Zorn – Opferlamm - Stephan Ludwig - E-Book
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Zorn – Opferlamm E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder Auge in Auge mit einem irren Mörder – der elfte Band der Kult-Thriller-Serie von Bestsellerautor Stephan Ludwig Ein nackter Mann läuft mit einem Holzkreuz auf der Schulter durch die Stadt. Er ist ausgemergelt, sein Mund wurde mit Garn zugenäht. Als die Polizei den Mann aufgreift, reicht er einen Timer an Hauptkommissar Zorn und Schröder weiter. Der Countdown besagt, dass noch elfeinhalb Stunden verbleiben. Doch was passiert dann, um vier Uhr nachts? Am nächsten Morgen wissen die Ermittler es: Der Mann ist tot, er wurde gekreuzigt, neben der Leiche ist ein umgedrehtes A aufgemalt. Während Zorn und Schröder sich noch den Kopf zerbrechen, ob ihnen der Mörder eine Botschaft senden will, wird ihnen erneut ein Timer zugespielt. Sie haben genau zwölf Stunden. Zwölf Stunden, bis wieder ein Mensch sterben wird. Nur wer? Und wo? Als sie zu einem verlassenen Hotel gerufen werden, machen sie sich auf das Schlimmste gefasst – zu Recht.

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Seitenzahl: 422

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Stephan Ludwig

ZORN 11 - Opferlamm

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

ERSTER AKT PassionEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigZWEITER AKT Die AuserwähltenSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigDRITTER AKT Der große HALONeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigFünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigSiebzigEinundsiebzigZweiundsiebzigDreiundsiebzigVierundsiebzigFünfundsiebzigVIERTER AKT Im TurmSechsundsiebzigSiebenundsiebzigAchtundsiebzigNeunundsiebzigAchtzigEinundachtzigZweiundachtzigDreiundachtzigVierundachtzigFünfundachtzigSechsundachtzigSiebenundachtzigAchtundachtzigNeunundachtzigNeunzigEinundneunzigZweiundneunzigDreiundneunzigVierundneunzigFünfundneunzigSechsundneunzigSiebenundneunzigAchtundneunzigNeunundneunzigEinhundertSCHLUSSAKT Das OpferEinhunderteinsEinhundertzweiEinhundertdreiEinhundertvierEinhundertfünfEinhundertsechsEinhundertsiebenEinhundertachtEinhundertneunEpilogSchlusswort

ERSTER AKTPassion

Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen.

Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!

(Evangelium nach Lukas)

Eins

Der Schmerzensmann ist müde.

Langsam schleppt er sich durch die Fußgängerzone, sein nackter Körper krümmt sich unter der Last des Kreuzes. Er geht so tief gebeugt, dass die Spitzen seines langen Haares über die Betonplatten schleifen. Seine Haut glänzt ölig, ist überzogen mit einer schmierigen Schicht aus Schweiß, Dreck und getrocknetem Blut.

Die Menschen strömen mit ihren Einkäufen vorbei. Es ist Ende Oktober. Die Herbstsonne spiegelt sich in den Schaufenstern. Diejenigen, die ihm zu nahe kommen, rümpfen die Nasen und weichen angewidert aus.

Der Schmerzensmann stinkt.

Einige bleiben tuschelnd stehen, sehen ihm kopfschüttelnd nach und gehen dann weiter. Sie halten das Blut für Farbe, die Stacheldrahtkrone für ein harmloses Requisit und die Wunden für das Werk eines Maskenbildners. Im nächsten Moment haben sie ihn wieder vergessen, in ihren Augen ist der nackte Mann mit dem riesigen Kreuz ein Freak, ähnlich wie der ältere Herr mit dem pomadisierten Haar, der schräg gegenüber mit einer Bierflasche in der Hand im Schatten eines Hauseingangs steht und mit schiefer, lallender Stimme einen italienischen Schlager singt.

Der Schmerzensmann hat Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Seine nackten Sohlen hinterlassen dunkle Spuren auf den Betonplatten. Das Kreuz lastet schwer auf seiner Schulter. Ein Arm schlingt sich um den Querbalken, das Ende des Längsbalkens schleift hinter ihm über den Boden. Sein Gesicht ist hinter dem in wirren Strähnen herabhängenden Haar verborgen.

Tief gebückt läuft er an einem Imbissstand vorbei. Bratwurstduft weht über den Boulevard. Aus dem Eingang eines Modegeschäfts wummert dumpfer Technobeat. Die Stimme des betrunkenen Sängers verhallt hinter ihm.

O soooole mioooo!

Zwei Kinderfüße erscheinen in seinem Blickfeld. Gelbe Kniestrümpfe und rote Sandalen. Ein Mädchen versperrt ihm den Weg.

»Was machst du hier?«

Der Schmerzensmann bleibt stehen.

Die Kleine sieht ihn neugierig an. Sie hält eine Eistüte in der Hand. Ihr lockiges Haar wird von zwei roten Plastikspangen über den Schläfen gehalten.

»Bist du Jesus?«

Der Schmerzensmann hebt den Kopf, ohne sich aufzurichten.

Ihre Blicke treffen sich.

Die Augen des Mädchens werden groß. Sie öffnet den verschmierten Mund. Stößt einen Schrei aus. Lässt das Eis fallen und weicht zurück. Eine junge Frau zerrt sie am Arm weiter, herrscht sie an, sich gefälligst nicht mit diesem Spinner abzugeben.

»Seine Lippen!«, schluchzt das Mädchen. »Mama, die Lippen …«

Der nackte Mann mit dem Kreuz taumelt einen Schritt vor. Die Eistüte zerbirst knackend unter seinem Fuß. Als er weitergeht, ändert sich die Spur hinter ihm. Abwechselnd hell und dunkel.

Blut und Vanilleeis.

Er schleppt sich voran. Vorbei an Drogerien, Bäckereien und Secondhandläden. Allmählich nähert er sich dem oberen Ende des Boulevards. Die Menschenmenge lichtet sich. Es gibt kaum etwas zu kaufen, die meisten Geschäfte sind geschlossen.

Seine Finger krallen sich in das splittrige Holz. Er läuft an einem schiefen Bauzaun entlang, nähert sich dem Tunnel, der unter dem Kreisverkehr und der Hochstraße zum Bahnhof führt. Die Gegend wird trostloser, links reckt sich der schmucklose Betonklotz eines Hotels in den wolkenlosen Himmel, auf der anderen Seite reihen sich die schmutzigen Schaufenster der verwaisten Läden.

Auf einer Bank vor einem längst geschlossenen Nagelstudio sitzen drei Teenager und lassen einen Joint kreisen. Einer von ihnen, ein stiernackiger Junge mit raspelkurz geschnittenem Haar, betrachtet den Mann mit dem Kreuz eine Weile aus glasigen Augen, erhebt sich und kommt breitbeinig näher.

»Na, Christus? Alles fit im Schritt?«

Er trägt ein schwarzes Camp David-Kapuzenshirt und zerbeulte Adidashosen. In seine linke Augenbraue sind dünne Striche rasiert. Seine Stimme ist rau, als habe er den Stimmbruch erst kürzlich hinter sich gebracht.

»Was ist?«, ruft er, um sicherzugehen, dass die anderen beiden ihn hören können. »Nimmste mir die Beichte ab?« Er läuft gebückt neben dem Schmerzensmann her. »Ich hab ’ne Menge zu beichten!«

Ein Kichern dringt herüber. Seine Kumpane sind ebenfalls aufgestanden. Sie sind ähnlich gekleidet; das blonde Haar und die kleinen, engstehenden Augen lassen darauf schließen, dass sie Brüder sind.

»Hey! Ich rede mit dir!«

Der Stoß ist nicht kräftig, eher beiläufig. Trotzdem verliert der blutende Mann das Gleichgewicht. Er stolpert zur Seite, das Kreuz rutscht von seiner Schulter, poltert neben einem Papierkorb zu Boden. Der Knall hallt zwischen den schmutzigen Fassaden wider, ein paar zerzauste Tauben flattern von den Dächern auf.

»Alter, du stinkst.« Der Glatzkopf stützt die Hände auf die Knie, reckt schnüffelnd das Kinn. »Hast du eingeschissen?«

Der Schmerzensmann gibt keinen Laut von sich. Er kniet auf dem Beton, tastet nach dem Kreuz. Als seine Hand grob weggestoßen wird, richtet er sich langsam auf, bleibt mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stehen. Die Krone aus Stacheldraht glänzt wie ein stählerner Heiligenschein.

»Was für’n Freak.«

Glatzkopf kneift ein Auge zusammen, mustert die ausgemergelte Gestalt. Strichförmige Narben bedecken Arme und Oberschenkel, auf der schmalen Brust bilden zwei klaffende Schnittwunden ein blutendes Kreuz.

»Der ist total zugedröhnt«, meldet sich der ältere der Brüder mit schwerer Stimme hinter ihm und zieht an seinem Joint. Es klingt, als wäre er neidisch.

»Ich will auch mal!«, nörgelt der jüngere. Er ist einen halben Kopf kleiner, nicht älter als vierzehn.

»Du hast genug«, befiehlt Glatzkopf und greift selbst nach dem Joint. »Habt ihr schon mal so ’nen kleinen Schwanz gesehen?«, fragt er über die Schulter. »Ich wette, der hat Filzläuse.«

Sein Lachen klingt wie berstendes Glas unter dem Schlag eines Hammers.

Irgendwo kracht eine Haustür ins Schloss. Ein junger Anzugträger mit streng gescheiteltem Haar nähert sich, er zieht einen Rollkoffer hinter sich her. Die Räder rattern über den rissigen Beton, verstummen, als der Mann stehen bleibt und misstrauisch herübersieht.

Der Glatzkopf dreht sich um.

Ein paar Sekunden vergehen.

»BUH!«, schreit Glatzkopf plötzlich aus vollem Hals.

Der Mann zuckt zusammen. Als er hastig weitergeht, holpert der Rollkoffer hinter ihm wie ein kleiner, störrischer Esel. Glatzkopf beobachtet zufrieden, wie er im Schatten der Unterführung verschwindet, wendet sich dann wieder um.

»Was hast du da?«

Der Schmerzensmann steht teilnahmslos in der Sonne. Glatzkopf deutet auf seine linke, zur Faust geballte Hand. Zwischen den schmutzigen Fingern ragen die Enden eines Kästchens aus schwarzem Plastik hervor.

»Was ist das?« Glatzkopf beugt sich neugierig vor. Grinst. »Die zehn Gebote?«

»Quatsch!«, brummt der ältere der beiden Brüder. »Das war ’ne Steintafel, die müsste viel größer sein. Außerdem war das nicht Jesus, sondern …«, er runzelt die Stirn, überlegt einen Moment, »Petrus.«

»Nee«, piepst der jüngere, »Moses!«

»Halt die Fresse!«

Glatzkopf zieht an seinem Joint. Nähert sich dem Schmerzensmann und stößt eine Wolke süßlichen Rauches aus. Keine Reaktion. Nur das schmutzige Haar bewegt sich ein wenig vor dem Gesicht.

»Zeig mal«, sagt Glatzkopf sanft. »Oder muss ich’s dir wegnehmen?«

Langsam, ganz langsam, hebt der Schmerzensmann den Arm. Eine mechanische, vom Rest des Körpers isoliert wirkende Geste. Wie eine Marionette, an der ein einzelner Faden gezogen wird.

Die Finger öffnen sich.

»Das ist ’n stinknormaler Wecker«, stellt der ältere der Brüder enttäuscht fest.

»Nee«, korrigiert der jüngere, »ein Timer!«

Die drei betrachten das Kästchen. In der linken unteren Ecke blinkt ein rotes Lämpchen. Auf einem kleinen Display sind Zahlen zu sehen, die in rascher Folge rückwärts laufen.

»Ein Countdown«, erklärt Glatzkopf. »Vielleicht«, er nimmt einen letzten Zug, zertritt den Joint auf dem Boden, »ist das ja ’ne Fernzündung? Für ’ne Bombe?«

Er greift nach dem Kästchen, doch die verkrusteten Finger des Schmerzensmanns schließen sich, der Arm sinkt wieder herab.

»Gib mir das Ding. Oder ich hau deine Rübe zu Brei.«

Eine Weile geschieht nichts. Als der Schmerzensmann endlich den Kopf hebt, erinnert die Bewegung erneut an eine Marionette, an der ein anderer Faden gezogen wird.

Das verklebte Haar teilt sich.

Die drei prallen zurück.

»Ach du Scheiße«, flüstert der Kleine.

Die Augen des Schmerzensmanns sind riesig. Dunkle, tief in den Höhlen liegende Löcher. Die Wangen sind eingefallen, knochig, als wäre die dünne, pergamentartige Haut direkt über den Schädel gespannt. Sein Mund muss schon vor einer Weile zugenäht worden sein, die Stiche sind bereits verheilt. Das grobe schwarze Garn verschließt seine Lippen in senkrechten, parallel verlaufenden Strichen. Sein Blick ist traurig, und doch erinnert sein Gesicht an einen grinsenden Totenschädel.

Er sieht den Glatzkopf an. Schüttelt kaum merklich den Kopf. Der Stacheldraht hat tiefe, kreuz und quer verlaufende Wunden in seine Stirn gegraben. Ein dünner Blutfaden läuft über seine Nase, tropft von der Spitze auf den Boden.

»Alter …« Die Stimme des Glatzkopfs zittert. »Der ist völlig plemplem.« Er lässt den Zeigefinger neben der Schläfe kreisen. »Los, wir hauen ab.«

Ein letzter Blick, er zieht den Rotz durch die Nase hoch, spuckt aus, wendet sich ab und schlendert betont lässig davon. Die Brüder sehen sich unschlüssig an, folgen ihm dann. Als die drei in der Unterführung verschwinden, dröhnen ihre Schritte zwischen den Betonwänden, verhallen allmählich.

Der Schmerzensmann öffnet die Faust. Betrachtet das Display:

13:14:08

Noch dreizehn Stunden. Vierzehn Minuten. Und acht Sekunden.

Er geht in die Knie.

Schultert das Kreuz.

Sein Weg ist noch lang.

Zwei

Claudius Zorn und der dicke Schröder waren beschäftigt. Stumm, über ihre Schreibtische gebeugt, saßen sie einander gegenüber, jeder in seine Aufgabe vertieft. Die Atmosphäre im Büro erinnerte an die Stille in einer Bibliothek, nur ab und zu unterbrochen von einem gelegentlichen Räuspern, dem Kratzen eines Stiftes oder einem Stuhlknarren.

Die Zeit verging.

Sekunden reihten sich zu Minuten.

»Blechblasinstrument mit vier Buchstaben.«

Es war Zorn, der sich nach über einer Stunde halblaut zu Wort gemeldet hatte.

»Horn«, erwiderte Schröder, ohne den Kopf zu heben. Er las in einem dicken Wälzer, daneben lag ein Zettel, auf dem er sich Notizen machte.

Zorn zählte in Gedanken die Buchstaben nach. Nickte. Beugte sich über sein Kreuzworträtsel. Stutzte und schüttelte den Kopf.

»Dann«, er sah stirnrunzelnd auf, »würde der niederländische Maler Rombrandt heißen.«

Seine Augen wirkten unnatürlich groß hinter den dicken Brillengläsern. In den letzten Monaten hatte sein Sehvermögen merklich nachgelassen, also hatte er sich auf Friedas Anraten eine Lesebrille zugelegt. Das Lesen funktionierte somit ganz gut, doch alles, was mehr als einen Meter entfernt war, mutierte zu einem diffusen, verschwommenen Brei.

»Tuba«, sagte Schröder und blätterte um.

Claudius Zorn dachte nach. Nickte erneut.

»Hä?« Der Bleistift verharrte über dem Papier. »Rumbrandt?«

Schröder reagierte nicht.

»Kennst du ’nen Maler, der …«

»Nein«, unterbrach Schröder, »ich kenne niemanden dieses Namens. Weder einen Maler noch sonst jemanden.«

»Dann«, seufzte Zorn, »ist die Tuba auch falsch.«

»Man könnte natürlich prüfen«, Schröder kritzelte in seinen Notizen, »ob der Nachname Rumbrandt in den Niederlanden überhaupt existiert. Ganz abwegig erscheint mir das nicht. Der Personenkreis dürfte allerdings überschaubar sein. Vielleicht«, er wandte sich wieder dem Buch zu, »findet sich sogar ein ambitionierter Hobbymaler. Statistisch gesehen würde ich das eher bezweifeln, aber …«

»Ich hab’s!« Zorn hob triumphierend den Bleistift. »Oboe!«

Sorgfältig, einen nach dem anderen, trug er die Buchstaben ein. Kontrollierte das Ergebnis. Seine Miene verfinsterte sich.

»Scheiße. Jetzt heißt der Maler …«

»Ja?«

Zorn holte tief Luft: »Rrrrr-bbbbbb-mmmmm-brandt.«

»Klingt unwahrscheinlich.«

»Allerdings«, brummte Zorn enttäuscht.

»War auch abzusehen.«

»Warum?«

»Weil«, erwiderte Schröder, »nach einem Blechblasinstrument gefragt wurde. Und die Oboe …«

»Ja?«

»… ist ein Holzblasinstrument.«

Zorn sah Schröder an. Seine Augen schwammen hinter den dicken Brillengläsern wie Goldfische in einem Aquarium.

»Und was machen wir jetzt?«

Schröder bat um ein wenig Geduld; er müsse noch ein Seminar vorbereiten für den Kurs, den er einmal pro Woche an der Polizeischule hielt. Das würde noch zwei, höchstens drei Stunden dauern. Danach, fügte er tröstend hinzu, würden sie gemeinsam nach einer Lösung für Zorns wichtiges Problem suchen.

»Na gut«, seufzte Zorn.

Schröder bedachte ihn mit einem aufmunternden Blick und widmete sich wieder seinen Notizen. Seine Glatze glänzte wie frisch poliert, über dem karierten Hemd trug er einen grauen Wollpullunder mit V-Ausschnitt. Die Strahlen der Herbstsonne fielen schräg durch die großen Fenster. Inmitten der umhertanzenden Staubkörnchen wirkte er wie ein kleines, übergewichtiges Relikt aus längst vergangenen Zeiten.

Zorn nahm die Lesebrille ab, setzte die andere auf. Sah zum Fenster. Begann, Schröders Topfpflanzen zu zählen (fünf). Die toten Fliegen auf dem Fensterbrett (drei). Die Aktenordner im Regal (zu viele).

»Mir ist langweilig, Schröder.«

»Herrje, tut mir leid.«

»Früher konnte ich wenigstens Büroklammern gerade biegen, wenn mir langweilig war.« Zorn warf einen betrübten Blick auf seine verbliebene Hand. »Das geht ja jetzt nicht mehr.«

Schröder klappte sein Buch zu. »Du warst ein toller Büroklammerverbieger.«

»Ich war der beste«, stimmte Zorn ernst zu.

»Vielleicht findest du ja was anderes, das du verbiegen kannst.«

»Und was?«

»Keine Ahnung.«

Lärm drang vom Parkplatz vor dem Präsidium herauf. Die Türen eines Streifenwagens wurden zugeschlagen, Rufe wurden laut. Zorn erhob sich behäbig, schlurfte zum Fenster und sah hinaus.

»Es gibt übrigens Neuigkeiten«, sagte Schröder hinter ihm.

»Aha.«

»Ich werde …«

»Sag mal«, unterbrach Zorn, »ist schon wieder Ostern?«

»Nicht, dass ich wüsste. Warum?«

Zorn kniff die Augen hinter der Brille zusammen.

»Weil wir Besuch kriegen.«

»Ach.« Schröder stand ebenfalls auf. »Und von wem?«

»Von Jesus.«

Drei

Der Schmerzensmann schleppt sich über einen Grünstreifen. Hagebuttensträucher zerkratzen seine nackten Waden. Das Kreuz hat seine linke Schulter wundgescheuert; die Haut ist geplatzt, raues Holz scheuert auf rohem, blutigem Fleisch. Hinter ihm schleift das Ende des Längsbalkens durch das Gestrüpp, gräbt eine Furche in die weiche Erde.

Schwere Schritte dröhnen über den Asphalt. Die Rufe nähern sich. Polizistenstimmen. Nicht aufgeregt, eher belustigt.

Kein Wunder.

So steht es schließlich geschrieben.

Dass sie ihn verlachen.

Der Schmerzensmann atmet gepresst durch die Nase. Er hat seit Tagen nichts gegessen. Nur ein wenig getrunken. Sein Körper muss funktionieren. So lange, bis er am Ziel ist.

Tief gebückt nähert er sich dem Präsidium. Die hohen Fenster reflektieren die Sonne. Wie riesige Scheinwerfer, die sich auf den Parkplatz richten. Die Polizisten laufen neben ihm her. Es sind zwei. Er sieht ihre Hosenbeine. Dunkelblauer, grober Stoff. Schwarze Lederschuhe. Kiesel knirschen unter den dicken Sohlen.

Der eine will wissen, wohin die Reise denn gehen solle.

Der andere fragt nach einem Ausweis.

»Geht nicht«, erwidert der erste gut gelaunt. »Greif ’nem nackten Mann in die Tasche.«

Der Schmerzensmann humpelt an einem Fahrradständer vorbei. DIESER BEREICH WIRD VIDEOÜBERWACHT! ist auf einem blauen Schild zu lesen. Das Kreuz verhakt sich. Er zerrt mit aller Kraft. Klappernd fällt ein Fahrrad um.

»Es reicht jetzt«, sagt der erste Beamte. »Schluss mit dem Theater.«

Der Schmerzensmann hat die breite Treppe zum Eingang erreicht. Gekrümmt steht er an der untersten Stufe. Oben öffnen sich die Glastüren. Die Treppe vibriert unter eiligen Schritten. Braune Ledersandalen erscheinen in seinem Blickfeld. Eine sanfte Stimme will wissen, was hier los sei.

»Keine Ahnung«, erwidert einer der Polizisten.

Der Schmerzensmann rührt sich nicht. Der Mann mit den Sandalen beugt sich zu ihm hinab.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die blutenden Finger des Schmerzensmanns lösen sich, er lässt das schwere Kreuz vorsichtig zu Boden gleiten. Verharrt einen Moment in seiner gebückten Haltung und richtet sich dann auf. Sein Haar teilt sich. Als sein Gesicht zum Vorschein kommt, erbleichen die beiden Uniformierten. Der Mann mit den braunen Sandalen allerdings verzieht keine Miene.

Er ist älter, als seine helle Stimme vermuten lässt. Sein Schädel ist kahl, das Gesicht rund. Die Augen unter den rötlichen Brauen von einem tiefen, auffälligen Blau. Obwohl er eine Stufe höher steht, sind ihre Köpfe auf gleicher Höhe.

Er wiederholt seine Frage. Ruhig und freundlich.

Der Schmerzensmann reicht ihm das schwarze Kästchen. Die Zahlen flimmern auf dem Display:

12:09:07

Zwölf Stunden. Neun Minuten. Sieben Sekunden.

Er hat die nächste Station seines Kreuzwegs erreicht.

Es ist nicht die letzte.

Vier

»Er schweigt«, sagte Schröder, schloss die Bürotür und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.

»Würde ich an seiner Stelle auch«, sagte Zorn. »Jedenfalls, wenn mir der Schnabel zugetackert wäre.«

Er hatte nur einen kurzen Blick auf den seltsamen Besucher geworfen und – wie immer – Schröder die Initiative überlassen. Nachdem er zwei Zigaretten auf dem Parkplatz geraucht hatte, war er zurück ins Büro gegangen, um sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu widmen. Erfolglos natürlich, dementsprechend war auch seine Laune.

»Und?«, fragte Zorn. »Was wird jetzt aus ihm?«

»Wir wissen seinen Namen. Er heißt Arvid Walkow und …«

»Ach«, unterbrach Zorn. »Wie hast du das denn rausgekriegt? Durch Rauchzeichen? Oder kannst du jetzt Gebärdensprache?«

Schröder erklärte ein wenig gereizt, dass der nackte Mann seine Personalien auf einen Zettel geschrieben habe. »Kollege Brettschneider ist dabei, die Angaben zu prüfen. Wenn alles stimmt und nichts weiter gegen ihn vorliegt, werden wir ihn gehen lassen müssen.«

»Und was ist mit …«, Zorn überlegte einen Moment, »Erregung öffentlichen Ärgernisses?«

»Kann sein, dass es zu einer Anzeige kommt. Aber festhalten kann man ihn nicht. Er hat keinerlei Widerstand geleistet, und wie’s aussieht, hat er sich die Verletzungen selbst beigebracht.«

Zorn dachte fröstelnd an die zusammengenähten Lippen. »Was ist mit diesem … Ding, das er dir gegeben hat?«

»Ein ganz normaler Timer.« Schröder langte in die Tasche seiner Cordhose, holte das Kästchen hervor. »Die Technik sagt, dass nichts manipuliert wurde.«

Zorn beugte sich über den Schreibtisch, griff nach dem Timer und musterte die blinkenden Zahlen:

11:30:05

»Elfeinhalb Stunden«, sagte er. »Wenn das Ding abläuft, ist es …«

»… genau vier Uhr früh.«

»Und dann? Was passiert dann?«

»Ich hab ihn gefragt«, seufzte Schröder. »Er hat mich nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Auch, als ich wissen wollte, ob er einen Arzt will. Oder sonst irgendwelche Hilfe.«

»Vier Uhr«, überlegte Zorn. »Das ist mitten in der Nacht.«

»Exactamente.«

»Vielleicht sagt er ja ’n Gedicht auf.«

»Unwahrscheinlich.«

»Stimmt. Er kriegt ja den Mund nicht auf.«

Schröder sah zum Fenster. Die Sonne stand tief über dem Einkaufszentrum auf der anderen Seite des Parkplatzes.

»Es klingt vielleicht komisch, aber er schien mir völlig klar im Kopf. Als ob er genau wüsste, was er will.«

»Nee«, widersprach Zorn. »Der ist völlig durchgeknallt. Oder was würdest du sagen, wenn ich morgen früh nackig mit ’nem Kreuz hier auftauchen und dir ’nen Wecker in die Hand drücken würde?«

Das, musste Schröder zugeben, war eine äußerst beklemmende Vorstellung.

»Aber du hast recht«, sagte Zorn.

»Womit?«

»Irgendwas hat der vor. Und das gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht.«

Sie spekulierten noch eine Weile, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Schröder schlug schließlich vor, in der kommenden Nacht vermehrt Streifen patrouillieren zu lassen, um wenigstens etwas zu tun. Zorn willigte ein und erklärte den Arbeitstag für beendet.

»Ich muss pünktlich zu Hause sein. Frieda will kochen.«

»Oha.«

»Was heißt hier oha?«, gab Zorn vorwurfsvoll zurück. »Sie ist schon viel besser geworden, schließlich hat sie lange geübt. Und ihre Spiegeleier sind erste Sahne. Die würdest nicht mal du hinkriegen, Mister Sternekoch.«

Schröders Antwort bestand in einem feinen Lächeln. Sie beide wussten, dass Oberstaatsanwältin Borck über erhebliche Qualitäten und Talente verfügte. Kochen gehörte nicht dazu.

Zorn nahm seine Lederjacke von der Garderobe. Als er sie überstreifte, fiel ihm noch etwas ein: »Was meintest du eigentlich vorhin?«

»Womit?«

»Dass es … Neuigkeiten gibt?«

»Ach so.«

Schröder öffnete eine Schublade, holte eine dünne Akte hervor und reichte sie Zorn. Dieser öffnete den Pappdeckel, blinzelte kurzsichtig, überflog ein amtlich aussehendes Dokument und runzelte die Stirn.

»Du bist wieder Chef?«

»Yes.«

»Ab wann?«

»Nächsten Monat.«

»In drei Tagen also?«

Schröder neigte zustimmend das Doppelkinn. Zorn nickte ebenfalls, wünschte einen schönen Feierabend und öffnete die Tür. Zögerte und wandte sich noch einmal um.

»Warum?«

Schröder zuckte die Achseln. »Warum nicht?«

»Stimmt«, sagte Zorn. »Warum eigentlich nicht.«

Und ging nach Hause.

Fünf

Samuel Bleeck war auf dem Heimweg. Gebückt lief er über den Parkplatz, eine Hand in der Tasche der Windjacke vergraben, in der anderen hielt er die Aktentasche.

Die Dämmerung hatte eingesetzt. In den alten Fabrikgebäuden, die den Platz säumten, brannten die ersten Lichter. Früher war auf dem weitläufigen Areal in der Nähe des Bahnhofs Kaffee produziert worden, nach jahrelangem Verfall hatte die Stadt das Gelände saniert und an kleine Handwerksbetriebe vermietet. Die Druckerei, in der Samuel Bleeck seit fünfzehn Jahren arbeitete, befand sich im Erdgeschoss des Westflügels neben einer Kfz-Werkstatt.

Zwei Mechaniker in fleckigen Blaumännern standen rauchend vor einem Rolltor. Wie immer ging Bleeck grußlos vorbei; nicht etwa aus Abneigung, sondern aus Erfahrung: Selbst, wenn er’s getan hätte, wäre sein Gruß kaum erwidert worden. Die Leute beachteten ihn nicht, niemand interessierte sich für einen unscheinbaren vierzigjährigen Mann mit Bauchansatz und schütterem Haar, der jeden Morgen um fünf Minuten vor acht mit seiner Aktentasche (für Brotbüchse und Thermoskanne) über den Parkplatz zur Druckerei lief und exakt neun Stunden später wieder ging.

Bleeck verließ das Areal, überquerte einen verwaisten Volleyballplatz und wandte sich in Richtung Süden, durch einen langgestreckten Park. Sein Kopf war gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet, schließlich war er diesen Weg schon Tausende Male gegangen.

Kies knirschte unter seinen Schritten, die Aktentasche pendelte in seiner Hand. Rechts säumten junge Bäume den Weg, auf der anderen Seite wucherte dichtes Gebüsch.

Das Brausen der Straßenbahn, die hundert Meter entfernt in die Südstadt fuhr, wehte heran. Mit der Bahn wäre Samuel Bleeck deutlich früher daheim, doch er hatte keine Eile. In knapp dreißig Minuten würde er seine Einraumwohnung im elften Stock eines Plattenbaus betreten und den Tag wie immer beenden: Dusche (manchmal ein Bad), eine halbe Stunde aufräumen, Abendessen (meist aus der Mikrowelle), zwanzig Uhr Tagesschau und danach einen Film (oder – besser noch – eine Quizshow). Wenn er spätestens halb elf in seinem schmalen Bett lag, würde Samuel Bleeck mit niemandem geredet haben (ausgenommen die Kommunikation mit seinem Chef und den beiden Kollegen: kurze, über den Maschinenlärm gebrüllte Wortwechsel).

Samuel Bleeck führte ein eintöniges Leben, doch er war zufrieden. Nur manchmal – meist kurz bevor er einschlief – spürte er eine undefinierbare Leere, ein Ziehen, irgendwo in seinem Kopf. Den Wunsch nach Wärme. Nähe. Die Sehnsucht, endlich wahrgenommen zu werden. Wenn er aufwachte, waren die trüben Gedanken verflogen.

Jetzt, da Samuel Bleeck durch die einbrechende Dunkelheit heimwärts schritt, war er mit der Planung des Abendessens beschäftigt und ging im Kopf seinen (beträchtlichen) Vorrat an Fertiggerichten durch. Bevor er sich zwischen Rindergeschnetzeltem, Kohlroulade oder Hühnchen asiatisch entscheiden konnte, ließ ihn etwas aufhorchen.

*

Knapp einen Kilometer Luftlinie entfernt verließ Schröder das Büro. Der Timer lag in einer durchsichtigen Plastiktüte auf dem Schreibtisch neben der Blechbüchse mit seinen Schreibutensilien. Der Countdown blinkte auf dem Display:

09:57:22

Sechs

Bleeck hob lauschend den Kopf. Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Es klang wie ein Kind. Links von ihm, irgendwo im Gebüsch.

Mama.

Doch, kein Zweifel. Ein weinendes Kind.

Er sah sich um. Die Dämmerung lag wie ein Grauschleier über dem Park, sog die Farben aus den Kronen der frisch gepflanzten Bäume. Fünfzig Meter entfernt schlurfte eine alte Frau über den gekiesten Weg. Ein Dackel trottete müde hinter ihr her.

Ansonsten kein Mensch. Nur die Alte mit dem Hund. Und das Kind, das mit dünner Stimme nach seiner Mama rief.

Er zögerte kurz, zwängte sich durch das Gebüsch. Dornen kratzten über den dünnen Nylonstoff seiner Windjacke, er hob die Aktentasche, um sein Gesicht zu schützen.

Die Zweige schlossen sich hinter ihm. Er stand in kniehohem Unkraut am Rand einer Industriebrache. Auf einem verlassenen Parkplatz türmten sich Betonplatten und grotesk verbogene Eisenträger. Neben den Überresten eines rostigen Drahtzauns waren Dutzende Stoßstangen gestapelt. Im Hintergrund reckte sich der gigantische Betonkoloss eines verlassenen Getreidesilos in den trüben Abendhimmel.

Entferntes Gejohle drang herüber. Drüben bei dem verwahrlosten Skaterpark stritten ein paar Teenager um einen Joint.

Das Kind weinte.

Mama. Mama.

Links von ihm, hinter einem verbeulten Regenfass, nur ein paar Meter entfernt. Wahrscheinlich irgendwo eingeklemmt. Nicht älter als drei, höchstens vier Jahre alt. Wie konnte man ein so kleines Kind unbeaufsichtigt spielen lassen?

Mama.

Bleeck lief zu dem Fass. Disteln streiften seine Hosenbeine, Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen.

Mama.

Ganz nah. Doch zu sehen ist nichts.

MAMA!

Hinter dem Gebüsch im Park gingen die Laternen an. Die dünne Stimme wurde lauter, und ihm wurde klar, aus welcher Richtung sie kam.

Von unten.

Bleeck bückte sich, teilte mit den Händen das Unkraut. Als er sich aufrichtete, hielt er ein iPhone in den Fingern. Er selbst besaß kein Handy, es gab niemanden, mit dem er hätte telefonieren können. Verwirrt starrte er auf das Telefon, lauschte dem Schluchzen, das aus dem Lautsprecher kam

MAMA! MA-

und plötzlich abbrach.

Das Display erlosch. Wurde wieder hell.

Eine Nachricht ploppte auf:

Hallo, Samuel

»Was zum …«

Dutzende Fragen schossen durch seinen Verstand. Auf keine fand er eine Antwort, auch nicht auf die letzte:

Woher kennt der meinen Namen?

Das Gras raschelte hinter ihm, doch anstelle einer Erklärung erhielt Samuel Bleeck einen Schlag auf den Hinterkopf und sackte neben dem Regenfass zusammen.

Sieben

»Magst du die Rosinen nicht?«

Frieda deutete auf Zorns Teller. Links türmte sich das halbverzehrte Risotto, rechts ein sorgfältig abgetrenntes Häufchen Rosinen.

»Doch, doch«, beeilte sich Zorn zu versichern und schob die Gabel in den Mund. »Ist wirklich lecker!«

Sie bedachte ihn mit einem skeptischen Blick.

»Auch die Rosinen?«

»Klar«, nickte Zorn kauend.

»Du weißt, dass du ein schlechter Lügner bist, mein Schatz.«

»Ich lüge nicht!«, protestierte Zorn. »Ich hebe mir das Beste eben bis zum Schluss auf.«

Es schmeckte tatsächlich nicht schlecht. Zumindest besser, als es aussah. Der Reis war zwar noch halb roh (Frieda hatte Weißwein und Hühnerbrühe benutzt), doch das Rinderfilet war zart, selbst die Lauchzwiebeln und die gehackten Tomaten waren zu verschmerzen.

Nur nicht die Rosinen. Die hasste Claudius Zorn seit frühester Kindheit. Ebenso wie Rhabarber. Und Stachelbeeren. Vor allem natürlich verabscheute er Fisch. Aus tiefstem Herzen. In jedem erdenklichen Aggregatzustand.

Drei Kerzen flackerten zwischen ihnen, tauchten ihre Gesichter in warmes Licht, das sich in den Weingläsern, den polierten Dielen und dem gerahmten Ramones-Poster über dem Esstisch spiegelte. Frieda hatte das Poster verglasen lassen und darauf bestanden, es selbst aufzuhängen. Kurz nach ihrem Einzug hatte Zorn versucht, eine Deckenlampe anzuschließen; ein Versuch, der nicht nur missglückt war, sondern beinahe tödlich geendet hätte. Seitdem hatte sie ihm sämtliche handwerklichen Tätigkeiten im gemeinsamen Haushalt verboten.

»Und?« Frieda streute Parmesan über ihren Reis. »Wie war’s auf Arbeit?«

Zorn erzählte von dem nachmittäglichen Besucher.

»Krass«, murmelte Frieda.

Zorn goss Wein nach. »Du hast’s gewusst, oder?«

»Dass ein nackter Mann mit einem Kreuz im Präsidium auftaucht?« Friedas Augen weiteten sich ein wenig. »Nein, Claudius. Das wusste ich nicht.«

Zorn sah sie an.

»Du meinst Schröder«, sagte Frieda nach ein paar Sekunden.

»Yep.«

»Er hat’s mir letzte Woche erzählt.«

»Und warum …«

»Er wollt’s dir selbst sagen.«

»Hat er ja auch.«

»Und?«

»Was … und?«

»Warum guckst du dann …«

»Nein«, Zorn spießte ein Stück Fleisch auf, »ich gucke nicht komisch.«

»Wäre auch noch schöner. Erst bekniest du ihn ewig, wieder die Leitung zu übernehmen, und wenn er’s dann tut, wirst du sauer.«

»Ich hab doch gesagt, dass ich nicht sauer bin!«

»Er hat einfach genug von dieser ständigen Streiterei«, sagte Frieda. »Abgesehen davon, wissen wir beide, dass sich zwischen euch nichts ändern wird. Rein faktisch gesehen, hat er den Laden sowieso immer geschmissen.«

»Trotzdem.« Zorn kratzte den letzten Reis zusammen. »Er hätte mich wenigstens warnen können.«

»Hat er doch.«

»Drei Tage vorher!«

Frieda legte die Gabel beiseite. »Und wann wäre es deiner Meinung nach angebracht gewesen?«

Darauf wusste Claudius Zorn keine Antwort. Er starrte auf seinen leeren Teller. Seinen fast leeren Teller, denn am rechten Rand bildeten die Rosinen eine säuberliche Reihe.

Zorn zählte nach. Sieben Stück.

Als er den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Er kannte Frieda lange genug, um zu wissen, dass sie sein leises Seufzen nicht nur gehört, sondern auch richtig gedeutet hatte. Er sammelte sich, hielt unauffällig die Luft an, spießte eine Rosine auf, stopfte sie in den Mund und spülte mit einem Schluck Wein nach.

Nummer eins war geschafft.

Frieda grinste. »Braver Junge.«

»Jedenfalls«, Zorn atmete gepresst aus, »bin ich froh, dass mein Urlaub durch ist. Dann muss ich Schröder wenigstens nicht anbetteln.«

Die Reise war seine Idee gewesen. Nicht etwa, weil er gern unterwegs war, im Gegenteil. Doch sein Geburtstag stand an. Zorn hasste diese Feiertage, die Gratulationen, sinnlosen Geschenke und steifen Gespräche bei Kaffee und Kuchen waren furchtbar. Früher hatte er sich immer versteckt, doch diesmal war das nicht möglich, denn der Geburtstag, der nächste Woche zu feiern war, war ein besonderer.

In ein paar Tagen würde Claudius Zorn ein halbes Jahrhundert alt sein.

»Da fällt mir ein«, Friedas Gesicht hellte sich auf, »ich hab noch was für dich.« Sie sprang auf, verschwand leichtfüßig aus dem Zimmer. »Genieß deine Rosinen!«, trällerte sie aus dem Flur.

Zorn spießte die nächste auf und verzog, da er sich unbeobachtet glaubte, das Gesicht. Einem ersten Impuls folgend, wollte er sich die Nase zuhalten, was in Ermangelung einer zweiten Hand allerdings nicht möglich war. Also nahm er alle Kraft zusammen, schluckte das runzlige Ding hinunter und kippte ein halbes Glas Wein hinterher.

»Total lecker!«, rief er, mühsam gegen den Brechreiz kämpfend.

Er sah auf den Teller.

Noch fünf.

Zu viele.

Papierrascheln drang aus dem Flur.

Zorn klaubte den Rest zusammen, stand auf, schlich auf Zehenspitzen zur Balkontür, drückte mit dem Ellbogen den Griff herunter und zog die Tür behutsam auf. Er stand bereits mit einem Fuß auf dem Balkon, als Friedas Stimme ihn herumfahren ließ.

»Guck mal!«

»Oh!« Er verbarg die Hand hinter dem Rücken. »Ein neuer Bademantel!«

»Mit dem alten kannst du dich doch nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen.«

Sie hatten die Reise schon vor Monaten gebucht. Zorn konnte sich Besseres vorstellen, als eine Woche in einem Wellnesshotel im Spreewald zu verbringen, doch wichtig war nur, an seinem Geburtstag

dem fünfzigsten

nicht erreichbar zu sein. Außer für Frieda natürlich. Mit Edgar, seinem siebenjährigen Sohn (eventuell auch mit Schröder), konnte immer noch nachgefeiert werden, wenn sich der Trubel gelegt hatte.

»Toll«, lächelte er, während die Rosinen in seiner schwitzenden Faust zu einem klebrigen Brei mutierten. »Und so schön, äh … weiß.«

»Probier mal an!«

»Klar.«

Zorn, die Hand noch immer hinter dem Rücken verborgen, kam näher.

»Aber vorher«, befahl Frieda, »wäschst du dir die Hände!«

»Wieso soll ich …«

»Rosinen wirft man nicht einfach so in den Fluss.« Sie schloss kopfschüttelnd die Balkontür. »Das ist Umweltverschmutzung. Was sollen denn die Fische sagen?«

»Gar nichts«, erwiderte Zorn und fügte verunsichert hinzu, dass Fische bekanntlich stumm seien. Frieda ließ die kleinlaut vorgetragene Entschuldigung nicht gelten und stellte den auf frischer Tat ertappten Hauptkommissar vor die Wahl, die Rosinen entweder zu essen oder ordnungsgemäß im Biomüll zu entsorgen.

Zorn entschied sich umgehend für Letzteres.

*

Kurz vor Mitternacht gingen sie zu Bett. Frieda las noch eine Weile in ihrem Stephen-King-Buch, während Zorn nach wenigen Minuten selig entschlummerte. Den Timer auf Schröders Schreibtisch hatte er längst vergessen. Als er zu schnarchen begann, flimmerten die rückwärtslaufenden Zahlen stetig weiter:

03:55:22

Acht

Die Nacht war kühl. Der erste Herbstnebel trieb in schwerelosen Schwaden durch die leeren Straßen. Der Marktplatz lag verlassen im fahlen Mondlicht, ein paar Tauben drängten sich auf den Simsen des mittelalterlichen Glockenturms.

Vor der steinernen Rolandskulptur am Fuße des Turms stand ein Streifenwagen. Zwei Uniformierte dösten auf ihren Sitzen, aus dem Radio dudelte ein alter Hit von Phil Collins.

Ein paar dutzend Meter über ihnen griffen die jahrhundertealten Zahnräder des Uhrwerks ineinander. Die riesigen Zeiger auf den vier Zifferblättern ruckten vor. Drei Glockenschläge wehten durch die Nacht, hallten von der verzierten Fassade des Stadthauses wider und verloren sich in den engen Seitenstraßen.

Drei Uhr fünfundvierzig.

Der Timer auf Schröders Schreibtisch näherte sich dem Ende.

00:14:55

Die Fahrertür des Streifenwagens öffnete sich. Ein korpulenter Beamter stieg aus, schlurfte steifbeinig zur Straßenbahnhaltestelle und warf einen leeren Kaffeebecher in den Papierkorb. Sein Blick wanderte müde über den verwaisten Platz, dann zog er die Uniformhose hoch und verschwand wieder im Wagen. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Knall. Hoch oben flatterte eine aufgeschreckte Taube von einem der Ecktürme auf, flog auf das Kaufhaus zu, bog ab und landete fünfzig Meter entfernt auf einem Sims über dem Eingangsportal des Rathauses.

Im Inneren des Streifenwagens flammte ein Feuerzeug auf. Die Scheibe glitt herunter, der Polizist auf dem Beifahrersitz zog an einer Zigarette, blies den Rauch in die kühle Nacht.

Leise Musik drang aus dem Wagen, Phil Collins’ Gejammer über Another Day in Paradise war von Elton John abgelöst worden, der in ähnlichem Tonfall eine Candle in the Wind besang.

00:06:14

Aus einer Seitenstraße bog ein Taxi auf den Markt. Die Scheinwerfer huschten über die mit Sandstein verkleidete Fassade des Rathauses. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die hohen Eingangstüren in gleißendes Licht getaucht, etwas bewegte sich, verschwand blitzschnell hinter einer Säule. Im nächsten Moment lag das Portal wieder im Schatten. Das Taxi überquerte die Schienen und fuhr langsam davon.

Your candle burned out long before!, jammerte Elton John.

Der Polizist hinter dem Steuer pfiff die letzten Akkorde mit. Der Mann neben ihm schnippte die Zigarette auf das Pflaster, ohne auf den missbilligenden Blick seines Kollegen zu achten. Weit über ihren Köpfen bewegten sich die vergoldeten Minutenzeiger auf den uralten Zifferblättern nach oben.

00:00:45

Im Radio kündigte ein bestens gelaunter Moderator eine kurze Werbepause und die folgenden Nachrichten an, natürlich inklusive der schnellsten Verkehrsmeldungen, Flitzerblitzer und top-aktuellsten Wetter-News.

Die Seitenscheibe des Streifenwagens glitt surrend nach oben, der Werbespot für ein Bowlingcenter am Stadtrand wurde abrupt unterbrochen.

Es wurde still.

Hinter den dicken, vom Alter geschwärzten Mauern des Turmes erwachte der Mechanismus des Uhrwerks zum Leben.

00:00:04

Das Display des Timers auf Schröders Schreibtisch blinkte.

00:00:00

Und erlosch.

Ein tiefer Glockenschlag dröhnte über den Markt. Die dösende Taube auf dem Sims am Rathaus spreizte die Flügel, allerdings nicht wegen der Glocke, sondern aufgrund des Wummerns, das unter ihr aus dem Schatten des Eingangsportals drang.

Ein weiterer Glockenschlag.

Gleichzeitig ein weiteres dumpfes Wummern. Gefolgt von einem erstickten Schrei, der vom dritten Glockenschlag und dem nächsten synchronen Wummern übertönt wurde.

Die Glocke dröhnte ein viertes, letztes Mal. Der Ton vibrierte in der Nachtluft, versickerte wie Wasser in rissiger Erde.

Vom Rathaus her erklang ein ersticktes Stöhnen. Ein Brummen kündigte eine nahende Straßenbahn an. Im Streifenwagen beschwerte sich der Beifahrer, dass ihm kalt sei. Missmutig startete sein Kollege den Motor und drehte die Heizung auf.

Die Straßenbahn rauschte heran. Weitere, schnellere Schläge erklangen hinter den Säulen des Eingangsportals, überlagert vom schrillen Quietschen der Stahlräder in den Schienen.

Als die Bahn hielt, verstummten die Schläge sofort. Die hellerleuchteten Wagen waren leer, nur ein dünner, langhaariger Mann saß schlafend im hinteren Teil, den Kopf an die zerkratzte Scheibe gelehnt.

Zischend öffneten sich die hydraulischen Türen.

Niemand stieg ein.

Niemand stieg aus.

Aus Richtung des Rathauses kam leises Schluchzen. Metall blitzte im Schatten hinter den hohen Säulen.

Die Bahn fuhr davon. Erneut senkte sich die Stille über den Markt.

Der Motor des Streifenwagens schnurrte monoton im Leerlauf. Schnarchend hing der Beifahrer in seinem Sitz. Im Radio lief Helene Fischer. Der korpulente Beamte hinter dem Steuer summte leise mit.

Seine Finger klopften den Takt auf dem Lenkrad.

Neun

Es ist furchtbar, in völliger Finsternis zu erwachen.

Ohne zu wissen, wo man ist.

Samuel Bleeck wusste nur, dass er auf dem Heimweg gewesen war. Dann war da das Kind. Das Kind, das nicht da war. Die Stimme.

Mama.

Die Stimme des Kindes, das nicht da war.

Und das Handy. Das Handy im Gras.

Und jetzt?

Dunkelheit. Absolut. Hermetisch. Undurchdringlich.

Endgültig.

Greifbar. Wie Sirup. Flüssiger Teer.

Seine Gedanken kreisten. Vor. Zurück. Immer wieder. Eine rotierende Kugel. Schnell. Immer schneller. Schwarze Kugel in der Dunkelheit.

Schwarz und Schwarz.

Das Kind. Die Stimme. Das Handy. Die Stimme des Kindes. Das Kind, das nicht da war. Das Handy des Kindes. Die Stimme des Handys. Die Nachricht

Hallo, Samuel

auf dem Display. Die Nachricht des Kindes, das nicht da war.

Etwas tropfte.

Blut?

Sein Blut?

Zehn

»Das wird dem Bürgermeister aber gar nicht gefallen«, seufzte Zorn.

»Mir«, murmelte Schröder, »gefällt es auch nicht.«

Sie standen unter dem Portal vor den drei mächtigen Eingangstüren des Rathauses. Ihre Aufmerksamkeit galt der mittleren. Beziehungsweise dem, was daran hing.

Zorn wandte sich ab, lehnte sich an eine der quadratischen Säulen, zündete mit zitternden Fingern eine Zigarette an und sah hinüber zum Markt. Der Nebel hatte zugenommen, die Kirche auf der anderen Seite schien im gelblichen Schein der hohen Laternen hinter dem Dunst zu schweben, ebenso wie der Turm in der Mitte, dessen Spitze in Nebel und Dunkelheit verschwand. Die Uhr stand auf kurz nach halb sechs. Noch hatte die Morgendämmerung nicht eingesetzt, doch der Mond verblasste bereits.

Dort, wo sich tagsüber die Verkaufsstände reihten, standen Streifenwagen. Neben Zorns Volvo parkte ein Kleinbus der Spurensicherung. Die Scheiben waren vom Nebel beschlagen. Ein Techniker stand an der geöffneten Heckklappe, holte ein Stativ mit einem akkubetriebenen Scheinwerfer heraus, kam gebückt die breite Treppe herauf, murmelte einen knappen Gruß, baute den Scheinwerfer auf, richtete ihn auf den Eingang und schaltete das Licht ein.

»Das ist nett«, bedankte sich Schröder hinter der Säule.

Der Techniker sah an Zorn vorbei zu den Eingangstüren. Erbleichte, machte auf dem Absatz kehrt und stolperte die steinernen Stufen hinab davon.

»Ihm«, sagte Zorn über die Schulter, »gefällt’s auch nicht.«

Schröder ging nicht darauf ein.

Stattdessen sagte er: »Kein Zweifel. Er ist es.«

»Logisch.« Zorn hustete einen Schwall Zigarettenrauch in die diesige Nachtluft. »Wer sonst?«

*

Der Gekreuzigte hing in klassischer Pose an der mittleren Rathaustür, die Arme ausgebreitet, die nackten Füße schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden. Der Kopf war auf die Brust gesackt, das lange Haar hing wirr unter der aus Stacheldraht gewundenen Krone.

Schröder sah zu dem Toten auf. Im grellen Scheinwerferlicht erinnerte der bleiche, verrenkte Körper noch mehr an ein mittelalterliches Altarbild. Das war Arvid Walkow, der gestern mit einem Kreuz vor dem Präsidium aufgetaucht war und Schröder den Timer in die Hand gedrückt hatte. Wenn es noch Zweifel gab, wurden sie durch die zugenähten Lippen beseitigt.

Schröder trat einen Schritt zurück, ging in die Hocke.

Vier Nägel. Die Enden ragten ein paar Zentimeter aus der bleichen Haut. Zwei knapp oberhalb der Knöchel durch die Schienbeine getrieben, die anderen beiden neben den Handgelenken durch die Unterarme.

»Keine Köpfe«, murmelte Schröder. »Ein Druckluftnagler. Oder ein Bolzenschussgerät.«

Hinter ihm ertönte Zorns Stimme, der einen Uniformierten anblaffte, er solle sich gefälligst um die Absperrung kümmern.

Schröder betrachtete die glänzende Lache unter den Füßen des Toten. Das Blut gerann bereits an den Rändern, tropfte allerdings noch immer von den Zehen, auch von den Händen lief es in dünnen Fäden die sehnigen Arme entlang. Das rechte Bein war dunkel von Blut, das aus einer klaffenden Schnittwunde in der Leiste geströmt war und allmählich versiegte.

Schröder stand auf. Das Zeichen, das neben dem Toten auf die Mauer zwischen den Türen gemalt war, erinnerte an …

»Scheiße!«

Schröder wandte sich um.

»Das Vieh hat mir voll auf die Schulter gekackt!«, beschwerte sich Zorn, deutete auf einen weißen Fleck auf seiner Lederjacke und dann anklagend nach oben. Schröder kam hinter der Säule hervor und entdeckte den Übeltäter: eine Taube, die über ihnen auf dem Sims hockte und aus glänzenden Knopfaugen hinabsah.

»Das kann man wieder abwischen«, beruhigte er den empörten Zorn. »Oder du kaufst dir eine neue, es wird sowieso langsam Zeit …«

»Was wird langsam Zeit?«

»Nichts«, winkte Schröder ab. »Wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun als …«

»Diese Jacke«, knurrte Zorn, »habe ich seit über zwanzig Jahren.«

»Eben.«

»Falls du mir sagen willst, dass ich zu alt bin, ’ne Lederjacke zu tragen, dann …«

»Ich will überhaupt nichts sagen!«

Ein paar Uniformierte sahen verwundert hinauf zu den streitenden Kommissaren, die auf der obersten Stufe vor dem Portal im hellen Scheinwerferlicht standen.

»Und jetzt ist Schluss«, beschied Schröder knapp und streifte die durchsichtigen Handschuhe ab. Zorn selbst trug keine, es war auch nicht nötig. Er hätte den Teufel getan, etwas anzufassen. Für seine Verhältnisse war es schon eine beachtliche Leistung, sich der Leiche auf weniger als drei Meter genähert zu haben. Wenn auch nur kurz.

Zorn atmete tief durch.

»Ich hoffe, Brettschneider macht denen die Hölle heiß.«

Er deutete auf einen schlanken Mann in Zivil, der sich am Fuße des Turms mit zwei Streifenpolizisten unterhielt. Die beiden redeten wild gestikulierend auf ihn ein.

»Die sitzen die ganze Nacht in ihrer Karre«, presste Zorn hervor, »und kriegen nicht mit, dass ein paar Meter weiter jemand an die Rathaustür genagelt wird. Was haben die die ganze Zeit gemacht? Rommé gespielt?«

»Sie haben’s ja bemerkt«, sagte Schröder.

»Aber nur, weil einer pinkeln musste«, echauffierte sich Zorn. »Ansonsten hätte der arme Kerl wahrscheinlich bis sonst wann …«

»Darüber reden wir später«, unterbrach Schröder.

Schräg hinter ihnen flackerte das Blitzlicht des Polizeifotografen auf. Der Marktplatz füllte sich allmählich, die ersten Schaulustigen drängten sich mit gereckten Köpfen an den Absperrbändern.

»Niemand konnte das ahnen«, sagte Schröder. »Niemand wusste, was passieren würde. Ob überhaupt etwas passieren würde. Geschweige denn, wo.«

»Trotzdem«, beharrte Zorn. »Die hätten was hören müssen. Wenn man mit ’nem Hammer …«

»Kein Hammer.«

»Ach.«

»Ein Druckluftnagler. Oder etwas Ähnliches.«

»Und woher«, fragte Zorn gedehnt, »kam der Strom, Mister Superhirn? Vielleicht war ja der Bürgermeister da und hatte zufällig ’ne Verlängerungsschnur dabei, dann konnten sie die Steckdose in seinem Büro …«

»Akku«, unterbrach Schröder knapp.

Ein Glockenschlag hallte über den Markt, gefolgt von zwei weiteren. Unwillkürlich hoben sie die Köpfe, betrachteten das große Zifferblatt. Die Uhr stand auf Viertel vor sechs.

»Egal.« Zorn ließ nicht locker. »So ’n Druckluft…dings macht mindestens genauso ’nen Lärm. Entweder man ist taub oder …«

»Vier Nägel.« Schröder sah hoch zur Turmuhr. »Vier Glockenschläge.«

»Äh … was?«

Der Todeszeitpunkt, erklärte Schröder, liege aller Wahrscheinlichkeit nach bei exakt vier Uhr. »Und wenn der Druckluftnagler genau parallel zu den Glockenschlägen betätigt wurde, ist es zumindest nicht so aufgefallen.«

Zwei Uniformierte schleppten eine mobile Sichtschutzwand herbei. An der Absperrung wurden Stimmen laut, eine junge Frau in hellem Mantel und Stöckelschuhen redete aufgeregt auf einen Beamten ein.

»Na toll«, brummte Zorn. »Die Presseheinis.«

»Du musst ja nichts weiter sagen«, beruhigte ihn Schröder. »Nur das Übliche. Dass zurzeit noch keine Auskunft gegeben werden kann und so weiter.«

»Ich hasse diese Idioten.«

»Jemand muss mit denen reden. Und zwar der zuständige Ermittlungsleiter.«

Zorn rutschte unbehaglich auf den kalten Stufen hin und her, tastete nach dem feuchten Hintern.

»Da war noch was«, sagte Schröder. »Jemand hat etwas an die Wand …«

»Sag mal, ab wann bist du wieder Chef?«

»Übermorgen.« Schröder sah Zorn verwundert an. »Warum?«

»Im Moment«, erklärte Zorn, »bin also ich noch der Chef. Und weil ich das bin, kann ich ja anweisen, dass du den Laden nicht übermorgen, sondern sofort übernimmst. Sozusagen als letzte Amtshandlung. Na?« Er gab Schröder einen aufmunternden Stups. »Was sagst du? Chef?«

Schröder öffnete verblüfft den Mund.

»Und da wir das jetzt geklärt haben«, fuhr Zorn gut gelaunt fort, »kannst du dich gleich um die nette Dame von der Presse kümmern.« Er zwinkerte Schröder zu. »Den Rest hast du ja sowieso im Griff.«

Elf

Zorn fuhr ins Präsidium, setzte sich an den Rechner, um nach Informationen über den Toten zu suchen. Dies nahm einen großen Teil seiner Konzentrationsfähigkeit in Anspruch, und als kurz vor Mittag Schröders typische kurze Schritte draußen im Flur erklangen, sprang er auf und öffnete schwungvoll die Tür, um seinem frischgebackenen Vorgesetzten einen dem feierlichen Anlass gebührenden Empfang zu bereiten.

 

»Ich hoffe, Euer Hochwohlgeboren hatten einen angenehmen Tag.«

Er stand auf der Schwelle, den Oberkörper im nahezu perfekten rechten Winkel nach vorn geneigt. Schröder steuerte auf den Schreibtisch zu, doch Zorn drängte sich hastig vorbei, schob den Stuhl zurück und vollführte eine weitere Verbeugung.

»Haben Dero Gnaden einen Wunsch?« Er winkelte den Arm an, zupfte eine imaginäre Serviette zurecht. »Ein Soufflé vielleicht? Knabbergebäck? Oder …«

»Hinsetzen.«

Schröder deutete auf Zorns Platz auf der anderen Seite des Schreibtischs.

»Sehr wohl«. Zorn tippelte devot zu seinem Stuhl. »Ruhen der Herr Geheimrat auch bequem? Soll ich vielleicht ein Kissen holen? Oder…«

»Zwei Dinge.«

»Erwarte untertänigst Ihre Anweisungen«, flötete Zorn.

»Ich habe diesen Job wieder angenommen, weil ich genug von den ewigen Sticheleien habe«, begann Schröder ruhig. »Ab jetzt ist Schluss mit den albernen Spielchen.«

»Aber das hast du doch auch immer …«

»Das heißt nicht, dass du’s nachmachen musst!«

Zorn verzog schmollend den Mund.

»Ich hoffe, wir sind uns einig«, sagte Schröder. »Wenn nicht, sitzt du im Handumdrehen wieder auf deinem alten Posten. Ist das klar?«

Zorn nickte widerstrebend. »Die Sache mit dem Handumdrehen«, er hob den verstümmelten Arm, »ist allerdings nicht ganz einfach. Weil ich ja nur noch eine …«

»Wobei wir bei der zweiten Sache wären.«

»Ja?«

»Keine Wortspiele mehr. Ansonsten«, Schröder deutete zur Tür, »verlasse ich sofort dieses Büro und komme nie, nie wieder. Willst du das?«

Nun, das wollte Zorn definitiv nicht, doch zugeben konnte er es ebenfalls nicht. Also wechselte er sicherheitshalber das Thema.

»Im Netz ist kaum was über Arvid Walkow zu finden«, sagte er. »Aktuelle Einträge gibt’s gar nicht. Er hat Kunst studiert, auf der Webseite der Hochschule wird er ein paarmal erwähnt, aber das ist Jahre her. Da sind auch ein paar Bilder, die er als Student gemacht hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand diese Kritzeleien an die Wand hängt.«

Schröder hob die rötlichen Brauen. »Kritzeleien?«

»Na ja …« Zorn wedelte mit der verbliebenen Hand. »Irgendwelches … abstraktes Zeugs eben.«

»Nur weil du ein Bild nicht verstehst«, Schröder neigte den kahlen Kopf, »muss es nicht unbedingt schlecht sein.«

Zorn schniefte beleidigt.

»Die zugenähten Lippen«, sagte Schröder nach einer Weile. »Es gibt einen russischen Aktionskünstler …«

Zorn kommentierte den Begriff mit einem weiteren Schniefen.

»… der hat vor ein paar Jahren dasselbe gemacht.«

»Ich weiß.«

»Ach.«

»Ich hab recherchiert.« Zorn deutete stolz auf seinen Bildschirm. »Den Namen hab ich vergessen, aber er wollte wohl gegen Putin protestieren. Für Meinungsfreiheit und so. Der Typ hat sich sogar nackt auf den Roten Platz gesetzt und sich die, äh …«, er deutete verlegen auf seinen Schritt, »du weißt schon, … auf dem Boden festgenagelt.«

»Aus Protest?«

»Yes.«

Schröder verzog das Gesicht. »Unschöne Vorstellung.«

»Vielleicht wollte Arvid Walkow ja auch protestieren. Gegen den Bürgermeister.«

»Warum hätte er das tun sollen?«

»Keine Ahnung.« Zorn zuckte die Achseln. »Womöglich waren ihm die Abfallgebühren zu hoch.«

Schröders blaue Augen verengten sich. Er deutete drohend zur Tür.

»Das war kein Wortspiel!«, protestierte Zorn. »Das war ’n Witz!«

»Ein sehr, sehr schlechter Witz.«

»Wenn du den Witz nicht verstehst, muss er nicht unbedingt schlecht sein«, konterte Zorn mit Schröders eigenen Worten.

»Über Geschmack«, erwiderte dieser, »lässt sich durchaus streiten. Über Geschmacklosigkeit nicht. Der Mann ist tot. Wir sollten keine Witze über ihn reißen, sondern versuchen herauszufinden, warum er gestorben ist.«

»Na dann …« Zorn lehnte sich abwartend zurück. »Ich bin ganz Ohr, Chef.«

Schröder sammelte sich kurz.

»Er hat das Neue Testament nachgestellt«, begann er. »Erst den Kreuzweg, dann die Kreuzigung selbst.«

»Und warum übergibt er uns diesen Timer?«, fragte Zorn.

»Er wollte Aufsehen erregen. Und er wusste genau, dass wir ihn irgendwann gehen lassen würden.«

»Wir hätten ihn überwachen können.«

»Stimmt«, nickte Schröder. »Aber hast du diesen Menschen auch nur eine Sekunde lang ernst genommen?«

»Nee.« Zorns Antwort kam prompt. »Mir war klar, dass das ’n Spinner ist.«

»Er war Künstler.«

»Sag ich doch, ein Spinner.«

»Vielleicht war das eine Art …«, Schröder überlegte einen Moment, »Performance.«

»Im Netz«, Zorn wies mit dem Kinn auf seinen Monitor, »findet man Unmengen von Typen, die solche … Aktionen veranstalten. Sich die Lippen zunähen oder ihre Eier … na ja, du weißt schon. Je mehr die schockieren, desto mehr fallen sie auf. Aber ich habe niemanden gefunden, der dabei gestorben ist.«

»Und wenn Arvid Walkow das nicht nur gespielt hat?«

»Sondern?«

»Sich tatsächlich für Jesus gehalten hat?«

»Dann war er auch überzeugt, wieder aufzuerstehen.« Zorn rückte die Brille auf der Nase zurecht und deklamierte mit theatralischer Stimme: »Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten sucht. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat!«

Schröder bedachte ihn mit einem verwunderten Blick.

»Bin katholisch erzogen«, brummte Zorn. »Das meiste von dem Kram hab ich vergessen. Zum Glück.«

Schröder grübelte eine Weile vor sich hin.

»Klingt logisch«, sagte er dann. »Auf den ersten Blick jedenfalls.«

»Und auf den zweiten?«

»Erstens.«

»Ich meinte den zweiten …«

»Erstens«, wiederholte Schröder, hob die Faust und reckte den Daumen, »wäre da die Sache mit der Bibel. Er hat den Kreuzweg absolviert, ist auf die gleiche Art gestorben. Er hat sich an sämtliche Details gehalten, inklusive Dornenkrone. Die Verletzungen auf Armen und Rücken lassen darauf schließen, dass er sich ausgepeitscht hat.«

»Und sie werden ihn schlagen«, deklamierte Zorn wieder, »und sie werden auf ihn spucken und …«

»Jaja«, winkte Schröder ab, lobte Zorn für sein tolles Gedächtnis und fuhr fort: »Ich bin nicht so bibelfest wie du, aber ich kann mich nicht erinnern, dass neben dem Gekreuzigten etwas an die Wand gepinselt wurde.«

»Ach.«

»Ein umgedrehtes A.«

Zorn legte die Stirn in Falten.

»Zweitens«, wieder hob Schröder die Hand, sein Zeigefinger gesellte sich zum ausgestreckten Daumen, »wäre da der Timer …«

»Davon steht definitiv nichts in der Bibel.«

»… und drittens ist da natürlich die Frage nach der zweiten Person. Arvid Walkow dürfte sich wohl kaum selbst gekreuzigt haben.«

Zorn ging in Gedanken den Ablauf durch. Zuerst die Füße. Danach die erste Hand. Und dann …

»Stimmt«, seufzte er. »Das hätte nicht mal Jesus alleine hingekriegt.«

Zwölf

»Irgendjemand muss was gesehen haben.« Frieda stand mit dem Rücken zu Zorn am Bücherregal und wischte Staub. »Klar, es war mitten in der Nacht, aber wir leben doch nicht in der Pampa.«

»Da wär ich mir nicht so sicher«, murmelte Zorn.

Frieda bedachte ihn mit einem strafenden Blick, pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht und widmete sich wieder – wie sie es nannte – ihren hausfraulichen Pflichten