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Zorn – Ausgelöscht E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder blicken in menschliche Abgründe – der zwölfte Band der Kult-Thriller-Serie von Bestsellerautor Stephan Ludwig Jakob Fender kommt zu sich und kann sich an nichts erinnern. Nicht mal an seinen eigenen Namen. Jemand hat ihn mit einem Baseballschläger fast zu Tode geprügelt – versuchter Mord. Zur Tat gibt es kaum Anhaltspunkte, nur dass der Täter noch eine weitere Waffe verwendet hat, die Fender beinahe die Finger der rechten Hand abgetrennt hätte. Ohne Zeugen bleibt den Hauptkommissaren Zorn und Schröder allein die Hoffnung, dass Fenders Erinnerung an die Tatnacht irgendwann zurückkehrt. Kurz darauf fordert ein weiterer Fall die volle Aufmerksamkeit der beiden Kommissare: Von einer Brücke hängt ein Toter, auch hier liegt eindeutig ein Gewaltverbrechen vor. Mit einer ungewöhnlichen Tatwaffe.  Schröder zieht sofort den richtigen Schluss: Jakob Fender sollte mit der gleichen Waffe getötet werden. Doch wo ist der Zusammenhang? Kannten sich Fender und der Tote? Und wird es weitere Morde geben? »Ein Thriller, der lebendig wird durch die köstlichen Dialoge der verschrobenen Ermittler.« 3sat Kulturzeit

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Seitenzahl: 446

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Stephan Ludwig

ZORN 12 - Ausgelöscht

Thriller

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der zwölfte Fall für Zorn und Schröder

Jakob Fender kommt zu sich und kann sich an nichts erinnern. Nicht einmal an seinen eigenen Namen. Jemand hat ihn mit einem Baseballschläger fast zu Tode geprügelt – versuchter Mord. Und der Täter hat eine weitere Waffe benutzt, die Fender beinahe die Finger der rechten Hand abgetrennt hätte. Ohne Zeugen bleibt den Hauptkommissaren Zorn und Schröder allein die Hoffnung, dass Fenders Erinnerung an die Tatnacht zurückkehrt.

Kurz darauf fordert ein weiterer Fall ihre volle Aufmerksamkeit: Von einer Brücke hängt ein Toter, auch hier eindeutig ein Gewaltverbrechen. Mit einer ungewöhnlichen Tatwaffe. Schröder zieht sofort den richtigen Schluss: Jakob Fender sollte mit der gleichen Waffe getötet werden. Doch wie hängen die Taten zusammen? Kannten sich Fender und der Tote? Sind Fenders wiederkehrende Erinnerungen zuverlässig? Und was plant der Täter als Nächstes, um sein grausames Werk zu vollenden?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.

 

Außerdem bei FISCHER erschienen:

»Zorn – Tod und Regen«, »Zorn – Vom Lieben und Sterben«, »Zorn – Wo kein Licht«, »Zorn – Wie sie töten«, »Zorn – Kalter Rauch«, »Zorn – Wie du mir«, »Zorn – Lodernder Hass«, »Zorn – Blut und Strafe«, »Zorn – Tod um Tod«, »Zorn – Zahltag«, »Zorn – Opferlamm«, »Unter der Erde. Thriller«

Die Bände 1-5 der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.

 

Claudius Zorn ist auch auf Facebook und Instagram.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Prolog

Ich heiße Jakob Fender.

Hört sich nett an, oder? Ich kann mich allerdings nicht entsinnen, diesen Namen jemals gehört zu haben. Eigentlich erinnere ich mich an überhaupt nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wie ich in dieses Krankenzimmer gekommen bin.

Ich weiß gar nichts.

Klingt nach einer spannenden Geschichte. Ist es wahrscheinlich auch. Keine Ahnung, ob ich ein guter Erzähler bin, ich werd’s zumindest versuchen. Wie gesagt, es könnte interessant werden. Zumindest für mich.

Also, noch mal von vorn:

Ich heiße Jakob Fender.

Sagt zumindest die Ärztin. Sie wirkt kompetent, also wird es wohl stimmen. Als sie ins Zimmer kam, hat sie sich als Doktor Carlsson vorgestellt (ein Name, der mir genauso wenig sagt wie mein eigener). Ich scheine sie ziemlich dämlich anzuglotzen, denn sie erklärt, dass ich fünf Tage im Koma gelegen habe. Mein Erinnerungsvermögen wird bestimmt bald wieder einsetzen.

Aha.

Doktor Carlsson ist hübsch. Schlank, zierlich und ziemlich jung. Schwarzes, wahrscheinlich gefärbtes Haar, mit einem weinroten Gummiband im Nacken zu einem kurzen Zopf gebunden (besser kann ich sie nicht beschreiben – was immer ich auch sein mag, Schriftsteller oder etwas in der Art bin ich wohl nicht).

Sie fragt, ob ich Schmerzen habe. Als ich den Kopf schüttele, knistert der gestärkte Bezug des Kopfkissens dicht an meinen Ohren. Die gummierten Sohlen ihrer weißen Sneakers quietschen auf dem Linoleum; sie kommt näher, beugt sich über das Bett, fixiert mich aus dunklen Augen. Ich rieche ihr Parfüm. Lavendel und frische Orangen.

»Brauchen Sie etwas, Herr Fender?«

Fender. Jakob Fender.

Das bin ich.

Ich sage, dass ich Durst habe. Mit heiserer, belegter Stimme. Meiner Stimme. Ich habe sie noch nie gehört.

Durst.

Ein seltsames Wort, doch ich kenne seine Bedeutung. Ich weiß auch, dass das schwarze Ding rechts oben unter der geweißten Decke ein Fernseher ist (Flachbildschirm, neunzehn Zoll). Das Plastikviereck daneben ist eine Steckdose. Das kurze Kabel versorgt den Fernseher mit Strom, zweihundertzwanzig Volt, fünfzig Hertz (mit Technik kenne ich mich offensichtlich aus). Das rhythmische Piepsen rechts neben mir stammt von den Geräten, die meine Herztöne überwachen. Die Glasflasche, die links neben dem Bett an einem Stativ hängt, ist ein Tropf. Über den durchsichtigen Schlauch fließen Medikamente in meinen Körper (welche genau, kann ich nicht sagen, Mediziner bin ich also auch nicht). Ich weiß, dass der Tisch in der Ecke ein Tisch ist. Die Tür ist eine Tür. Das winzige schwarze Ding, das über mir surrend unter der Neonröhre kreist, ist eine Fliege.

Ich weiß noch mehr: Drei mal drei ist neun. Die Hauptstadt von Polen ist Warschau. Der Papst lebt in Rom. Netflix-Abos werden ständig teurer.

Mein Verstand funktioniert.

Warum weiß ich dann nicht, wo ich herkomme? Wer ich bin?

Die Ärztin erkennt meine Verwirrung.

Partielle Amnesie, erklärt sie. Ausgelöst durch die Schläge.

Schläge?

Sie tastet nach meiner Stirn. Erst jetzt bemerke ich den Verband um meinen Kopf. Mein Blick streift ihren Ausschnitt. Brüste, fällt mir ein, werden auch Titten genannt. Oder Möpse. Das widerstrebt mir; ein vulgärer Mensch scheine ich also nicht zu sein. Ich schließe die Augen, doch ich kann nicht verhindern, dass mir das Blut in den Unterleib schießt. Zumindest in dieser Hinsicht scheinen meine Körperfunktionen intakt zu sein.

Peinlich berührt sehe ich zum Fenster.

Die Sonne scheint schräg durch die Jalousien.

Als die Ärztin nach der Decke greift, glaube ich einen furchtbaren Moment, meine Erektion würde zum Vorschein kommen, doch sie streift die Decke nur bis zur Hüfte zurück. Ich hebe den Kopf, folge ihrem prüfenden Blick über meinen Oberkörper: flacher Bauch, kräftiger Brustkorb. Heller Flaum auf bleicher, glatter Haut. Der Körper eines durchtrainierten Mannes.

Mein Körper.

Ich scheine ebenfalls ziemlich jung zu sein.

Doktor Carlsson streicht über die Blutergüsse auf meinen Rippen. Ihre Finger sind kühl. Die Berührung ist sacht, doch ich sauge die Luft scharf zwischen den Zähnen ein.

Gebrochen, sagt sie, ist nichts, aber eine Prellung ist ebenfalls schmerzhaft. Auch mein Schädel ist unversehrt, das Röntgenbild zeigt keine Frakturen. Doch ich habe eine schwere Gehirnerschütterung.

»Sie sind übel verprügelt worden, Herr Fender.«

Meine rechte Hand verschwindet unter dicken Mullbinden. Sie hebt meinen Arm, um den Verband zu wechseln. Mein Kopf sinkt zurück in die Kissen. Die Augen fallen mir zu. Ein stechender Schmerz holt mich zurück in die Realität.

»Gleich vorbei«, beschwichtigt die Ärztin. »Ich muss nur die Nähte prüfen.«

Meine Hand hängt wie ein Fremdkörper am Unterarm, die Farbe erinnert an überreife Pflaumen. Doktor Carlsson bittet mich, die Finger nicht zu bewegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es überhaupt möglich wäre.

Der Daumen scheint unverletzt. Über die anderen vier Finger zieht sich ein Schnitt auf der Innenseite, als hätte man versucht, sie kurz über dem Handteller abzutrennen. Allem Anschein nach wäre das auch beinahe gelungen, die Wunden sind tief, mit feinen Stichen vernäht.

»Sie haben Glück gehabt, Herr Fender.«

Glück?

Die Wunden, erklärt Doktor Carlsson, heilen gut. Die Sehnen sind teilweise durchtrennt, doch die Knochen noch halbwegs intakt. Die Hand wird nie wieder vollständig funktionieren, zwei Finger werden wohl steif bleiben, aber es hätte wesentlich schlimmer kommen können.

Ich frage, was mit mir passiert ist.

»Das wissen wir nicht.« Sie beginnt, den Verband zu erneuern. »Die Polizei kann Ihnen bestimmt mehr sagen.«

»Die … Polizei?«

»Sie sind fast zu Tode geprügelt worden. Hätte man Sie eine halbe Stunde später in die Notaufnahme gebracht, wären Sie nicht mehr am Leben. Natürlich haben wir die Polizei informiert.«

Wieder sinkt mein Kopf in das Kissen. Der Tropf baumelt über mir am Stativ, die Sonne spiegelt sich auf dem Glas. Mein Blick folgt dem dünnen Schlauch, der unter einem Pflaster in meinem linken Unterarm endet. Egal, welche Medikamente ich bekomme, sie wirken hervorragend. Ohne die Schmerzmittel würde ich mich wohl schreiend auf den gestärkten Laken krümmen.

»Fertig.«

Doktor Carlsson lächelt mir aufmunternd zu. Als ich versuche, ihr Lächeln zu erwidern, spannt die verschorfte Haut auf meinen Wangen. Auch mein Gesicht hat wohl einiges abbekommen.

»Sie werden sich bestimmt bald erinnern.«

Ich nicke.

Die Ärztin verlässt das Zimmer. Ich hebe den rechten Arm, betrachte die frisch verbundene Hand. Es ist irgendwie tröstlich, dieses blau angelaufene, verkrümmte Ding nicht mehr ansehen zu müssen. Die Hand wird nie wieder richtig funktionieren.

Das, fällt mir ein, ist …

Die Tür wird aufgerissen, der blondierte Kopf einer korpulenten Krankenschwester erscheint im Spalt.

»Saft oder Tee?«

»Saft«, erwidere ich prompt. »Orangensaft, wenn Sie haben.«

Während mir das Gewünschte geholt wird, fasse ich zusammen, was ich bisher über mich weiß:

Vor einer knappen Woche wurde ich überfallen und ins Koma geprügelt. Ich bin jung und durchtrainiert. Den Haaren auf Brust und Unterarmen nach zu schließen, bin ich blond. Ich bin weder Arzt noch Schriftsteller. Ich mag keinen Tee. Wenn ich Saft trinke, bevorzuge ich Orangensaft.

Da ist noch etwas.

Ich versuche, die Finger unter dem Verband zu bewegen. Ohne Erfolg. Das ist nicht gut, denn ich brauche diese Hand. Wofür? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie wichtig ist. Unverzichtbar.

Das ist alles. Zugegeben, viel ist das nicht.

Mein Name ist Jakob Fender, und ich muss eine Menge herausfinden.

Einiges, fürchte ich, wird mir nicht gefallen.

Eins

»Ach komm, Edgar«, sagte Zorn. »Wir vertragen uns wieder, okay?«

Sein Sohn hockte mit zusammengepressten Lippen auf dem Beifahrersitz. Seit sie die Wohnung verlassen hatten, schwieg er hartnäckig. Es war ein schöner, spätsommerlicher Morgen, doch im Hause Zorn herrschte trübe Stimmung.

»Wir hatten ’ne Abmachung. An die muss man sich auch halten.«

Edgar starrte stumm aus dem Seitenfenster.

Der Start in den Tag war holprig gewesen. Sie hatten verschlafen, und während Frieda hektisch unter die Dusche rannte, hatte Zorn den Frühstückstisch gedeckt, die Aufbackbrötchen in den Ofen getan und festgestellt, dass der Kaffee alle war. Also hatte er Pfefferminztee gekocht und war auf den Balkon gegangen, um seine Morgenzigarette zu rauchen. Kaum hatte er diese angezündet, war Frieda mit klatschnassen Haaren erschienen um zu erklären, dass der bekloppte Mistföhn kaputt, Edgar noch immer im Bett und ihre Korallenohrringe verschwunden seien. Nachdem Zorn seinen übermüdeten Sprössling endlich ins Bad bugsiert hatte, wehten ihm dichte Rauchwolken aus der Küche entgegen. Während er fluchend das Fenster aufriss, tauchte Frieda hinter ihm auf, deutete auf den qualmenden Backofen und teilte mit spitzer Stimme mit, auf das Frühstück (Briketts und lauwarmer Tee, lecker!) verzichten zu müssen, sie habe um acht einen Termin im Landgericht. Erst als sie aus der Wohnung gestürmt war (ohne Ohrringe, dafür mit nassen Haaren), hatte Zorn die auffällige Stille im Bad registriert: Anstatt sich die Zähne zu putzen, saß Edgar seelenruhig auf dem Klo und spielte auf seiner neuen Nintendo Animal Crossing. Zorn gelang es, ruhig zu bleiben, doch seine Bitte, die Konsole beiseite zu legen, wurde ignoriert. Auf die zweite – deutlich lautere – Aufforderung entgegnete Edgar, sein Inselimage aufpolieren zu müssen. Als Zorn seinen Sohn an die Abmachung erinnerte (eine Stunde am Tag, nach den Hausaufgaben), konterte dieser, das mit dem Image sei nicht seine, sondern Ögis Idee gewesen, der habe nämlich gesagt, Edgar müsse einen Fisch angeln, bei Eugen gegen einen Spaten eintauschen und einen Baum pflanzen. Die Sache mit dem Fisch sei bereits geschafft, der Rest (Spaten und Baum) im Handumdrehen (versprochen, Papa!) erledigt.

Zorn gestand seinem Sohn noch zwei Minuten zu (keine Sekunde länger!), rauchte die Zigarette auf dem Balkon zu Ende und fand Edgar danach unverändert auf der Toilette hockend vor. Diesmal ließ er sich auf keine Diskussion ein, selbst Edgars bewährter Hundeblick (BIIIITTE, PAPA!) und sämtliches Betteln (Ich hab nur zwei Sterne! Ich brauche drei, sonst kommt K. K. Slider NIEMALS auf meine Insel!) fruchteten nichts, die Nintendo verschwand im Wäschekorb mit der Drohung, dass sie dort für den Rest der Woche auch bleiben werde, wenn ihr Besitzer seinen kleinen Hintern nicht SOFORT vom Klo bewege.

Edgar hatte mürrisch gehorcht, sich kurz über seine eingeschlafenen Beine beschwert und seinen tyrannischen Vater danach mit Missachtung gestraft.

»Hast du dein Frühstück eingepackt?«

Zorn bremste an einer Ampel. Wiederholte die Frage.

»Wenn du’s nicht eingepackt hast«, brummte Edgar, »ist’s auch nicht im Rucksack.«

Zorn zählte innerlich bis drei. Dann teilte er seinem Sohn mit, dass er das Schulbrot wie immer geschmiert, in die gelbe Minions-Büchse getan und auf den Küchentisch gelegt habe. Das Einpacken sei nicht seine, sondern Edgars Aufgabe.

Edgar murmelte etwas.

»Ich hab dich nicht verstanden«, sagte Zorn.

»Die Minions sind total out.«

»Dann besorgen wir dir ’ne neue Brot …«

»Ich hasse Salami.«

»Seit wann? Ich dachte …«

»Das Auto hasse ich auch.«

»Echt? Also ich«, log Zorn grinsend, »find’s total cool!«

Vor einem Monat hatte der alte Volvo nach knapp anderthalb Jahrzehnten treuen Dienstes endgültig den Geist aufgegeben. Obwohl Frieda drohte, die klapprige Rostlaube nie wieder zu besteigen, hatte Zorn die gebrochene Vorderachse reparieren lassen wollen, doch als auch Malina – Edgars Mutter – erklärte, Zorn könne ihren gemeinsamen Sohn gern auf dem Rücken oder in einer Schubkarre transportieren, nicht aber in diesem lebensgefährlichen Vehikel, musste sich Zorn zähneknirschend geschlagen gegeben. Nach einer zermürbenden Suche im Internet hatte er Frieda die Auswahl überlassen – mit Ausnahme der Marke, wenigstens die sollte gleich bleiben. Da saß er nun, in einem schneeweißen Volvo V60 mit weißer Lederausstattung, getönten Scheiben, Sportfelgen, personalisierter Innenbeleuchtung und allerlei Schnickschnack, von dem er nur einen Bruchteil begriff. Damit nicht genug, denn Frieda hatte sich auch um die Zulassung gekümmert. Dass auf dem neuen Kennzeichen ein C und ein Z prangten, war entgegen ihrer heuchlerischen Behauptung alles andere als Zufall, sondern eine weitere Demütigung. Nur armselige Idioten kurvten mit ihren Initialen auf dem Nummernschild durch die Gegend und die Tatsache, dass Claudius Zorn – wie Frieda sehr genau wusste – seinen Vornamen abgrundtief hasste, verdoppelte die Schmach. Immerhin, wenn die Kiste einmal fuhr, war sie dank Automatikgetriebe mit einer Hand relativ einfach zu steuern.

»Grün«, knurrte Edgar.

»Was?«

»Die Ampel.«

»Ach so. Ich … Scheiße.«

»Sagt man nicht.«

Zorn stierte verwirrt auf die Armaturen. »Der Motor ist aus.«

»Du musst Gas geben.«

»Aber ich …«

Hinter ihnen plärrte eine Hupe.

»Einfach nur«, Edgar verdrehte die Augen, »Gas geben.«

Das tat Zorn. Der Volvo schoss vor, Zorns Hinterkopf wurde in die Kopfstütze gepresst. Edgar warf ihm einen genervten Blick zu.

»An der Ampel geht der Motor immer aus.«

Sie fuhren über die Hochstraße. Zorn leckte den Schweiß von der Oberlippe und konzentrierte sich auf den dichten Verkehr.

»Weiß ich doch«, versicherte er. »Spart ’ne Menge Sprit.«

»Das Auto ist trotzdem scheiße.«

»Scheiße sagt man …«

»Wenn du das darfst, darf ich’s auch.«

Er ist sauer, überlegte Zorn. Und wenn er sauer ist, zieht er’s gnadenlos durch. Tja, das hat er von mir.

»Wir können’s uns ja beide abgewöhnen«, schlug er vor.

»Was?«

»Scheiße zu sagen.«

»Pff!«, machte Edgar.

Das, dachte Zorn mit einem gewissen Stolz, hat er auch von mir.

Sie überquerten den Fluss und bogen auf die Ausfahrt hinab zur Altstadt. Der Volvo tauchte in den Schatten der Hochstraße und kroch hinter einem Laster durch den morgendlichen Stau.

»Nun komm schon.« Zorn startete einen weiteren Versuch. »Vertragen wir uns, okay? Du kannst später weiterspielen. Jetzt bring ich dich erst mal zur Schule, und danach …«

»Schule«, Edgar blies eine blonde Haarsträhne aus der Stirn, »ist auch scheiße.«

Er versetzte dem blauen Schulrucksack, der vor ihm im Fußraum lag, einen Tritt.

Herrje, dachte Zorn seufzend. Jetzt ist er gerade erst in die zweite Klasse gekommen. Wenn er irgendwann in der Pubertät ist, kann ich mich frisch machen.

Der Verkehr quälte sich unter der Hochstraße voran, die monströsen Betonstelzen zogen wie in Zeitlupe vorbei.

Edgars Frust, das wusste Zorn, würde bald verfliegen. Eigentlich ging er gern in die Schule. Herr Naumann, sein neuer Klassenlehrer, war kaum älter als zwanzig, ein junger Mann mit wachen Augen, dem der Spaß am Unterricht deutlich wichtiger war als der Lehrplan. Edgar mochte ihn, ebenso wie er Naumanns Vorgängerin gemocht hatte. Dass Luna Krupp von einem Tag auf den anderen verschwunden war, hatte ihn schwer getroffen. Zorn hatte es nicht übers Herz gebracht, seinem Sohn die ganze Wahrheit zu sagen; der Prozess war zwar noch nicht abgeschlossen, doch es war klar, dass die junge Frau die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen würde. Edgar hatte schon lange nicht mehr nach ihr gefragt, bald würde er sie vergessen. Darum beneidete Zorn seinen Sohn, ihm selbst war dieses Glück nicht vergönnt. Die Albträume (der verlassene Wasserturm, das Seil mit den Sprengsätzen) kehrten immer wieder zurück, auch in zwanzig Jahren noch würde er sich schweißgebadet im Bett wälzen und träumen, dass entweder er oder Schröder in tausend Stücke gesprengt wurden.

Der Stau löste sich auf, der Volvo glitt lautlos durch die Innenstadt.

»Na?« Zorn knuffte Edgar mit dem Ellbogen in die Seite. »Wieder Freunde?«

Der Junge rückte zum Fenster. »Du fährst zu schnell.«

»Wieso?«

»Du darfst nur fünfzig.«

»Weiß ich.«

»Du fährst sechsundfünfzig.«

»Ach.«

Zorn kniff die Augen hinter der Brille zusammen. Sein Blick wanderte über die bunten Displays: Tankanzeige, Klimaanlage, Drehzahlmesser, Uhr. Wo war der verdammte …

»Hier.« Der Gurt straffte sich, Edgar beugte sich vor, wies auf eine blinkende Zahl rechts unten auf der digitalen Karte des Navigationsgerätes.

»Alles klar.« Zorn drosselte das Tempo. »Soll ich Musik anmachen?«

»Nee.«

Edgars Blick sprach Bände: Kriegst du sowieso nicht hin.

Womit er richtiglag.

Sie erreichten die Schule, einen dreistöckigen Plattenbau aus DDR-Zeiten. Die Innenräume waren seit einigen Jahren saniert, jetzt hatte man begonnen, die triste Fassade für einen neuen Anstrich einzurüsten.

»Mama holt dich dann ab.« Zorn bremste am Bordstein. »Wir sehen uns übermorgen, okay?«

»Hm.«

Der Junge schnappte den Rucksack, hüpfte aus dem Wagen und wollte sofort los.

»Edgar?«

»Hm?«

»Ich hab dich lieb.«

Edgar beugte sich vor und sah Zorn an.

Wenn er mir jetzt den Stinkefinger zeigt, dachte Zorn, darf ich ihm das nicht durchgehen lassen. Er hat ein Recht, sauer zu sein, aber er muss auch verstehen, dass er …

»Ich dich auch, Papa.«

»Dein Glück. Jetzt aber Abmarsch, du bist spät dran. Und mach die Tür zu, aber …«

RUMMS!

»… nicht so doll«, murmelte Zorn, während Edgar bereits die Treppe hinaufflitzte.

Zorn wartete, bis sein Sohn in der Schule verschwunden war, wendete umständlich und machte sich auf den Weg ins Präsidium.

*

Die Straßen waren eng, rechts und links zugeparkt. Zorn versuchte, das ständige Piepsen irgendwelcher Assistenzsysteme zu ignorieren, bis ihn ein lautes Schrillen zusammenfahren ließ. Die Karte des Navigationssystems verschwand auf dem Display, SCHRÖDER war in Großbuchstaben zu lesen. Zorn stabilisierte das Lenkrad mit den Oberschenkeln, drückte wahllos auf verschiedene Knöpfe und Schalter, um den Anruf entgegenzunehmen. Die Scheiben surrten herab, der elektrische Seitenspiegel fuhr ein, der Sitz vibrierte und begann, Zorns Hintern zu massieren, dann dröhnte Schröders Stimme aus den Lautsprechern.

»CHEF? BIST DU SCHON …«

»SCHREI NICHT SO!«, brüllte Zorn. »MIR FALLEN GLEICH DIE OHREN …«

»ICH SCHREIE NICHT. DU MUSST DIE LAUTSTÄRKE HERUNTER …«

»WIE DENN, VERDAMMT???«

Zorn fummelte hektisch an den Knöpfen.

»AM LENKRAD, CHEF.«

Ein durchdringender Piepton gellte, auf einem der Displays blinkte ein rotes Warnlicht. Zorn sah auf, bemerkte, dass er im Begriff war, einen grünen Ford Transit zu rammen, verwechselte in seiner Verzweiflung die Pedale und gab Vollgas. Mit einem Ruck straffte sich der Gurt und presste Zorn in den Sitz, während das Notsystem eine Vollbremsung auslöste und den Volvo stoppte.

»DIE TASTE …«

Zorn hieb mit der Faust auf das Lenkrad. Der Volvo reagierte mit einem ohrenbetäubenden Blöken.

»DAS WAR DIE HUPE, CHEF.«

»ACH! WAS DU NICHT SAGST, SCHRÖDER!«

»WEITER RECHTS. DIE TASTE MIT DEM MINUSZEICHEN.«

Zorns verbliebene Finger flatterten über das Lenkrad.

»Besser?«, erkundigte sich Schröder nach ein paar Sekunden.

Irgendwie musste Zorn den richtigen Schalter erwischt haben, denn jetzt war die Lautstärke erträglich. Der Volvo stand schräg in der Einmündung zum Kreisverkehr um die Kirche am Hasenberg. Zorn stieß eine Verwünschung aus und warf einen hasserfüllten Blick auf die bunten Anzeigen.

»Chef?« Schröder klang besorgt.

Zorn hockte schweißüberströmt hinter dem Steuer. Er fühlte sich wie ein Passagier in einem der alten Katastrophenfilme, der einen Jumbojet im letzten Moment gelandet hat, nachdem der Pilot ohnmächtig geworden ist.

Was man ihm auch deutlich ansah, denn ein älterer, trotz des strahlenden Sonnenscheins in einen dunklen Wollmantel gekleideter Herr beugte sich durch das offene Beifahrerfenster und erkundigte sich mit sonorer Stimme, ob womöglich Hilfe benötigt werde. Als Zorn stumm abwinkte, hob er skeptisch die buschigen Brauen und ging dann davon.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Schröder am Telefon.

»Logisch«, ächzte Zorn. »Ich bin … SCHEISSE!«

»Was ist?«

Zorn richtete sich auf, griff nach seinem Hintern.

»Ich verbrenne mir hier gleich den Arsch!«

»Wahrscheinlich hast du die Sitzheizung aufgedreht. Links neben dir, am Türgriff.«

»Ich sehe hier keine …«

»Direkt unter dem Fensterheber.«

»Sag das doch gleich!«

»Vielleicht nimmst du besser die Straßenbahn.«

»Haha, ich lach mich tot, Schröder.«

»War nur eine Idee.«

Zorn startete den Motor. »Ich bin in zehn Minuten da.«

Hoffentlich, fügte er in Gedanken hinzu.

»Deshalb rufe ich an«, sagte Schröder. »Sei bitte so nett und fahr vorher im Krankenhaus vorbei.«

»Warum?«

»Weil er aufgewacht ist.«

Zwei

»Und Sie können sich wirklich an überhaupt nichts erinnern?«

Der Polizist stellte die Frage jetzt zum dritten Mal.

»Nein«, sagte ich.

»Und …«

Sein Blick irrte ratlos durch das Krankenzimmer, mehr schien ihm nicht einzufallen. Er hatte sich als Hauptkommissar Zorn vorgestellt, obwohl er nicht wie ein Polizist aussah: verwaschene Jeans, langärmliges Shirt und weiße, knöchelhohe Turnschuhe. Schulterlanges, grau gesträhntes Haar, Dreitagebart, unter dem sich auf der rechten Wange ein feines Narbengeflecht abzeichnete. Er wirkte müde, seine Bewegungen waren langsam, ungelenk, wie die eines schlaksigen Teenagers, obwohl er bestimmt um die fünfzig war.

Dies alles registrierte ich, ohne mir dessen richtig bewusst zu werden. Es war seltsam: über meine Vergangenheit – ganz zu schweigen von der Zukunft – wusste ich nichts, doch die Gegenwart nahm ich problemlos wahr. Natürlich war ich verwirrt (wer wäre das nicht gewesen?), gleichzeitig fühlte ich eine sonderbare Distanz. Ich war es, der in diesem Bett lag, umgeben von Schläuchen und blinkenden Monitoren, aber es fühlte sich nicht so an. Vielleicht lag es an den Medikamenten, denn das, was hier geschah, interessierte mich nicht besonders. Als würde ich mir selbst zusehen, einem Fremden, der mich nicht sonderlich interessierte. Ich kam mir vor wie der Zuschauer eines Fernsehspiels.

»Man hat Sie in einem Hinterhof aufgefunden.« Der Kommissar stand am Fußende des Bettes. Er roch nach Schweiß und kaltem Zigarettenrauch. »In der Nähe vom alten Hafen. Das war in der Nacht zum Dienstag vergangener Woche.«

Eine Anwohnerin hatte mich zwischen den Mülltonnen entdeckt. Wie es aussah, hatte ich eine Weile dort gelegen. Ich beschloss, mich später bei der Frau zu bedanken. Falls ich mich dann noch erinnerte.

»Herr, äh …«

Der Polizist zögerte.

»Fender«, half ich. »Jakob Fender.«

Seine Brauen hoben sich hinter der Brille. Offensichtlich glaubte er, mein Erinnerungsvermögen habe wieder eingesetzt. Ich musste ihn enttäuschen. Dies, erklärte ich ihm, sei der Name, der in meinem Ausweis stand. Ich hatte ihn bei mir getragen, als ich in die Notaufnahme eingeliefert wurde.

Mir selbst sagte dieser Name noch immer nichts. Ebenso gut hätte ich Donald Duck heißen können – das behielt ich für mich; Humor schien für den Polizisten ein Fremdwort zu sein.

Er sah frustriert zum Fenster, dann wieder zu mir herab: »Aufgrund der Spurenlage und der Schwere Ihrer Verletzungen ist ein Mordversuch nicht ausgeschlossen.«

Er wartete auf eine Antwort. Ich hatte keine.

»Es gibt keine Zeugen. Wir brauchen eine Täterbeschreibung. Sonst wissen wir nicht, nach wem wir suchen müssen.«

Es klang wie ein Vorwurf. So war’s wohl auch gemeint.

»Und Sie wissen überhaupt nichts? Wie Sie dort hingekommen sind? Was Sie vorher gemacht haben?«

Als ich verneinte, kratzte er ratlos das unrasierte Kinn. Die Achseln seines Shirts waren dunkel von Schweiß. Aus dem rechten Ärmel ragte eine lederne Manschette.

Ich betrachtete meine verbundene Hand. Fast hätte ich gefragt, wie es ist, wenn man nur noch eine Hand benutzen kann. Ich verkniff es mir. Der Polizist wollte so schnell wie möglich wieder hier weg und gab sich nicht die geringste Mühe, das zu verbergen. Als Doktor Carlsson erschien und erklärte, ich würde jetzt Ruhe brauchen, war ihm die Erleichterung deutlich anzusehen.

»Sie hören von uns.«

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, schien die Temperatur um einige Grad zu steigen. Doktor Carlsson wechselte meinen Kopfverband, schloss die Jalousien und forderte mich auf, ein paar Stunden zu schlafen. Am Nachmittag würde ich noch einmal Besuch bekommen.

Drei

Zorn schloss die Fahrertür, verriegelte den Volvo (zumindest das funktionierte wie gewohnt) und entzündete eine Zigarette. Früher hatte er so dicht wie möglich am Präsidium geparkt, um den Fußweg so kurz wie möglich zu halten. Jetzt stand er in der entferntesten Ecke hinter einem Mannschaftswagen an der Rückseite des Supermarktes. Es war ihm peinlich, mit dieser schneeweißen Protzkiste gesehen zu werden (verchromte Sportfelgen, wozu, um alles in der Welt, brauchte man Sportfelgen?).

Er lehnte an der Heckklappe, blies den Rauch in die laue Spätsommerluft und betrachtete die verglaste Fassade des Präsidiums. Knapp hundert Menschen waren hinter den getönten Scheiben damit beschäftigt, für Recht und Ordnung zu sorgen. Schröder, der beste von ihnen, las wahrscheinlich wie immer in einer Akte. Claudius Zorn selbst war nie ein guter Polizist gewesen, und nun, da er die fünfzig überschritten hatte, würde er auch keiner mehr werden. Also ließ er sich Zeit, schlenderte rauchend zwischen den Streifenwagen auf das Präsidium zu, trat die Kippe direkt vor dem Eingang aus und ging hinein, um seinen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung zu leisten.

*

Schröder las ausnahmsweise nicht in einer Akte. Er saß auch nicht an seinem Platz. Nur sein Schnaufen war zu hören, und als Zorn um den Schreibtisch ging, fand er Schröder unten auf dem Teppich vor.

»Darf man fragen, was du da machst?«

»Liegestütze«, keuchte Schröder.

»Aha.«

»Bin. Gleich. Fertig.«

Zorn lehnte sich ans Fensterbrett. Nach einer knappen Minute hatte Schröder seine Übungen beendet, richtete sich schwer atmend auf und wischte die Hände an der Cordhose ab.

»Gut für die Durchblutung.«

»Das«, nickte Zorn, »sieht man.«

Schröders rundes Gesicht leuchtete flammend rot, der rasierte Schädel strahlte wie eine Rundumleuchte.

»Fünfzig am Morgen«, er rang noch immer nach Luft, »und fünfzig am Abend. Hält den Körper in Form. Und«, er tippte sich an die schweißnasse Schläfe, »das Denken.«

»Sicher doch.«

Seit Jahrzehnten hielt Zorn sich von sämtlichen sportlichen Aktivitäten fern. Zum einen natürlich aus Trägheit. Zum anderen schwante ihm, dass jeder Versuch im Desaster enden musste; in seiner Jugend hatte er zwar locker hundert Liegestütze geschafft, jetzt allerdings war zweifelhaft, ob er überhaupt in den zweistelligen Bereich kommen würde, und selbst wenn, blieb die Frage, wie beziehungsweise ob er danach wieder auf die Füße käme. Nein, es war besser, es gar nicht erst zu versuchen, denn so konnte man sich zumindest einbilden, fit zu sein. Äußerlich traf das durchaus noch zu, auf den ersten Blick jedenfalls. Früher hatte Zorn das T-Shirt immer in den Gürtel gesteckt, jetzt hing es über den Jeans, doch bei näherer Betrachtung war die Wölbung nicht zu übersehen.

Schröder trocknete das Gesicht mit einem Frotteehandtuch, beglückwünschte Zorn zu seiner unfallfreien Fahrt ins Präsidium (ich hab vom Fenster aus gesehen, wie du eingeparkt hast, hervorragende Leistung) und erkundigte sich nach dem Besuch im Krankenhaus.

»Er ist wach«, sagte Zorn.

»Deswegen hatte ich dich gebeten, mit ihm zu sprechen.«

»Er erinnert sich nicht.«

»Nicht?«

»Amnesie.«

»Ach je.«

Schröder rieb seufzend den geschorenen Kopf. Als Zorn ihn kennengelernt hatte, trug er die letzten Strähnen noch quer über die Glatze gekämmt. Auch damals war er schon korpulent gewesen, doch es gab Jugendfotos, auf denen ein anderer Schröder zu sehen war: ein stämmiger junger Mann mit rotem, lockigem Haar, strahlend blauen Augen und einem Lächeln, mit dem er wahrscheinlich schon auf die Welt gekommen war. Er war Ringer gewesen, hatte einige Meisterschaften gewonnen, und obwohl er nun einiges mehr wog, hatte er seine Fähigkeiten kaum eingebüßt. Wer ihn nicht kannte, neigte dazu, ihn zu unterschätzen. Meist ließ es Schröder geschehen (es interessierte ihn nicht), doch Zorn hatte mehrfach erlebt, wie der ein oder andere eines äußerst schmerzhaften Besseren belehrt wurde.

Schröder öffnete den obersten Hemdknopf. Der karierte Stoff unter dem Doppelkinn war durchgeschwitzt, doch er roch nicht nach Schweiß – das tat er nie, irgendwie schien er immer direkt aus der Dusche zu kommen.

»Partiell?«, fragte Schröder.

»Par…was?!«

»Teilweise. Bei einer partiellen Amnesie würde er sich demnächst wieder erinnern.«

»So hat’s die Ärztin gesagt.«

»Dann müssen wir also abwarten«, brummte Schröder.

Die letzten Monate waren ruhig verlaufen. Zorn hatte das als angenehm empfunden, doch Schröder hasste den tristen Büroalltag. Als vor einer knappen Woche die Meldung vom Krankenhaus kam, hatte Zorn eine Streife für das übliche Protokoll hinschicken wollen, doch Schröder war selbst hingefahren, um den Schwerverletzten persönlich in Augenschein zu nehmen, und war schnell zu der Vermutung gekommen, dass es sich nicht um eine der üblichen Schlägereien gehandelt haben konnte.

Jakob Fender hatte keine Vorstrafen, in seinem Blut waren weder Alkohol noch Drogen festgestellt worden. Die Schnittwunde an seiner Hand stammte von keinem gewöhnlichen Messer, es musste extrem scharf und ziemlich groß gewesen sein. Und er schien auch nicht der Mensch zu sein, der sich nachts auf irgendwelchen Hinterhöfen herumtrieb. Man hatte seine Arbeitskollegen befragt, von denen er einhellig als kompetent, freundlich und absolut zuverlässig beschrieben worden war.

Das alles waren nur Indizien. Da es keine Zeugen gab, waren sie auf Jakob Fenders Aussage angewiesen, um Schröders Ahnung zu bestätigen.

»Seine Frau will ihn nachher besuchen«, sagte Zorn.

»Gut«, nickte Schröder. »Das wird ihm bestimmt helfen, sich zu erinnern.«

Vier

Sie hieß Mona.

Ich wusste nicht, wie lange sie an meinem Bett gesessen hatte, zwischendurch waren mir immer wieder die Augen zugefallen. Sie hatte mir eine Menge über mich erzählt, und das alles war ziemlich verwirrend:

Genau genommen war sie nicht meine Frau, sondern meine Exfrau. Wir lebten seit Jahren getrennt, waren aber noch verheiratet, und zwar aus steuerlichen Gründen, wie sie erzählte. Offensichtlich kannte ich mich mit Finanzen aus.

Ich fragte nicht, warum wir uns getrennt hatten. Das, nahm ich mir vor, würde ich später tun. Dass ich mich irgendwann in diese schlanke, hochgewachsene Frau verliebt haben musste, war kein Wunder. Sie wirkte reserviert, und selbst in meinem benebelten Zustand registrierte ich sofort, wie unwohl sie sich fühlte. Doch ich schien ihr noch immer wichtig zu sein, anders war ihr Besuch nicht zu erklären. Das war … tröstlich. Obwohl sie mir absolut fremd war.

Ich erfuhr noch mehr.

Dass ich mich früher fast ausschließlich von Pizza und Fastfood ernährt hatte und seit zehn Jahren Vegetarier war. Ich trank so gut wie nie Alkohol, verehrte die Beatles, James Blunt und besaß sämtliche CDs, die Udo Lindenberg jemals veröffentlicht hatte. Ich verabscheute deutschen Schlager und mochte Fußball. Meine Lieblingsmannschaft war Borussia Dortmund. Ich achtete beinahe krankhaft auf meinen Körper und ging mindestens zweimal täglich unter die Dusche. So, sagte Mona, sei es jedenfalls früher gewesen. Letzteres zumindest hatte sich offensichtlich nicht geändert, denn der Gedanke, mich seit einer Woche nicht gewaschen zu haben, missfiel mir außerordentlich.

»Danke«, sagte ich und deutete auf den Blumenstrauß in einer Vase auf dem Tisch neben dem Bett. Mona sah mich einen Moment verständnislos an, bis sie schließlich begriff.

»Die sind nicht von mir.«

Sie reichte mir eine bunte Klappkarte mit einem aufgedruckten Plüschteddy und den besten Genesungswünschen meiner Kollegen, die auf der Innenseite unterschrieben hatten: Knut. Alwin. Jan. Doktor Dahlmeyer. Frau Brandis.

Die Namen sagten mir nichts, doch ich erfuhr von Mona, dass ich seit über einem Jahrzehnt als Netzwerkadministrator bei der Sparkasse arbeitete.

»Ich kenne mich mit Computern aus?«

Was das betraf, meinte Mona, war ich ein verdammtes Genie.

Die Ärzte hatten sie gebeten, Fotos mitzubringen. Das erste zeigte einen bärtigen jungen Mann. Ich selbst konnte das nicht sein, ich trug keinen Bart. Außerdem (eines der wenigen Dinge, die ich über mich wusste), war ich blond. Der hier hatte kastanienbraunes, im Nacken zu einem Zopf gebundenes Haar, trug eine Brille und ein ziemlich albernes Nasenpiercing. Das, sagte Mona, war Hagen.

»Dein bester Freund. Er war auch dein Trauzeuge.«

Auf dem nächsten Foto stand ein junges Paar vor dem Portal einer Kirche. Die Braut, groß und schlank, trug ein weißes Kleid und spitzenbesetzte Handschuhe, in das Haar waren Blumen geflochten. Obwohl ihre Schuhe flach waren, überragte sie den Bräutigam um ein paar Zentimeter. Der war in die übliche Tracht mit Anzug und Fliege gekleidet, sein blondes Haar streng gescheitelt, die hellen Augen direkt in die Kamera gerichtet.

Die Braut war Mona.

»Wie lange ist das her?«, fragte ich.

»Knapp fünfzehn Jahre. Wir waren neunzehn.«

Ich betrachtete das weiche, glattrasierte Gesicht des Bräutigams. Die vollen, geschwungenen Lippen. Seinen Arm, den er besitzergreifend um die Hüfte seiner jungen Frau gelegt hatte.

Das war also ich.

Jakob Fender.

Vierunddreißig Jahre alt.

Mona blies eine Haarsträhne aus der Stirn. Das schien sie öfter zu tun, ich musste es hundertfach beobachtet haben. Ich überlegte, wie oft ich die winzige Narbe über ihrer rechten Braue geküsst hatte, die kleinen Leberflecke, die am Hals ein Quadrat bildeten.

Ich horchte in mich hinein. Nichts.

Diese Frau neben dem Bett war mir unbekannt.

Der, der darin lag, ebenfalls.

Wieder sah ich das Foto an. »Du hast dich kaum verändert.«

Das schien ihr unangenehm zu sein, sehr unangenehm. Doch es stimmte. Damals hatte sie ihr Haar länger getragen, ihre Gesichtszüge waren weicher, mädchenhaft, doch auch jetzt, fünfzehn Jahre später, würde ihr das Kleid noch problemlos passen. Ein schönes Kleid mit tiefem Ausschnitt, spitzenbesetztem Kragen und einem schmalen, perlenbesetzten Gürtel, unter dem …

Ich betrachtete die Wölbung über dem Bauch.

»Du warst …«

»… schwanger? Ja, im sechsten Monat.«

Und so erfuhr ich noch etwas.

Ich hatte einen Sohn.

Fünf

»Ich danke Ihnen.«

Schröder bat, umgehend informiert zu werden, sobald sich etwas Neues ergäbe, wünschte noch einen angenehmen Abend und beendete das Telefonat. Auf Zorns nicht sonderlich interessierte Nachfrage erklärte er, gerade mit Fenders Ärztin gesprochen zu haben.

»Sein Zustand ist unverändert. Doktor Carlsson meint, bei einer retrograden …«

»Hä?«

»… Amnesie würde das Erinnerungsvermögen in den ersten vierundzwanzig Stunden wieder einsetzen. Jedenfalls bei den meisten Patienten.«

»Und was ist mit den anderen?«

Zorn griff in eine Tüte Schokolinsen und steckte eine in den Mund. Er mochte keine Süßigkeiten, doch es half, die Zeit bis zur nächsten Zigarette zu überbrücken.

»Manche Menschen erinnern sich nie«, sagte Schröder. »Auslöser kann ein Unfall sein oder ein traumatisches Erlebnis. Alles, was davor geschehen ist, bleibt ausgelöscht. Sie erkennen weder Freunde noch Verwandte, aber im Alltag finden sie sich zurecht. Sie wissen, wie man ein Telefon benutzt, Auto fährt oder …«

»Warum sagst du das so komisch?«

»Was?«

»Das mit dem«, das Bonbon platzte zwischen Zorns Schneidezähnen, »Autofahren.«

Schröder runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was du meinst, Chef.«

»Du hättest Tausende Beispiele nehmen können«, sagte Zorn kauend. »Kaffee kochen, Blumen gießen oder … sich den Hintern abwischen.«

»Stimmt«, nickte Schröder. »Obwohl ich Letzteres eher nicht …«

»Aber nein. Du kommst mit Autofahren.«

»Warum sollte ich nicht …«

»Weil du rumsticheln willst!«

»Wie kommst du denn auf …«

»Du willst mich ärgern.« Zorn langte wieder in die Tüte. »Ich muss mich nur ein bisschen an die neue Karre gewöhnen, aber ich fahre seit dreißig Jahren Auto! Das kann ich!«

Niemand, erwiderte Schröder, würde die Chuzpe haben, eine solch unbestreitbare Tatsache ernsthaft in Zweifel zu ziehen.

Zorn warf eine Schokolinse in die Luft. Das Bonbon verfehlte seinen Mund, prallte gegen das Kinn und landete auf seinem Schoß.

»Du hast mir die Freisprechanlage eingerichtet, Schröder. Und gezeigt, wie man die Sitze verstellt. Aber ich hab ganz allein rausgekriegt, wie man telefoniert. Und die Lautstärke kann ich jetzt auch regeln.«

Schröder beglückwünschte Zorn zu dieser außerordentlichen Leistung. »Also«, fuhr er fort, nachdem er versprochen hatte, das Thema Autofahren nur noch in Notfällen zur Sprache zu bringen. »Der autobiographische Teil von Fenders Erinnerungen ist deaktiviert. Emotionale Erfahrungen sind blockiert, das episodische Gedächtnis ebenfalls. Er nimmt seine Umwelt wie jeder andere wahr, kann lesen, Fahrrad fahren …«

»… oder Auto …«

»… und besitzt also sämtliche Fähigkeiten, die kein weiteres Nachdenken erfordern. Auch das Neugedächtnis funktioniert. Alles, was nach dem Ereignis passiert, wird abgespeichert.«

»Apropos abspeichern. Darf man fragen, woher du das alles weißt? Bist du jetzt unter die …«

»Nein, ich bin nicht unter die Hirnchirurgen gegangen, Chef. Einen Teil«, Schröder deutete auf das Festnetztelefon, »hat mir Fenders behandelnde Ärztin gerade erläutert. Einiges habe ich heute Vormittag im Internet gelesen, und den Rest«, er tippte sich an die Stirn, »wusste ich bereits.«

»Aha.«

»Fender hat keine organischen Schäden. Der Hirnscan, sagt die Ärztin, zeigt keine Verletzungen. Nicht nur der Schlag auf den Kopf war der Auslöser, sondern das Erlebnis an sich. Der Überfall hat ihn traumatisiert, die Erinnerung ist nicht verloren, sondern blockiert. Aus Selbstschutz verdrängt.«

Das konnte Claudius Zorn sehr gut nachvollziehen. Er selbst war ein hervorragender Verdränger, denn mit Problemen, die man nicht bemerkte (oder zumindest so tat), musste man sich nicht beschäftigen. Den Vorwurf, ein Ignorant zu sein, nahm er in Kauf, solange sein Leben in halbwegs ruhigen Bahnen verlief.

»Fenders Gehirn ist also intakt«, sagte er. »Organisch jedenfalls.«

»Sí, señor.«

»Und wenn er simuliert?«

»Möglich«, stimmte Schröder zu. »Dann bliebe allerdings eine Frage.«

»Und welche?«

»Nach dem Warum.«

Sechs

In der Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich driftete in eine Art Dämmerzustand, aus dem ich immer wieder hochschreckte. Stundenlang lag ich wach, lauschte dem Piepsen der Monitore, den Schritten der Krankenschwestern auf dem Flur, und als mir das Frühstück gebracht wurde (Weißbrot, Schnittkäse und warmer Tee), fühlte ich mich wie zerschlagen. Doktor Carlsson machte ein paar Tests, ich musste Zahlenreihen wiederholen, europäische Hauptstädte aufsagen und alberne Texte von Karteikarten vorlesen. Die Ärztin war zufrieden, keinerlei kognitive Prozesse waren beeinträchtigt.

»Ihre Nervenstrukturen sind intakt, Herr Fender. Keine Aussetzer.«

Doch, die gab es.

Dazu später mehr.

Ich erzählte von meiner Schlaflosigkeit. Die, erklärte Doktor Carlsson, sei Teil des Krankheitsbildes, ein Schutzmechanismus, der verhindern sollte, dass ich mich durch Träume an den Auslöser der Amnesie erinnerte.

»Sie müssen Geduld haben. Bleiben Sie optimistisch.«

Es gab keine Medikamente, doch viele andere Möglichkeiten: Psychotherapie, Entspannungstechniken, Hypnose. Gespräche mit Menschen, die mich kannten. Das alles würde nach und nach helfen.

»Ihr Körper wehrt sich. Lassen Sie ihm Zeit.«

Ich stimmte ihr zu.

Was blieb mir auch übrig?

Die Verletzungen heilten gut. Der Tropf wurde entfernt; meine Hand, die geprellten Rippen und die Platzwunden würden mir noch einige Zeit zusetzen, gegen die Schmerzen würde ich Tabletten bekommen.

Als Doktor Carlsson das Zimmer verlassen hatte, ging ich auf die Toilette. Bisher hatte ich einen Blick in den Spiegel vermieden. Als ich es tat, war ich weder überrascht noch schockiert, schließlich rechnete ich damit, einen Fremden zu erblicken. Der Mann im Spiegel war eindeutig der, den ich auf dem Hochzeitsfoto gesehen hatte, trotz des geschwollenen, von einem Bluterguss umgebenen Auges, der verschorften Wange und der aufgesprungenen Lippen. Älter geworden war er natürlich auch, nach fünfzehn Jahren hatte sich das blonde Haar deutlich gelichtet, die rötlichen Bartstoppeln waren von den ersten grauen Strähnen durchzogen.

Da stand ich also in dem winzigen Bad, neugierig in den Anblick des Fremden vertieft, und rieb das kratzende Kinn. Ein alter, ziemlich alberner Spruch fiel mir ein:

Ich kenne dich zwar nicht, aber ich …

Ich blinzelte. Der Mann im Spiegel ebenfalls.

Das Wort, es war weg. Einfach verschwunden.

Dieses Ding, mit dem man den Bart abmacht. Ich wusste nicht, wie es hieß.

Ich hatte selbst eins. Akkubetrieben, hellgrüner Plastikgriff. Die Klingen mussten regelmäßig gewechselt werden, als ich sie zuletzt bei Amazon bestellt hatte, war ich wütend gewesen, weil sie sündhaft teuer waren. Daran erinnerte ich mich, auch an das schwarze Ladekabel, das sich ständig verknotete.

Ich umklammerte das Waschbecken. Alles, was ich sah, kannte ich: Toilettenschüssel, Klobürste, Papierspender. Notrufklingel. Haken, daran ein Handtuch. Seifenspender, Steckdose, Lichtschalter.

Ich wusste die Namen. Wusste, wie jedes dieser Dinge funktionierte. Nur dieses verdammte … Gerät konnte ich nicht benennen. Es surrte, wenn man es einschaltete. Es war wasserdicht, man konnte es unter der Dusche benutzen.

Wie es hieß, wusste ich nicht.

So viel zum Thema Aussetzer.

Sieben

Schröder stieg vom Rennrad und lehnte es an eine Laterne. Über Nacht war es merklich kühler geworden; nachdem er sein Haus verlassen hatte, war er noch einmal umgekehrt und hatte einen grauen Wollpullunder über das karierte Hemd gestreift. Schröder liebte es, morgens durch den Stadtwald ins Präsidium zu fahren, Regen und Kälte machten ihm nichts aus. Unterwegs hatten seine Gedanken um Jakob Fender gekreist, und als er über die Brücke in Richtung Innenstadt fuhr, hatte er beschlossen, sich den Hinterhof noch einmal anzusehen, in dem der bewusstlose Fender aufgefunden worden war.

Er lockerte den Riemen seines Fahrradhelms und schloss das Rad an. Die mit Kopfstein gepflasterte Straße und der Bürgersteig waren feucht vom morgendlichen Tau. Im Gehen öffnete er die Klettverschlüsse der fingerlosen Handschuhe (ein Weihnachtsgeschenk von Zorn) und streifte sie ab. Seine Schritte hallten in der tunnelartigen Durchfahrt, er erreichte den Hinterhof, nahm den Helm ab und sah sich um.

Der Hof war eng, schattig und feucht, auf drei Seiten begrenzt von den Klinkerfassaden der fünfstöckigen Häuser. Gegenüber dem Durchgang erhob sich eine drei Meter hohe Mauer, auf deren Krone eingemauerte Glasspitzen in der Morgensonne blitzten. Die Luft war modrig und klamm, selbst im Hochsommer lag der Hof größtenteils im Schatten. Risse überzogen die Mauern, Putz bröckelte ab. Trotzdem war das abgetretene Backsteinpflaster sauber gefegt, die Mülltonnen standen in Reih und Glied, kein Unrat lag umher.

Schröder legte den Helm auf eine Mülltonne und wandte sich nach links zum Eingang des Hinterhauses. Das Milchglas der Tür war in den Ecken gesprungen. FAHRRÄDER GEHÖREN NICHT IN DEN FLUR!!!, stand auf einem mit Klebeband befestigten Zettel, darunter ein hingekritzelter Kommentar: Fick dich.

Die Wohnungen standen größtenteils leer, nur vier waren vermietet. Keiner der Anwohner, so hatte Kollege Brettschneider berichtet, hatte etwas gehört, auch nicht die Mieter der Vorderhäuser.

Die Sonne schien über die Mauerkrone, tauchte die oberen Stockwerke in goldfarbenes Licht. Der Kampf, überlegte Schröder, musste heftig gewesen sein. Schläge, Schreie, verstärkt durch das Echo der hohen Mauern. Warum hatte niemand etwas …

»Herr Kommissar!«, gellte eine schrille Stimme über den Hof. »Wollen Sie zu mir?« Eine alte Dame steckte den weißhaarigen Kopf durch ein Fenster im dritten Stock. »Ich habe die Klingel gar nicht gehört!«

Nein, wehrte Schröder ab, er wolle sich nur noch einmal umsehen.

»Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten?«

»Danke, Frau Tröbner! Nicht nötig!«

Die alte Dame hatte Fender gefunden und den Notruf gewählt. Schröder hatte vor ein paar Tagen mit ihr gesprochen, die Befragung der übrigen Hausbewohner hatte er Brettschneider überlassen.

»Ich habe gerade Kaffee gekocht!«

»Leider nicht! Ich muss gleich weiter!«

Viel hatte das Gespräch mit der redseligen Alten nicht gebracht. Sie war seit Jahren verwitwet, hörte nicht mehr gut – was zumindest in ihrem Fall erklärte, warum sie nichts mitbekommen hatte – und nutzte die Gelegenheit, dem gutmütigen Schröder weitschweifig ihre Probleme mit den Nachbarn (früher hat man sich wenigstens noch gegrüßt!), ihrem Dackel (er wird langsam inkontinent, der Herbert) und der Welt im Allgemeinen (man kann über Honecker sagen, was man will, Arbeit hatten jedenfalls alle!) darzulegen.

»Ein Stück Rührkuchen vielleicht?« Frau Tröbner ließ nicht locker. »Der hat Ihnen doch so gut geschmeckt!«

Schröder, dem der staubtrockene Kuchen noch stundenlang schwer im Magen gelegen hatte, lehnte auch dieses Angebot freundlich ab, worauf die alte Dame sichtlich enttäuscht in ihrer Wohnung verschwand.

Erleichtert atmete Schröder auf, schloss einen Moment die Augen und konzentrierte sich. Die Durchfahrt, überlegte er weiter, bildete den einzigen Zugang zum Hof. Entweder …

»Ich hab Ihnen ein Stück eingepackt!«

Frau Tröbner beugte sich aus dem Fenster und wedelte mit einem in Alufolie gewickelten Päckchen. Für ihr Alter war sie erstaunlich flink, innerhalb kürzester Zeit hatte sie nicht nur den Kuchen verpackt, sondern auch den zerschlissenen Morgenmantel gegen eine pinkfarbene, mit Rüschen besetzte Bluse getauscht, eine Perücke übergestülpt und sogar Zeit gefunden, die Lippen mit einem grellroten Lippenstift nachzuziehen.

»Das ist wirklich lieb!«, rief Schröder hinauf. »Aber ich bin …«

Ein Kläffen drang aus der Wohnung.

»… mit dem Fahrrad hier und …«

»Aus, Herbert!«, rief die Alte über die Schulter. »Der Kommissar muss sich konzentrieren!«

Der Hund jaulte auf und verstummte.

»Wie gesagt«, rief Schröder, »ich hab keine Tasche, in der ich den Kuchen …«

»Ich gebe Ihnen eine Tüte!«

Das, gab Schröder resigniert zurück, sei natürlich eine tolle Idee, auf die er eigentlich selbst hätte kommen müssen.

Schritte erklangen im Treppenhaus, die Tür wurde geöffnet. Eine blasse Frau mit schwarz gefärbtem, an der rechten Kopfhälfte bis zur Schläfe geschorenem Haar erschien, bedachte Schröder mit einem ausdruckslosen Blick aus kajalumrandeten Augen und lief eilig davon.

»Guten Morgen, Frau Hecht!«, rief die Alte betont fröhlich herab.

Die junge Frau erwiderte den Gruß, ohne sich umzusehen, und verschwand im Schatten der Durchfahrt.

Schröder ließ den Blick über den Hof schweifen, während sich die alte Dame wortreich über ihre Nachbarin beschwerte, die vor einem Vierteljahr eingezogen war und es bisher nicht für nötig gehalten hatte, sich wenigstens kurz vorzustellen.

»Wenigstens hört sie keine laute Musik! Das ist heutzutage ja …«

»Hier haben Sie ihn gefunden?«

Schröder deutete zwischen zwei Mülltonnen.

»Ja, da lag er!« Frau Tröbner reckte den Hals. »Direkt neben der Papiertonne! Ich hätte es gar nicht mitbekommen, weil nur die Beine zu sehen waren! Die Biotonne war umgekippt, überall lag Dreck! Ich wollte schon weitergehen, doch zum Glück hat Herbert gekläfft und … wie geht es dem armen Mann eigentlich?«

»Er ist noch im Krankenhaus.« Schröder ging vor den Mülltonnen in die Hocke. »Aber er wird wieder gesund.«

Hoffentlich, fügte er im Stillen hinzu und musterte die Stelle, an der Fender gefunden worden war, eingezwängt zwischen einer umgekippten Mülltonne und der Hauswand. Die Blutflecken waren noch zu erkennen, ebenso die Schäden an der Fassade. Die Schläge hatten nicht nur Jakob Fender, sondern auch die Wand getroffen und waren so wuchtig gewesen, dass die Klinker an einigen Stellen geplatzt waren.

Schröder richtete sich auf, zog die Cordhose hoch und öffnete die Deckel der Mülltonnen.

»Wollen Sie nicht doch kurz hinaufkommen, Herr Kommissar?«

Schröder sah in die Papiertonne. Stutzte.

»Ein klitzekleiner Kaffee?«, lockte Frau Tröbner. »Sprühsahne habe ich auch …«

»Wann wurde die zuletzt geleert?«

Die Alte dachte einen Moment nach.

»Vor einer guten Woche.«

»Also kurz vor dem Überfall«, murmelte Schröder und zog einen länglichen Gegenstand aus der Tonne.

»Das«, echauffierte sich Frau Tröbner, »gehört nun wirklich nicht in den Papiermüll!«

Schröder gab ihr Recht. Auch er trennte seinen Müll immer äußerst penibel, doch im Moment interessierte ihn etwas anderes. Bisher hatte er nur spekulieren können, mit welcher Waffe Jakob Fenders Finger beinahe komplett abgetrennt worden waren. Ebenso war unklar gewesen, womit man ihn so brutal geschlagen hatte. Letzteres war jetzt geklärt. Schröder hielt es in der Hand.

Einen Baseballschläger.

Acht

Nach einer knappen Stunde war das Wort wieder da.

Rasierer.

Einfach so. Ebenso plötzlich, wie es verschwunden war. Ich wusste nicht, wo es gewesen war. Irgendwo in einem Raum, einem dunklen Raum, in dem auch die anderen Dinge eingesperrt waren, aus gutem Grund, wie Doktor Carlsson erklärt hatte: Selbstschutz. Was immer dort auch lauerte, es machte mir Angst.

Jetzt wurde mir etwas anderes klar: Wenn ein Wort, eine Buchstabenfolge (R.A.S.I.E.R.E.R.) so einfach wieder auftauchte, konnte dieser Raum nicht sehr fest verschlossen sein. Die Tür war brüchig, konnte sich jederzeit öffnen.

Wann?

Keine Ahnung.

In der nächsten Sekunde vielleicht. Eventuell auch nach Tagen, Monaten oder Jahren. Womöglich nie. Trotzdem, ich musste jederzeit damit rechnen. Beeinflussen konnte ich es nicht.

Auch das machte mir Angst.

Neun

»Der Baseballschläger lag seit dem Überfall in der Mülltonne«, sagte Schröder. »Niemand dürfte ihn danach angefasst haben.«

»Korrigiere mich, wenn ich falschliege«, knurrte Zorn. »Aber heißt die Spurensicherung nicht deshalb Spurensicherung, weil sie Spuren sichert?«

»Richtig.«

»Wie konnten die das Ding übersehen? Sind die zu blöd, in ’ne Papiertonne zu gucken? Oder zu faul? Jemand sollte denen mal richtig Feuer unterm Arsch machen, damit …«

»Kannst du gern tun.« Schröder deutete auf das Regal mit den Aktenordnern. »Du wirst eine Weile suchen müssen, aber ich bin sicher, du findest das richtige Formular. Wenn du’s ausgefüllt hast, kannst du die Beschwerde in Umlauf bringen und …«

»Schon gut«, wehrte Zorn ab, ging zum Fenster und goss sich Kaffee ein. »Auch einen?«

»Der Baseballschläger«, Schröder lehnte mit einer Handbewegung den Kaffee ab, »ist im Labor. Das Holz ist abgewischt worden, aber es gibt Blutspuren, die stammen wahrscheinlich von Fender. Und ein paar Fingerabdrücke, vielleicht helfen die uns ja weiter.«

»Es sei denn, der Typ hat Handschuhe getragen.«

»Unwahrscheinlich ist das nicht. Es gibt jedenfalls …«

»Scheiße, ist der heiß!«

Zorns Tasse landete mit einem Knall auf dem Schreibtisch.

»Es gibt jedenfalls«, fuhr Schröder unbeirrt fort, »nur einen einzigen Zugang zum Hinterhof. Und zwar die Durchfahrt. Entweder … äh, Chef?«

»Was?«

»Im Waschbecken ist ein Lappen.«

Zorn, der Anstalten gemacht hatte, den übergeschwappten Kaffee mit dem Ärmel des Shirts abzuwischen, stand widerwillig auf.

»Entweder«, sagte Schröder, »Jakob Fender war auf der Flucht und wollte sich im Hof verstecken. Oder man hat ihm dort aufgelauert. Dann ergibt sich die Frage …«

»… was er dort wollte.«

Zorn wischte kurz über den Tisch, zielte, warf den Lappen quer durch das Büro und ballte die verbliebene Hand zu einer triumphierenden Siegerfaust, als der Lappen klatschend im Waschbecken landete.

»Niemand der Anwohner kennt ihn«, sagte Schröder.

»Behaupten die alle.« Zorn schob einen Papierstapel beiseite, unter dem eine bräunliche, verschmierte Lache zum Vorschein kam. »Muss ja nicht …«

»Chef?«

Schröder hielt eine durchnässte Akte zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe und sah Zorn durchdringend an. Dieser stierte durch die dicken Gläser der Lesebrille auf den grauen Pappdeckel, von dessen Rändern der verschüttete Kaffee auf den Schreibtisch tropfte.

»Die ist nicht wichtig«, winkte Zorn ab, nachdem er die verblasste Aufschrift entziffert hatte. »Irgend ’ne Leitlinie über Verhörtechniken, den Kram kann man …«

»Was wichtig ist, bestimme ich.«

Murrend langte Zorn über den Schreibtisch, schnappte die Akte und warf sie zwischen Schröders Topfpflanzen auf das Fensterbrett. »Zufrieden, Chef?«

Das war Schröder nicht, wie seinem Blick zum Waschbecken mehr als deutlich zu entnehmen war. Also sprang Zorn erneut auf, holte den Lappen und wischte den Schreibtisch ein weiteres Mal ab.

»Fakt ist«, resümierte Schröder währenddessen, »das war kein Zufallstreffen.«

»Wieso? Es könnte ein stinknormaler Raubüberfall …«

»Fender hatte seine Brieftasche dabei, Geld wurde ihm nicht gestohlen.«

»Aber sein Handy ist weg.«

»Vielleicht hatte er’s nicht bei sich.«

»Jeder hat doch heutzutage ein …«

»Er kann es verloren haben. Vielleicht ist es in seiner Wohnung.«

»Oder man hat’s ihm geklaut.«

»Möglich«, stimmte Schröder zu. »Aber wegen eines Handys wird niemand halb totgeprügelt. Und das war ein Mordversuch.«

»Wie kannst du da so sicher …«

»Ich bin sicher.«

Na gut, dachte Zorn. Wenn Schröder davon überzeugt ist, dann wird’s wohl so sein. Ich wäre der Letzte, der eine Diskussion anfangen sollte.

»Die Schläge waren so heftig, dass der Putz von der Mauer abgeplatzt ist. Der Angreifer«, Schröder hob Zorns Tastatur an, damit dieser auch darunter wischen konnte, »wollte Fender nicht nur verletzen, sondern töten. Entweder, er … guck mal, da ist noch ein Fleck.«

»Wo?«

»Neben dem Mousepad.«

»Besser?«

»Hervorragend, Chef.«

Zorn hob wieder den Arm.

»Das«, warnte Schröder, »würde ich lieber nicht noch einmal …«

Der Lappen flog durch die Luft …

»Strike!«, rief Zorn.

… und landete wieder im Waschbecken.

Schröder gab Zorn einen Moment, um den Triumph zu genießen. »Der Angreifer ist davon ausgegangen, dass Fender tot ist«, sagte er dann. »Vielleicht wurde er auch gestört.«

»Er benutzt einen Baseballschläger«, überlegte Zorn, den Blick noch immer auf das Waschbecken gerichtet. »Aber nicht nur den. Warum braucht er zwei Waffen?«

»Gute Frage.«

»Gracias, Chef.«

»Es würde helfen, wenn wir wüssten, worum genau es sich bei dieser zweiten Waffe handelt.«

»Jemand könnte sich die Schnittwunde näher ansehen.«

»Ein Rechtsmediziner?«

»Genau«, nickte Zorn.

»Dazu können wir Fender nicht zwingen«, sagte Schröder.

»Aber wir können ihn fragen.«

»Und wenn er ablehnt?«

Zorn hob die Schultern. »Dann haben wir’s zumindest versucht.«

Schröder dachte kurz nach.

»Wir werden’s ihm anbieten«, entschied er schließlich. »Fender muss sich erinnern. Er braucht jede Information, die ihm helfen kann.«

»Vielleicht will er’s ja gar nicht«, überlegte Zorn.

»Was?«

»Sich erinnern.«

Zehn

Ich verzichtete auf das Mittagessen – Spirelli und eine breiähnliche Masse, die von der Schwester als Bolognese bezeichnet wurde – und fuhr im Fahrstuhl nach unten, um im Innenhof einen Spaziergang zu machen. Dort lief – nein, schlich – ich eine Weile im Zeitlupentempo zwischen Blumenbeeten über einen gekiesten Weg, und als ich mich schließlich auf eine Bank vor einen steinernen Springbrunnen setzte, fühlte ich mich, als hätte ich einen Marathonlauf absolviert. Meine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug, das Blut pochte in der verletzten Hand und zwischen den Schläfen.

Doch es tat gut, in der Sonne zu sitzen und dem Plätschern des Wassers zu lauschen. Die Erschöpfung war Folge der Schlaflosigkeit, und die Schmerzen waren erträglich. Es gab keine Anzeichen weiterer Aussetzer, alles, was mich umgab – den Krankenwagen vor der Notaufnahme, die summenden Bienen zwischen den Veilchen, die Kondensstreifen am strahlend blauen Himmel –, konnte ich problemlos einordnen.

Auch Mona erkannte ich sofort. Im Rahmen meiner Möglichkeiten jedenfalls, denn ich erinnerte mich zwar, dass diese schlanke Frau in engen Jeans und hochhackigen Schuhen mich gestern besucht hatte, dass ich mit ihr verheiratet gewesen war, wusste ich nur, weil sie’s mir erzählt hatte.

Die Tür mochte brüchig sein, doch sie blieb geschlossen.

Mona fragte, wie es mir gehe (besser, erwiderte ich), streifte eine blaue Umhängetasche von der Schulter und nahm neben mir Platz, ohne mich direkt anzusehen.

»Du siehst gut aus.«

Die Lüge sollte mich wohl ein wenig aufrichten – der Mann, den ich im Spiegel gesehen hatte, sah alles andere als gut aus.

»Du auch.«

Sie sah nicht nur gut, sondern verdammt gut aus. Ich musste ihr dieses Kompliment schon oft gemacht haben, doch diese Zeiten waren offensichtlich vorbei. Sie rückte ein Stück von mir weg und deutete auf die blaue Tasche.

»Da drin sind frische Klamotten.«

Ich brauchte etwas zum Anziehen. Die Sachen, in denen man mich im Hinterhof gefunden hatte, würde ich am nächsten Tag kaum tragen können. Ich hatte auf meine Entlassung bestanden, obwohl Doktor Carlsson mich noch eine Weile zur Beobachtung hierbehalten wollte.

»Die Ärztin hat mir deinen Wohnungsschlüssel gegeben«, sagte Mona. »Ich hab ihr gesagt, dass sie Hagen anrufen soll, aber der war nicht zu erreichen.«

Hagen, mein bester Freund. Ungefähr in meinem Alter. Dunkler Bart. Zopf. Nerdbrille. Nasenpiercing. Sein Foto lag oben auf dem Tisch neben meinem Bett.

»Ich hab nichts weiter angefasst. Nur deine Sachen geholt und …«