Zola und die Dreyfus-Affäre - Walter Brendel - E-Book

Zola und die Dreyfus-Affäre E-Book

Walter Brendel

0,0

Beschreibung

Die Dreyfus-Affäre war ein Justizskandal, der die französische Politik und Gesellschaft in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts tief spaltete. Er betraf die Verurteilung des Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus 1894 durch ein Kriegsgericht in Paris wegen angeblichen Landesverrats zugunsten des Deutschen Kaiserreichs, die in jahrelange öffentliche Auseinandersetzungen und weitere Gerichtsverfahren mündete. Die Verurteilung des aus dem Elsass stammenden jüdischen Offiziers basierte auf rechtswidrigen Beweisen und zweifelhaften Handschriftengutachten. Für die Wiederaufnahme des Verfahrens und den Freispruch Dreyfus' setzten sich zunächst nur Familienmitglieder und einige wenige Personen ein, denen im Verlauf des Prozesses Zweifel an der Schuld des Angeklagten gekommen waren. Der Schriftsteller Emile Zola schrieb deshalb seinen Essay, der bis heute fortwirkt. Für den Essay "J'accuse" entschied sich Zola, auf Ironie oder Zwischentöne zu verzichten. Das Stück ist ein Trompetenstoß, ein Angriff ohne jede Angst vor Zuspitzungen. Grob gesagt, stellte der Autor eine Welt der Wissenschaft, des Fortschritts und der Mitsprache jenen Kräften gegenüber, die dafür gesorgt hatten, dass Dreyfus auf die Teufelsinsel geschickt wurde und knüpfte daran die Frage, auf welcher Seite der Präsident stand. Als Emile Zola seinen offenen Brief "J'accuse" ("Ich klage an") auf der Titelseite der Zeitung "L'Aurore" an Frankreichs Präsidenten Félix Faure adressierte, wusste er, dass er sich damit Probleme einhandeln würde und so kam es auch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 187

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Walter Brendel

Zola und die Dreyfus-Affäre

Zola und die Dreyfus-Affäre

Ein Schriftsteller begehrt auf!

Walter Brendel

Impressum

Texte: © Copyright by Walter Brendel

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Verlag:Das historische Buch, 2022

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Vorwort

Der politische und religiöse Hintergrund in Frankreich

Das Leben des Émile Zola

Alfred Dreyfus – der jüdische Spion?

Die Dreyfus-Affäre

J’Accuse…!

Justice

Abgesang

Chronologie der Dreyfusaffäre

Quellenverzeichnis

Vorwort

1898 nahm Zola seinen dritten Romanzyklus in Angriff: Vier Evangelien (Quatre Evangiles).

Der Zyklus besteht aus vier Romanen:

1.Fécondité (Fruchtbarkeit) (1899)

2.Travail (Arbeit) (1901)

3.Vérité (Wahrheit) (1903)

4.Justice (Gerechtigkeit) (unvollendet)

1899, erschien das erste Buch gegen das Verschwinden: Émile Zolas heute fast vergessenes Spätwerk «Fruchtbarkeit», das Relikt einer Zukunft, die nie Gegenwart wurde. Der Roman, ein naiv-bizarrer, polemisch-pathetischer Ausbund an Lebensbejahung, gipfelt in der eisernen Hochzeit seines Heldenpaares, Marianne und Mathieu Froment, das 158 Kinder, Enkel und Urenkel hervorgebracht hat.

Im zweiten Buch „Arbeit“ zeichnet Zola zunächst das aktuelle Lohnsklaventum in düsteren Farben: in Beauclair herrschen unter den Arbeitern Alkohol, Gewalt. Unzufriedenheit und Hunger; die Unternehmer, Rentiers und Zwischenhändler bereichern sich, unterstützt von Militär, Bürokratie und Kirche, um ungestört ihren Lastern frönen zu können. Luc Froment, von einem befreundeten Erfinder gerufen, baut mit dessen Hilfe sein Phalanstere auf, das nach und nach die ganze Gegend mit seinen Ideen infiziert und zum Zusammenschluss bewegt. Voraussetzung für die Verwirklichung der Utopie ist für ihn, dass die Herzen der Menschen gewonnen und reformiert werden. Die alte Welt des Lohnsklaventum bricht in „Arbeit“ von selbst zusammen. Teils geht sie an der eigenen Korruption zugrunde, teils greift das Schicksal den Kommunarden kräftig unter die Arme: Ragu, der eifersüchtige Arbeiter, der ein Attentat auf Luc verübt, flüchtet; die kapitalistisch geführte Fabrik wird in einem Brand vernichtet: die Kirche stürzt aus Altersschwäche ein. Mit dem Fortgang des Romans häufen sich die Wunder: Kapital und Arbeit versöhnen sich, die Liebe besiegt den Egoismus. Das Paradies auf Erden ist zum Greifen nahe: der Streik zu Beginn des Romans war der letzte Streik, in einer Schlussvision wird vom letzten Krieg auf Erden berichtet.

In seinem dritten Buch „Wahrheit“ ist der Einfluss der Dreyfus-Affäre besonders spürbar.

Marcus Froment, Schullehrer in Jonville, einem erzkatholischen Dorf in Frankreich erlebt hautnah mit, wie der kleine Zephirin, der Neffe des jüdischen Lehrers Simon, ein verwachsenes, aber schönes Kind, vergewaltigt und ermordet wurde. Durch Verschwinden und Fälschen von Beweisen wird der Lehrer Simon verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl alles auf einen Geistlichen als Täter hinweist. In einem Berufungsverfahren, was Marcus mit seinen Freunden Salvan und Delbos anregt, wird Simon wieder verurteilt und nach jahrelanger Haft in Bagno, gebrochen an Geist und Körper, begnadigt. Erst Jahre später erfolgt die Rehabilitierung Simons. Froment führt als Lehrer den Kampf gegen die Unwissenheit und Verdummung durch die katholische Kirche. Diese schlägt zurück und beeinflusst seine Frau Genevieve so sehr, dass sie Marcus verlässt. Doch dieser gibt nicht auf und es gelingt ihm mit Gleichgesinnten überall die Wahrheit zu verbreiten und den Kircheinfluss zurückzudrängen. Doch dieser Kampf ist opferreich, aber die Wahrheit setzt sich durch. Die Worte von Karl Mark „Religion ist Opium für das Volk“ werden hier eindrucksvoll bestätigt.

Emilie Zola steht mit seinem Werk in Form seiner Bücher in einem wohltuenden Kontrast zu manchen selbst ernannten Freiheitskämpfern, die zum Teil noch hohe Staatsämter bekleiden.

Émile Zola, Aufnahme Nadar

Der vierte Band mit dem Titel Gerechtigkeit (Justice) blieb unvollendet. In dessen Mittelpunkt die Dreyfus Affäre steht. Zolas Artikel J’accuse …! (Ich klage an …!) spielte eine Schlüsselrolle in der Dreyfusaffäre, die Frankreich jahrelang in Atem hielt, und trug entscheidend zur späteren Rehabilitierung des fälschlich wegen Landesverrats verurteilten Offiziers Alfred Dreyfus bei. An Hand von Dokumenten, Recherchen und der Filmbiografie von William Dieterle, USA 1937 „Das Leben des Émile Zola“, mit Paul Muni in der Titelrolle, wird versucht, in Dokumentationsfunktion den Inhalt dieses unvollendeten Buches nachzugestalten.

Der politische und religiöse Hintergrund in Frankreich

Die Dritte Französische Republik bestand zu Beginn der Dreyfusaffäre noch keine 25 Jahre. Nach der Niederlage im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71, der Pariser Kommune und dem Sturz Napoleons III. war zunächst die Wiedereinführung einer konstitutionellen Monarchie geplant. Nach langer Auseinandersetzung einigten sich Legitimisten und Orléanisten darauf, dem Comte de Chambord die Thronfolge anzutragen. Dieser lehnte es jedoch ab, sich auf eine noch zu verabschiedende Verfassung und die Trikolore zu verpflichten. Es kam zur Ausrufung der Republik. Mit einem einheitlichen Wahlrecht für alle Männer, einer großen Bandbreite politischer Parteien und einer sehr weitgehenden Presse- und Versammlungsfreiheit war die Dritte Französische Republik der fortschrittlichste europäische Staat. Die Republik war seit ihrer Gründung aber auch von religiösen, ökonomischen und politischen Gegensätzen gekennzeichnet.

Die noch ungefestigte Republik war immer wieder Versuchen einer Restauration der Monarchie ausgesetzt. Zu einer ihrer größeren politischen Krisen zählte der Versuch des Staatsstreichs durch General Georges Boulanger, der unter anderem von Monarchisten unterstützt wurde. Während die liberalen Kräfte im Staat die erreichte bürgerliche Demokratie wahren und die mit den Sozialisten vereinten Radikalen sie weiter ausbauen wollten, lag der Armeeführung an einer Beschneidung dieser Demokratie. Die Armee genoss in Frankreich generell große Achtung, weil sie als Garant der französischen Größe galt. In einer Republik mit häufig wechselnden Regierungen wurde die Armee mit ihrem ausgesprochenen Kastengeist jedoch zu einer zunehmend unabhängigen, mit dem Staatsganzen nur lose verknüpften Macht. Die katholische Kirche, der die meisten Franzosen angehörten, zählte ebenfalls lange zu den entschiedenen Feinden der Dritten Republik. Der hohe französische Klerus blieb bei einer strikten Ablehnung, selbst nachdem Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Au milieu des sollicitudes 1892 die Republik als legitime Staatsform anerkannt hatte.

Eine Besonderheit der Dreyfusaffäre ist die überproportional große Rolle, die Franzosen aus dem Elsass dabei spielten. Die Familie Dreyfus sowie Auguste Scheurer-Kestner, Joseph Reinach, Marie-Georges Picquart, Jean Sandherr, Emile Zurlinden und Martin Freistaetter sowie mehrere Personen, die in der Affäre eine Nebenrolle einnehmen, stammten aus dem Elsass, das 1871 an das Deutsche Reich gefallen war. Viele Elsässer waren nach 1871 in die französische Armee eingetreten, weil sie ihre Heimat zurückgewinnen wollten. Picquart und Alfred Dreyfus sind exemplarisch für Personen, die während ihrer Jugend die Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland als tiefe Demütigung erlebt hatten und auf Grund dieses einschneidenden Ereignisses sich entschieden Frankreich verpflichtet fühlten. Bei Scheurer-Kestner und Reinach spielte für ihre Bereitschaft, Mathieu Dreyfus Gehör zu schenken, die gemeinsame Herkunft eine erhebliche Rolle. Als Elsässer waren sie gewohnt, dem Verdacht der Deutschfreundlichkeit ausgesetzt zu sein. Wer von den Elsässern zusätzlich noch Protestant war, wurde tendenziell einer besonders innigen Nähe zum protestantisch geprägten Deutschen Reich verdächtigt. Während der Dreyfus-Affäre äußerte sich das unter anderem in Reaktionen auf das Engagement von Scheurer-Kestner und auf die Prozessführung durch den Vorsitzenden der Strafkammer, Louis Loew, die beide Protestanten elsässischer Abstammung waren.

Laut Hannah Arendt hatten die siegreichen Republikaner kaum Macht über die Armee, deren Spitze hauptsächlich aus Monarchisten aus dem alten Adel bestand. Auch als sich während des Boulangismus herausstellte, dass Armeeangehörige zu Staatsstreichen griffen, gelang es nicht, die adeligen Offiziere, die unter starkem Einfluss des Klerus standen, an die Republik zu binden. Die wenigen bürgerlichen Offiziere, die in den Generalstab aufgenommen wurden, hatten dies der Förderung von begabten Kindern des Bürgertums durch die katholische Kirche zu verdanken. Die Armee besaß weiterhin den Ruf von Auserwählten, die einen gemeinsamen Kastengeist pflegten. Hannah Arendt resümiert:

„Der Verzicht des Staates, die Armee zu demokratisieren und sie der Zivilgewalt untertan zu machen, hatte eine höchst merkwürdige Konsequenz: sie stellte die Armee gleichsam außerhalb der Nation.“

Der Fahnenkult und die Verachtung der parlamentarischen Republik waren nach Vincent Duclert zwei wesentliche Prinzipien der damaligen Armee. Die Republik hat ihre Armee regelmäßig gefeiert, während die Armee die Republik ignorierte.

Das Nachrichtenbüro des Generalstabs produzierte gefälschte Geheimdokumente, die seine Angehörigen selbst an die Deutschen verkauften. Die Kirche sah Arendt zufolge die Chance, in Frankreich ihre „alte politische Macht zu restaurieren“, weil dort „die Nation im Geschäftemachen unterzugehen drohte.“ In Spanien und Frankreich lag, fährt Arendt fort, die Leitung der Politik, die die Armee zu einem Staat im Staate machte, in der Hand von Jesuiten. Die hierarchische Ordnung der Kirche und der Ständestaat erschienen als Ausweg für die wachsende Kritik weiter Teile der Bevölkerung an der Republik und am Demokratismus, welche Sicherheit und Ordnung nach dieser Auffassung störten. Es handelte sich nicht um eine religiöse Erneuerungsbewegung, sondern um den sogenannten „cerebralen“ Katholizismus, d. h. Macht ohne Glaube, der seit Drumont und später Maurras die gesamte nationalistische, royalistische und antisemitische Bewegung in Frankreich prägte.Arendt beschreibt gewaltsame Ausschreitungen in Rennes gegen Dreyfusards, die unter der Führung von Priestern standen. 300 Priester des niederen Klerus unterzeichneten das antisemitische Machwerk Monument Henry, worin dazu aufgerufen wurde, Juden zu „schinden“, z. B. Reinach in „kochendem Wasser“ zu töten. Unter den Unterstützern befanden sich mehr als 1000 Offiziere, darunter der frühere Kriegsminister und fanatische Antidreyfusard Mercier sowie Intellektuelle wie Paul Valéry und nationalistische jüdische Journalisten wie Arthur Meyer vom Gaulois und Gaston Polonius vom Soir’. Für Jesuiten, postuliert Arendt, blieben Juden auch nach der Taufe stets Juden. Darin sieht sie einen Vorläufer für die nationalsozialistische Ahnenforschung. Sie weist darauf hin, dass unter der Gruppe „extrem chauvinistischer Juden“, die in den vom alten Adel geprägten höheren Offizierskorps aufsteigen konnte, besonders viele elsässische Juden waren, die sich für Frankreich entschieden hatten. Georges Clemenceau spitzt diese These zu mit der Bemerkung: Die Dreyfus-Familie von 1894 habe aus Antisemiten bestanden. Arendt bezieht sich auf Marcel Proust, der diese Art von „Hofjuden“, zu denen die Bankiersfamilie Rothschild zählte, meisterlich charakterisiert habe. Die Aufnahme in die Pariser Salons verlief reibungslos, Konflikte gab es erst, als assimilierte Juden gleichberechtigten Zugang zur Spitze der Armee verlangten.

Arendt argumentiert:

„Hier nämlich stießen sie auf einen sehr ausgesprochenen politischen Willen, den der Jesuiten, die unmöglich dulden konnten, dass Offiziere, die Beichteinflüssen nicht zugänglich waren, Karriere machten. Hier stießen sie ferner auf einen viel unerbittlicheren Kastengeist, […] der durch Beruf und Tradition, vor allem aber durch die Unmittelbarkeit der Feindschaft gegen die Dritte Republik und den zivilen Apparat verstärkt war.“

Die Jesuiten hatten, so Arendt, den Antisemitismus sehr früh als Waffe erkannt. Nicht die Juden haben demnach den Jesuiten, sondern die Jesuiten den Juden den Kampf angesagt. Die wenigen jüdischen Offiziere seien immer wieder zum Duell aufgefordert worden, wobei Juden keine Zeugen sein durften. So fungierte Major Esterhazy als bezahlter nichtjüdischer Zeuge bei Duellen, eine Position, die vom Oberrabbiner von Frankreich gegen Geld vermittelt wurde.

Die Familie Dreyfus schätzt Arendt eher negativ ein.

„Sie hatte größte Angst vor der Öffentlichkeit und das größte Vertrauen in heimliches Antichambrieren. Sie war bestrebt, auf alle nur möglichen Weisen ihr Geld loszuwerden, und behandelte ihren wertvollsten Helfer, Bernard Lazare, wie einen bezahlten Agenten. Die Clemenceau, Zola, Picquart, Labori – um nur die aktivsten unter den Dreyfusards zu nennen – konnten schließlich ihren guten Namen nur noch dadurch retten, daß sie sich mehr oder minder öffentlich und mit mehr oder minder Skandal von dem konkreten Anlaß ihrer Bemühungen trennten.“

Dreyfus sei nur zu retten gewesen, wenn man der Komplizität eines korrupten Parlaments, der Verderbtheit einer in sich zerfallenden Gesellschaft, dem Machthunger des Klerus das jakobinische Projekt der Nation, die auf Menschenrechten basiert, und das republikanische Prinzip des öffentlichen Lebens, in welchem der Fall eines Bürgers, der Fall aller Bürger ist, entgegenhielt. Durch die Tolerierung des Rufs „Tod den Juden! Frankreich den Franzosen!, „konnte der Mob mit der Dritten Republik versöhnt werden", fasst Arendt zusammen.

Der Wiederaufnahme des Prozesses gegen Alfred Dreyfus widersetzten sich zahlreiche Personen, weil sie es mit dem Ansehen des Staates und den Institutionen des Staates nicht für vereinbar hielten, ein einmal gefälltes Urteil zu widerrufen. Sie werteten dies höher als die Forderung nach Gerechtigkeit für ein einzelnes Individuum. Auf der anderen Seite standen solche, die Recht und Gesetzmäßigkeit als gemeinsames Gut aller Staatsbürger ansahen und die Ehre der Armee nicht höher werteten als die Ehre eines Einzelnen. Es waren folgerichtig u.a. die Verteidiger von Alfred Dreyfus, die 1898 die Französische Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte gründeten.

Tendenziell gehörten Franzosen mit einer konservativen, kirchentreuen, monarchistischen oder antisemitischen Grundhaltung zu den Anti-Dreyfusarden, Personen mit einer republikanischen oder sozialistischen Einstellung dagegen eher zu dem Lager, das eine Wiederaufnahme des Prozesses befürwortete. Marcel Proust hat in seinem literarischen Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit jedoch auch die unerwarteten Parteinahmen beschrieben: Überzeugte Antisemiten bildeten mit Juden Allianzen, weil beide von der Unsinnigkeit der Anklage überzeugt waren, andere zählten sich zu den Anti-Dreyfusarden, weil sie sich davon gesellschaftlichen Aufstieg versprachen. Viele verteidigten ihre jeweiligen Ansichten zur Affäre Dreyfus mit einer Leidenschaft, die zum Auseinanderbrechen alter Freundschaften und Streit in Familien führte. Eines der Beispiele für einen solchen Familienzwist ist die Familie Proust.

In der Familie von Félix Vallotton, in: Le Cri de Paris.

Adrien Proust, Arzt und Staatsbeamter, weigerte sich eine Zeit lang, mit seinen Söhnen Robert und dem zu dem Zeitpunkt noch unbekannten Marcel zu sprechen, als diese sehr früh zu Dreyfusverteidigern wurden. Pariser Salonnièren wie Geneviève Straus, Marie-Anne de Loynes, Léontine Arman de Cavaillet oder die Marquise Arconate-Visconti führten während des Höhepunkts der Affäre Salons, in denen entweder nur Vertreter einer Meinungsrichtung verkehrten, oder sie richteten ihre gesellschaftlichen Treffen so aus, dass sich überzeugte Dreyfusarden und Anti-Dreyfusarden nicht begegnen konnten. Arendt beschreibt den Konflikt folgendermaßen: Ein ganzes Volk habe sich über die Frage, ob das «geheime Rom» oder das «geheime Juda» die Fäden der Welt in der Hand halte, die Köpfe zerbrochen und eingeschlagen.

Mit dem Ausgang der Affäre erwies sich Frankreich letztlich als ein in seinen Grundwerten gefestigter demokratischer Rechtsstaat, auch wenn die Rechtsverletzungen von Personen in hohen Ämtern begangen worden waren und die Lösung langwierig und nicht ohne Rückschläge war. Diesen Aspekt betonte auch 2006 der französische Staatspräsident Jacques Chirac in seiner Rede anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus, die er im Hof der École Militaire hielt, wo Dreyfus 1895 öffentlich degradiert worden war.

Die Affäre Dreyfus ging allerdings nicht mit einem strahlenden Sieg der Gerechtigkeit zu Ende: Die Begnadigung von Dreyfus 1899 war ein politischer Kuhhandel und ging mit einem Amnestiegesetz einher, das es unter anderem dem ehemaligen Kriegsminister Mercier erlaubte, bis kurz vor seinem Tode ein hohes politisches Amt auszuüben. Der Prozess, der 1906 mit der Rehabilitierung von Alfred Dreyfus endete, war somit nicht von einem breiten Wunsch der Öffentlichkeit getragen, ein immer noch bestehendes Unrecht auszugleichen. Er diente vielmehr als Grundlage für das Gesetz von 1906 über die vollständige Trennung von Religion und Staat in Frankreich, nachdem sich Teile der katholischen Kirche während der Dreyfus-Affäre durch ihren Antijudaismus und ihre antirepublikanische Grundhaltung kompromittiert hatten.

Karikatur aus Le Figaro 14. Februar 1898. Oben: „Vor allem, lasst uns nicht über die Dreyfus-Affäre reden!“ Unten: „…Sie haben davon geredet…“

Die Regierung mit Émile Combes an der Spitze konnte nunmehr Frankreich radikal säkularisieren und das heute noch geltende Prinzip des Laizismus etablieren. Die Armee habe, argumentiert Arendt, ihren erpresserischen Einfluss auf Regierung und Parlament verloren, als ihr Nachrichtenbüro dem Kriegsministerium, also der zivilen Verwaltung unterstellt worden sei.

Jacques Chirac erinnerte in seiner Rede auch daran, dass Dreyfus selbst bei seiner Rehabilitierung nicht die volle Gerechtigkeit widerfuhr. Die Wiederherstellung der Karriere, auf die er ein Recht hatte, wurde ihm nicht gewährt.

1985 bestellte der französische Staatspräsident François Mitterrand eine Statue von Dreyfus bei dem Bildhauer Louis Mittelberg. Sie sollte neben der École Militaire (Militärhochschule) aufgestellt werden. Der Verteidigungsminister verweigerte dies jedoch, obwohl Alfred Dreyfus 1906 vollständig rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen worden war. Nunmehr steht das Denkmal am Boulevard Raspail, Nr. 116–118, am Ausgang der Metrostation Notre-Dame-des-Champs. Eine Kopie befindet sich am Eingang des Museums für jüdische Kunst und Geschichte in Paris.

Erst 1995 gab auch die Armee Dreyfus’ Unschuld öffentlich bekannt.

Seit dem Emanzipationsedikt von 1791 während der Revolution ab 1789 hatten Franzosen jüdischer Herkunft das volle Bürgerrecht. Frankreich wurde daher spätestens nach Ende der Revolution und der napoleonischen Ära eines der wenigen Länder, das seinen jüdischen Mitbürgern umfassend gleiche Rechte zugestand. Die Zahl der jüdischen Franzosen war gering, 1890 waren es weniger als 68.000 Personen, die meisten davon lebten in oder in der Nähe von Paris. In Algerien waren weitere 43.000 Juden zu Hause. Bei einer Bevölkerungszahl von knapp 39 Millionen machten jüdische Franzosen damit weniger als 0,2 Prozent aus. Unter ihnen befanden sich einige einflussreiche Männer.

Einer der prominentesten war Alphonse de Rothschild, der wie sein Vater James de Rothschild als der wichtigste französische Bankier galt. Nach der Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870/71 hatten viele Franzosen die Verantwortung dafür den Juden zugesprochen. Rothschild hatte sich zu diesem Zeitpunkt von der Republik ab- und dem Monarchismus zugewandt. Neu war dabei laut Arendt, „dass sich eine jüdische Finanzmacht gegen die augenblickliche Regierung stellte.“ Von geringerer Bedeutung waren die jüdischen Bankiersfamilien Camondo mit Isaac de Camondo und Nissim de Camondo, Cahen d’Anvers, Pereire und der jeweilige französische Zweig des Adelsgeschlechts Königswarter, Reinach, D’Almeida, Bamberger und Menasce. Die alten renommierten jüdischen Bankhäuser zogen sich vorerst, stellt Arendt fest, aus der Politik zurück und träumten in den Salons von Staatsstreichen, d.h. von den guten alten monarchistischen Zeiten, als ihre Dienste noch wertvoll für die Herrscher waren. Daher übernahmen jüdische Neureiche Teile des Finanzmarkts. Es handelte sich Arendt zufolge um abenteuerlustige, auf Gewinn erpichte Personen, die nicht genuine Franzosen waren. Die neuen republikanischen Politiker waren großenteils arm und der Korruption gegenüber offen: Handel mit Orden, Stimmenkauf etc. waren an der Tagesordnung. Vermittler waren wiederum, schreibt Arendt, die Juden.

Arendts Urteil fällt scharf aus:

„Für die Juden führten sie [die Korruptionsgeschäfte] nicht mal mehr zu dauerhaftem Reichtum; hier waren sie in der Tat nichts als die Parasiten einer unabhängig von ihnen entstandenen Korruption […]. Da sie Juden waren, konnte man sie jederzeit einer empörten Menge zur Beute hinwerfen […].“

Die Antisemiten haben demnach die Lüge verbreitet, das Parasitentum der Juden sei die eigentliche Ursache der Auflösung der Dritten Republik gewesen. Die zeitgenössischen Juden hingegen „spielten die Rolle der verfolgten Unschuld.“ Parlament und Senat dienten nach Arendt nur noch der gesellschaftlichen Karriere und der individuellen Bereicherung ihrer Angehörigen. Die französische Intelligenz wurde nihilistisch, die Studenten reaktionär. Während die Juden im zweiten Kaiserreich noch eine Gruppe außerhalb der Gesellschaft gewesen seien, habe die Zersetzung des einheitlichen Judentums mit der Dritten Republik begonnen. Da die Juden über Geldmittel verfügten, hatten sie auch Macht, die sie in die politischen Lager einbrachten, ohne in diesen aufzugehen.

Von den 260 Mitgliedern des Institut de France hatten sieben einen jüdischen Hintergrund. Juden waren auch überproportional häufig Staatsbeamte, Wissenschaftler oder Künstler. Der französischen Armee gehörten Begley zufolge in den 1890er Jahren etwa 300 jüdische Offiziere an, davon waren fünf Generäle. Im Vergleich dazu erhielten Juden in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn uneingeschränkte Bürgerrechte erst 1867, blieben jedoch auch danach vom Staatsdienst ausgeschlossen. Bei den wenigen österreich-ungarischen Berufsoffizieren jüdischer Herkunft hing der Verlauf der beruflichen Karriere maßgeblich davon ab, ob sie zum Christentum konvertierten. In Deutschland hatten Juden uneingeschränkte bürgerliche Rechte 1871 erhalten, deutsch-jüdische Berufsoffiziere gab es auch um die Wende zum 20. Jahrhundert noch nicht.

Die Verhaftung, Verurteilung und Degradierung von Alfred Dreyfus war nach Ruth Harris für viele französische Juden ein Moment intensiver Scham. Bernhard Lazare und Joseph Reinach, die zu den frühesten Dreyfus-Unterstützern zählten, waren beide bekannte französische Juden, insgesamt fand Mathieu Dreyfus jedoch wenig Unterstützung bei diesen. Léon Blum schrieb in seinen Erinnerungen, dass die Mehrzahl den Anfängen der Kampagne für eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit großer Vorsicht und viel Misstrauen begegneten. Dabei spielte „die Achtung vor der Armee, das Vertrauen in ihre Führung und ein Widerstreben, diese Männer als parteiisch oder fehlbar anzusehen“, eine Rolle. Sie hielten sich zurück, weil sie es überwiegend ablehnten, dass man „ihre Haltung auf die Solidarität der gemeinsamen Abstammung zurückführe“. Insbesondere diejenigen, die derselben Gesellschaftsschicht wie Alfred Dreyfus angehörten, waren zu Beginn der Affäre noch der Überzeugung, dass dem wachsenden Antisemitismus durch bedingungslose Neutralität am besten zu begegnen sei.

Die Affäre habe gezeigt, heißt es bei Arendt, dass in jedem jüdischen Baron, Multimillionär oder Nationalisten „noch ein Stück von jenem Paria steckte, für welchen die Menschenrechte nicht existieren, den die Gesellschaft außerhalb des Gesetzes zu sehen wünschte.“ Vor der Dreyfusaffäre befanden sich die Juden, schreibt Arendt, im Prozess der „atomisierenden Assimilation“ mit der Folge einer Entpolitisierung, so dass die Diskriminierung für diese emanzipierten Juden schwer einzusehen war. Sie hätten sich von den armen «Ostjuden» distanziert, so wie die nichtjüdische Gesellschaft von ihnen. Diese Juden hätten nicht verstanden, dass in der Affäre mehr auf dem Spiel stand als ihre gesellschaftliche Position. Dies sei der Grund gewesen, warum es unter den französischen Juden so wenige Dreyfus-Unterstützer gab.

Hannah Arendt rollt die Bedeutung der Juden in Frankreich anhand der Panama-Affäre auf. Die Finanzierung des Kanals durch Staatsanleihen hätte 500 000 Mittelständlern ihre Existenzgrundlage entzogen. Um die Affäre zu vertuschen und die nötigen Gelder aufzubringen, wurden Teile der Presse, des Parlaments und des höheren Beamtentums bestochen. Die Juden gehörten weder zu den Geldgebern der Compagnie, die den Kanal baute, noch zu den Korrumpierten. Sie dienten aber als gut bezahlte Mittelsmänner zwischen beiden Seiten. Jacques Reinach, der zeitweise als Finanzberater der Regierung fungierte, war nach dieser Lesart für den rechten Flügel der bürgerlichen Parteien, die sogenannten Opportunisten und Cornélius Herz für die radikalen antiklerikalen Kleinbürger zuständig. Beide hatten zahlreiche jüdische Geschäftsleute als Mitwirkende. Reinachs Beteiligung an den Betrügereien wurde bekannt. Bevor er Selbstmord beging, übergab er den Antisemiten von La libre Parole’ (Das freie Wort) eine Liste mit allen Juden, die an den Bestechungen beteiligt waren, ein Umstand, der den öffentlichen Antisemitismus ungemein bestärkte. Druments Blatt La libre Parole wurde in kürzester Zeit zu einer der größten Zeitungen Frankreichs. Kern der Vorwürfe war, dass Parlamentarier und Staatsbeamte zu Geschäftsleuten geworden waren und die Vermittlung zwischen der privaten Compagnie und dem Staatsapparat fast ausschließlich in den Händen von Juden gelegen habe.

Noch 1955 konstatiert Arendt: In der Pétain-Zeit sei von der Dreyfusaffäre der Hass auf die Juden geblieben und mehr noch die Verachtung großer Teile des Volkes für die Republik, das Parlament, den gesamten Staatsapparat, was mit dem Einfluss der Juden und der Macht der Banken identifiziert wurde.