Zorn - Vom Lieben und Sterben - Stephan Ludwig - E-Book + Hörbuch

Zorn - Vom Lieben und Sterben E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

»das, was geschehen ist, war erst der anfang, es ist noch nicht vorbei – langsam beginnt es, spaß zu machen, ihr seid so lächerlich, so unglaublich dumm und ihr seid mir nicht gewachsen. ich bin noch nicht fertig. denkt das bloß nicht.« Hauptkommissar Claudius Zorn und Hauptkommissar Schröder müssen sich mit einer Einbruchserie in der städtischen Kleingartenanlage herumschlagen. Der Fall ist schnell geklärt, eine Clique von Jugendlichen hat die Einbrüche aus Langeweile begangen. Doch dann ist ein Junge aus der Clique tot. Er war gerade einmal 18 und wurde kaltblütig ermordet. Als ein Freund des Opfers, auch er Teil der Clique, stirbt, ist Zorn genervt – ein Mord pro Woche hätte auch genügt! Aber genau wie Schröder ist ihm sofort klar, dass hier jemand gezielt und durchdacht vorgeht, seine Opfer ganz genau auswählt. Sie vielleicht sogar kennt. Als es endlich eine erste vage Spur gibt, ist die Zeit bis zum nächsten Mord bereits abgelaufen. Und Zorn kann sich einfach keinen Reim darauf machen, weshalb Schröder sich plötzlich so merkwürdig verhält … Der zweite Fall für das originellste Duo der deutschen Ermittlerszene: Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder »Claudius Zorn und sein Kompagnon haben das Zeug dazu, Kultstatus zu erreichen.« krimi-couch.de

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Stephan Ludwig

Zorn - Vom Lieben und Sterben

Krimi

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Inhalt

Für die, von der [...]Teil einsEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnTeil zweiSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigTeil dreiVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigDank an alle, die [...]

Für die, von der Zorn seinen Vornamen hat.

(Die Sterne darfst du behalten.)

Teil eins

Eins

Klick – Klack.

Auf dem Nachttisch neben dem Kinderbett steht ein Micky-Maus-Wecker. Die dünnen Arme bilden die Uhrzeiger, der linke weist schräg nach unten, auf die Acht. Der rechte ist hoch aufgerichtet und schwebt leise zitternd zwischen der Zwei und der Drei. Der Junge weiß nicht, dass es gleich Viertel nach acht ist, schließlich ist er erst fünf, aber die Uhr hat ihm gefallen, und er hat so lange gebettelt, bis sein Vater sie gekauft hat.

»Ich will sie haben!«, hatte er gerufen, so laut, dass sich die Leute in dem kleinen Supermarkt nach ihnen umdrehten. Er hatte sogar mit dem Fuß aufgestampft, bis sein Vater in gespielter Verzweiflung lachend die Arme gehoben hatte. Dann war er ernst geworden, hatte sich zu ihm hinabgebeugt, bis sein Gesicht ganz dicht vor dem seines Sohnes war und leise gesagt, dass er ihm den Wecker kaufe. Dass er heute eine Ausnahme mache.

Jetzt, wo sie ihr kleines Geheimnis hatten.

Der Junge gähnt und reibt sich die müden Augen. Er hat keine Ahnung, was eine Ausnahme ist. Aber was sein Vater mit dem kleinen Geheimnis meint, das weiß er.

Er greift nach dem Wecker, legt sich auf den Rücken und betrachtet ihn stirnrunzelnd. Das spitze Gesicht der Figur auf dem Zifferblatt ist in einem schrägen Grinsen erstarrt, die Augen sind weit aufgerissen und bewegen sich im Sekundentakt.

Klick – nach rechts.

Klack – nach links.

Der rechte Arm zeigt genau nach unten, auf die Sechs. Eine Weile bewegt der Junge seine Augen mit, dann wird ihm schwindlig und er hört wieder auf. Jetzt, aus der Nähe, sieht Micky Maus irgendwie anders aus. Gar nicht mehr so fröhlich, wie er anfangs dachte. Der Mund ist weit aufgerissen, es könnte ein Lachen sein. Oder aber ein stummer Schrei, ein Ausdruck von Schmerz, vielleicht ist es sogar Wahnsinn (ein Begriff, den er im Moment noch nicht einordnen kann, aber im Laufe seines kurzen Lebens noch allzu gut kennenlernen wird).

Er seufzt leise und stellt den Wecker zurück, so, dass er die Figur nicht mehr sehen muss. Noch macht sie ihm keine Angst, verursacht eher eine Art Unbehagen.

Er hört Schritte auf dem Flur, die Tür geht auf, sein Vater lächelt ihm zu. Dann schließt er die Tür. Sorgfältig.

Das macht er erst, seit sie ihr kleines Geheimnis haben.

Er kommt näher und setzt sich auf den Bettrand.

»Hast du dir die Zähne geputzt?«

Das hat der Junge nicht, aber er nickt. Der Mann nickt ebenfalls und gibt seinem Sohn einen Kuss auf die Wange. Er riecht sein Rasierwasser. Der Duft – Nightflight von Joop! – wird ihn für den Rest seines Lebens verfolgen, so sehr, dass er später mit dem Brechreiz kämpfen wird, wenn er ihn irgendwo wahrnimmt.

Zuerst verändert sich der Blick des Mannes. Wird hart, gierig. Jetzt bekommt der Junge Angst, er setzt sich im Bett auf, der Vater greift seine Schultern und drückt ihn sanft zurück, sagt, dass er sein Junge sei, dass er ihn liebe und dass sie jetzt ein Geheimnis hätten, das niemand erfahren dürfe. Das wisse er doch, oder?

Der Junge schluckt. Dann nickt er.

Der Vater murmelt etwas Unverständliches und zieht die Bettdecke zurück. Dann streichelt er ihn. Seine Hände sind groß und behaart. Sie zittern.

Der Junge schließt die Augen.

Der Atem des Mannes wird schwerer. Er tut ihm nicht weh, noch nicht. In ein paar Monaten wird er eine Kamera mitbringen. Dann, ja dann wird er ihm weh tun, so sehr, dass der Junge auch mit zwölf noch ins Bett pinkeln wird. Die Albträume werden folgen, in denen Micky Maus aus dem Wecker springt und mit einem irren Kreischen durch das Zimmer rast und sein Spielzeug zertrümmert.

Noch später, wenn er dreizehn und ein wenig stärker geworden ist, wird er sich zum ersten Mal wehren. Danach wird es aufhören, und er wird es ein paar Jahre vergessen. Aber irgendwo in einer dunklen Ecke seines Kopfs wird er die Erinnerung abspeichern, wo sie liegenbleiben wird wie ein stinkendes, schlafendes Tier.

Eines Nachts dann, wenn der Junge erwachsen ist und der Wecker längst zerborsten auf der städtischen Müllhalde liegt, wird er seinem Vater im Stadtpark begegnen.

Und dabei zusehen, wie sein Vater langsam, sehr langsam zerfleischt wird.

Bis dahin allerdings wird noch eine Menge Zeit vergehen.

Klick – Klack.

Zwei

Es war Anfang August, und es war schwül. Die Menschen duckten sich unter der Hitze, es schien, als hätte sich eine schmuddelige Herrensocke über die Gegend gebreitet. Die Stadt glich einer flimmernden Garküche, in der es nach Abgasen, kochendem Asphalt und menschlichem Schweiß roch.

Als Claudius Zorn auf den Besucherparkplatz des Stadtklinikums einbog, waren alle Plätze besetzt. Kurzerhand hielt er auf einem der freien Behindertenparkplätze, zog die Handbremse und stieg aus.

Er zündete sich eine Zigarette an und lief auf den Haupteingang zu. Bereits nach wenigen Sekunden bildeten sich Schweißflecken unter den Achseln seines gelben T-Shirts. Die dunklen Haare waren in den letzten drei Monaten gewachsen und hingen ihm tief über die Augen, er trug Jeans und weiße Turnschuhe, die auf dem heißen Pflaster des Fußwegs leise quietschten.

Als Schröder ihn sah, schirmte er mit der einen Hand das Gesicht gegen die Sonne ab und winkte ihm mit der anderen zu. Er stand im Schatten des riesigen Vordachs, direkt neben einem der großen Aschenbecher und schien seit geraumer Zeit zu warten.

»Bin ich zu spät?«, fragte Zorn und trat die Zigarette direkt neben dem Aschenbecher aus.

»Nein, Chef. Drei Minuten zu früh.«

Zorn musterte ihn aus den Augenwinkeln. Der dicke Schröder war blass. Seine Füße steckten in altmodischen Ledersandalen, trotz der Hitze trug er hellbraune, karierte Strümpfe. Die unvermeidliche Cordhose schien drei Nummern zu groß, er musste mindestens zehn Pfund abgenommen haben. Sein Jackett hing sorgfältig zusammengelegt über einem kleinen Rollkoffer, der neben ihm auf dem Boden stand.

»Danke, dass du mich abholst, Chef.«

Zorn murmelte, dass das doch selbstverständlich sei, und spürte einen leichten, unbehaglichen Stich in der Magengegend. Schließlich hatte er Schröder in den letzten zwölf Wochen nur ein einziges Mal besucht und dies mit seiner – wie er sich einredete – pathologischen Abneigung gegen Krankenhäuser begründet. Die Wahrheit lag natürlich woanders, genauer gesagt, bei seiner Trägheit. Ob diese ebenfalls pathologisch war, ließ sich schwer sagen, das war allerdings nebensächlich. Claudius Zorn hätte es sowieso niemals zugegeben. Jedenfalls nicht freiwillig.

Die Eingangstür des Klinikums öffnete sich zischend, der Luftzug wehte Schröder eine rötliche Haarsträhne ins Gesicht. Sorgfältig strich er sie zurück und legte sie wieder quer über die Glatze.

»Du siehst gut aus, Chef. Wie ein Rockstar aus den Siebzigern.«

Zorn trug eine verspiegelte Sonnenbrille, die er sich vor einigen Wochen zugelegt hatte. Damals hatte er sich den neuen Batman-Film im Kino angesehen und im Nachhinein feststellen müssen, dass er den Film auf Grund seiner Kurzsichtigkeit mehr oder weniger als Hörspiel wahrgenommen hatte. Der folgende Sehtest (links minus 1,6 und rechts minus 2,75 Dioptrien) und der ernste, fast vorwurfsvolle Blick des Optikers hatten ihn schließlich überzeugt, dass ihm keine Wahl blieb, wenn er den Rest seines Lebens nicht blind wie ein Maulwurf durch die Gegend stolpern wollte. Jetzt besaß er zwei Brillen: eine schmale Edelstahlbrille, die er nach kurzem Blick in den Spiegel im Handschuhfach des Volvos deponiert hatte (wo sie noch immer lag), und eine Sonnenbrille in seiner Stärke. Mit ihr konnte er gestochen scharf sehen und sah selbst, wie er fand, relativ scharf aus. Ein guter Kompromiss.

Schröder hatte die Augen geschlossen und hielt das Gesicht in die Sonne.

»War das jetzt ein Kompliment?«, fragte Zorn.

»Naturalmente«, lächelte Schröder, ohne die Augen zu öffnen. Sie arbeiteten jetzt seit über zehn Jahren zusammen, doch Zorn wusste noch immer nicht, wann Schröder etwas ernst meinte und wann nicht.

Wieder öffnete sich die Tür, ein hagerer Mann in verblichenem Bademantel schlurfte mit gebeugten Schultern heraus, die nackten Füße steckten in hellgrünen Badelatschen. Ein paar Meter neben ihnen blieb er stehen, nickte Schröder zu und zündete sich umständlich eine Zigarette an. Automatisch griff Zorn ebenfalls nach seiner Packung.

»Ein äußerst netter Kerl«, sagte Schröder und wies auf den Mann im Bademantel. »Er hat drei Zimmer neben mir gelegen.«

»Was hat er denn?«, fragte Zorn, um wenigstens etwas zu sagen.

»Lungenkrebs. Im Endstadium.«

Der Mann im Bademantel hustete.

Zorn steckte die Zigaretten wieder ein.

Eine Weile standen sie schweigend da. Schröder machte keinerlei Anstalten, etwas zu sagen. Er schien vollständig zufrieden, hier, vor dem Krankenhaus, in der Sonne zu stehen. Der Mann im Bademantel sog gierig an seiner Zigarette, als er den Rauch wieder ausstieß, bekam er einen Hustenanfall.

Zorn räusperte sich verlegen.

»Und sonst so?«

»Du meinst, wie’s mir geht?«

»Ja.«

»Nun, ich denke, es geht mir gut.« Schröder verschränkte die kurzen Arme auf dem Rücken. »Ich würde sagen, sie haben mich ganz gut wieder zusammengeflickt. Wenn man bedenkt, dass ich die Hälfte meiner Eingeweide verloren hatte.«

Darauf wusste Zorn keine Antwort. Er räusperte sich erneut und trat unschlüssig von einem Bein aufs andere. Schröder warf ihm einen kurzen Blick zu und meinte dann: »Wollen wir gehen?«

»Gute Idee«, erwiderte Zorn hastig und griff nach Schröders Koffer. Das Jackett fiel zu Boden, Schröder bückte sich und hob es auf. Als er sich aufrichtete, verzog er kurz das Gesicht und fuhr sich mit der Hand über den dicken Bauch.

»Bist du sicher, dass alles okay ist?«, fragte Zorn.

»Ja, Chef. Das bin ich.«

Sie gingen zum Auto. Ein großer, schlanker Mann mit einem albernen Rollköfferchen, dessen Räder laut über das Pflaster tuckerten. Und ein kleiner, dicker Kerl, der mit kurzen Schritten nebenher tippelte.

Der Volvo hatte nur ein paar Minuten in der Sonne gestanden, und doch war der Innenraum glühend heiß.

»Wie läuft’s auf Arbeit?«, fragte Schröder und nahm vorsichtig auf dem Beifahrersitz Platz.

»Wie man’s nimmt. An der Baustelle der Marktkirche ist ein Betonmischer gestohlen worden. Dann haben wir noch eine Einbruchserie in der Kleingartensparte am Nordbad.«

»Klingt verlockend.«

»Ja. Und nach einer Menge Papierkram.«

Zorn beugte sich nach hinten und griff ein Päckchen von der Rückbank.

»Das soll ich dir von Frieda Borck geben.«

Umständlich entfernte Schröder das Geschenkpapier, zum Vorschein kam eine Nigel-Kennedy-CD.

Schröder brummte anerkennend. »Die Violinkonzerte von Bach. Eine Aufnahme von 2010, zusammen mit den Berliner Philharmonikern. Sie hat Geschmack, unsere Staatsanwältin.«

»Sie ist froh, dass du wieder da bist, soll ich dir ausrichten.«

Zorn startete den Motor und drehte die Klimaanlage auf die höchste Stufe.

»Ich fahr dich erst mal nach Hause, Schröder.«

»Nein, ins Präsidium, wenn’s beliebt. Es gibt Arbeit. Wir müssen den feigen Raub eines Betonmischers aufklären.«

»Wie du meinst.« Zorn legte den Rückwärtsgang ein. »Ich bin übrigens auch froh«, sagte er leise, als sie auf die Hauptstraße einbogen.

»Wie meinen?«

»Dass du wieder hier bist.«

»Das weiß ich.« Schröder sah aus dem Fenster und schwieg einen Moment. Dann lächelte er und wiederholte: »Das weiß ich, Chef.«

*

Später, am frühen Nachmittag, saß Claudius Zorn in seinem Büro. Auf der Fahrt ins Präsidium hatten sie kaum ein weiteres Wort gewechselt. Die meiste Zeit hatte Schröder leise vor sich hingepfiffen, im Foyer hatte er sich kurz verabschiedet und war dann schnurstracks in sein Büro gegangen, um, wie er sagte, stante pede die Jagd nach dem frechen Baustellendieb zu eröffnen.

Okay, jetzt ist Schröder also wieder da, überlegte Zorn, sank in seinen Sessel, blähte die Backen und atmete geräuschvoll aus. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass ich wieder hier sitze und das tue, was ich die ganze Zeit gemacht habe: Ich langweile mich.

Direkt über dem Bürofenster hatte sich ein Wasserfleck gebildet, eine Folge der starken Regenfälle, die die Stadt im Frühjahr heimgesucht hatten. Er war längst angetrocknet und hatte im Laufe der Zeit eine schmutzige, rötlichbraune Färbung angenommen.

Während Zorn ihn anstarrte, gingen ihm zwei Dinge gleichzeitig durch den Kopf: Einerseits überlegte er, ob der Fleck eher die Form einer Nesselqualle oder eines üppigen Frauenhinterns hatte, eine Frage, die er sich wohl hundertmal gestellt hatte, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.

Und dann waren da noch die Mordfälle, welche die Stadt im April bis ins Mark erschüttert hatten, ein Gedanke, bei dem er sich in letzter Zeit immer öfter ertappte. Das war nicht schlimm, bis auf die Tatsache, dass er diese Zeit mittlerweile regelrecht zurücksehnte. Damals hatte er wenigstens etwas zu tun gehabt. Ein Ziel, eine Aufgabe. Und jetzt?

Mein Gott, dachte Zorn und wischte einen winzigen Staubkrümel vom Tisch, kann denn nicht irgendwas passieren? Irgendwas? Es muss ja nicht gleich ein Mord sein. Vielleicht eine simple Entführung. Oder eine Erpressung? Egal, jedenfalls etwas, das nicht mit Kleingartensparten oder Großbaustellen zu tun hat. Wenn das so weitergeht, stelle ich mir noch eine Topfpflanze ins Büro, dann hab ich wenigstens was zum Gießen. Das Wort Topfpflanze spie er in Gedanken aus wie einen alten Kaugummi.

Urplötzlich wurde er wütend auf Schröder. Der hatte es einfach, saß ein paar Meter weiter in seinem Büro, wühlte sich durch nichtssagende Akten und war zufrieden.

Er könnte ruhig mal vorbeikommen, das ist er mir irgendwie schuldig. Könnte fragen, wie’s mir so geht, was ich in den letzten Monaten gemacht habe, er muss doch merken, dass er hier gefehlt hat und überhaupt …

Jetzt verhedderte sich Zorn in seinen eigenen Gedanken.

Wenn er nicht zu mir kommt, dann geh ich halt zu ihm, dachte er trotzig. Stand auf, ging zur Tür und warf einen letzten Blick auf den Wasserfleck über dem Fenster.

Das ist keine Qualle, überlegte er. Und auch kein Hintern.

Es ist ein Skischuh.

*

»Darf ich ehrlich sein?«, fragte Frieda Borck.

Schröder nickte.

»Sie sehen beschissen aus. Wie viel haben Sie abgenommen? Sechs Kilo?«

»Sieben, Frau Staatsanwältin.« Schröder drehte sich ein wenig zur Seite, so dass er im Profil zu sehen war. »Ich denke nicht, dass mir das geschadet hat, oder?«

»Wie man’s nimmt. Ich mag Ihr Bäuchlein, Herr Hauptkommissar.«

»Gracias, Frau Staatsanwältin.«

Frieda Borck trug eine helle Bluse und einen kurzen schwarzen Rock. Zorn, der in diesem Moment ein paar Meter weiter sein Büro verließ, hätte ständig auf ihre langen Beine gestarrt. Schröder hingegen stand hinter seinem Schreibtisch und sah ihr lächelnd in die Augen.

»Sie sind verdammt blass, Herr Schröder. Meine Mutter würde sagen, Sie sehen aus wie der Tod auf Latschen.«

»Richten Sie meine besten Grüße aus und sagen Sie ihr, dass ich wenig Gelegenheit hatte, an die Sonne zu kommen.«

»Ich frage mich nur, ob Sie schon wieder arbeiten sollten. Sie gehören ins Bett, nicht ins Büro«, meinte Frieda Borck in ernstem, fast mütterlichem Ton. Was ein wenig paradox war, schließlich war sie fast fünfzehn Jahre jünger als Schröder.

»Ach, im Bett war ich in den letzten Wochen lange genug«, erwiderte Schröder und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Ich bin froh, endlich wieder etwas tun zu können.«

»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gutgeht?«

»Ich bin nicht traumatisiert, falls Sie das meinen. Und etwas Abwechslung tut mir gut. Auch wenn es vorerst nur ein verschwundener Betonmischer ist.«

»Der Mischer ist heute früh wieder aufgetaucht.«

»Ach!«

»Der Bauleiter hatte ihn übers Wochenende mitgenommen, angeblich wollte er seine Garage verputzen. Das Schlimmste, was er zu erwarten hat, ist eine Abmahnung. Ich hoffe, Sie sind nicht zu sehr enttäuscht.«

»Es ist niederschmetternd«, lächelte Schröder.

Die Staatsanwältin lächelte ebenfalls. »Sie werden’s überleben. Ansonsten liegt nicht viel an.«

»Die Hitze macht allen zu schaffen. Offensichtlich auch den Verbrechern.« Schröder erhob sich schwerfällig und trat ans Fenster. »Zorn erzählte etwas von einer Einbruchserie in einer Kleingartensparte?«

»Das stimmt.« Frieda Borck nickte. »Wahrscheinlich sind es Kids, die sich einfach nur langweilen. Sie brechen nachts in die Lauben ein, meist am Wochenende. Die Gartensparte liegt direkt am Nordbad, sie klauen Schnaps, kiffen und gehen danach baden.«

»Klingt spannend.«

»Ich dachte, Sie wären froh, wenn Sie etwas zu tun bekommen?«

»Das bin ich«, sagte Schröder ernst. »Ich werde mich heute Nacht sofort auf die Lauer legen.«

Frieda Borck warf den Kopf in den Nacken und lachte.

*

Zorn stand unschlüssig vor Schröders Büro. Hob die Hand, um anzuklopfen, ließ sie aber wieder sinken. Nein, klopfen würde er nicht, schließlich war er Schröders Vorgesetzter. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, bisher war es immer so gewesen, dass Schröder zu ihm gekommen war, nicht umgekehrt.

Dann hörte er das Lachen aus dem Zimmer und zögerte erneut.

Er scheint sich ja prächtig zu amüsieren, der feine Herr, überlegte er. Offensichtlich kommt er sehr gut ohne mich zurecht. Zorn spürte ein unschönes Gefühl in sich aufsteigen. Eifersucht?

Quatsch, brummte er vor sich hin. Ich bin nicht eifersüchtig. Egal, ich habe sowieso gleich Feierabend.

Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte missmutig zurück in sein Büro. Zehn Minuten später befand er sich auf dem Heimweg.

*

Als die Sonne längst untergegangen war, lag Zorn in Boxershorts auf seinem Bett. Die Wohnung war angenehm kühl, er hatte sämtliche Fenster weit aufgerissen. Leise dröhnte das Brausen des abendlichen Stadtverkehrs zu ihm hinauf in den vierzehnten Stock.

Er lag auf dem Rücken, rauchte und starrte an die Decke. Natürlich war ihm klar, dass er sich am Nachmittag wie ein trotziges, eingeschnapptes Kind verhalten hatte. Oder war es etwas anderes? Die Wechseljahre? Herrgott, überlegte er, ich werde tatsächlich launisch. Wie eine alternde Diva.

Nun, launisch war er schon immer gewesen, mit dem Alter hatte das nichts zu tun. Aber es stimmte, in letzter Zeit lagen seine Nerven blank. Doch das hatte einen ganz anderen Grund.

Malina.

Besser gesagt, ihr plötzliches Verschwinden.

Das war am 9. Mai gewesen, er wusste das Datum noch ganz genau. Eine Woche, nachdem der Gasometer explodiert und ihren Onkel unter sich begraben hatte. Wie lange war das jetzt her? Zwölf Wochen?

Ja. Seit sechsundneunzig Tagen (und Nächten! – die waren schlimmer) grübelte er, warum sie ihn verlassen hatte, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Sie hatten sich für den Abend zum Essen verabredet, am Nachmittag erhielt er eine Nachricht aufs Handy: Sorry, Zorn. Es geht nicht. Das hatte er als Absage für das Essen verstanden und nicht weiter wichtig genommen.

Zunächst jedenfalls.

Als er sie am nächsten Morgen anrufen wollte, war sie nicht zu erreichen. Er sprach ihr auf die Mailbox. Zwei Tage später, als er dann vor ihrer Tür stand und konsterniert auf die helle Stelle starrte, an der bis vor kurzem noch ihr Namensschild gehangen hatte, wusste er, wie sie ihre Nachricht gemeint hatte.

Sorry, Zorn. Es geht nicht.

Es war ein Abschied gewesen.

Am schlimmsten war nicht die Tatsache, dass sie ihn verlassen hatte, sondern die Frage nach dem Warum. Auch jetzt noch, drei Monate (oder zweitausenddreihundert Stunden) später, fragte er sich immer wieder, was der Grund für ihr plötzliches Verschwinden gewesen sein könnte. Er wusste es nicht.

Sie hatten nicht einmal zwei gemeinsame Wochen gehabt, aber sie waren glücklich gewesen. Was das Glück betraf, war Zorn im Laufe seines Lebens sehr vorsichtig geworden, aber er war sicher, dass sie einem Zustand, der diesem Begriff ähnelte, zumindest sehr nahe gekommen waren. Und es war nicht nur ihm, sondern auch ihr so gegangen. Sie hatten sich gefunden, und es war gut gewesen. Das war eine Tatsache. Punkt.

Es wäre Zorn ein Leichtes gewesen, ihre neue Telefonnummer herauszufinden oder die Adresse, unter der sie jetzt wohnte. Aber da war nicht nur das Unglück über die enttäuschte Liebe, da war noch etwas anderes: Trotz.

»Na und? Dann hast du eben Pech gehabt, Malina. Du hast keine Ahnung, was du verpasst«, sagte Zorn laut und erschrak über den Klang seiner eigenen Stimme, die hohl von den Wänden seines kleinen Schlafzimmers widerhallte.

Die Gardinen bewegten sich sacht, eine kühle Brise wehte durchs Zimmer. Zorn schüttelte wütend den Kopf. So sehr er auch lüftete, er konnte Malina immer noch riechen.

Ich bin selbst schuld, dachte er und drückte die Zigarette aus. Ich hätte sie nicht so dicht an mich heranlassen dürfen. Aber das war jetzt das letzte Mal. Endgültig. Ich komme sehr gut allein klar.

»Und außerdem«, murmelte er leise, klopfte das Kissen zurecht und drehte sich zur Seite, »hab ich ja noch Schröder.«

Drei Stunden später war er endlich eingeschlafen.

Drei

Der Stadtwald lag still in der Sonne. Er befand sich im Osten der Stadt, nach Norden zu wurde er durch eine Schnellstraße begrenzt, die an der Neustadt vorbei ins weiter westlich gelegene Mansfelder Land führte. Ziemlich genau in der Mitte befand sich ein Berg, auf dem ein stählerner Aussichtsturm stand. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick über die Stadt, an klaren Tagen konnte man bis zu den Gipfeln des Harzes sehen. Der Wald war beliebt, an den Wochenenden strömten die Menschen in Scharen mit Decken und Picknickkörben herbei.

Jetzt, morgens um sechs, war es hier menschenleer. Es würde noch Stunden dauern, bis die ersten Halbwüchsigen auf einem der Wanderwege lärmend und handtuchschwingend zum südlichen Ende des Waldes pilgern würden, dahin, wo der Heidesee schmutziggrün im Morgenlicht glitzerte.

Am Ufer führte ein Weg aus brüchigen Betonplatten entlang, ein Radfahrer strebte eilig dem Wald zu. Er trug enge schwarze Shorts und ein Trikot aus gelbem Polyester. Das Rad, ein Mountainbike aus weißem Aluminium, schien neu zu sein.

Der Fahrer war jung, höchstens achtzehn. Der Helm war ihm tief in die Stirn gerutscht, das Gesicht gerötet, Schweißflecken glänzten auf dem Rücken seines Shirts.

Als er in den Wald einbog, wurde der Weg schmaler. Hier, im Schatten, war es merklich kühler. Die Betonplatten wurden durch sandigen Boden abgelöst, der mit Tannenzapfen, Wurzeln und heruntergefallenen Ästen übersät war. Der Junge setzte sich im Sattel auf, schaltete einen Gang höher und beschleunigte.

Nach zwei Kilometern bog er nach rechts ab. Er näherte sich dem Aussichtsturm, nun ging es steil bergauf. Jetzt schaltete er runter, das letzte Stück verlief fast senkrecht, nur unter Aufbietung aller Kräfte schaffte er es, nicht absteigen zu müssen.

Auf dem Plateau angekommen, warf er das Rad achtlos beiseite und sank keuchend auf eine der Bänke zu Füßen des Turms. Sein Hintern wurde nass, das Holz war feucht vom Morgentau, es schien ihn nicht zu stören. Er nahm seine Wasserflasche und trank sie in einem Zug aus.

Dann grunzte er zufrieden, breitete die Arme auf der Lehne aus und schloss die Augen. Hier oben wehte ein leichter, angenehmer Wind. Es war still, bis auf den keuchenden Atem des Jungen und das Zirpen einer Grille. Irgendwo knackte ein Ast. Mücken umflogen seinen Kopf, er murmelte eine leise Verwünschung und verscheuchte sie mit der Hand.

Als er ein paar Minuten später aufstand, zitterten die Oberschenkel noch immer, doch sein Atem hatte sich ein wenig beruhigt. Er schob das Rad zum südlichen Rand der Hochfläche. Eine Treppe führte hinunter, links daneben gab es einen Hohlweg, der steil bergab bis zu einer überdachten Picknickstelle führte. Im Volksmund hieß der Weg Todesbahn, er diente im Winter als Rodelstrecke.

Der Junge holte tief Atem, dann fuhr er los. Zuerst bremste er, das Hinterrad blockierte und stellte sich quer, als er ein paar großen Wurzeln auswich. Dann ließ er sich rollen, wurde schneller, immer schneller. Links und rechts schossen die Bäume vorbei, der Junge hob den Kopf, um den Fahrtwind zu genießen, als er plötzlich aus dem Sattel gerissen wurde.

Das geschah schnell, als würde ein Film vorgespult werden.

Was gut war, denn so merkte der Junge nicht, wie er starb.

Ein hohes, metallisches Zirpen erklang, ähnlich dem Schwingen einer Klaviersaite, ein seltsam albernes, comicähnliches Geräusch, es ähnelte dem DOING!!! in einem alten Zeichentrickfilm.

Der dünne Metalldraht, der in Kopfhöhe quer über den Weg gespannt war, zerschnitt das weiche Gewebe unterhalb des Zungenbeins, durchdrang zuerst die Luft-, dann die Speiseröhre. Wäre der Junge schneller gewesen, hätte der Draht auch seinen Halswirbel durchtrennt, so aber blieb er stecken, nachdem er sich einen halben Zentimeter in den Knochen gegraben hatte.

Einen Moment schien es, als würde der Draht reißen, er dehnte sich, der Junge hing wie eine Puppe in der Luft, während das weiße Mountainbike unter ihm weiterrollte. Das Zirpen wurde lauter, klang jetzt elektrisch, als würde ein Generator angeworfen. Den Bruchteil einer Sekunde stand die Zeit still, dann schwang der Draht zurück, der Junge wurde mit furchtbarer Gewalt ein paar Meter zurückgeschleudert und war bereits tot, als er mit dem Rücken am Stamm einer dicken Eiche landete. Ein kurzes Aststück ragte heraus, bohrte sich neben dem Rückgrat ins Fleisch und verhinderte, dass der Tote in sich zusammensank. So sah es denn aus, als würde er dort am Stamm lehnen und ausruhen, direkt unter einem hölzernen Schild: Naturschutzgebiet – Verhalten Sie sich ruhig! Übernachten verboten!, der Kopf auf die Brust gesackt, der Helm ein wenig schief, ein Bein leicht angewinkelt, das T-Shirt nicht gelb, sondern dunkelbraun vom Blut, das aus der klaffenden Halswunde drang.

Zehn Meter weiter lag das Bike zwischen Brennnesseln auf der Seite, das Hinterrad drehte sich leise klackernd.

Der Draht vibrierte ein wenig nach, dabei blitzte er kurz in der Sonne auf.

Ein Sperling landete zu Füßen der Leiche, legte den Kopf schief, sah kurz auf und flog wieder davon.

Dann war es still.

*

Es war kurz vor halb neun, als der dicke Schröder keine zwei Kilometer von der Leiche entfernt an der Bushaltestelle stand. Er hatte sich, die Aktentasche zwischen den Beinen, in den Schatten zurückgezogen und las in der neuesten Ausgabe des Spiegel.

Von rechts kam ein großes, korpulentes Mädchen in einem pinkfarbenen Sommerkleid herangeschlendert. In der Linken trug sie ein Badehandtuch, das gegen ihre nackten, kräftigen Beine schlenkerte. Das Haar war dunkel und strähnig, eine giftgrün gefärbte Locke hing ihr tief in die Stirn. Sie war ungefähr fünfzehn, kaute einen Schokoriegel und ließ sich mit einem heftigen Schnaufen neben Schröder auf die Bank sinken. Er murmelte einen Gruß und warf ihr einen kurzen Blick zu. Auf ihrem rechten Oberarm erkannte er ein Tattoo, das von einem schiefen Herz umrahmt wurde: Enrico 4ever! war dort mit ungelenker Hand eingestochen worden.

Sie wickelte den Riegel aus, nahm einen letzten Bissen und warf das Papier auf die Erde, wo es direkt zu Schröders Füßen landete.

Wortlos bückte er sich und warf die Verpackung in den Papierkorb.

»Wie bist du denn drauf?«, fragte das Mädchen mit vollem Mund und setzte, als Schröder nichts erwiderte, hinzu: »Spießer.«

Schröder schwieg noch immer.

»Blödmann«, sagte das Mädchen kauend. Und dann: »Fettsack.«

Seufzend klappte Schröder die Zeitschrift zu und verstaute sie vorsichtig in seiner Tasche. »Ich bin Polizist«, sagte er freundlich, nachdem er das Mädchen eine Weile angesehen hatte. »Sollte ich dich noch einmal erwischen, wie du deinen Müll auf die Erde wirfst, lege ich dir Handschellen an und nehme dich fest. Und dann lass ich dich den kompletten Marktplatz fegen, verstanden?«

Das Mädchen starrte ihn mit offenem Mund an, Schokolade klebte zwischen ihren Zähnen. Sie setzte zu einer Erwiderung an, als direkt vor ihnen ein Volvo anhielt und hupte.

»Steig ein«, rief Claudius Zorn, nachdem er sich hinübergebeugt und die Beifahrertür geöffnet hatte. Schröder stand auf und wandte sich noch einmal an das Mädchen: »Das ist mein Kollege. Vor ihm solltest du dich besonders in Acht nehmen, das ist ein ganz scharfer Hund. Er würde dich den Marktplatz nicht fegen, sondern bohnern lassen. Und danach würde er dich erschießen.«

Er stieg zu Zorn ins Auto und schloss die Tür. Dann fuhr er das Fenster herunter, formte mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger ein V und deutete erst auf seine Augen, dann auf das Mädchen. Ich beobachte dich, hieß das.

Das Mädchen streckte ihm die schokoladenverschmierte Zunge raus.

»Was war das denn?«, fragte Zorn und legte den Gang ein. »Die hat dich angeguckt, als wärst du Jack the Ripper.«

»Nur ein kleiner Beitrag zum Umweltschutz«, erwiderte Schröder und schnallte sich umständlich an. »Nett, dass du mich mitnimmst. Kommst du zufällig vorbei?«

»Ja«, log Zorn und fuhr an. Er war seit sechs Uhr munter, hatte eine Weile grübelnd wach gelegen und war dann zwei Stunden ziellos durch die Gegend gefahren. Schließlich war er hier aufgetaucht, in der Hoffnung, Schröder auf seinem Weg ins Präsidium aufzugabeln.

»Hier«, sagte er und griff, ohne den Blick von der Straße zu wenden, hinter sich auf die Rückbank. Er reichte Schröder eine Pralinenschachtel. »Ich hab auch was für dich. Die wollte ich dir eigentlich gestern schon geben, ich hab’s aber vergessen.«

Das war bereits seine zweite Lüge an diesem schönen Sommermorgen.

»Weinbrandbohnen.« Schröder schien ehrlich erfreut. »Danke.«

»Du solltest sie gleich essen, bevor sie weich werden.«

»Das wäre keine gute Idee.«

»Warum?«, fragte Zorn, setzte den Blinker und bog in die Auffahrt zur Hochstraße ein. Schröder warf ihm einen schuldbewussten Blick zu.

»Ich bin Diabetiker, Chef.«

Volltreffer, dachte Zorn.

»Und Alkohol trinke ich eigentlich auch nicht.«

Klasse. Noch ein Volltreffer.

Einen schrecklichen Moment widerstand er dem Impuls, Schröder die Pralinen aus der Hand zu reißen und aus dem Fenster zu werfen. Was für eine Frechheit!, wollte er rufen, das ist das erste Geschenk, das ich dir jemals gemacht habe, ich besorge dir Pralinen und du hast nichts Besseres zu tun, als ein Scheißdiabetiker zu sein? Was bildest du dir eigentlich ein?

Schröder schien das zu spüren, denn er sagte: »Ich schenk sie dem Pförtner. Oder Frau Borck, die freut sich bestimmt.«

»Tu das«, antwortete Zorn, der sich langsam wieder beruhigte. »Aber sag ihr nicht, dass sie von mir sind.«

Schröders Handy klingelte, er kramte es aus seiner Aktentasche und meldete sich. Zorn erkannte die undeutliche, verzerrte Stimme von Frieda Borck, der Staatsanwältin. Schröder lauschte eine Weile schweigend, während sich seine Miene langsam verdüsterte.

»Oha«, sagte er schließlich und beendete das Gespräch.

»Was meinst du damit?«

»Womit, Chef?«

»Du hast ›Oha‹ gesagt, Schröder.«

»Das war ein Ausdruck der Verwunderung. Ich hätte genauso gut ›O Gott‹ oder ›Herrje‹ sagen können.«

»Würdest du mir den Grund deiner Verwunderung mitteilen?«

»Wir haben einen Leichenfund im Stadtwald.«

»Ach!«

»Ein Mountainbiker. Er wurde geköpft, jedenfalls fast.«

Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander.

»Oha«, sagte Zorn dann und beschleunigte.

*

»Sie klang ziemlich wütend, Chef.«

Sie standen vor dem Büro der Staatsanwältin. Zorn zuckte die Achseln, klopfte kurz und trat ein, Schröder folgte ihm. Frieda Borck saß hinter ihrem Schreibtisch und studierte eine Akte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.

Zorn und Schröder setzten sich auf zwei Besucherstühle, die direkt vor ihrem Schreibtisch standen. Die Staatsanwältin machte keinerlei Anstalten, das Gespräch zu eröffnen, sondern studierte weiter ihre Papiere und kaute dabei konzentriert auf der Unterlippe. Das Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf zurückgebunden, Zorn beobachtete fasziniert eine Ader, die oberhalb ihres Schlüsselbeins langsam pulsierte, und vertrieb sich die Zeit, indem er die Schläge mitzählte. Als er bei zwanzig war, wurde ihm langweilig, und er begann, mit den Fingern auf der Stuhllehne mitzutrommeln.

»Würden Sie das bitte lassen«, murmelte sie, noch immer mit ihrer Akte beschäftigt.

Zorn brummte eine Entschuldigung und verschränkte die Beine übereinander. Lass dir nur Zeit, dachte er. Ich liebe es, wie ein Volltrottel behandelt zu werden.

Eine weitere Minute verging. Zorn beschloss, in die Offensive zu gehen: »Ich störe Sie ungern bei Ihrer Lektüre, Frau Staatsanwältin. Aber meines Wissens wurde heute Morgen eine Leiche gefunden, und ich denke, wir sollten schnellstens mit den Ermittlungen beginnen, anstatt hier herumzusitzen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sehe Ihnen gern beim Lesen zu, aber meiner Meinung nach vergeuden wir so unsere Zeit.«

Es gab einen leisen Knall, als Frieda Borck ihre Akte zuschlug. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, nickte Schröder zu und wandte sich dann an Zorn: »Gut, dass Sie das ansprechen, Herr Hauptkommissar. Ich wurde heute Morgen um sieben Uhr fünfzehn über den Fund unterrichtet. Seit dieser Zeit versuche ich vergeblich, Sie zu erreichen, das wären dann«, sie sah auf ihre Armbanduhr, »genau zwei Stunden, die wir bisher verloren haben.«

Scheiße, dachte Zorn und sagte: »Mein Handy liegt zu Hause, ich hab’s vergessen. Ich denke, das kann mal vorkommen.«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar. Aber nicht, wenn wir einen Mordfall haben.«

Himmelherrgott, bin ich Hellseher?, dachte Zorn wütend und sagte: »Immerhin haben Sie Schröder erreicht, oder nicht?«

Der Tonfall der Staatsanwältin wurde schärfer. »Es geht nicht um ihn, sondern um Sie, Kollege Zorn. Genauer gesagt, um Ihre Arbeitseinstellung. Er«, sie wies mit dem Kinn auf Schröder, der kerzengerade auf seinem Stuhl saß, »wird noch geschont, schließlich ist er in der Rekonvaleszenz.«

Während Zorn fieberhaft überlegte, was dieses Wort zu bedeuten hatte, warf Schröder ein: »Falls das jemanden interessiert: Ich bin vollständig arbeitsfähig.«

Frieda Borck beachtete ihn nicht.

»Ich möchte, dass Sie zuerst die Identität der Leiche herausfinden.«

»Da wär ich von allein nicht drauf gekommen«, knurrte Zorn leise.

»Wie bitte?«

Zorn schüttelte genervt den Kopf und schwieg.

»Der Tote ist ziemlich jung, wahrscheinlich ein Teenager«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Die Fingerabdrücke werden bereits geprüft. Sie sollten sich zuerst das Fahrrad vornehmen. Ein relativ seltenes Modell, sagt die Spurensicherung.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Ein Jogger.«

»Wie originell«, entfuhr es Zorn.

Frieda Borck straffte unmerklich den Rücken. »Sie werden es nicht glauben«, blaffte sie, »auch im wirklichen Leben kommt es vor, dass ein Jogger eine Leiche findet. Wir drehen hier keinen Krimi, Herr Zorn!«

»Danke für den Hinweis, ich werd’s mir merken.«

»Das hoffe ich. Und es wäre nett, wenn Sie diese alberne Sonnenbrille wenigstens im Präsidium abnehmen würden. Was glauben Sie, wo wir hier sind? Bei CSI Miami?«

»Ich hab eine Bindehautentzündung«, erwiderte Zorn, schob die Brille zurecht und hoffte, dass sie ihm seine Verunsicherung nicht ansah. Immerhin war das die dritte Lüge innerhalb einer Stunde.

Frieda Borck lächelte. »Wie tapfer, dass Sie sich nicht krankschreiben lassen, Herr Hauptkommissar.« Der Sarkasmus war nicht zu überhören.

Unwillkürlich wanderte Zorns Blick durch das kleine Büro, auf der Suche nach einem schweren Gegenstand, den er an die Wand werfen konnte. Er atmete tief durch, dann fragte er: »War’s das jetzt?«

»Ich denke schon. Oder ist noch etwas unklar, Herr Schröder?«

Schröder schüttelte den Kopf. »Ich weiß alles, was ich wissen muss.« Er stand auf und schien einen Moment zu überlegen.

Dann fragte er: »Möchte jemand eine Weinbrandbohne?«

*

»Also, was haben wir, Schröder?«

Es war kurz nach drei, sie hatten sich zu einer ersten Besprechung in Zorns Büro getroffen. Schröder warf eine dünne Akte auf den Tisch: »Hier steht alles drin.«

»Erzähl’s mir. Und mach es bitte kurz.«

»Das Opfer ist männlich, höchstens achtzehn. Keine besonderen Kennzeichen, weder Narben noch irgendwelche Tattoos. Dunkelhaarig, eins dreiundsiebzig groß, Gewicht einundachtzig Kilo.«

»Ganz schön schwer für einen Siebzehnjährigen.«

»Ja. Das Mountainbike ist übrigens wirklich sehr selten. Und so gut wie neu. Es gibt nur einen Laden in der Stadt, der ein solches Modell verkauft, die Kollegen sind gerade dort zur Befragung.«

»Vielleicht haben wir ja Glück und das Rad wurde da gekauft«, nickte Zorn. »Was war die genaue Todesursache?«

»Die halte ich in Anbetracht der Tatsache, dass dem Opfer fast der Kopf abgeschnitten wurde, für naheliegend.«

»Was ist mit dem Draht?«

»Der wird noch untersucht. Momentan wissen wir nur, dass er extrem widerstandsfähig und äußerst dünn ist. Er war quasi unsichtbar, wie er da zwischen den Bäumen gespannt in der Luft hing. Ein Techniker ist hineingelaufen und hat sich eine böse Schnittwunde zugezogen. Wir haben Glück, dass die Leiche so schnell gefunden wurde. Tagsüber ist der Weg ziemlich belebt. Wer weiß, was sonst noch passiert wäre.«

Eine Gänsehaut bildete sich auf Zorns Unterarmen. Er zog fröstelnd die Schultern hoch und sagte: »Das war definitiv kein Dumme-Jungen-Streich.«

»Nein, Chef. Das war ein gut geplanter Mord.«

»Die Frage ist, ob das Opfer zufällig gewählt wurde oder ob der Täter es direkt auf den Jungen abgesehen hatte. Haben wir Fingerabdrücke?«

»Auf dem Draht logischerweise nicht, die Umgebung wird noch abgesucht. Frau Borck sagt …«

»Frieda Borck ist eine dumme Kuh«, knurrte Zorn und klappte die Akte zu.

Schröder warf ihm einen amüsierten Blick zu.

»Also ich mag sie.«

»Das wundert mich nicht«, schnaubte Zorn verächtlich und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Arschkriecher.«

*

Zwei Stunden später stand Claudius Zorn unschlüssig vor einem Obstregal im Supermarkt in der Bahnhofspassage. Der Kühlschrank daheim war so gut wie leer, er hatte zwei Flaschen Wein, zwei Tiefkühlpizzen und drei Packungen Fertiggerichte im Korb. Unentschlossen trat er von einem Bein aufs andere, schließlich hatte er sich schon vor Wochen vorgenommen, seine Ernährung umzustellen und wenigstens ab und zu etwas Gesundes zu essen. Leider relativ erfolglos, denn er kaufte die Dinge zwar, aß sie allerdings so gut wie nie. So hatte er sich mittlerweile daran gewöhnt, beim Aufräumen regelmäßig ein paar verfaulte Äpfel vom Küchentisch oder eine verschimmelte Grapefruit (manchmal auch den ein oder anderen abgelaufenen Molkedrink) aus dem Kühlschrank direkt in den Mülleimer zu befördern.

Der Supermarkt war voll, an den Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet. Es war kalt, die Klimaanlage lief auf Hochtouren, sie schien nicht richtig zu funktionieren, denn sie klapperte wie ein alter russischer Traktor. Aus versteckten Lautsprechern in den Decken säuselte leise Musik, Zorn biss die Zähne zusammen, als er eine billige Instrumentalversion von My heart will go on, dem Titelsong aus Titanic, erkannte. Er hatte sich schon oft gefragt, was er mehr hasste: das Lied oder den Film, war aber nie zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen, bis er irgendwann kapituliert und beides – sowohl den Song als auch den Film – zu den schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt hatte.

Es knackte in den Lautsprechern, die Musik wurde unterbrochen und eine aufgeregte Männerstimme verkündete, dass die verehrte Kundschaft unbedingt zum Kühlregal müsse, denn da gebe es jetzt Leckermäulchen-Quark im Hundertfünfzig-Gramm-Becher für sage und schreibe einundvierzig Cent, was einer Ersparnis von unglaublichen fünfundzwanzig Prozent gleichkomme. Eine weibliche Stimme meldete sich und säuselte, dass das absolut phantastisch sei und dass es hier, im Supermarkt, jeden Tag ein bisschen besser werde.

Ich gehe nie wieder ohne Ohrstöpsel aus dem Haus, dachte Zorn und warf lustlos drei Kiwi und einen Topf mit frischem Basilikum in den Einkaufswagen (er hatte keine Ahnung, was er mit dem Basilikum anstellen würde, aber es sah irgendwie gesund aus).

Er beschleunigte das Tempo, eilte am Saftregal vorbei, schnappte sich eine Flasche Bananensaft, zögerte, ging zurück und warf zwei Flaschen Cola in den Korb. Als er dann in Richtung Kasse ging, hätte er fast einen kleinen Jungen umgerannt, der mit rotem Kopf vor seiner Mutter stand und schrie, dass er keine Prinzenrolle, sondern gefälligst ein Eis wolle.

Zorn warf seine Einkäufe auf das Laufband, der Kassierer, ein durchtrainierter Jüngling mit Dreitagebart und Ohrring, grüßte höflich und zog die Sachen routiniert über den Scanner, wobei jede Bewegung einen nervenzerfetzenden Piepston erzeugte.

Knorr-Suppenliebe zum Aktionspreis! Jeder Vier-Suppen-Beutel kostet unglaubliche 48 Cent!, plärrte es aus den Lautsprechern.

Ich muss hier raus, dachte Zorn. Schnell.

Eine Kiwi rollte vom Laufband und fiel dem Verkäufer vor die Füße. »Herrje«, sagte er und bückte sich, »ich hol Ihnen sofort eine neue.«

»Macht nichts«, presste Zorn hervor, »die landen eh im Müll.«

»Das wär aber schade«, lachte der Verkäufer. »Die sind verdammt gesund.«

Am Kragen trug er einen Button, der verkündete, dass er Herr Kieling heiße und jederzeit für die werte Kundschaft zur Verfügung stehe.

»Flutschfinger! Ich will einen Flutsch-fin-ger!«, plärrte das Kind aus vollem Hals.

Herr Kieling schien den Lärm nicht zu registrieren. »Macht vierzehn dreiundachtzig«, lächelte er.

Zorn reichte ihm seine Geldkarte.

Knorr Suppenliebe-Suppen! Von raffiniert würzig bis herzhaft lecker!, trällerte es aus der Decke.

Zorn sah nach oben. Lieber Gott, dachte er, ich habe heute bereits dreimal gesündigt, denn ich habe gelogen. Ich weiß, ich habe nicht das Recht, Forderungen zu stellen, und eigentlich bin ich sicher, dass du gar nicht existierst, aber wärst du trotzdem so freundlich und würdest etwas für mich tun? Ausnahmsweise? Ich halte es hier wirklich nicht mehr lange aus, o Herr. Du könntest mir zum Beispiel irgendwas auf den Kopf fallen lassen, damit ich die Besinnung verliere. Das würde im Augenblick helfen.

»Möchten Sie Bargeld abheben?«, fragte der Verkäufer.

»Nein«, erwiderte Zorn und stopfte seine Einkäufe hektisch in eine Plastiktüte. »Ich möchte nur hier raus, bitte.«

Der Verkäufer reichte ihm seine Geldkarte.

Zorn sah ihn an. Sag jetzt nicht, was ich denke, das du jetzt sagen wirst.

Der Verkäufer öffnete den Mund. »Sammeln Sie …«

»Deine Treuepunkte kannst du dir in den Arsch schieben«, knurrte Zorn und stapfte zum Ausgang.

Jeden Tag ein bisschen besser!, säuselte es von oben.

»Schönen Tag noch!«, rief ihm der Verkäufer nach.

»Du mich auch«, murmelte Zorn, als er endlich draußen vor dem Supermarkt stand. Noch immer war es heiß und stickig, und doch schien ihm die Luft hier tausendmal besser als drinnen.

Dieser Verkäufer mag seinen Job, überlegte Zorn, als er den Einkaufswagen zurück in die Reihe stellte. Wie lange ist er täglich da drin? Sieben Stunden? Acht? Neun? Zwischen all dem Lärm, dem bunten, größtenteils sinnlosen Krimskrams und den schreienden Menschen? Immer nett, immer freundlich? Was würde ich an seiner Stelle machen? Ich würde durchdrehen, so viel ist klar, aber wieso habe ich ihn so angeblafft? Er kann schließlich nichts dafür, er versucht nur, seine Arbeit gut zu machen.

Irgendetwas rumorte in seinem Magen, als er über den Parkplatz zum Wagen ging. War das Neid? Er wusste es nicht genau, jedenfalls etwas, das er öfter fühlte, wenn er Menschen begegnete, die mit sich und der Welt zufrieden schienen.

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als ihm von hinten jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um, vor ihm stand ein bulliger, höchstens achtzehnjähriger Jüngling, der mindestens einen Kopf kleiner war als Zorn. Er trug halblange, in Tarnfarben gefleckte Shorts und ein schwarzes T-Shirt mit aufgedrucktem Totenkopf und der Aufschrift: BOMBENSTIMMUNG! Seine kleinen Augen flackerten unruhig hin und her, sie schienen ständig auf der Suche nach einem Punkt zu sein, an dem sie sich festhalten konnten.

»Du fühlst dich wohl besonders cool mit deiner Sonnenbrille, was, Meister?«

Zorn stellte die Tüte auf die Erde und musterte sein Gegenüber betont gelangweilt. Der Junge war nicht nur bullig, er war regelrecht quadratisch. Zorn schätzte, dass er spätestens in zehn Jahren ein dicklicher, untersetzter Kerl mit dünnem Haar sein würde. Im Moment allerdings schien er ausschließlich aus Muskeln zu bestehen. Und sehr wenig Hirn, setzte Zorn in Gedanken hinzu.

»Was soll die Scheiße?«, fragte Zorn. Sie standen mitten auf dem Parkplatz, ein dicker schwarzer BMW näherte sich langsam. Er trat einen Schritt zurück, um den Wagen vorbeizulassen.

»Du gehst mir auf den Sack, Opa.« Der Junge kam näher und sah zu Zorn auf. Winzige Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Er roch nach Knoblauch und feuchter, ungewaschener Bettwäsche. Zorn nahm die Sonnenbrille ab und erwiderte den Blick. Das hatte er irgendwo gelesen. Wo genau, wusste er nicht, wahrscheinlich in einer der unzähligen polizeilichen Richtlinien zur Gewaltprävention. Vielleicht auch im Ratgeberteil einer Frauenzeitschrift: Behalten Sie Ihren Gegner im Visier. Treten Sie selbstsicher auf und lassen Sie sich Ihre Angst niemals anmerken.

Nun, Angst hatte er nicht, aber unwohl fühlte er sich schon.

»Du stinkst, Dicker«, meinte Zorn. »Wann warst du das letzte Mal unter der Dusche?«

»Pass auf, was du sagst, du Opfer.«

Das war in breitem Sächsisch vorgetragen (Passuffwasdesagstduopfa) und klang fast erfreut. Und es war klar, warum das so war: Der Kerl suchte nach einem Grund, um zuschlagen zu können. Den hatte er jetzt. Er kam einen Schritt näher.

Zorn spürte, wie sich ein heißer Klumpen in seinem Magen bildete. Wann hatte er sich das letzte Mal ernsthaft geprügelt? Vor dreißig Jahren? Das war in der fünften Klasse gewesen, damals hatte er einen Mitschüler, den gutmütigen, aber etwas zurückgebliebenen Robert Hieber so lange gehänselt, bis dieser ihm in seiner Verzweiflung die Schnalle seines Schulranzens in den Handballen gerammt hatte. Die Narbe hatte Zorn noch immer.

Ich werde vor diesem schwitzenden Jungbullen garantiert nicht klein beigeben, dachte er und sagte: »Du bist entweder besoffen oder beknackt, Schwabbelkopf. Ich tippe allerdings eher auf Letzteres.«

Der Jungbulle grinste und versetzte Zorns Einkaufstasche einen Tritt. Sie kippte um, und Zorns mühsam erworbenes Obst holperte über den heißen Asphalt.

»Ups!«, sagte er gedehnt und verschränkte die Arme vor der Brust. Zorn sah, wie die Muskeln unter seinem Bizeps vibrierten.

Die Türen des Supermarkts öffneten sich. Ein blonder, schlanker Junge trat heraus, in der linken Hand hielt er ein Sixpack mit Jever. Mit der anderen schirmte er das Gesicht gegen die Sonne ab und sah sich suchend um. Als er sie erblickte, stöhnte er auf. Er schien zu wissen, was hier vor sich ging, denn er rief: »Lass den Scheiß, Udo!«

»Halts Maul, Max«, rief der, der Udo hieß, über die Schulter. Er ließ Zorn keine Sekunde aus den Augen. »Der Typ hat mich angemacht!«

»Jetzt reicht’s, du Nuss!« Zorn verlor die Geduld und ging zum Angriff über. Beziehungsweise zu dem, was er dafür hielt. »Verzieh dich, solange du noch kannst, ich hab schon ganz andere Typen als dich auseinandergenommen!«

Dies war nun die vierte und letzte Lüge des Claudius Zorn an diesem Donnerstag, dem 2. August. Eigentlich nichts Besonderes, denn er log oft. Doch dieser Tag war in anderer Beziehung ungewöhnlich: Wie er später feststellen sollte, war dies das erste Mal in seinem Leben, dass eines seiner Gebete erhört wurde (wenn auch mit einiger Verspätung). Noch vor wenigen Minuten hatte er Gott angefleht, er möge ihn ohnmächtig werden lassen.

Und der liebe Herrgott tat ihm den Gefallen, wenn auch in einer Form, mit der Zorn nicht gerechnet hatte.

Der Junge holte aus und verpasste ihm einen heftigen Leberhaken, dem ein Tritt in den Magen folgte. Zorn spuckte kurz und sackte zusammen.

»O Herr, du bist ein unberechenbares Arschloch«, dachte er noch.

Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Vier

Auf dem Küchentisch lagen eine Birne, eine Kiwi und eine Zigarette. Draußen war es bereits hell, es war sieben Uhr morgens. Tief unten duckte sich die Stadt, als bereite sie sich auf den Ansturm eines neuen, heißen Tages vor. Davon bekam Claudius Zorn nichts mit, er saß in der Küche, hatte das Kinn auf die linke Hand gestützt und betrachtete die Dinge auf seinem Tisch.

Ich habe mich also zusammenschlagen lassen, dachte er und rieb sich gähnend das verschlafene Gesicht. Von einem Kerl, der locker mein Sohn sein könnte. Und damit nicht genug: Er war auch noch gut einen Kopf kleiner als ich. Okay, dafür war er doppelt so breit, aber trotzdem: Warum um alles in der Welt habe ich mich nicht gewehrt? Warum?

Die Antwort lag nahe, und er konnte sie sich selbst geben: Er hatte sich fast in die Hosen gemacht, so einfach war das. Natürlich, er hatte versucht, den Überlegenen zu spielen (zumindest das, so hoffte er inständig, war ihm halbwegs gelungen), aber dann, als es ernst wurde, hatte er gekniffen. Und es lag nicht nur daran, dass es so schnell gegangen war. Niemals (never, wie Schröder sagen würde) hätte er zuerst zugeschlagen.

Vielleicht war es die Müdigkeit, sein Geist war noch mürbe vom Schlaf, trotzdem hatte er in diesem Augenblick einen seiner wenigen hellsichtigen Momente.

Ich bin ein Sesselfurzer, dachte er, ein Theoretiker, der nur eine große Klappe hat, solange er hinter seinem Schreibtisch hockt. Anscheinend bin ich eines von diesen Arschlöchern, die sich sprücheklopfend durchs Leben schummeln und nie im Traum daran denken würden, auch nur den kleinen Finger krumm zu machen, wenn etwas getan werden muss.

Er stand auf und stellte die Kaffeemaschine an. Während er ins Bad schlurfte, fuhr er sich mit der Hand prüfend über den Magen und stellte fest, dass er so gut wie keine Schmerzen hatte. Nur ein leichtes Pochen erinnerte an die schmachvolle Niederlage des Vortages.

Beim Pinkeln stützte er sich mit der Hand an die Wand neben der Toilette. Hörte das Plätschern in der Kloschüssel, ein vertrautes Geräusch, das sich mit dem Blubbern der Kaffeemaschine im Nebenzimmer mischte. Normalerweise dachte er in diesen Momenten gar nichts, doch jetzt schoss ihm etwas anderes durch den Kopf:

Niederschmetternd war nicht nur die Einsicht, dass er offensichtlich ein sehr feiger Mensch war. Claudius Zorn fühlte sich gekränkt, in seiner Ehre verletzt, schlimmer noch, das Ganze war ihm peinlich. Ein erwachsener Mann, ein Polizist, der sich zu Füßen eines aufgepumpten Teenagers in Naziklamotten im Dreck wälzt! Nur zu gut erinnerte er sich an seine Erleichterung, als er wieder zu sich gekommen war und festgestellt hatte, dass anscheinend niemand etwas von dem Zusammenstoß auf dem Parkplatz mitbekommen hatte. Warum war ihm das so wichtig gewesen? War er nichts weiter als ein Prolet, ein Macho, gefangen im vormittelalterlichen Männlichkeitswahn? Schon immer? Und er hatte es sich nur nicht eingestanden? Und was, verdammt nochmal, hätte er getan, wenn dieser durchgeknallte Udo jemand anderen angegriffen hätte? Eine junge Frau oder einen alten Mann? Hätte er, Zorn, dann auch den Schwanz eingezogen (um im Bild vom mittelalterlichen Macho zu bleiben) und getan, als hätte er nichts bemerkt?

Zorn seufzte, als er sich die Hände wusch. Na ja, brummte er seinem zerknitterten Spiegelbild zu, vielleicht hatte ich einfach nur einen schlechten Tag.

Er ging zurück in die Küche und hockte sich wieder an den Tisch. Der Kaffee war noch nicht durchgelaufen. Gelangweilt sah er sich um. Dann fiel sein Blick wieder auf das, was da vor ihm lag: die Birne, die Kiwi und die Zigarette.

Es stimmte: Er hatte sich fest vorgenommen, auf seine Ernährung zu achten, bewusster zu leben, mehr als eine Mahlzeit am Tag zu sich zu nehmen, die er, meist am frühen Abend, hastig und lustlos in sich hineinstopfte. Es konnte nicht schaden, so hatte er gedacht, wenn er bereits am Morgen etwas aß. Etwas Kleines würde reichen. Etwas Gesundes, mit Vitaminen und so.

Er nahm die Birne in die Hand und beäugte sie misstrauisch. Sie lag schon seit geraumer Zeit in der Küche, hatte Druckstellen und braune, an den Rändern grünliche Flecken. Zorn roch vorsichtig daran und verzog das Gesicht.

Nein, gesund sah das nicht aus. Weg damit.

Aus dem Handgelenk warf er die Birne in Richtung Spüle und lachte kurz auf, als sie in perfekter Kurve durch die Küche segelte und mit einem satten Plopp im Mülleimer landete.

Er griff zur Kiwi und wog sie prüfend in der Hand. Sie fühlte sich pelzig an, die feinen Härchen auf der Schale erinnerten ihn an Spinnenbeine. Auch sie war übersät mit dunklen Druckstellen. Kein Wunder, schließlich hatte sie gestern einiges mitgemacht: Erst war sie unter eine Supermarktkasse und dann ein gutes Stück über den Parkplatz gerollt.

Wie macht man das Ding auf?, überlegte Zorn. Mit dem Messer? Oder mit dem Löffel? Dazu müsste ich aufstehen, und dazu habe ich jetzt keine Lust.

Das tat er dann aber doch, denn im Nebenzimmer klingelte sein Handy. Like a virgin!, plärrte Madonna, er hasste diesen Klingelton mittlerweile, wusste aber nicht, wie er ihn ändern sollte. Sofort sprang er auf, Malina schoss ihm durch den Kopf, etwas, das er sich in den letzten Monaten noch immer nicht hatte abgewöhnen können. Auf dem Weg ins Schlafzimmer warf er einen Blick auf die Uhr: Gleich Viertel vor acht, das konnte nur Schröder sein. So war es denn auch.

»Hast du gut geschlafen, Chef?«

»Rufst du deshalb an? Um zu fragen, ob ich gut geschlafen habe?«

»Natürlich.«

»Nun, ich habe beschissen geschlafen. Sonst noch was?«

»Ja. Wir haben die Identität des toten Radfahrers. Sein Bike ist tatsächlich in der Innenstadt gekauft worden. Er heißt Björn Grooth, wohnte in der Villenkolonie am Stadtwald. Ich fahre jetzt los und unterrichte die Eltern. Wahrscheinlich komme ich später zum Dienst.«

»Beeil dich«, knurrte Zorn und legte auf.

Die Kaffeemaschine gab ein langes, gedehntes Fauchen von sich. Er hatte die Kiwi noch immer in der Hand und bedachte sie mit einem schrägen Blick. Heute nicht, überlegte er, vielleicht morgen. Es heißt ja, man sollte auf seinen Körper hören. Und mein Körper sagt mir, dass er keinen Appetit auf dieses Zeugs hat. Er will Kaffee. Und er will rauchen.

Tja, da sind wir uns einig, mein Körper und ich.

Scheiß aufs Essen.

*

Das Grundstück der Grooths war von einer mannshohen, weiß verputzten Mauer umgeben. Ein Namensschild war nirgends zu entdecken, es dauerte eine Weile, bis Schröder die Klingel gefunden hatte. Über dem Tor war eine Überwachungskamera befestigt, er wandte ihr den Rücken zu, steckte die Hände in die Hosentaschen und wartete.

Die schmale Straße war ruhig. Ein weißhaariger Mann in einem dunkelblauen Mantel lief gebeugt vorbei, er erwiderte Schröders Gruß nicht. Irgendwo bellte ein Hund.

Es knackte in der Gegensprechanlage.

»Ja?«, fragte eine blecherne Stimme. Unmöglich zu sagen, ob sie zu einem Mann oder einer Frau gehörte.

»Guten Morgen, mein Name ist Hauptkommissar Schröder, ich hätte Sie gern gesprochen.«

Der Summer ertönte, Schröder betrat das Grundstück. Eine asphaltierte, von weißen Kieselsteinen eingefasste Zufahrt führte hinauf zu einer zweigeschossigen Villa. Der Rasen war kurz und gepflegt, direkt vor dem Haus stand eine Blautanne, in deren Schatten ein schwarzes Mercedes-Coupé parkte.

Die Frau mochte um die fünfzig sein und schien einen großen Teil ihrer Zeit im Fitnessstudio zu verbringen. Sie war schlank, trug einen weißen Hosenanzug, ihr Gesicht war gebräunt, die schmalen, zusammengepressten Lippen dezent geschminkt. Das Haar war kurz geschnitten und von einer Farbe, die irgendwo zwischen einem hellen Blond und dem Grau eines alternden Rauhaardackels angesiedelt war. Sie stand in der Tür und machte nicht den Eindruck, als ob sie Schröder hineinbitten wolle.

Der zückte seinen Ausweis. »Frau Grooth, nehme ich an?«

Ein knappes Nicken.

»Hauptkommissar Schröder, ich …«

»Das habe ich verstanden. Was wollen Sie? Ich habe zu tun.«

»Ja, das haben wir alle«, lächelte Schröder, »und es ist nett, dass Sie so direkt sind, Frau Grooth. Ich bin allerdings keiner von Ihren Dienstboten, obwohl ich es gewohnt bin, wie ein Trottel behandelt zu werden. Trotzdem denke ich, wir sollten das nicht hier draußen besprechen.«

Ihre Augen verengten sich kaum merklich. Einen Moment schien sie unschlüssig, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging wortlos ins Haus. Schröder folgte ihr in ein Wohnzimmer, welches das komplette Erdgeschoss einzunehmen schien. Der Fußboden bestand aus breiten, polierten Eichendielen, die Rückwand des Raums war komplett verglast und bot den Blick auf eine Terrasse und einen Swimmingpool, dessen Wasser in der morgendlichen Sonne glitzerte.

Vor einem großen, mit Porphyr verkleideten Kamin blieb sie stehen. Schröder sah sich um, dann ging er zur Wand und betrachtete eine kleine Grafik, die in einem schlichten Rahmen über einem Wildledersofa an der Wand hing, das einzige Bild in diesem Raum. Schröder stieß einen leisen Pfiff aus.

»Ist das ein Feininger?«

»Sind Sie hier, um mit mir über Kunst zu reden? Dass Sie einen Feininger erkennen, macht Sie mir nicht sympathischer, Herr Kommissar.« Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Und bevor Sie fragen: Ja, es ist ein Original.«

»Etwas anderes hätte ich hier auch nicht erwartet.«

Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und holte tief Luft. »Könnten wir dann zur Sache kommen? Und bitte zügig, wenn es Ihnen recht ist, niemand hat gern die Polizei im Haus.«

»Das weiß ich, Frau Grooth. Sie können davon ausgehen, dass es der Polizei ähnlich geht. Was mich betrifft: Ich bin ebenfalls ungern in fremden Häusern. Eigentlich nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Er deutete mit dem Kinn auf das Sofa. »Sie sollten sich setzen.«

»Ich stehe lieber.«

»Setzen Sie sich«, wiederholte Schröder sanft. »Bitte.«

Sie nahm achselzuckend Platz. »Wenn es um Björn geht, muss ich Ihnen sagen, dass ich ihn seit gestern nicht gesehen habe, wahrscheinlich ist er …«

»Frau Grooth«, unterbrach er sie leise, »hören Sie mir zu. Ich glaube nicht, dass Sie so abgebrüht sind, wie Sie vorgeben.« Dann fügte er den Satz hinzu, der alles vorwegnahm, was nun folgen würde: »Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten für Sie.«

Die Frau fasste sich mit der Hand an die Kehle. Sie trug eine rote Korallenkette, ihre Finger verhakten sich im Verschluss. Die Kette riss, es prasselte leise, als Dutzende winzige Korallen über die Dielen rieselten und sich im Zimmer verteilten. Sie schien es nicht zu bemerken. »Ist er …?«

»Ja.«

Sie sah Schröder mit großen Augen an. Öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie wirklich begriff, dass ihr Sohn tot war. Dann gab sie einen erstickten Laut von sich. Es klang wie das Schluchzen eines Kindes, das noch nicht ins Bett will.

»Mein Gott, ich dachte, Sie hätten ihn beim Kiffen erwischt!«

»Ich wünschte, es wäre so. Es tut mir leid.«

Ihre Nase begann zu laufen. Sie fuhr sich mit dem Handrücken darüber, mit zitternden, regelrecht flatternden Fingern. »Wie ist es passiert?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht genau sagen. Es war jedenfalls kein Unfall, und wir müssen von Fremdverschulden ausgehen.« Schröder redete weiter, er wusste, dass sie im Moment kein klares Wort herausbringen würde. »Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen, Frau Grooth. Aber wenn wir herausfinden wollen, was passiert ist, brauchen wir Ihre Hilfe. Wir müssen uns mit seinen Freunden unterhalten, und ich würde gern sein Zimmer sehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Außerdem muss ich Sie bitten, Ihren Sohn so schnell wie möglich zu identifizieren, wir brauchen absolute Gewissheit.«

Ihre Augen waren trübe geworden, als hätte sich ein dünner Film über ihre Pupillen gelegt. Blicklos starrte sie Schröder an, keine drei Meter entfernt und doch meilenweit weg. Dann begann sie, an den Fingernägeln zu kauen.

Er ging einen Schritt auf sie zu. Die Korallen lagen überall verstreut, sie knirschten unter seinen Sandalen. »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Frau Grooth?«

Sie schwieg. Und kaute weiter an den Fingern.

»Soll ich einen Arzt holen, oder jemanden, den Sie kennen?«

Irgendwo im Haus klingelte ein Telefon.

»Ich brauche eine neue Kette«, sagte sie. »Schade, jetzt ist sie kaputt.«

*

»Die Mutter des Jungen hatte einen Zusammenbruch, Chef. Ich musste einen Arzt rufen, sie hat eine Spritze bekommen, zwei Stunden später konnte sie wenigstens ein paar Fragen beantworten.«

Das Fenster in Zorns Büro war weit geöffnet. In einer Ecke neben der Tür ratterte ein Ventilator leise vor sich hin.

»Sie muss ihn identifizieren.«

»Ich weiß, Chef. Wir sollten ihr noch einen Tag Zeit lassen, damit sie sich wenigstens halbwegs wieder beruhigen kann.«

»Okay«, nickte Zorn. Schaudernd stellte er sich vor, wie die Frau vor ihrem Sohn stand, der mit halb abgetrenntem Kopf auf einer verchromten Bahre in der Pathologie lag. »Vielleicht können sie den Jungen bis dahin ein wenig herrichten. So, dass er nicht mehr ganz so schlimm aussieht.«

Sie schwiegen einen Moment.

»Also, was wissen wir über den Jungen?«, fragte Zorn dann.

»Er hieß Björn Grooth, vor zwei Monaten ist er achtzehn geworden. Die Familie scheint sehr wohlhabend zu sein, der Vater hat einen Baustoffhandel.«

»Wo ist er jetzt?«

»Angeblich auf einer Tagung in Amsterdam.« Schröder nahm sein Notizbuch und blätterte darin. »Der Junge hat das Thomas-Münzer-Gymnasium besucht, er wäre jetzt in die zwölfte Klasse gekommen. Die Mutter sagt, er hatte nie Probleme in der Schule, das habe ich aber noch nicht gecheckt. Das Fahrrad hat er zum Geburtstag bekommen, er ist jeden Morgen vor der Schule eine Stunde im Stadtwald gefahren, der liegt ja direkt in der Nähe der Wohnung.«

»Auch jetzt, in den Ferien?«

»Offensichtlich«, nickte Schröder. »Der Junge war ein wenig übergewichtig, er wollte wohl abnehmen.«

Unwillkürlich warf Zorn einen Blick auf Schröders noch immer stattlichen Bauch, verkniff sich aber eine Bemerkung. »Er ist also jeden Morgen zur selben Zeit dort langgefahren«, sagte er stattdessen. »War es immer die gleiche Strecke?«

»Das weiß ich noch nicht, aber wir können vorerst davon ausgehen.«

»Dann können wir ebenfalls davon ausgehen, dass der, der den Draht gespannt hat, Björn Grooth erwischen wollte. Und niemand anderen.«

»Ja«, stimmte Schröder zu, »es sollte mich sehr wundern, wenn der Junge ein zufälliges Opfer war. Er wurde morgens um sechs getötet, er war so ziemlich der Einzige, der um diese Zeit im Stadtwald unterwegs war. Das war ein kaltblütiger, vorsätzlicher Mord.«

»Wir müssen die Schule informieren. Und wenn wir einmal dabei sind, die Lehrer befragen. Und die Kids aus seiner Klasse.«