Zornesleid - Michaela Zernicke - E-Book

Zornesleid E-Book

Michaela Zernicke

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Beschreibung

Nicht schon wieder! Ein Toter, eine Verdächtige und Frida Zorn. Die letzten Morde in Meran haben Frida arg zugesetzt. Sie will sich nicht erneut einmischen, aber was soll sie tun, wenn ihre beste Freundin Marta verdächtigt wird? Der Kommissar Bruno Tallner ist über die Morduntersuchung beinahe erleichtert, nur um nicht weiter die Taschendiebe verfolgen zu müssen. Obwohl der Tod eines Apothekers viele Fragen aufwirft, findet er lediglich Indizien, die in eine Richtung weisen. Liegt er richtig oder sollte er besser seinem Instinkt trauen, welcher ihn bisher selten betrogen hat?

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

. Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

.« Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Michaela Zernicke wurde in Düsseldorf geboren und ist ihrer Stadt ein Leben lang treu geblieben, wo sie heute mit ihrem Mann und ihren römischen Katzen lebt.

Nach Ausflügen in die Genres urbanromantasy und heiterer Liebesroman ist sie beim Krimi angekommen.

Gern verbindet sie Lieblingsorte mit ihren Geschichten, so spielten die ersten beiden Bücher in Rom. Die beiden „ Liebe nervt!?“ Romane, welche sie unter dem Pseudonym Ela van Klee geschrieben hat, spielen in Düsseldorf. Nun kehrt sie nach Italien, genauer gesagt nach Meran und Dorf Tirol zurück, dort wo sie auch heiratete.

Seit ihrer Kindheit hat sie hier fast jedes Jahr einen Urlaub verbracht, zuerst mit ihren Großeltern und schließlich mit ihrem Mann, den sie von der Schönheit der Gegend gar nicht erst überzeugen musste. Also eine Herzensangelegenheit.

Ist Erlösung

das Ende aller Qualen?

Dessen bin ich nicht gewiss.

Mag mein Ansinnen auch noch so gütig erscheinen,

können sich dadurch Mächte erheben,

deren Macht letztlich das zerstören

welches ich sehnlichst zu erschaffen hoffte.

Herbert Kleber

Zornesleid

Michaela Zernicke

Krimi

Copyright © 2024 Michaela Zernicke, Lindenstraße 253, 40235 Düsseldorf als Autorin und Rechteinhaberin.

Covergestaltung: alphaprint Düsseldorf unter Verwendung des Motivs ©istockfoto.com/536506127 gibavision

Lektorat, Korrektorat: Yvonne Zernicke und Herbert Kleber

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Weitere Informationen sind der Homepage https://meranmord.de zu entnehmen.

Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Es dämmerte, 7 Uhr morgens. Ich lag im Halbschlaf in meinem Bett und mochte nicht aufstehen. Dieses unbe-stimmte, miese Gefühl, als rollte ein Zug auf mich zu, auf mich, die mitten auf den Bahngleisen stand und bewegungsunfähig dort verharrte. Es trieb mich trotzdem an, mich aufzuraffen. Ich musste nach dem Rechten sehen, mich vergewissern.

Schließlich quälte ich mich aus den warmen Daunen meiner Decke, suchte verschlafen nach meinen Hausschuhen und tastete nach dem Morgenmantel, der immer auf der linken Lehne meines ausgeklappten Sofas lag. Ich schlüpfte hinein als ich gleichzeitig den zweiten Filzpantoffel mit meinem Fuß fand. Die Schlappen holte ich letzte Woche aus dem Schuhschrank in der Diele, weil der Oktober angebrochen war. Jedes Jahr um diese Zeit tauschte ich die Flip-Flops gegen die Filzpantoffeln. Warum machte ich mir nur so viele Gedanken um diese Hausschuhe? Ich wollte mich doch vergewissern. Während ich mir die Augen rieb, ging ich zur Küche, Küche? Da war bestimmt alles normal, besser einen Blick in Carlottas Zimmer werfen. Erwin, ihr Freund, schlief zwar bei uns, dennoch musste ich diesen einen Blick riskieren, sie würden es ja nicht merken. Also hielt ich mich rechts, anstatt links und knallte plötzlich vor eine Wand. Jetzt war ich hellwach und meine schmerzende Nase bekam einen Moment all meine Aufmerksamkeit. Ich war gar nicht zu Hause, sondern bei meinem Freund Giuseppe. Aber wieso schlief ich auf dem Sofa? Natürlich, der Streit. Übrigens der Erste nach einer rund dreimonatigen Beziehung. Worum ging es nochmal? Ach ja, meine Eltern. Ich hatte sie ihm bisher nicht vorgestellt und er war deshalb völlig zu Recht verärgert. Gestern jedoch fehlte mir die Lust, mich erneut dafür zu rechtfertigen. Ich blockte ab, wodurch bei ihm die Verärgerung wich und sich in Wut verwandelte. Ich verstand ihn irgendwie, schnappte mir trotzdem Decke und Kissen und verschwand im Wohnzimmer, nicht ins Gästezimmer mit dem bequemen Wasserbett. Nein, es erzielte eine größere Wirkung, im Wohnzimmer zu schlafen. Auf diese Weise war ich noch nicht mal ein Gast. Giuseppe kam mir nicht nach, entschuldigte sich nicht, ich tat es ihm gleich. Lange lag ich wach, aufgebracht wegen meines Freundes und weitaus mehr wegen mir, denn ich begriff meine Zurückhaltung selber nicht. Ich war gerne mit Giuseppe zusammen, genoss die Zeit und wollte es fortführen, gleichzeitig unsicher, ob er der zweite Mann meines Lebens sein könnte. Die schlechten Erfahrungen mit meinem Ex, Carlottas Vater, blockierten mich ständig, und so zog ich mich erneut in mein Schneckenhaus zurück. Das Pochen in meiner Nase ließ nach, so dass ich mich jetzt der Quelle des Schmerzes zuwandte. Ich war gegen den Pfeiler geprallt, der zwischen Küche und Wohnzimmer am Beginn der Arbeitsplatte stand. Ich schweifte ab, wie immer. Egal wo ich mich befand, dieses beunruhigende Gefühl, was mich angetrieben hatte, trotz meiner Müdigkeit aufzustehen, blieb. Vor mir lag die Treppe Richtung Ausgang und der übrigen Zimmer des Bungalows. Ich nahm die vier Stufen und öffnete die erste Tür auf der linken Seite, Giuseppes Schlafzimmer. Ich erstarrte in der geöffneten Tür. Giuseppe lag in einer Blutlache in seinem Bett, der Kopf vom Rumpf getrennt. Vom Arm, der über der Bettkante hing, tropfte Blut auf den Boden. Die weiße Bettwäsche hatte sich fast vollständig mit Blut vollgesogen. Ich schrie.

Kapitel 1

Sonntag, 5. Oktober

»Moms, Moms! Wach auf. Bitte wach endlich auf.«

Jemand rüttelte an mir. Wo war ich, was war geschehen? Wieso schrie mich diese Person so an? Ich öffnete die Augen und schaute meine verschreckte Tochter Carlotta an. Ich befand mich zu Hause. Mein Nachthemd klebte unangenehm auf meiner Haut. Ich tastete nach meiner Nase, doch diese fühlte sich vollkommen normal an, ich verspürte keinen Schmerz. Nur ein Traum?

»Na endlich. Ein Alptraum, du hast laut geschrien.«

Ich schüttelte den Kopf, um dieses dumpfe Gefühl zu verdrängen. Warum träumte ich nur so einen Mist? Wahrscheinlich hatte ich die Mordserie aus dem August nicht so gut verarbeitet wie gedacht. Eine enthauptete Leiche und eine, die an der hölzernen Brücke, ganz in der Nähe unserer Wohnung, aufgehängt wurde. Den abgetrennten Kopf zu sehen, übertraf höchstwahrscheinlich mein Vermögen, alles alleine zu bewältigen. Ich sollte vielleicht einen Psychiater aufsuchen, um diese Bilder loszuwerden.

»Frida Zorn!« Die ungehaltene Stimme meiner Tochter ließ mich sie anschauen. Natürlich, ich driftete mal wieder in meine eigene Gedankenwelt ab, während sie versuchte, sich mit mir zu unterhalten. Mit meinen mittlerweile 40 Jahren sollte ich es doch langsam mal schaffen, die Kontraseite meiner Liste stärker zu beachten und mich ihrer Abarbeitung zuzuwenden.

»Was sagtest du?«

»Ich fragte, was passiert sei, was du geträumt hast?«

Ich erzählte ihr von dem Traum, dabei zog ich nun wirklich meine Pantoffeln und den Morgenmantel an. Wie real dieser Traum gewesen war, unglaublich.

»Ich glaube, du musst da etwas tun«, stellte meine Tochter fest.

»Da muss ich dir leider zustimmen. Ich dachte, ich schaffe es ohne psychologische Hilfe. Was ist mir dir? Wie geht es dir damit?« Schließlich sah Carlotta genauso den Kopf und versuchte sogar, mit Erwin gemeinsam, den Gehängten noch zu retten. Seitdem fragte ich sie alle zwei Wochen nach ihrem Gemütszustand. Sie antwortete mir stets mit den gleichen Worten, wie auch jetzt: »Erstaunlicherweise habe ich keine Nachwirkungen. Ich unterhielt mich damals allerdings ganz viel mit Erwin darüber. Vielleicht reicht das«, antwortete sie, so als würde ich diese Frage zum ersten Mal stellen. Mit diesem nicht abgesprochenen Ritual fühlten wir uns wahrscheinlich beide besser.

»Wo ist Erwin eigentlich? Schläft er so tief, dass er unser Geschrei nicht hörte, oder ist es ihm peinlich und er traut sich nicht aus deinem Zimmer?«

»Er ist gestern spät nach Hause gefahren, heute Morgen muss er seinen Eltern helfen.«

»Wie ist er nach Hause gekommen?«

»Er nahm meinen Roller. Ich hatte keine Lust, ihn zu fahren.«

»Ich wusste gar nicht, dass er einen Führerschein hat.« Schon befürchtete ich, dass er trotzdem fuhr und Carlotta nun da hineingezogen werden konnte. ›Glucke‹, schalt ich mich selbst.

»Er bekam den Führerschein von seinen Eltern zum 18. Geburtstag. Für einen fahrbaren Untersatz reichte es nicht. Sie kämpfen mit der zunehmenden Trockenheit. Mehr sprengen, dennoch weniger Ertrag. Und wenn sie es gerade im Griff haben, prasselt Starkregen auf die empfindlichen Trauben. Ansonsten kommt irgendeine Seuche daher und befällt die Kühe oder Hühner. Der Klimawandel wirft sie um Jahre zurück. Moms, das macht mir wirklich Angst. Der Sommer war so heiß und trocken. Und letzte Woche der höllische Regen. Hast du das eigentlich mitbekommen, dass drüben oberhalb von Schenna eine Straße praktisch völlig weggebrochen ist? Geröll löste sich durch den Regen und rauschte als Lawine den Berg hinunter.«

»Natürlich habe ich das gelesen, ich arbeite bei der Zeitung, du weißt? Und ja, ich mache mir deswegen auch Sorgen. Wo kommt zukünftig das viele Wasser her, um die Obstplantagen und Weinberge im erforderlichen Umfang zu bewässern. Vielleicht müssen die Bauern irgendwann aufgeben. Aber wie gehen denn Erwins Eltern damit um?«

»Sie mussten bereits zwei Mitarbeitern kündigen. Erwin und sein Bruder helfen jetzt verstärkt mit. Sie sind billiger, sie bekommen dafür nur ein paar Euro zugesteckt. Und um auf den fahrbaren Untersatz zurückzukommen, Erwin spart für einen gebrauchten Roller.« »Erstaunlich, dein Freund. Wie finanziert er sein Studium nächstes Jahr?«

»Er bekam ein Stipendium, jedoch lediglich für die Studiengebühren, den Rest, also Zimmer und Lebensunterhalt muss er irgendwie zusammenkratzen, deshalb arbeitet er zusätzlich auf einem großen Hof, wegen der Erfahrung und wegen des Lebensunterhalts in Mailand. Leider hat er dadurch wenig Zeit für mich, es ist eigentlich alles zu viel für ihn, aber er zieht es durch. Er legt bereits länger fast alles weg, was er verdient.«

»Prima.« Meine Tochter sah mich erstaunt an.

»Dann brauche ich mir keine Gedanken um das Geschenk zu seinem Geburtstag zu machen. Deine Großeltern fragten auch schon. Wir schenken ihm mit gutem Gewissen Geld.« Carlotta schüttelte nur amüsiert den Kopf.

»Was machen wir mit dem angebrochenen Tag?« Carlotta sah mich fragend an.

»Nach diesem fürchterlichen Traum dachte ich, ich schnappe mir Giuseppe und fahre zu Mama und Papa hoch. Willst du mitkommen?«

»Ich treffe mich heute Nachmittag mit Leni, aber zum Mittagessen hätte ich Zeit. Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Oma hat bestimmt etwas im Gefrierschrank, was sie bis zum Mittag auftauen kann. Soll ich sie anrufen?«

»Ja bitte. Ich springe unter die Dusche, um die letzten schlechten Gedanken abzuwaschen.«

Nach der Dusche und einem weiteren Kaffee rief ich Giuseppe an, um die gute Neuigkeit kundzutun.

»Hallo. Gut, dass du anrufst. Dann kann ich dir gleich sagen, dass ich heute Mittag nach Sizilien fliege, geschäftlich.« Seine Stimme hörte sich ein wenig reserviert an. Kein Wunder, denn mein realistischer Traum barg auch ein bisschen Wahrheit, nämlich den Streit. Den Streit um seine Vorstellung bei meinen Eltern. Nur, dass ich nicht auf dem Sofa schlief, sondern im ersten Ärger schlichtweg gegangen war.

»Das geht nicht. Um halb eins sind wir bei meinen Eltern. Zum Essen. Meine Mutter weiß es seit einer Stunde und sie wird bereits mitten in den Vorbereitungen stecken. Keine Chance.« Ich vernahm sein tiefes, gleichzeitig erleichtertes Lachen am anderen Ende. Er war viel weniger nachtragend als ich.

»Na gut, dann fliege ich morgen früh. Der Besuch bei deinen Eltern muss schließlich anschließend gebührend gefeiert werden.« Er legte auf, legte einfach auf. Ich wusste, er würde uns rechtzeitig abholen, das brauchten wir gar nicht zu besprechen. Das war mir im Moment auch vollkommen egal, mich interessierte eher die Verheißung. Der verschobene Abflug sandte mir einen schönen Tagtraum, der die schlechten Gedanken der letzten Nacht endgültig verschwinden ließ.

Um 12 Uhr mittags klingelte es. War Giuseppe etwa nervös oder warum kam er so überpünktlich? Ein lustiger Gedanke, denn bisher hatte ich ihn niemals nervenschwach erlebt.

Vor dem Haus warteten Giuseppe und ein sportlicher schwarzer Wrangler Jeep auf uns. Meine Tochter sabberte beinahe, als sie das auf Hochglanz polierte Auto sah und Giuseppe grinste sie an. Er selbst hatte sich offensichtlich Zeit für sein Äußeres genommen. Sein Dreitagebart war frisch gestutzt, die dunklen Haare mit Gel in Form gelegt. Er trug steinfarbene Stoffhosen, ein weißes Hemd mit einem Grünen Pullover darüber. Dazu braune Lederschuhe, ohne Socken. Ich mochte es, wenn Männer keine Socken in den Schuhen trugen.

»Magst du fahren, dann können es sich deine Mutter und ich auf der Rückbank bequem machen?«, wandte sich Giuseppe derweil an meine Tochter mit den leuchtenden Augen und sah mich mit einem Seitenblick aus seinen dunklen verheißungsvollen Augen an.

»Hundebabys, Hundebabys!«, rief Carlotta, um sich bloß keine intime Situation zwischen ihrer Mutter und dem Mann mit dem tollen Gefährt vor Augen führen zu müssen.

Dennoch grinste sie anschließend siegessicher: »Aber klar«, und hielt Giuseppe die Hand entgegen, damit er ihr den Schlüssel gab.

Das war mindestens der fünfte Wagen, den ich heute kennenlernte. Der Mann hatte eindeutig zu viel Geld, was mich und meine bescheidenen Verhältnisse störte, wie ich erneut feststellte. Es hätte auch ein in die Jahre gekommener Kombi sein können, der uns abholte, und zwar immer derselbe.

Carlotta störte das kein bißchen, denn sie rückte bereits den Sitz zurecht, schnallte sich an und wenig später fuhr sie aus unserer Straße, dem Kirchsteig hinaus, rechts auf die via S. Giorgio, die in die Jaufenstraße mündete. Nach einigen hundert Metern bog sie links ab, vorbei an dem großen Stein mit der Aufschrift ›Dorf Tirol‹, der mich an einen Hinkelstein aus Asterix und Obelix erinnerte. Unter dem Schriftzug das Wappen mit dem weißen Adler. Ich mochte diese Straße hinauf ins Dorf, ab der Kehre hatte man nämlich einen wunderbaren Blick auf die Muthöfe, rechter Hand ins Passeiertal. Vor allem jetzt im Oktober, mit dem azurblauen Himmel. Im Frühling und im Herbst waren die Temperaturen angenehm warm, die Luft aber bereits so frisch, dass der Himmel ohne die Hitzeschleier solch eine Klarheit mit einer unvorstellbaren Tiefenschärfe zeigte, dass man meinte, jeden Baum und jede Hütte in den Bergen genau zu erkennen.

Ab der Milchbar wurde die Straße so eng, dass Carlotta eine ganze Weile wartete, bis sie sicher war, dass ihr niemand entgegenkam. Hinter uns ertönten die ersten Hupen.

»Der Wagen ist so breit. Mit deinem Fiat ist das ein Klacks«, vermeldete sie mit ängstlicher Stimme.

»Das scheint nur so, weil er so hoch und so eckig ist. Du fährst gut«, erklärte der Sponsor von Carlottas Führerschein zuversichtlich. Giuseppe schenkte ihr, ohne mich vorher zu fragen, nachträglich zum Geburtstag den Autoführerschein, den sie vor zwei Wochen bestanden hatte. Auch eins der Dinge, die mich störten. Er ging mit seinem Vermögen zu großzügig um. Ich wollte seine Liebe, seine Aufmerksamkeit und Geborgenheit, definitiv nicht sein Geld. Da mir offensichtlich das Geld fehlte, um Carlotta den Führerschein zu bezahlen, es mich aber nicht störte, wenn sie ihn hätte, bezahlte er ihn kurzerhand.

Ich konnte ihm nicht böse sein, denn er tat es aus einer Selbstverständlichkeit heraus, die ihn meine Widerworte nicht verstehen ließen.

Carlotta fuhr hupend in die Einfahrt meiner Eltern, so dass sie prompt im Eingang erschienen. Wahrscheinlich warteten sie bereits seit einer Weile hinter der Tür. Neugierig auf den Freund ihrer Tochter, von dem sie so viel gehört hatten, aber bisher um das Vergnügen seiner Bekanntschaft gebracht wurden, von der eigenen Tochter.

Sie standen da, Arm in Arm, und lächelten. Mein Vater mit leicht gekrümmtem Rücken, wie in letzter Zeit fast immer. Als er noch bei der Post arbeitete, verletzte er sich bei einem schweren Unfall am Knie. Es dauerte lange, bis er halbwegs genesen war. Damals kauften sie von ihrem Ersparten und der Abfindung des Arbeitgebers die Pension und meine Mutter schmiss sie anfangs ganz alleine. Die Jahre der falschen Belastung seiner Beine zogen nun ein Rückenleiden nach sich, was er nicht mehr verbergen konnte. Ich ärgerte mich im Nachhinein, dass ich nicht vehementer darauf bestanden hatte, dass er die ärztliche Nachbetreuung in Anspruch nahm, die ihm sein alter Arbeitgeber angeboten hatte. Doch er wollte, dass alles normal erschien und niemand Aufhebens um ihn machte. Jetzt bezahlte er einen hohen Preis dafür und ich konnte mich lediglich um die Gartenarbeit kümmern, sie ihm zwangsweise wegnehmen. Ich liebte meine Eltern sehr. Sie hatten mich stets unterstützt, nicht nur finanziell, wie in der Zeit nach meiner Trennung von meinem Exmann. Sie gaben mir immer zu verstehen, ich konnte alles schaffen, wie Pippi Langstrumpf, nur ohne die übermenschliche Kraft und die Tasche mit den Goldmünzen. Ich kicherte.

Vier Augenpaare sahen mich verwundert an. Ich erklärte es nicht, sondern nahm meine Eltern gleichzeitig in den Arm und flüsterte ihnen zu: »Schön, eure Tochter zu sein.« Meiner Mutter stand sofort das Wasser in den Augen, mein Vater schluckte.

»Darf ich euch Giuseppe Felicente vorstellen.«

»Luise, schön, Sie endlich kennenzulernen.« Er streckte ihr brav die Hand entgegen, meine Mutter zog ihn direkt zu sich heran und drückte ihn fest. Ungewöhnlich für sie, aber wahrscheinlich war sie noch rührselig von meinen vorherigen Worten. Die Männer gaben sich die Hand. »Ulrich, ebenfalls sehr erfreut.«

Wir wollten gerade hineingehen, als Giuseppe abrupt stehen blieb. »Was bin ich nur für ein Depp. Einen Moment bitte.«

Er ging schnellen Schrittes zum Auto, öffnete den Kofferraum und kam mit einem riesigen Blumenstrauß aus bunten Wiesenblumen und einer Flasche zurück.

Die Blumen gab er meiner Mutter, die Flasche meinem Vater.

»Ich weiß nicht, ob Sie Trester mögen. Ich bringe normalerweise zum ersten Treffen keinen Schnaps mit, aber dieser ist aus meiner ersten eigenen Produktion.« Stolz schwang in seiner Stimme mit, während ich ihn fragend ansah.

»Du wolltest mich nicht deinen Eltern vorstellen, da musste ich dieses kleine Geheimnis für mich behalten«, flüsterte er mir grinsend zu. Ich hörte förmlich das ›Ätsch‹ in seinen Worten.

»Danke Giuseppe, ich trinke gerne einen Trester nach dem Essen. Wir werden ihn nachher probieren und glauben Sie mir, wir werden ihn brauchen«, lachte nun mein Vater.

Meine Eltern nahmen sich Zeit, Giuseppe ihre Pension zu zeigen. Küche, Frühstücksraum und Büro lagen im Erdgeschoss. Vom Eingang ging ein breiter Gang bis nach hinten zur doppelflügeligen Gartentür, so dass jeder Gast, der das Haus betrat, direkt in den Garten blickte. Da das Haus eine leichte Hanglage hatte, entschieden sich meine Eltern nach meinem Auszug, die privaten Räume in das Souterrain zu verlegen. So schufen sie drei neue Gästezimmer, zu den sieben bestehenden in der ersten Etage und im Dachgeschoss. Fünf Jahre später bauten sie ein kleines zweistöckiges Haus in den Garten, in dem sich neben zwei geräumigen Appartments ein Zimmer für Carlotta und mich direkt unter dem Dach befand. Giuseppe war erstaunt, wie liebevoll alles hergerichtet und wie geräumig die Pension war. Meine stolzen Eltern freuten sich über das Lob meines Freundes.

Nach der Vorspeise, einem Pfifferlingsrisotto mit extra viel Parmesan für mich, verlangte ich bereits nach einem Schnaps. Doch ich wurde ignoriert, anstelle dessen servierte meine Mutter einen Zwiebelrostbraten mit buntem Gemüse. Ich verzichtete auf die dazu gereichten Gnocchi als Beilage.

Giuseppe war, entgegen seiner Gewohnheit, während des Essens ziemlich schweigsam. Er schwelgte, gab lediglich Laute der kulinarischen Wonne von sich, wie ›lecker‹, ›mmh‹ oder ›nie besser‹. Meine Mutter lächelte glücklich.

Nachdem er einen kleinen Nachschlag genommen und die Reste der Soße mit einer Scheibe Brot aufgetunkt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück.

»Luise, nur eine Pension? Sie sollten ein Restaurant eröffnen, wenigstens eine Jause, damit ich dreimal die Woche bei Ihnen essen kann. Obwohl, so viel Sport könnte ich gar nicht treiben, dass Ihr Essen bei mir keine Spuren, deutliche Spuren, hinterlassen würde.« Er rieb sich mit der rechten Hand wohlig über seinen flachen Bauch.

»Ich schlage vor, wir probieren jetzt Ihren Schnaps, denn gleich gibt es noch einen schönen Apfelstrudel, den ich kurz in den Ofen schiebe. Ulrich, magst du die Schnapsgläser holen?« Und ob mein Vater wollte. Er goss die Gläser ziemlich voll, was ich angesichts des Essens als durchaus angemessen empfand. Carlotta winkte ab, sie trank lediglich mal ein Bier oder einen Wein.

Eine hellbraune Flüssigkeit rann in die Gläser, was auf die Reifung im Barriquefass deutete. Ich schnupperte am Glas und konnte die Trauben sowie einige florale Gerüche ausmachen.

Doch Giuseppe widersprach meinen Gedanken: »Es sind Nuancen von Rosmarin und Lavendel auszumachen, falls du es nicht zuordnen kannst. Ulrich, ich hoffe, das ist nicht zu ›weiblich‹ für Sie?« Giuseppe machte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

»Eigentlich mag ich einen echten und ehrlichen Schnaps am liebsten, aber keine Sorge, ich lasse mich darauf ein«, entgegnete mein Vater.

»Zur Not habe ich noch eine Flasche ohne den Schnickschnack im Auto. Beim ersten Treffen allerdings muss ich wohl eher die wunderbare Köchin umgarnen.« Dabei ließ er wieder sein tiefes und entspanntes Lachen ertönen.

Meine Mutter kehrte aus der Küche zurück und strich Giuseppe vertraulich mit der Hand über den Arm. Sie mochte ihn, diese unbewusste Geste meiner Mutter machte es deutlich und Carlotta grinste mich an, was Giuseppe dazu bewegte, sie fragend anzuschauen.

»Oma mag dich«, verriet meine Tochter.

Nun stand ebenfalls meiner Mutter der neugierige Ausdruck ins Gesicht geschrieben.

»Immer wenn du jemanden magst, er oder sie dir aber nicht so vertraut ist, streichst du dieser Person über den Arm, nicht zu eng, dennoch eine Geste der Nähe«, klärte die Enkelin ihre Oma auf.

»Echt?«, fragte meine Mutter mit Verwunderung in der Stimme.

»Ja«, riefen Carlotta und ich lachend.

Wir stießen an, während meine Mutter noch darüber nachzudenken schien, und nippten an den Gläsern.

»Lecker«, kam von meiner Mutter, indessen ich das Glas in einem Zug leerte und es kommentarlos meinem Vater hinhielt, damit er nachschenkte. Giuseppe sah meinen Vater fragend an.

»Sehr gut, nicht ganz mein Geschmack mit dem vielen Firlefanz, aber er ist mild und brennt genau da, wo er soll, erst wohlig im Bauch. Einen Hauch rauchig, wie ein guter Whisky.«

Giuseppes Augen leuchteten: »Sie mögen Whisky?«

»Ja, äußerst gerne, nur in diesem Haus gibt es keinen. Luise ist der Meinung, ein Schnaps zum Aufräumen reicht. Und ich gestehe, es ist richtig so. Sonst säße ich jeden Abend hier und würde mir ein Gläschen genehmigen, dann würden es zwei und so weiter.«

Giuseppe schaute meine Mutter an: »Aber gegen einen gepflegten Männerabend mit eingeschlossenem ›Nach-Hause-Bringservice‹ hätten sie nichts einzuwenden?«, fragte er völlig neutral, so dass meine Mutter auch Nein sagen könnte, ohne als Spielverderberin dazustehen.

»Ganz sicher nicht, ich kenne doch seine Leidenschaft.« Meine Mutter ließ sich von ihrem Mann das Glas nachfüllen, trank zügig aus und ging anschließend in die Küche, um sich um ihren Apfelstrudel zu kümmern.

Ich folgte ihr. Kaum betrat ich die Küche, meinte meine Mutter: »Ein netter Mann, den du dir da ausgesucht hast, und er sieht wirklich gut aus. Jung genug und dennoch mit viel Lebenserfahrung, wenn ich seine Gesichtszüge richtig deute.«

»Ja, ich mag ihn sehr. Er ist nur so reich«, gab ich meine Bedenken preis.

»Das tat noch nie weh. Dein Ex war auch nicht gerade arm, nur leider hattest du nichts davon. Giuseppe würde dich niemals, egal was passiert, so im Regen stehen lassen wie er. Irgendwie ist er ein Ehrenmann, verstehst du, was ich meine?«

»Ja«, kicherte ich und verschluckte mich so heftig, dass mir meine Mutter auf den Rücken klopfen musste.

»Was?«

»Er stammt aus Palermo«, lachte ich weiter und hickste dazu.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage, glaub mir.«

»Du denkst..., jetzt auch noch...?« Immer wenn es peinlich wurde, beendete sie nie die Sätze.

»Nein, hier nicht mehr, deswegen ist er vor zwanzig Jahren gegangen«, antwortete ich atemlos und hickste erneut.

Sie fragte nicht weiter, wollte es wahrscheinlich gar nicht wissen.

Als wir mit dem Strudel wieder ins Esszimmer kamen, empfing uns lautes Gelächter.

»Nur einige Kindheitsgeschichten«, beantwortete Giuseppe meine ungestellte Frage mit Tränen in den Augen.

Ich winkte ab, wollte nichts von den Peinlichkeiten hören. Genauso wie alle anderen, da ihre Aufmerksamkeit sich nun eindeutig und alleinig auf den Kuchen richtete.

»Wann kommt eigentlich Marta genau?«, fragte mich meine Mutter nach dem ersten Stück Kuchen.

»Übermorgen, also Dienstag.«

»Sie war lange nicht hier«, stellte meine Mutter fest.

»Ja. Ihrem Vater geht es nicht gut und ihre Mutter bat sie, zu kommen.«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat Krebs, zwar mit halbwegs guten Aussichten, aber die Mutter ist überfordert, macht sich zu viele Sorgen, weswegen er wohl ziemlich genervt ist. Marta soll den Prellbock geben, damit sich beide voneinander erholen können.«

Meine Mutter nickte stumm. Sie kannte das mit den Sorgen um den Ehemann. Auch sie war manchmal etwas übervorsorglich und genauso ängstlich.

»Wer ist eigentlich Marta?«, fragte Giuseppe in die Stille.

»Meine beste Freundin aus dem Lyceum. Leider hat sie sich in einen Römer verliebt, ist zu ihm gezogen und bekam zwei wunderbare Töchter, Rosa und Siena. Sie sind acht und zehn Jahre alt und erfordern ihre volle Aufmerksamkeit, weil sie süß aber ein wenig verzogen sind. Deswegen sehen wir uns viel zu selten. Trotz der Umstände bin ich sehr glücklich, dass sie zu Besuch kommt. Da sie die Kinder zu Hause lässt, wird für uns genügend Zeit bleiben.«

»Danke Luise, ganz wunderbar, danke«, verabschiedete sich Giuseppe circa eine Stunde später überschwänglich von meiner Mutter. »Und Ulrich, übernächste Woche Herrenrunde? Und ich würde mich freuen, wenn ich den Whisky nach Ihren Ratschlägen besorgen könnte. Rufen Sie mich an?« »Gern, mein Lieber.« Wir stiegen ins Auto und meine nüchterne Tochter fuhr uns nach Hause. Dort packte ich eine Tasche und sie brachte uns zu Giuseppe, durfte den Wagen wieder mitnehmen, und wenn sie wollte, am nächsten Tag damit zur Schule fahren. Ich schüttelte nur den Kopf, hielt mich aber zurück. Wollte kein Spielverderber sein, obwohl ich es nicht gut hieß, dass meine eigentlich bescheidene Tochter zur Angeberin mutierte.

Kapitel 2

Montag, 6 Oktober

Bruno Tallner, der Meraner Hauptkommissar rieb sich das Kinn und schaute ratlos auf die Protokolle, 23 an der Zahl.

23 Taschendiebstähle allein in seiner Stadt. In den umliegenden Gemeinden sah es genauso aus. Das eigentlich Schlimme daran war, er musste sich kümmern. Antonio Santomauro, sein Kollege hatte sich spontan eine Woche freigenommen, weil ansonsten nicht viel los war. Er flog gestern nach Apulien zur Familie und seiner fidanzata, seiner Verlobten Greta nach Rodi Garganico. Aufgrund der Mordfälle im August bauten sich Unmengen von Überstunden auf, die er nun zumindest teilweise abbaute.

Bruno stellte einmal mehr fest, wie gerne er mit Antonio zusammenarbeitete, und sah ihn mittlerweile als Vertrauten, vielleicht sogar als Freund an. Sein Leben bestand fast nur aus Arbeit, wie er resigniert feststellte. Er war nicht besonders gut in der Disziplin Freundschaften pflegen, was ihm nur auffiel, wenn es, wie derzeit ruhig in seinem Job zuging. Ansonsten schob er es praktischerweise auf seine Unabkömmlichkeit. Er fragte sich, ob er die Einladung auf einen wirklich guten Whisky dieses Süditalieners von der Insel, Giuseppe Felicente, annehmen sollte, der ihn vor einigen Minuten per Sprachnachricht einlud. War er bereits so verzweifelt oder ging es ihm eher um Frida Zorn, die er seit den Mordfällen im August nicht mehr gesehen hatte? Er trieb sie quasi in die Arme des aufmerksamen Giuseppes. Er selbst fühlte sich noch nicht mal in der Lage, einfach nur freundlich zu ihr zu sein, obwohl er sie sehr mochte. Er war in den letzten Jahren, ohne es zu merken, zu einem Einsiedler geworden.

Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken.

»Dottore Illner«, begrüßte er seinen Chef aus Bozen. Das konnte nichts Gutes verheißen, wenn er persönlich anrief. Vermutlich eine Zurechtweisung für irgendetwas, gefolgt von einem Hinweis des Bürgermeisters, egal welcher Stadt, der von ihm, Brunos Chef Ergebnisse verlangte.

»Tallner, sind wir denn hier in Süditalien?«

»Nein.« Bruno wartete ab.

»Die Diebstähle, Tallner, die Diebstähle. Bekommen Sie noch nicht mal so etwas in den Griff? Der Bürgermeister....«, vervollständigte er seinen Satz nicht, was insofern unnötig erschien, da sie beide wussten, was dieser so meinte.

»Nun der Dieb oder wahrscheinlicher die Bande treibt ihr Unwesen in ganz Südtirol. Die Zahlen in Bozen sind wirklich sehr verheerend, wie ich vorhin dem Bericht entnehmen konnte. Als wenn dort die Keimzelle säße...« Bruno ließ den Rest ebenfalls offen.

»Bleiben Sie dran, Tallner und liefern Sie mir Ergebnisse, schnell.« Damit beendete er das Telefonat und Bruno lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück, die Kritik im Keim erstickt zu haben. Er verbesserte sich mit jedem Fall. Fritz Illner war so durchschaubar.

Tatsächlich rief er direkt seinen Kollegen in Bozen an, nur um zu erfahren, dass dieser nicht vor zehn Uhr am Morgen erreichbar sei. Ja, die Landeshauptstadt war italienischer als Meran, auch bei den Bürozeiten. Er bat um Rückruf und legte auf. Anschließend kochte er sich einen Kaffee, den er mit in sein Büro nahm, um nachzudenken, was sicher nie verkehrt war.

Diese Schmerzen, wie sollte er sie nur aushalten. Bisher war es meistens einigermaßen erträglich, besonders wenn seine geliebte Frau an seiner Seite saß. Aber dieses Stadium hatte er längst überschritten. Seit Wochen lag er nunmehr nur im Bett, an Aufstehen oder sogar das Haus zu verlassen, daran war kaum mehr zu denken. Es wurde Zeit für ihn, bevor er handlungsunfähig würde. Seine Frau lag nebenan in ihrem Bett und schlief.

Sein Geist vernebelte sich langsam. Bilder aus seinem Leben, seinem viel jüngeren Leben erschienen vor seinen geschlossenen Augen. Ein Urlaub an der Adriaküste in Bellaria, wo er seine Frau kennenlernte, nur ein Urlaubsflirt, zunächst. Doch drei Monate später, am Ende des Sommers kehrte er dorthin zurück. Sie arbeitete als Zimmermädchen in dem Hotel, in dem er wohnte. Er blieb nur eine Woche, weiteren Urlaub hatte er nicht bekommen, von seinem Chef in der Schreinerei. Am vorletzten Tag, Marias freiem Abend lud er sie zum Essen ein und machte ihr einen Heiratsantrag, ohne Ring, denn es war viel zu spontan. Er kaufte lediglich einem Jungen auf der Straße eine rote Rose ab, wenigstens eine Langstielige. Sie lächelte, freute sich, lehnte dennoch ab. Sie könnte doch nicht mit ihm nach Südtirol ziehen und ihre Eltern hier zurücklassen.

›Warum nicht?‹, fragte er.

›Ich weiß nicht‹, antwortete sie.

›Komm mit mir‹, forderte er sie erneut inständig auf.

Sie kicherte verschämt. ›Dann müsste er den Vater aber fragen. Ohne seine Zustimmung ginge es nicht‹.

Der Vater stimmte zu, als er hörte, er käme aus Südtirol, wäre mit der Lehre fertig und hätte eine Festanstellung.

Einen Monat später zog sie bei ihm, ins Haus seiner Eltern ein, die entzückt über das nette Mädchen waren, nur deutsch müsste sie halt noch lernen.

Die Schmerzen verschwanden und auch das Bild von seiner Maria verschwamm vor seinen Augen. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, weil er seine Maria alleine lassen musste. Aber er war zu einer Last geworden, die er ihr nicht aufbürden wollte. Er liebte sie so sehr.

10.30 Uhr. Mittlerweile sollte der Kollege aus Bozen eingetroffen sein und den ersten Kaffee getrunken haben.

»Pronto?«, meldete sich commissario Tarzini aus Bozen.

»Ciao Michele, sono io, Bruno di Merano«, begrüßte Bruno seinen Kollegen.

»Ciao Bruno, come stai?«

»Mir geht es gut, danke und selbst?«

»Schauen dich deine Kollegen schon wieder komisch an, weil du italienisch sprichst oder warum wechselst du ins Deutsche? Und ja, mir geht es hervorragend. Die Touristen strömen in die Stadt, füllen unsere Kassen und sind so gar nicht kriminell. Ruhige Zeiten also.«

»Und was ist mit den Dieben?«, ließ Bruno den Sprachenwechsel unkommentiert, auch wenn Michele natürlich Recht hatte.

»Ach die, das macht mein Kollege. Ich hatte noch einen gut bei ihm. Schoss mich letztes Jahr an, der Gute. Sobald was Unangenehmes reinkommt, wird die Wunde irgendwie wetterfühlig«, lachte sein Gesprächspartner.

Bruno und er arbeiteten mehrere Jahre zusammen und er wusste, Michele galt nicht als der Fleißigste. Nein, so durfte er es nicht stehenlassen. Sobald der Fall interessant genug war, biss er sich sozusagen fest und ließ nicht locker, bis er den Übeltäter festnehmen konnte. Ansonsten schob er eher eine ruhige Kugel.

»Was traf er?«, wollte Bruno wissen.

»Meinen Allerwertesten. Ich wusste gleich, das wird teuer, denn er wusste nicht, dass die darauffolgende Häme der Kollegen natürlich an mir abprallte. Du hättest es gewusst, mit dir könnte ich dieses Spiel nicht treiben.« Sie lachten beide.

»Was willst du über die Diebe wissen?«

»Na alles, was ihr habt.«

»Das ist einfach. Nichts.«

»Das kann doch nicht sein. .«

»Okay, du hast gewonnen. Wechselnde Diebe, unterschiedliches Alter, unterschiedliches Geschlecht. Eine klug aufgebaute Bande«, gab Bruno zu.

»Genauso ist es. Die klauen etwas, dann wechseln sie die Stadt, um dort weiterzumachen. Wahrscheinlich wohnen sie zusammengepfercht in einem Bus und werden von einem Ort zum anderen gefahren, schlafen in Schichten. Wenn man sie schnappt, sind sie minderjährig, ohne Papiere und nicht unserer Sprache mächtig. Illegale, die man abschiebt, sofern man denn herausfindet, wohin.« Michele gab sich keinen Illusionen hin, es lief jedes Mal gleich oder zumindest ähnlich ab. Letztes Jahr blieben sie verschont, dieses Jahr gingen sie dafür umso dreister vor.

»Was hältst du davon, wenn ich morgen nach Bozen komme, mich mit deinem Kollegen bespreche und wir zwei gehen zusammen Mittagessen?«

»Nur, falls du mit dem Zug kommst, damit wir unser Wiedersehen auch begießen können.« Bruno stöhnte innerlich, er erinnerte sich an die Trinkfestigkeit des Kollegen. Er würde auf der Rückfahrt angetrunken einschlafen und sonst wo aufwachen.

»Aber mach dir keine allzu große Hoffnungen, was den Kollegen betrifft. Ich weiß echt nicht, wie er es schaffte, die höhere Laufbahn einzuschlagen, ist echt 'ne

Dumpfbacke.«

Bruno enthielt sich eines Kommentars, weil er wusste, dass Michele jeden Kollegen in diese Schublade steckte, der nicht seiner selbst würdig war.

Kapitel 3

Dienstag, 7. Oktober

Ich fuhr auf der MeBo, der Schnellstraße zwischen Meran und Bozen zum dortigen Flughafen. Marta würde in einer Stunde landen. Ich hatte mich angeboten, meine Freundin abzuholen, da ihre Eltern kein Auto besaßen und ich sie erst am nächsten Abend sehen würde. So konnten wir wenigstens auf der Rückfahrt die letzten Neuigkeiten austauschen.

Zwei Jahre hatten wir uns nun schon nicht gesehen und ich vermisste sie wirklich sehr. Mit den anderen Schulkameradinnen verstand ich mich nie so gut, und nach der Schule wurde es noch schlimmer. Das erste Klassentreffen fand nach 5 Jahren statt. Die Gespräche verliefen alle gleich, mein Mann, sein Beruf, sein Gehalt, die Kinder. Ich hätte mitmachen können, doch mich nervte und langweilte es, mich nur über den Ehemann zu definieren, obwohl das meinem Exmann äußerst gut gefallen hätte. Die Jungs in der Klasse unterhielten sich über ihr neuestes Auto oder die heißeste Braut, auch die Verheirateten. Nichts für mich und so blieb ich dem 10-Jährigen einfach fern. Marta genoss diese Treffen und verstand mein Desinteresse gar nicht. Aber sie war so selten in Meran, dass sie viele unliebsame Dinge übersah, nur froh, mal wieder zu Hause sein zu dürfen. Dafür beschwerte sie sich ständig über die Römerinnen und wann sie denn endlich mal jemanden wie mich fände, mit der sie sich anfreunden könnte, nicht nur flüchtige Bekannte, die man im Fitnessstudio traf oder Mütter aus der Schule, die nur über die Stärken ihrer Kinder sprachen.

Bruno stieg am Hauptbahnhof von Bozen aus, Michele wartete bereits am Bahnsteig. Zunächst gingen sie in eine kleine Bar in der Nähe, bestellten Kaffee und panini an der Theke.

»Carlo erwartet dich in einer Stunde. Ist schon ganz aufgeregt, die Ermittlungsergebnisse mit dir auszutauschen.« Bruno winkte nur ab, wollte sich lieber sein eigenes Bild von diesem Carlo machen.

»Was ist bei dir so passiert in der letzten Zeit? Wir haben uns bestimmt drei Jahre nicht gesehen«, erkundigte sich Bruno stattdessen.

»Ich habe vor drei Monaten geheiratet«, ließ Michele die Bombe platzen und biss in sein panino.

»Das glaube ich ja nicht, der eingefleischte Junggeselle ist verheiratet? Wer hat das denn bloß geschafft?«

»Eine Kollegin. Wir ermittelten gemeinsam in einem Mordfall, sozusagen Tag und Nacht«, grinste Michele noch kauend.

»Dann muss sie dir ebenbürtig sein«, stellte Bruno fest.

»Und ob. Sie ist eine tolle Ermittlerin, eine tolle Frau und vor allem meine Frau Tanja.«

»Ich freue mich für dich.«

»Und du?«

»Ich traf eine unglaubliche Frau, doch ich vermasselte es. Jetzt hat sie sich ein anderer geangelt und ich bin raus«, entgegnete Bruno traurig.

»Erzähl«, forderte Michele ihn auf, aber Bruno schüttelte nur den Kopf.

»Kommen wir lieber zu unseren Diebstählen«, wechselte Bruno das Thema und schob sich den Rest des köstlichen Brotes in den Mund.

---ENDE DER LESEPROBE---