ich bin immer für gute Geschichten zu haben«, freute er sich. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen. »Ich bin übrigens Cliff. Cliff Maguire.«

Mara erwiderte die Geste. »Mara McMillan.«

Cliff nahm eine Flasche Whiskey aus dem Regal und füllte ihr nach. »Ungewöhnlicher Name.«

Mara zuckte die Schultern. »In der Familie meines Dads heißt das erstgeborene Mädchen immer Mary, schon seit Generationen. Meine Mum lehnte sich gegen ihre Schwiegermutter auf und tauschte den letzten Buchstaben gegen ein A. Daher Mara.«

Cliff lächelte sie an. »Mir gefällt’s.«

Er hatte sich selbst ebenfalls einen Whiskey eingeschenkt und hob nun das Glas. »Auf den Buchstaben A.«

Mara musste lächeln und stieß mit ihm an. »Slainté!«

»Also, was kann einer so hübschen Frau wie dir den Tag verderben?«

Mara wusste, dass das nur allgemeines Geplänkel war und Cliff das vermutlich jeder Frau sagte, die bei ihm am Tresen saß. Trotzdem tat es ihrer geschundenen Seele in diesem Moment furchtbar gut.

»Meine Granny, ihr gehörte das Café gegenüber …«

Cliff hob die Augenbrauen. »Etwa Granny Mary? Das ist deine Großmutter? Eine fantastische Frau!«

Überrascht blickte Mara auf. »Du kanntest sie?«

Cliff nickte. »Ja, sie ist abends manchmal hier, nachdem sie den Laden drüben abgeschlossen hat. Mit ihr kann man wirklich gute Gespräche führen.«

»Konnte …«, murmelte Mara unwillkürlich.

Fragend zog Cliff die Augenbrauen in die Höhe.

»Sie ist …« Mara machte eine Pause. »Sie ist vor einigen Tagen an einem Herzinfarkt gestorben.« Es laut auszusprechen tat ihr im Herzen weh. Am liebsten hätte sie sich gleich wieder ein Taschentuch gegriffen, doch sie versuchte tapfer zu sein und hielt die aufsteigenden Tränen zurück.

Cliff legte seine warme Hand auf ihre und drückte sie liebevoll.

»Das tut mir leid, furchtbar leid«, flüsterte er.

»Ich weiß immer noch nicht, wie ich darauf reagieren soll«, sagte Mara leise und blickte in Cliffs irritiertes Gesicht. »Auf die ganzen Beleidsbekundungen. Was sagt man denn da? ›Danke schön‹? ›Mir auch‹? Oder nickt man einfach nur?« Jetzt war Mara es, die Cliff fragend musterte.

Er schien ernsthaft zu überlegen. Nach einer kurzen Pause meinte er: »Ich glaube, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Vielleicht musst du ja auch gar nichts darauf antworten. Jedem sollte doch klar sein, dass es schwer für dich ist, einen geliebten Menschen zu verlieren.«

Mara schwieg und dachte darüber nach. Dann nickte sie. »Ja, vielleicht hast du recht.«

Mit dem nächsten Mundvoll Whiskey schluckte sie auch ihre Tränen hinunter und erinnerte sich wieder daran, wie Granny um Verstorbene getrauert hatte.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dir ein bisschen was von ihr erzähle?« Mit dem Kopf nickte sie in Richtung Café. »Eigentlich sollte ich dort drüben auf der Trauerfeier sein. Aber ich kann das nicht. Ich habe das Gefühl, die ganzen Leute dort kannten sie überhaupt nicht.«

Cliff nickte verständnisvoll. »Das kann ich mir vorstellen. Leg los, wann immer du willst.«

Wo sollte sie anfangen? Sie wollte etwas Wichtiges erzählen. Etwas, das Granny auszeichnete und zeigte, was für ein wundervoller Mensch sie gewesen war. Vor Maras innerem Auge tauchten die unzähligen Nachmittage auf, die sie nach der Schule bei ihrer Großmutter verbracht hatte. Und plötzlich wusste Mara, worüber sie sprechen wollte. Sie nahm ihr Glas in die Hände und ließ es hin und her kreisen, während sie anfing zu erzählen.

»Als ich in der Primary School in Mathe mal eine unfassbar schlechte Note bekam, lief ich zu Granny ins Café.« Mara beobachtete die schwankende goldene Flüssigkeit und lachte nervös auf. »Ich hatte furchtbare Angst, was meine Eltern wohl zu der Arbeit sagen würden. Ich überlegte, ob ich nicht einfach ausreißen sollte – ich war dreizehn. In dem Alter hat vermutlich jeder Teenager mal daran gedacht. Aber Granny hat nur gelächelt und mir eine heiße Schokolade und eine duftende Zimtschnecke hingestellt.« Mara lächelte bei dem Gedanken an das herrliche Gebäck ihrer Granny. »Granny hat mich dann gefragt, wie ich es anstellen würde, und gemeinsam haben wir den perfekten Ausreißerplan geschmiedet.«

Neugierig musterte Cliff sie. »Und? Bist du ausgerissen?«

Mara schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Granny hat mir am Ende die alles entscheidende Frage gestellt: ›Was würdest du am meisten vermissen, wenn du ausreißt?‹«

»Was hast du geantwortet?«

»›Dich – und die Zimtschnecken.‹ Damit war klar, dass ich nie hätte weggehen können. Granny hätte mir viel zu sehr gefehlt. Also ging ich abends wieder nach Hause, anstatt auszureißen.«

Cliff schmunzelte. »Das müssen wirklich gute Zimtschnecken gewesen sein.«

»Oh, du hast ja keine Ahnung …« Mara nickte lächelnd.

»Wie haben deine Eltern auf die schlechte Note reagiert?«, fragte Cliff.

Mara versteifte sich. »Nicht besonders gut. Aber es war nicht das erste Mal, also …«

Sie ließ den Satz unvollendet und schwieg eine Weile.

Cliff beobachtete sie. »Erzähl mir mehr von Granny Mary.«

Und das tat sie. Auch als sich der Pub langsam füllte, blieb Mara und packte ihre liebsten Erinnerungen an Mary aus. Cliff hatte sich in der Zwischenzeit zu ihr an den Tresen gesetzt. Ein Kollege schien ihn abgelöst zu haben.

Während Mara eine Geschichte nach der anderen erzählte, leerten sie gemeinsam einen Großteil der Whiskey-Flasche. Mara genoss das wärmende Gefühl, das die goldene Flüssigkeit in ihr verbreitete. Sie wurde zunehmend lockerer, und ihre Stimmung hob sich. Sie wusste, dass es am Alkohol lag. Normalerweise trank sie nur selten, doch heute machte sie eine Ausnahme. Es war der bisher grauenhafteste Tag ihres Lebens. Das dürfte als Grund ausreichen, sagte sie sich.

Cliff hörte ihr begeistert zu und schien sich ernsthaft für das zu interessieren, was sie über ihre Granny zu sagen hatte. Zwischendurch dachte Mara, dass er vermutlich aufgrund seiner Tätigkeit als Barkeeper dieses Zuhör-Gen hatte. Sie wusste, dass er sie nur aufheitern wollte. Und es gelang ihm. Mara lachte über die ein oder andere eigene Story, und Cliff steuerte unerwartet ein paar Anekdoten bei.

»Wusstest du, dass Mary mich mal überzeugen wollte, dass wir den Laden tauschen?«

»Wie bitte?« Mara guckte ihn überrascht an.

Cliff grinste. »Ja. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass ihr Café mehr einbringen würde als der Pub – weil es tagsüber doch immer so leer bei uns war. Sie hatte ein paar wirklich gute Argumente auf Lager. Allerdings hatte sie an diesem Abend auch einen Bourbon zu viel.« Er nahm einen Schluck Whiskey. »Aber trotzdem … Hätten wir nicht aufgepasst, hätte sie uns den Laden abgeschwatzt.«

Mara lachte und stellte sich vor, wie Granny am Tresen saß und Cliff den Laden abspenstig machen wollte. Ein herrliches Bild.

Ich hätte es beinahe geschafft. Glaub mir! Mara hielt inne, wieder hörte sie Grannys Stimme in ihrem Kopf. Mara sah auf ihre Armbanduhr. Es war bereits nach zehn. Verwundert schaute sie auf. Hatte sie wirklich fast fünf Stunden in diesem Pub verbracht? Dann fiel ihr Blick auf Cliff, der sie anlächelte.

»Cliff, ich muss mich entschuldigen. Du hast längst Feierabend, und ich quatsche dich hier den ganzen Abend mit rührseligen Geschichten über meine Großmutter zu. Ich –«

Er unterbrach sie. »Mara, ich bitte dich. Ich kannte sie lange nicht so gut wie du, aber ich mochte Mary. Es ist schön, diese ganzen Dinge über sie zu erfahren. Ich wäre nicht geblieben, wenn ich es nicht gewollt hätte.«

Mara nickte Cliff dankbar zu. »Danke.« Noch einmal beobachtete sie die tickenden Zeiger auf ihrer Uhr. »Ich denke, ich sollte jetzt trotzdem gehen. Es ist schon spät, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich morgen meine Mutter auf mich stürzt, um mich zu fragen, wo zur Hölle ich den ganzen Abend gewesen bin …«

Bei dem Gedanken an den nächsten Morgen überfiel sie unerwartete Panik. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Morgen. Morgen würde Granny noch immer weg sein. Sie würde nicht wiederkommen. Zu wem sollte Mara in Zukunft nur gehen, wenn ihr die Welt wieder einen Strich durch ihre Pläne machte? Wer würde sie aufbauen, wenn ihre Eltern sie mal wieder runterputzen würden?

Cliff spürte, dass in Mara etwas vorging. Besorgt legte er seine Hand auf ihren Arm. »Ist alles okay?«

Mara versuchte sich zu beruhigen und atmete tief durch. »Ja … Nein … Also irgendwie nicht so richtig. Aber das ist nicht dein Problem, ich habe wirklich schon genug deiner Zeit beansprucht.«

Cliff erhob sich von seinem Hocker. »Warte einen Moment. Nicht weglaufen.«

Verwirrt blieb Mara zurück. Nach nur wenigen Minuten kehrte Cliff mit einer Jacke und einer Laptoptasche zurück. »Wollen wir?«

»Wir?« Immer noch irritiert sah Mara ihn an.

Cliff nickte. »Ich werde dich so bestimmt nicht alleine nach Hause gehen lassen. Ich bring dich heim.«

Mara wollte protestieren. Sie brauchte keinen Aufpasser, und wenn sie es sich recht überlegte, kannte sie ihn ja gar nicht.

Was soll schon passieren? Er ist ein Gentleman, Mara. Sollte sie auf die Stimme ihrer Granny hören? Sie überlegte einen Moment. Schließlich gewann ihre Großmutter die Oberhand, und Mara rutschte von ihrem Barhocker. An Cliff gerichtet, sagte sie: »Aber nur, wenn es die gleiche Richtung ist. Du musst wegen mir wirkliche keinen Umweg machen.«

»In welche Richtung musst du?«

»Süden, Richtung St. Stephen’s Green.«

Cliff grinste. »Perfekt.«

Sie verließen das Cassidy’s und durchquerten Temple Bar, das touristische Pubviertel von Dublin. Obwohl es schon spät war, war auf den steingepflasterten Straßen noch einiges los. Dutzende bunte Fassaden säumten die engen Gassen, und ein Pub reihte sich neben den nächsten. Durch die Fenster konnte man die letzten Gäste ihr Pint austrinken sehen, und die Bands spielten die üblichen Rausschmeißer. Bald war Sperrstunde.

Mara liebte das Viertel. Egal in welchen Laden man einen Fuß setzte, man fühlte sich sofort wie im heimischen Wohnzimmer. Selbst, wenn er mit Touristen überflutet war. Denn dafür war Dublin schließlich bekannt und beliebt, seine Pubkultur. Irische Flaggen und Wimpel hingen quer über der Straße, an den Fenstern hingen Blumenkästen, aus denen farbenfrohe Geranien und Petunien herausquollen. Wortlos sog Mara die magische Atmosphäre von Temple Bar in sich auf.

Dann nahmen sie den Weg Richtung Süden, vorbei am berühmten Trinity College. Mara erinnerte das Universitätsgelände stets an die alten Burgen, von denen es so viele in Irland gab. Die dicken steinernen Mauern, der große Innenhof, auf dem sich die Kampanile, der dreißig Meter hohe Glockenturm befand. Mara erinnerte sich schmunzelnd an den Aberglauben, der heute noch unter Studenten kursierte. Durchquerte man während des Glockenläutens den Turm, würde man mit Sicherheit durchs Examen fallen. Es mochte ein Aberglaube sein, doch bei jedem Glockenschlag suchten die Studenten das Weite.

Das Trinity College gehörte zu den führenden und vor allem ältesten Universitäten Europas. Mara hatte das damals nicht viel genützt. Deprimiert dachte sie an das vermasselte Studium, zu dem ihre Eltern sie gezwungen hatten. Sie seufzte unbewusst.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cliff.

»Ach, ich erinnere mich gerade an die Zeit hier am College. Nicht gerade eine meiner Glanzleistungen.« Mara lachte. »Oh Gott, du musst mich für eine Versagerin halten. Schlechte Schulnoten, kein abgeschlossenes Studium …«

Cliff grinste. »Wer sagt, dass es darauf ankommt? Ich zum Beispiel habe hier vermutlich meine beste Zeit gehabt. Und das, obwohl ich auch nicht immer die besten Noten vorzuweisen hatte. Ich habe sogar einige Semester mehr drangehängt als nötig. So einige …«

»Wie kam’s dazu?«

Cliff zögerte. »Sagen wir es so, ich blieb nicht wegen der spannenden Vorlesungen.«

»Sondern?«, erkundigte Mara sich neugierig.

Unschuldig hob Cliff die Hände. »Was soll ich sagen? Du wirst mich für einen schlechten Menschen halten, wenn ich es dir verrate.«

Mara grinste. »So schlimm?«

»Vermutlich …« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Okay, ich verrate es dir. Aber du darfst mich nicht verurteilen. Ich war jung …«, entgegnete Cliff stirnrunzelnd.

Mara nickte lachend. »Also gut. Was hast du getan? Kleine Erstsemestler verprügelt?«

»Nein! Ich habe nur, na ja … Es gab hier wirklich attraktive Austauschstudentinnen …«

Mara blieb stehen und sah Cliff in gespielter Empörung an. »Warst du etwa einer dieser Typen, die alles flachgelegt haben, was ihnen unter die Nase kam?«

»So wie du das sagst, klingt das nicht gerade schmeichelhaft.«

Mara musterte ihn. »Wie viele?«

»Was?«

Sie schmunzelte. »Wie viele Austauschstudentinnen sind auf dich reingefallen?«

Cliff versuchte entrüstet zu klingen. »Reingefallen? Ich habe nicht –«

»Los, komm schon. Ich habe dir heute Abend so viel über mich und meine Granny erzählt, da kannst du mir das doch verraten«, unterbrach Mara ihn.

Cliff überlegte und schüttelte schließlich den Kopf. »Weißt du, wir sollten dieses Kapitel wirklich geschlossen halten.«

Mara grinste. »Granny hätte dich da nicht so einfach davonkommen lassen. Hast du ein Glück, dass ich heute Abend vor dir stehe und angetrunken bin.«

Cliff seufzte und murmelte: »Oh, sie hat nicht lockergelassen.«

»Was?! Granny wusste es?!«

»Wie gesagt, wir haben immer mal wieder interessante Gespräche geführt …«

»Wow, das muss ich jetzt verdauen.« Mara legte die Hand an ihre Stirn.

»Vielleicht hat sie es dir ja in einem Brief aufgeschrieben, den sie dir hinterlassen hat.« Cliff legte lachend einen Arm um Maras Schultern, und sie setzten ihren Weg fort.

Vom Trinity College nahmen sie die Grafton Street, Dublins größte Einkaufsstraße und Fußgängerpassage. Tagsüber wimmelte es hier von Menschen, die von zahlreichen Straßenkünstlern auf ihrer Shoppingtour unterhalten wurden. Musiker, Pantomime, Akrobaten – auf der Grafton Street gab es nichts, das es nicht gab. Manchmal setzte sich Mara auf eine der Bänke und beobachtete stundenlang die hin und her eilenden Menschen und hörte den Straßenmusikern zu. Es gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein und in der Menge untertauchen zu können.

In Maras Bauch verbreitete sich ein eigenartiges Gefühl. Sie hätte sich Cliffs Umarmung entziehen sollen, doch irgendetwas hielt sie dort. Sie wusste über den Mann an ihrer Seite im Grunde immer noch nichts, und doch hatte sie das Gefühl, sie würden sich schon ewig kennen. Es hatte gutgetan, jemandem von Granny zu erzählen. Und es war definitiv die bessere Wahl gewesen im Vergleich zur Trauerfeier im Café mit ihrer Familie.

Mara verdrängte den Gedanken an den nächsten Tag. Obwohl sie Granny schrecklich vermisste, fühlte sie sich in diesem Moment eigenartig wohl. Ob es an Cliff lag? Nein, sicher nicht. Er hatte ihr gerade eröffnet, zu Studienzeiten ein Aufreißer gewesen sein. Sie würde sich nicht lächerlich machen und in diesen Abend mehr hineininterpretieren, als tatsächlich geschehen war. Er war ihr lediglich im richtigen Moment ein Freund gewesen. Vermutlich würden sie sich nach diesem Abend gar nicht so schnell wiedersehen. Warum auch? Einen Grund, in Grannys Café zu gehen, hatte Mara nicht mehr. Sie schluckte.

Sie hatten inzwischen die Grafton Street hinter sich gebracht und durchquerten den kleinen Park St. Stephen’s Green. Die rechteckige Parkanlage zog im Frühjahr dutzende Besucher und Einwohner Dublins an. Das frische Grün der Laubbäume und die gemütlichen Bänke luden zum Verweilen ein. In den Sommermonaten fanden hier außerdem regelmäßig Konzerte und Theateraufführungen statt. Ein Treffpunkt für jeden Dubliner. Kein Wunder, dass Mara selbst oft hier war.

Der Park lag schon fast hinter ihnen, und Mara versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Cliff ihr gerade erzählte.

»… und dann hat Granny ihn tatsächlich mit einem Punkt Vorsprung geschlagen. Der ganze Pub ist ausgeflippt!«

Mara versuchte zu lächeln. Sie näherten sich ihrer Haustür, und sie überlegte, wie sie diesen Abend vernünftig beenden sollte.

»Ich danke dir, Cliff. Das hat heute wirklich gutgetan.« Sie blieb kurz vor ihrer Hausnummer stehen.

Cliff musterte sie. Mara konnte nicht sagen, was in ihm vorging, doch sie spürte, wie sich in ihr erneut Wärme, wenn nicht gar eine ungewöhnliche Hitze, ausbreitete.

»Sehr gerne.«

Mara räusperte sich. »Okay, also … Danke fürs Nachhausebringen. Ich … Ich denke, ich komme klar.«

Cliff nickte und steckte die Hände in die Taschen seiner Anzughose. Lächelnd sah er sie an. »War schön, die Enkelin von Granny kennenzulernen.«

Dann lehnte er sich vor und gab Mara einen Kuss auf die Wange. Sie war so überrumpelt von der Geste, dass sie vergaß sich zu verabschieden.

Cliff wandte sich zum Gehen und drehte sich nach ein paar Schritten noch einmal um.

»Granny wird mir fehlen«, sagte er gerade so laut, dass Mara es hören konnte. Dann hob er die Hand und winkte zum Abschied.

Cliff schloss die Haustür hinter sich und genehmigte sich einen letzten Whiskey für diesen Abend. Nachdem er Mara nach Hause gebracht hatte, war er zurück zum Pub gelaufen. Er hatte ein paar Stammgäste begrüßt, war anschließend nach hinten gegangen und hatte die Stufen in den ersten Stock genommen. Als er den Pub vor drei Jahren gekauft hatte, hatte man ihm auch das Stockwerk drüber angeboten. Er hatte die Gelegenheit genutzt und die dortigen beiden kleinen Apartments in ein offenes Loft umgebaut. Der Boden, die Wände sowie Fenster und Türen hatte er verstärken lassen, sodass selbst zu Hochzeiten kein Laut aus dem Lokal in der Wohnung zu hören war.

Cliff nahm das Whiskey-Glas und ging hinüber zum Fenster. Er zog den Vorhang beiseite und blickte hinunter auf das kleine Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Auf dich, Granny!« Er hob das Glas und trank einen großen Schluck.

Er war tags zuvor erst am späten Abend vom Besuch bei seinen Eltern zurück nach Dublin gekommen. Daher hatte er von Mary McMillans Tod noch nicht gehört. Er mochte die alte Lady. Sie hatte zwar einen Sturkopf, aber dafür war sie sich nicht zu schade, sich die Hände schmutzig zu machen. Kurz nachdem Cliff den Pub übernommen hatte, war Granny eines Abends in den Laden spaziert und hatte ihn in ein Gespräch über Temple Bar verwickelt. Als er das nächste Mal auf die Uhr gesehen hatte, waren vier Stunden vergangen, und er hatte sich köstlich amüsiert.

Die langen Gespräche wurden eine Art Tradition zwischen den beiden. Mindestens einmal pro Woche kam sie in den Pub und brachte ein spannendes Thema mit, über das sie gemeinsam fachsimpelten. Cliff seufzte. Er würde die Begegnungen vermissen. Er würde Granny vermissen. Er mochte ihre Art. Sie nahm das Leben nicht so schwer und genoss jeden Tag in vollen Zügen. Und wenn es mal nicht so gut lief, gab sie sich fünf Minuten, in denen sie sich darüber aufregte, anschließend trank sie einen starken Bourbon, und dann war das Thema für sie gegessen.

Cliff wunderte sich, dass sie Mara trotz der engen Bindung zu ihrer Enkelin scheinbar nichts von ihm erzählt hatte – und umgekehrt ebenso wenig. Aber irgendwie passte es zu Granny Mary. Sie war keine Tratschtante und sprach nur über Dinge, die sie in dem Moment für relevant hielt. Warum hätte sie also von ihren wöchentlichen Gesprächen mit ihm erzählen sollen?

Dass ausgerechnet Mara ihn über Marys Tod in Kenntnis setzte, hatte irgendwie etwas Ironisches, dachte Cliff. Der Blick in Maras trauriges Gesicht hatte ihn ebenso getroffen wie die unerwartete Nachricht selbst. Mary hatte ein paarmal erwähnt, dass ihre Enkelin es nicht leicht hatte. Doch in diesem Moment hatte Mara ausgesehen, als würde ihre Welt nur aus Trümmern bestehen. Er hatte sie nicht alleine sitzen lassen können. Und aus irgendeinem Grund hatte es gutgetan, mit ihr über Granny zu sprechen. All die Dinge über die alte Lady zu erfahren, es linderte den Schmerz des Verlusts. Cliff hoffte, dass es Mara ebenso ging.

Gleichzeitig ärgerte er sich innerlich. Warum hatte er am Trinity College dieses Thema über ihn wieder aufgebracht? Er kannte sie ein paar Stunden und erzählte ihr, dass er ein Weiberheld gewesen war? Wie sah das aus? Was würde sie nur über ihn denken? Es konnte ihm egal sein, doch das war es nicht. Vielleicht weil sie Grannys Enkelin war und er wollte, dass sie eine gute Meinung von ihm hatte.

Er war kein schlechter Kerl, er hatte einfach ein Händchen im Umgang mit Frauen. Er wusste immer das Richtige zu sagen, und Herrgott nochmal, wie hätte er als junger Student all den hübschen Mädchen widerstehen sollen? Er redete sich gern ein, dass er keine Wahl gehabt hatte. Doch wenn Cliff ehrlich mit sich selbst war, wusste er, dass es nicht stimmte.

Er mochte es, von gutaussehenden Frauen begehrt zu werden. Obwohl seine Studentenzeit längst vorbei war und er sich zu einem Mann weiterentwickelt hatte – dieses Laster war ihm geblieben. Er hatte es mit Beziehungen versucht, doch keine hielt länger als drei Wochen. Es lag nicht an den Partnerinnen. Sie waren hübsch, gebildet, hatten ein eigenes Leben – doch nach einiger Zeit hatte er begonnen sich zu langweilen. Er hatte das Gefühl, alles über sie zu wissen und schon nach kurzer Zeit in eine Art Routine gerutscht zu sein. Und so hatte er wieder und wieder Schluss gemacht. Nicht jede Freundin hatte das gut aufgenommen. Ganz abgesehen davon, was seine Eltern von seinem ›Lotterleben‹ hielten, wie sie es ausdrückten.

Cliff schüttelte den Kopf. Er wollte sich heute Abend nicht mit diesem Thema befassen. Er setzte sich mit seinem Laptop auf das Sofa, das in der Mitte des Raumes stand, und ging die Getränkebestellungen für die kommende Woche durch.

2

 

 

Am nächsten Morgen wurde Mara von ihrem Handy geweckt. Es klingelte und vibrierte unaufhörlich. Verschlafen guckte Mara auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Sie nahm den eingehenden Anruf entgegen.

»Hallo?«

»Mara, wo warst du gestern Abend? Keiner hat dich gesehen.« Maras Mutter klang äußert unerfreulich.

Mara unterdrückte ein Stöhnen. »Mir ging es nicht so gut, deshalb bin ich schon früher nach Hause.«

Ihre Mutter ließ es für den Moment gut sein, doch Mara ahnte, dass sie sich das irgendwann nochmal würde anhören müssen. »Nun gut. Dann denkst du aber hoffentlich daran, dass wir heute um zehn den Termin beim Anwalt haben. Grannys Testament wird verlesen.«

Entsetzt sah Mara auf ihren Wecker. Sie hatte den Termin total vergessen, und ihr blieb abzüglich Weg nur noch eine Viertelstunde, um sich fertig zu machen. Sie versuchte eine entspannte Stimme anzuschlagen. »Ja, Mum. Ich denke dran. Ich mach mich auch gleich auf den Weg.«

Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, legte Mara auf und rannte ins Bad. Ihr Kopf schmerzte, doch sie biss die Zähne zusammen und duschte, so schnell sie konnte. Anschließend zog sie eine Jeans und einen dünnen Pulli aus ihrem Schrank, schlüpfte in ihre Stiefeletten, schnappte sich ihre Tasche und lief hinunter zur Busstation. Zur Abwechslung hatte sie Glück und erwischte den Bus rechtzeitig. Sie sah auf ihre Armbanduhr – trotz des neuen Rekordes würde sie zu spät kommen. Nur fünf Minuten, doch zu spät war zu spät. Zumindest wenn es nach ihrer Mutter ging. Stöhnend lehnte Mara den Kopf an die Fensterscheibe.

Eine halbe Stunde später stand sie in der Lobby von Grannys Anwalt. Ihre Mutter kam kopfschüttelnd auf sie zu.

»Schaffst du es denn nicht wenigstens einmal in deinem Leben, pünktlich zu sein?«

Mara ignorierte die Frage. »Guten Morgen, Mum.«

Glücklicherweise wählte der Anwalt diesen Moment, um sie zu sich ins Büro zu rufen. Was immer ihre Mutter auch erwidern wollte, blieb ungesagt.

Mara, ihre Eltern und ihr Bruder nahmen in dem schicken Büro Platz. Der Anwalt setzte sich an seinen Schreibtisch aus edlem Holz und bedachte sie mit seiner Beleidsbekundung. Mara musste an den Abend zuvor denken, als sie Cliff gefragt hatte, wie man bloß darauf reagieren sollte. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Sie hatte wahrhaftig Spaß gehabt – das erste Mal seit dem Tod ihrer Großmutter. Cliff hatte ihr eine Seite von Granny gezeigt, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie fragte sich, welche Seiten Granny ihr wohl noch vorenthalten hatte.

»Kommen wir nun zum Testament von Mary McMillan.«

Die Stimme des Anwalts riss Mara aus ihren Gedanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es bei Granny groß zu erben gab. Daher war sie sich nicht ganz sicher, was sie hier überhaupt sollte. Doch der Jurist hatte auf ihre Anwesenheit bestanden.

»Ich, Mary McMillan …«, begann er vorzulesen. Es ging um ein paar Möbelstücke und Bilder, die Granny ihrem Sohn, also Maras Vater Bill hinterließ. Anschließend erhielt Matt eine kleine Geldsumme.

»Meiner Enkelin Mara McMillan vermache ich mein geliebtes Café. Ich bin davon überzeugt, dass sie es mit guter Hand führen wird.« Der Anwalt reichte Mara ein Briefkuvert. »Der ist ebenfalls für Sie, Miss McMillan.«

Mit starren Fingern nahm Mara den Brief entgegen. Hatte sie das eben richtig verstanden? Sie hatte das Café geerbt? Grannys Café? Wie kam ihre Großmutter auf die Idee, ihr das Café zu vermachen? Mara war völlig überrumpelt. Sie hatte in ihrem Leben noch nichts auf die Reihe bekommen, wie sollte sie da ein Café führen?

»Sind Sie sicher, dass das richtig ist?«, hakte sie nach.

Der Mann im teuren Anzug nickte. »So steht es hier.«

»Aha …« Mara klammerte sich verblüfft an ihren Stuhl.

Nachdem sie den Papierkram erledigt hatten, übergab ihr der Anwalt die Dokumente und den Schlüssel zum Café. Benommen nahm sie die Dinge an sich. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihr nun das kleine Café gehörte.

Unten auf der Straße traf Mara auf ihre Eltern und Matt, die schon vorausgegangen waren und dort auf sie gewartet hatten. Ihr Bruder startete sofort eine Offensive.

»Du wirst das Café ja wohl nicht behalten, oder? Das ist eine fantastische Lage. Für die Räumlichkeiten kannst du auf dem Immobilienmarkt ordentlich was verlangen.«

Ihr Dad stieg mit ein. »Matt hat recht. Was willst du denn auch mit einem Café? Verstehe nicht, was Granny sich dabei wieder gedacht hat.«

Mara bekam Kopfschmerzen. Ihre Hände wurden kalt, und die Umrisse des Schlüssels bohrten sich scharf in ihre Haut.

»Typisch Granny Mary. Sie hat mal wieder überhaupt nicht an die Konsequenzen gedacht«, stimmte auch Maras Mutter den Männern kopfschüttelnd zu.

»Mara, sagst du dazu auch mal irgendwas?«, fragte Matt ungeduldig.

Was sollte sie sagen? Sie hatte selbst bis eben nichts von Granny Plänen gewusst. Dass auch das Café Teil des Erbes sein würde, hatte Mara überhaupt nicht bedacht. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Was sollte sie mit einem Café? Doch andererseits … Wie könnte sie es jemals verkaufen? Das war der Ort, an dem sie die glücklichsten Stunden ihrer Kindheit verbracht hatte. Dort war sie geborgen gewesen.

»Ich behalte es«, sagte Mara plötzlich. Erst als sie die Worte aussprach, merkte sie, dass sie laut gedacht hatte. Entsetzt sah ihre Familie sie an.

»Wie bitte?«

»Wieso?«

»Das ist doch lächerlich.«

Mara atmete tief durch. »Granny hat es mir vererbt. Ich entscheide, was damit passiert. Und ich habe mich dafür entschieden, das Café zu behalten.«

Richtig so, gib es ihnen! Das erste Mal an diesem Tag hörte Mara die Stimme ihrer Granny im Kopf – kämpferisch, wie eh und je.

Mara hatte jetzt keinen Nerv, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen. Sie war zu aufgewühlt.

»Ich muss los, wir sehen uns«, rief sie und lief davon. Ohne zu wissen, wohin sie ging, beschleunigte Mara ihre Schritte. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Sollte sie das Café wirklich behalten? Sie wusste weder, wie man ein Café führte, noch, was es brauchte, damit es erfolgreich war.

Ihre Gedanken drehten sich immer wieder um dieselben Fragen, auf die sie keine Antworten hatte. Es verwunderte Mara daher nicht, als sie eine halbe Stunde später vor das Café ihrer Granny trat. Nein, vor ihrem Café. Es gehörte jetzt ihr, Mara. Irgendwie klang es in ihren Ohren falsch. Es war das Café ihrer Großmutter. Sie hatte es vor gut vierzig Jahren eröffnet. Seitdem war sie jeden Tag frühmorgens aufgestanden und hatte die Backwaren für den Tag vorbereitet. Um sieben Uhr morgens hatte sie die Tür aufgeschlossen und ihre Kunden bedient. Erst nach einigen Jahren und steigender Kundschaft hatte Mary eine Hilfskraft eingestellt, die sie fortan unterstützte.

Mara betrachtete die Fassade. So lange wie es Grannys Café gab, gab es auch dieses Haus. Die Farbe war inzwischen abgeblättert, und das kleine Metallschild über dem Eingang hatte Rost angesetzt. Die Tür zum Laden war aus Holz und mit einem großen Fenster versehen. In schwungvollen Lettern stand dort ›Mary’s Café‹. Links und rechts von der Tür waren große Schaufenster, sodass man in das Innere des Ladens hineinsehen konnte. Davor standen Tonkübel mit bunten Blumen. Erst vor wenigen Wochen hatte Maras Großmutter diese frisch bepflanzt. Stiefmütterchen und Nelken streckten ihre Köpfe der Sonne entgegen und verbreiteten einen frühlingshaften Duft auf der Straße.

Mara war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich jemand von hinten näherte.

»Guten Morgen!«

Mara schrak zusammen und drehte sich um. Vor ihr stand Cliff mit einem breiten Lächeln. Sie atmete erleichtert aus und lächelte zögernd zurück. »Guten Morgen.«

»Ich glaube, für Whiskey ist es noch ein bisschen früh.«

Mara verstand nicht. »Whiskey?«

Cliff grinste. »Sag bloß, du bist nicht deshalb hier?«

Mara nickte wissend. »Stell dir vor, das bin ich nicht.«

Sie lächelte und entspannte sich ein wenig.

»Zu schade …« Cliff stellte sich neben sie und begutachtete die Caféfront. »Es sieht wirklich gemütlich aus.«

In Mara erwachte ein Verdacht, und skeptisch sah sie zu Cliff. »Bist du etwa noch nie drin gewesen?«

»Deine Großmutter kam immer zu uns, also …«

Mara lachte. »Das glaub ich nicht, du arbeitest im Pub gegenüber und bist noch nie im Café gewesen?«

Er hob die Hände. »Erwischt.«

Mara schwieg einen Moment, dann meinte sie: »Ich wollte gerade reingehen. Soll ich es dir zeigen?«

Er überlegte kurz und nickte. »Gern.«

Mara lief auf die Tür des Cafés zu und wollte den Schlüssel ins Schloss stecken. Doch mit einem Mal zitterte sie. Sie war seit Grannys Herzinfarkt nicht mehr im Laden gewesen. Sie versuchte sich zusammenzureißen, doch noch immer weigerte sich der Schlüssel seinen Dienst zu leisten.

Cliff bemerkte Maras Zittern. Wortlos nahm er ihr den Schlüsselbund ab und steckte ihn vorsichtig ins Schloss. Er drehte Schlüssel und Knauf und öffnete die Tür. Dann trat er zurück und gab Mara ihren Schlüssel wieder.

Sie räusperte sich. »Danke.«

Zögernden Schrittes ging sie ins Café. Der Geruch von frischem Gebäck und starkem Kaffee empfing sie.

Willkommen zuhause, mein Kind. Ihre Granny war wieder da.

Vor ihrem inneren Auge sah Mara ihre Großmutter hinter der kleinen Theke umherwirbeln. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters war Granny unglaublich aktiv gewesen. Sie war zwar schon etwas gekrümmter gegangen als früher, doch davon hatte sie sich nicht bremsen lassen. Die Verkaufstheke befand sich an der hinteren Wand des Lokals. Der aus Holz gefertigte Tresen war das Herzstück des Cafés. Auf verschiedenen Kuchenplatten aus Glas hatte Granny stets ihre frischen Backwerke präsentiert. Die reichten von Apfelkuchen über Croissants und Scones bis hin zu aufwendigen Torten. Das Angebot variierte von Tag zu Tag. Granny hatte immer das gemacht, worauf sie an diesem Tag Lust hatte. Nur eines hatte sie wirklich jeden Tag gebacken. Maras Lieblingsgebäck – Zimtschnecken.

Rechts und links der Eingangstür befand sich eine bunte Sammlung aus alten Stühlen, Sesseln und kleinen Tischen. Mara hatte das Stilgefühl ihrer Großmutter immer bewundert. Trotz ihres Alters hatte Granny gewusst, worauf die Leute heute abfuhren, und sich an deren und ihrem eigenen Geschmack orientiert. So entstand eine wirklich kreative Mischung aus Möbeln. Aber die Gäste gaben Granny recht – jeder, der das Café betrat, fühlte sich sofort wie zuhause und blieb meist länger als geplant.

Mara sog den Duft tief in ihre Lungen und steuerte auf die Theke zu. Erst letztes Jahr hatte Granny sich eine neue Kaffeemaschine gegönnt. Sie erfüllte alle Ansprüche eines Kaffeeliebhabers und zauberte aus den frischen Bohnen alles von Espresso bis Latte Macchiato. Granny hatte ihren Filterkaffee geliebt, doch sie wusste, dass die Gäste heute extravagantere Wünsche hatten. Also hatte sie sich angepasst. Mara lächelte, als sie die alte Filtermaschine neben der großen neuen aus Edelstahl entdeckte. Ohne Cliff anzusehen, sagte sie: »Granny hat nie verstanden, was die Leute an Cappuccino und Latte Macchiato fanden. Sie hat immer gesagt: ›Warum bestellen die sich nicht gleich eine heiße Milch?‹«

Cliff lächelte neben Mara. »Und trotzdem hat sie sich so ein riesiges Ding ins Café gestellt.«

Er deutete auf die Edelstahlmaschine.

Mara nickte. »Sie verstand die Leute und ihre Marotten nicht immer. Aber sie wusste, wie sie ihre Gäste glücklich machte.«

»Eine richtige Geschäftsfrau.«

»Ja. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hat.« Mara blickte sich noch einmal im Lokal um und lief dann zu der kleinen Tür, die sich links hinter der Theke befand. Sie winkte Cliff zu sich. »Komm, ich zeig dir die heilige Küche.«

Cliff ließ sich nicht zweimal bitten und folgte ihr. Überrascht stellte er fest, dass die Küche wesentlich geräumiger war, als er es erwartet hatte. Irgendwie hatte er mit einer kleinen niedlichen Puppenküche gerechnet. Stattdessen stand er in einer vollausgestatteten Großraumküche. An den Wänden hingen zahlreiche Regale mit allerhand Backutensilien. Ein Ofen, der mindestens so groß war wie er selbst, stand an der hinteren Wand. Daneben ein ebenso großes Kühlregal. Mara strich mit den Fingerspitzen über die Oberflächen der Küchenschränke. Abrupt blieb sie stehen und schluckte. Wie zuvor schon an der Eingangstür fingen ihre Hände an zu zittern. Sie starrte auf den Boden vor sich, und ihr Gesicht nahm zunehmend blassere Züge an. Cliff beeilte sich an ihre Seite zu kommen.

»Hey, alles okay?«

Mara riss ihren Blick vom Boden los und sah ihn erschöpft an. »Ich … Ja.« Sie zeigte auf die Stelle, die sie eben noch angestarrt hatte. »Dort … Dort ist sie zusammengebrochen. Sie war gerade dabei, eine Geburtstagstorte für eine Kundin zu verzieren.«

Cliff nahm Mara am Arm und führte sie zu einer kleinen Sitznische am Rande der Küche. Als sie sich niederließen, sagte er: »Es muss schwer für dich sein, wieder hier zu sein.« Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort. »Das ist jetzt vielleicht kein großer Trost, aber … Deine Großmutter hat bis zu ihrem Tod genau das gemacht, was sie geliebt hat. Etwas Besseres kann einem doch gar nicht passieren, oder? Sie hat es bis zum letzten Moment ausgekostet und ihre Freude gehabt.«

Nachdenklich hob Mara den Kopf und blickte ihn an. Nach einer Weile flüsterte sie kaum hörbar: »So habe ich das noch nie gesehen.«

Die Traurigkeit in ihren Augen berührte etwas in Cliff. Er war normalerweise nicht der Typ, der viel Mitleid verteilte oder den Retter spielte. Doch irgendetwas an Mara sorgte dafür, dass er bei ihr bleiben wollte. Es war verrückt. Rauer als gewollt, sagte er schließlich: »Was passiert jetzt mit dem Café?«

Maras Mienenspiel veränderte sich. Anstelle der Traurigkeit bildete sich Cliff ein, einen Widerstreit der Gefühle zu sehen. Mut, Angst, Kampfgeist und Überforderung wechselten sekündlich in ihrem Gesicht.

»Sie hat es mir vererbt.«

Cliffs Neugier war geweckt. »Und? Was wirst du tun?«

»Meine Familie hält es für das Beste, es zu verkaufen. Die Lage ist beliebt, und ich könnte eine schöne Summe dafür bekommen.«

Stirnrunzelnd zog Cliff die Augenbrauen zusammen, doch er sagte nichts.

»Aber ich kann das nicht. Ich will nicht verkaufen. Granny hat das hier über vierzig Jahre hinweg aufgebaut. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich das nicht würdigen würde? Wenn ich es einfach an den Höchstbietenden verkaufe?«

Cliff beobachtete, wie Mara sich eine ihrer kupferfarbenen Locken aus dem Gesicht strich. Sie konnte ihre irische Herkunft wirklich nicht leugnen. Die grünen Augen, die rosige sommersprossige Haut und die rötlichen Locken, die ihr bis auf die Schultern reichten – sie war das Abbild einer Irin, wie es im Buche stand. Er ließ seinen Blick über Mara gleiten. Gestern hatte sie ein schlichtes schwarzes Kleid und schwarze Pumps getragen. Obwohl sie von einer Beerdigung gekommen war, hatte er ihr lassen müssen, dass ihre Beine in dem Outfit wunderbar zur Geltung gekommen waren. Heute trug sie hellblaue Jeans, einen olivfarbenen Pulli und moderne halbhohe Stiefel mit Absatz.

Wieder blieb Cliffs Blick an ihren Beinen hängen. Wie auch immer sie das angestellt haben mochte, der liebe Gott musste es mit ihr besonders gut gemeint haben. Sein Blick wanderte höher. Anders als viele seiner bisherigen Bettgenossinnen war an Mara mehr dran als nur Haut und Knochen. Sie war keinesfalls dick, vielmehr hatte sie die weiblichen Kurven, die Frauen viel häufiger haben sollten, dachte er. Oberhalb ihrer Hüften zeichnete sich eine schlanke Taille ab. Ein lieblicher Schwung, den er bereits gestern festgestellt hatte. Ihre Oberweite war nicht von besonderer Größe, doch das hätte auch nicht zu ihr gepasst. Cliff befand, dass es perfekt zu ihren Proportionen passte – auch wenn sie sicherlich anderer Meinung war. Frauen waren bei sowas empfindlich, hatte Cliff über die Jahre festgestellt. Er hingegen hielt nichts von der Einzelbewertung, er beurteilte lieber das Gesamtpaket. Das ließ ihn schließlich über Maras grazilen Hals zurück zu ihrem Gesicht kommen. Das intensive Grün in ihren Augen war das alles bestimmende Detail. Es zog seinen Blick immer und immer wieder an. Doch auch ihre schwungvollen Lippen waren nicht zu verachten. Sie passten zu den übrigen Kurven, die ihr Körper bot.

Cliff schüttelte den Kopf, er sollte aufhören. Mara war nicht irgendeine Frau. Sie war die Enkelin von Granny Mary. Sie war die Letzte, mit der etwas anfangen sollte. Zumal er wusste, dass es definitiv keine langfristige Beziehung werden könnte. Dafür war er nun mal nicht gemacht. Und Mara verdiente mehr als nur ein paar Nächte. Cliff schalt sich innerlich. Als er Mara vorhin vor dem Café hatte stehen sehen, war er wie selbstverständlich zu ihr hinübergegangen. Doch in Zukunft sollte er womöglich Vorsicht walten lassen. Dieses Gesamtpaket war eine Herausforderung für seine dringend notwendige Zurückhaltung.

»Ich bin nun also Besitzerin eines Cafés in bester Lage. Ich sollte wohl etwas daraus machen können, oder?« Mara holte ihn zurück in die Realität.

Er nickte forsch. »Da bin ich mir sicher.« Er sah auf die Uhr, die in der Küche hing. Es war kurz vor zwölf. »Mara, es tut mir leid, aber ich muss gleich eine Lieferung annehmen. Kommst du alleine klar?«

Cliff spürte, dass er Mara vor den Kopf stieß. Doch sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. Sie nickte und setzte ein Lächeln auf.

»Ja, sicher. Ich will dich nicht aufhalten. Geh ruhig. Mir geht es gut.«

Er stand auf und ging zur Verbindungstür. Bevor er im Lokal verschwand, drehte er sich noch einmal um. »Falls du mal einen Rat oder Hilfe brauchst, komm jederzeit rüber in den Pub.«

Mara lächelte steif und nickte. »Danke, das werde ich.«