Zornige Brandung - Nina Ohlandt - E-Book

Zornige Brandung E-Book

Nina Ohlandt

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Beschreibung

Spannung pur an der Nordsee

Wer tötete den Meisterregisseur?

John Benthien, Kommissar der Flensburger Kripo, verbringt die Ferien mit seiner Tochter in seinem Haus auf Sylt. Erst seit Kurzem hat er einen neuen Nachbarn - laut Johns Tochter Celine ein bekannter und gefeierter Regisseur. Doch ein erster kurzer Kontakt zwischen John und dem »Promi« verläuft nicht angenehm, und auch die zweite Begegnung macht wenig Freude: John steht vor der Leiche des Mannes, der tot in seinem Haus aufgefunden wurde. In seinem Kopf steckt ein Pfeil. Benthien übernimmt die Ermittlungen in einem Umfeld, in dem es mehr Rivalität als Freundschaft zu geben scheint - und stößt auf ein Geheimnis, das tief in die dunkle Vergangenheit des Toten führt...

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Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorenTitelImpressumEinleitungErster Teil: Der stille Nachbar1 – John2 – Lilly3 – John4 – Sanna5 – John6 – Lilly7 – John8 – Sanna9 – JohnZweiter Teil: Ein Mann mit vielen Gesichtern10 – John11 – Lilly12 – John13 – Sanna14 – John15 – Lilly16 – John17 – Sanna18 – John19 – Lilly20 – John21 – Sanna22 – John23 – Lilly24 – John25 – Sanna26 – John27 – SannaDritter Teil: Der Weg des Wassers28 – John29 – Lilly30 – John31 – Sanna32 – John33 – Lilly34 – John35 – Sanna36 – John37 – Lilly38 – John39 – Sanna40 – John41 – Lilly42 – JohnVierter Teil: Der Junge, der sterben musste43 – Sanna44 – John45 – Lilly46 – John47 – Sanna48 – John49 – Lilly50 – Sanna51 – John52 – Lilly53 – Sanna54 – John55 – SannaFünfter Teil: Das Buch der Wahrheit56 – John57 – Lilly58 – John59 – Lilly60 – John61 – Lilly62 – John63 – LillyEpilog64 – John65 – Lilly

Über dieses Buch

John Benthien, Kommissar der Flensburger Kripo, verbringt die Feri en mit seiner Tochter in seinem Haus auf Sylt. Erst seit Kurzem hat er einen neuen Nachbarn – laut Johns Tochter Celine ein bekannter und gefeierter Regisseur. Doch ein erster kurzer Kontakt zwischen John und dem »Promi« verläuft nicht angenehm, und auch die zweite Begegnung macht wenig Freude: John steht vor der Leiche des Mannes, der tot in seinem Haus aufgefunden wurde. In seinem Kopf steckt ein Pfeil. Benthien übernimmt die Ermittlungen in einem Umfeld, in dem es mehr Rivalität als Freundschaft zu geben scheint – und stößt auf ein Geheim nis, das tief in die dunkle Vergangenheit des Toten führt …

Über die Autoren

Nina Ohlandt, ausgebildete Sprachlehrerin, arbeitete in vielen Berufen, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Nina Ohlandt starb im Dezember 2020.

Ihre Krimireihe wird von Jan F. Wielpütz fortgesetzt, der als Verlagslektor Krimi- und Thrillerautoren betreute und – teils unter Pseudonym – mehrere Bücher veröffentlichte, die auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen.

NINA

OHLANDT

JAN F. WIELPÜTZ

ZORNIGE BRANDUNG

NORDSEE-KRIMI

John Benthiens elfter Fall

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Angela Kuepper, München

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: ZoranKrstic | LittlePerfectStock | Pawel Kazmierczak | alybaba

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6147-5

luebbe.de

lesejury.de

Sollen wir es töten?Das kann nicht dein Ernst sein.Aber doch. Es wird ganz schnell gehen.Bist du jetzt völlig verrückt geworden?Wir erlegen es wie ein tollwütiges Tier.Das kannst du nicht tun.Sag mir nie, was ich tun kann.

Erster TeilDER STILLE NACHBAR

1    John

Ein sanfter Wind strich über die Wellen der Nordsee, die träge an den Westerländer Strand schwappten und den Geruch von Salz und Seetang mit sich brachten. So ruhig das Meer auch sein mochte, gab es doch kein Vertun, dass der Tag nicht so friedlich enden würde, wie er begonnen hatte.

Erste Wolken zogen auf und verdichteten sich weit hinten im Westen am Horizont zu dunklen Türmen, die unaufhaltsam auf die Insel zukamen. Ein gewaltiger Regenguss, wenn nicht ein ausgewachsenes Gewitter. Die Möwen ließen sich davon nicht beirren. Auf der Suche nach einem Imbiss kreisten sie über den Köpfen der Flaneure, die die Westerländer Promenade bevölkerten.

John Benthien, ehemaliger Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, saß auf den treppenförmig angeordneten Bänken gegenüber der Musikmuschel und führte einen Pappbecher Kaffee an die Lippen. Sein Blick wanderte zu einem Kitesurfer, der sich vom auffrischenden Wind über das Wasser ziehen ließ. Die Tage wurden kürzer, und dem Sommer ging allmählich die Puste aus. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft.

Für einen Moment wünschte John, er könnte den Tag mit einem Buch im Strandkorb verbringen.

Doch daraus würde nichts werden. Zumindest, wenn er seinen alten Job als Kriminalkommissar wiederhaben wollte.

John trank den letzten Schluck Kaffee, erhob sich und beförderte den Becher in einen nahen Mülleimer. Dann machte er sich auf den Weg zum Hotel Miramar, das sich gleich in der Nähe befand. Dort erwartete ihn Kriminalrat Gödecke.

Das mittlerweile in fünfter Generation geführte Grandhotel gehörte zweifelsohne zu den ersten Häusern am Platz. Jeder Stein der Jugendstilfassade atmete große Geschichte, und die direkte Lage am Strand wie auch der erstklassigen Service hatten ihren Preis. Insofern wunderte sich John darüber, dass Gödecke ausgerechnet diesen ebenso teuren wie exponierten Ort für das Treffen ausgewählt hatte.

Bislang hatte sein ehemaliger Vorgesetzter darauf geachtet, dass sie nicht zusammen gesehen wurden. Sie hatten sich im Gewölbekeller eines ziemlich unbekannten Cafés in Flensburg verabredet oder bei Annis Imbiss, Gödeckes liebstem Hot-Dog-Stand auf der dänischen Seite der Förde, und zuletzt abends mit einer Flasche Pils an Deck von Johns Segeljacht.

Er hatte volles Verständnis für Gödeckes Vorgehen.

Schließlich hatte John es sich selbst zuzuschreiben, dass er wegen eines Fehlverhaltens den Dienst bei der Flensburger Kripo hatte quittieren müssen. Dazu die Strafversetzung nach Friedrichstadt, wo er als Dorfpolizist Strafzettel für Falschparker ausgestellt und Nachbarn davon abgehalten hatte, sich wegen eines schiefen Gartenzauns gegenseitig den Krieg zu erklären. Unter diesen Vorzeichen konnte er wohl kaum erwarten, dass Gödecke ihm auf dem Präsidium gleich den roten Teppich ausrollte. Auch, wenn er dies insgeheim wohl gehofft hatte.

Dabei konnte er sich glücklich schätzen. Dass der Kriminalrat Johns Ansinnen, an seine alte Wirkungsstätte zurückzukehren, überhaupt Gehör schenkte, hatte er lediglich dem Zufall zu verdanken. Als Polizeichef von Friedrichstadt hatte er maßgeblich zum Erfolg einer Mordermittlung vor Ort beigetragen, was sogar die Medien aufgegriffen hatten. Dazu ein gutes Wort von Johns ehemaligen Kollegen, und Gödecke hatte sich erweichen lassen, zumindest mit ihm zu reden.

John hatte zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Hoffnung verspürt. In der Kleinstadt war er sich wie ein besserer Dorfpolizist vorgekommen, der sich mit den Lappalien des Alltags hatte herumschlagen müssen. Falschparker, Gartenzaunstreitereien, entlaufene Katzen. Und das, nachdem er als Kriminaler in Flensburg eine der besten Aufklärungsquoten gehabt hatte. Die Ermittlungen in dem Doppelmord in Friedrichstadt hatten alte Instinkte wiedererweckt. Doch mit der Aufklärung des Falls war bald wieder der Alltag eingekehrt.

John war schnell klar geworden, dass er so nicht weitermachen wollte.

Doch die Gespräche mit Gödecke waren unverfänglich gewesen. Der Alte hatte zunächst die Lage sondieren wollen, wie er es nannte. Das Motiv für Johns Rückkehr hatte er durchaus nachvollziehen können.

Um seine Entschlossenheit zu bekräftigen, aber eben auch, weil er es einfach nicht mehr aushielt, hatte John den Posten vor zwei Monaten kurzerhand gekündigt. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, selbst wenn er damit ein finanzielles Vabanquespiel einging, denn endlos würden seine Rücklagen nicht reichen.

Er befand sich nun in einem beinahe schwerelos anmutenden Zustand zwischen dem altem und einem neuen Leben, von dem er nicht wusste, wie es aussehen würde – was ihn gleichermaßen mit Hoffnung, aber auch mit Nervosität erfüllte. Denn die Verhandlungen mit Gödecke kamen weiterhin nicht recht vom Fleck, und John verstand immer weniger, warum der Alte ihn hinhielt.

John hätte es nachvollziehen können, wenn Gödecke oder dessen Vorgesetzter ihn nach seinem Fehlverhalten nicht wieder bei der Truppe hätten haben wollen. Doch dann sollten sie es ihm einfach sagen, anstatt Spielchen mit ihm zu spielen.

John betrat die Empfangshalle des Miramar. Dicker Teppichboden dämpfte seine Schritte. Der Concierge begrüßte ihn in einem marineblauen Zweireiher.

In Jeans und T-Shirt kam John sich ein wenig deplatziert vor. »Ich habe eine Verabredung mit einem Ihrer Gäste, Kriminalrat Gödecke.«

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, der Concierge trat hinter der Empfangstheke hervor und wies ihm den Weg. »Der Herr erwartet Sie draußen auf der Terrasse.«

Gödecke verbrachte den Sommerurlaub auf der Insel. Vor seiner Abreise hatte er noch an höherer Stelle vorfühlen wollen, ob es eine reelle Chance für Johns Rückkehr gab. Blieb zu hoffen, dass er auf offene Ohren gestoßen war.

Der Concierge öffnete mit federndem Schritt eine Glastür und bog um die Ecke, vorbei am Aufzug. John ging ihm nach.

Just in dem Moment öffneten sich die Aufzugtüren.

Zwei Männer traten heraus, in ein Gespräch vertieft und so eilig, dass sie ihn nicht bemerkten.

John stieß mit dem vorderen der beiden zusammen. Er trug einen hellbraunen Tweedanzug mit Fischgrätenmuster und eine Schiebermütze. Unter dem Arm hatte er ein Bündel Papiere, das ihm entglitt und sich im hohen Bogen auf dem Marmorboden verteilte. Der Mann taumelte kurz, doch John packte ihn an einer Schulter und stützte ihn.

»Verzeihung, ich habe Sie nicht gesehen.« John kniete sich hin, hob rasch die Papiere auf, augenscheinlich eine Art Buch oder Drehbuch mit langen Dialogpassagen. Er reichte dem Mann den Stapel. »Tut mir wirklich leid.«

So ganz schien der Mann sich von dem Schreck noch nicht erholt zu haben. Er schob seine Stahlgestellbrille zurecht, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte aber keinen Ton heraus.

Sein Begleiter, ein hagerer Kerl mit knochigen Wangen und wirrer grauer Mähne, war weniger beeindruckt und umso schlagfertiger. »Pass doch auf, wo du hinrennst, blöder Hund!«, zischte er und schob sich an John vorbei. An seinen Freund gewandt meinte er mit einem Blick auf den Papierstoß: »Solltest den Bockmist vielleicht wirklich wegwerfen.«

Noch bevor John etwas sagen konnte, zog der Hagere den Mann im Tweedanzug mit sich, und sie verschwanden durch die Glastür in Richtung Empfang.

»Sie müssen verzeihen.« Der Concierge hob die Schultern und schob hinterher, als erklärte das alles: »Filmleute eben.«

Er setzte seinen Weg fort, und John folgte ihm hinaus auf die Terrasse.

Kriminalrat Gödecke saß an einem Tisch in der Ecke mit Blick auf den Strand und das Meer. Er trug einen beigen Sommeranzug aus Leinen mit hellblauer Fliege und dazu Segelschuhe.

Vor ihm auf dem Tisch stand eine Kaffeekanne, daneben ein Teller mit einem halb gegessenen Croissant. Dazu Butter und Marmelade.

»Wünschen der Herr auch etwas zu essen?«, erkundigte sich der Concierge.

»Nein«, antwortete John. »Aber einen Kaffee gerne. Schwarz.«

»Für mich dasselbe«, sagte Gödecke und wies mit ausgestreckter Hand auf den freien Stuhl an seinem Tisch.

John setzte sich, während Gödecke die Serviette von seinem Schoß nahm und sich damit den Mund und den üppigen Schnauzbart abtupfte.

Obwohl sich der Tisch in der Sonne befand, wirkte das Gesicht des Kriminalrats seltsam blass. Auch die Falten auf seiner hohen Stirn, die nur noch von wenigen grauen Haaren an den Seiten umrandet wurde, schienen tiefer geworden zu sein.

»Benthien«, sagte er, »ich habe schlechte Nachrichten.«

Etwa eine Stunde später steuerte John seinen alten Citroën XM über die Listlandstraße, rechts das Wattenmeer, links die weite Dünenlandschaft von List. Am Ortseingang bog er links von der Hauptstraße ab und folgte einem schmaleren Weg zu seinem alten Reetdachhaus. Johns Urgroßvater, ein Kapitän, hatte die Kate vor Urzeiten erbaut, und seitdem war das Haus von Generation zu Generation weitergegeben worden. In Gedanken versunken fuhr John in die Einfahrt, stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment sitzen, zu sehr beschäftigte ihn, was Gödecke ihm eröffnet hatte. So bemerkte er Celine, seine Tochter, erst, als sie bereits neben dem Auto stand und die Fahrertür aufriss.

»Wird aber auch Zeit, dass du kommst«, sagte sie atemlos und wischte sich eine Strähne des schwarzen Haars aus dem Gesicht. »Grandpa bringt ihn gleich noch um!«

»Was?« Noch ganz in Gedanken blickte John zu ihr auf. »Wer bringt wen um?«

»Ben den Gärtner.« Celine stemmte die Hände in die Hüften. Sie trug eine schwarze Hose und ein T-Shirt der Hardrockband Ghost. »Vielleicht bekommt er aber auch den nächsten Herzinfarkt, wenn er sich weiter so aufregt.«

Ben, Johns Vater, hatte erst vor Kurzem einen Herzinfarkt überstanden und machte derzeit eine Reha hier auf der Insel. Aufregung war nun wirklich das Letzte, was er brauchte.

John stieg aus und schloss die Wagentür. »Wo ist denn das Problem? Ich hatte dem Mann doch genau gesagt, was zu tun ist. Ben muss sich also gar nicht …«

»Sieh es dir selbst an, dann verstehst du es schon.« Celine ging voraus um das Haus herum in den Garten. »Ich soll dich übrigens schön von meinem Vater grüßen, ich hab mit ihm telefoniert.«

»Danke. Wie geht es ihm?« Celine war nicht Johns leibliche Tochter. Seine Ex-Frau, die vor vielen Jahren ums Leben gekommen war, hatte Celine mit in die Ehe gebracht. Ihr Vater, Paul Jacobs, war Frachterkapitän und auf den Weltmeeren zu Hause. Daher hatte Celine schon früh John zu ihrem eigentlichen Vater auserkoren.

»Paul ist gerade in Shanghai«, erzählte sie. »Er ist ganz happy mit dem neuen Schiff und der Crew. Und wie ist es mit Gödecke gelaufen?«

John duckte sich unter dem Reetdach und folgte dem Trampelpfad auf die Rückseite des Hauses. »Nicht so wie geplant.«

»Was soll das heißen?«

»Nicht jetzt«, fuhr John sie an.

Celine hob die Hände. »Ist ja gut. Kein Grund, gleich auszuflippen.«

John stieß einen Seufzer aus. »Tut mir leid, okay? Ich erzähl es dir später in Ruhe. Klären wir erst mal das hier.«

John war bewusst, dass seine berufliche Zukunft auch Celine betraf. Sie hatte den Umzug nach Friedrichstadt klaglos mitgemacht, und nun musste er sie schon wieder vor Veränderungen stellen. Und das, wo für sie die heiße Phase des Abiturs begann. Sie hatte jedes Recht der Welt, genauso angespannt zu sein wie er.

Um ein Mindestmaß an Stabilität herzustellen, hatte John ihr versprochen, dass, ganz gleich, wie sich seine Situation entwickeln würde, sie wieder in die Altbauwohnung in Jürgensby ziehen und Celine den Schulabschluss in ihrer früheren Klasse an einem Flensburger Gymnasium machen würde. Sie waren nicht allzu lange in Friedrichstadt gewesen, sodass sie sich schnell wieder eingewöhnen sollte.

»Das war ein Rosenstrauch!«, rief Ben. »Lesen Sie es von meinen Lippen ab: R-O-S-E-N. Ich weiß bei Gott nicht, wie man den mit Forsythien verwechseln kann!« Er stand mit hochrotem Kopf dem Gärtner gegenüber und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Dann zeigte er mit ausgestrecktem Finger auf die gegenüberliegende Seite des Gartens, wo ein Forsythienbusch wucherte. »Und den sollten Sie auch nur beschneiden, guter Mann, und nicht komplett ausreißen.«

Während seiner Zeit in Friedrichstadt hatte John es nur selten zum Kapitänshaus auf Sylt geschafft, während Ben, den im hohen Alter noch einmal Amors Pfeil getroffen hatte, mit seiner neuen Freundin Vivienne die Welt bereiste. Sie hatten also das alte Haus ein wenig vernachlässigt. Der wild wuchernde Garten war das Ergebnis.

Da Ben ohnehin gerade wegen seiner Reha auf der Insel war, hatte John kurzerhand beschlossen, die letzten Wochen der Sommerferien mit Celine in List zu verbringen und die alte Kate auf Vordermann zu bringen. Bevor der Herbst einzog, stand der Garten ganz oben auf ihrer To-do-Liste.

John hatte Angebote von mehreren Gartenbauern eingeholt. Bei den Preisen, die aufgerufen wurden, hatte er schon beinahe Abstand von dem Vorhaben genommen und in Erwägung gezogen, selbst zu Heckenschere und Harke zu greifen. Bis er auf den kleinen Ein-Mann-Betrieb von Remko Petersen gestoßen war, dessen Leumund zwar nicht über jeden Zweifel erhaben war, für dessen Dienste man aber immerhin nicht gleich sein Haus verpfänden musste.

Bei dem Anblick, der sich ihm nun bot, verstand John allerdings, weshalb die Google-Rezensionen allenfalls mittelmäßig waren und Bekannte auf der Insel, mit denen er gesprochen hatte, lieber einen Bogen um den Gartenbauer machten.

Remko Petersen, ein Mann Mitte vierzig, mit hagerer Statur, grüner Latzhose und wasserstoffblondem Irokesenschnitt, stand Ben gegenüber auf dem Rasen. Das Grundstück wurde zu beiden Seiten von Sträuchern und Büschen umrandet, wobei Ben rechts Platz für ein Blumenbeet geschaffen hatte, wo seine geliebten Rosenbüsche wuchsen.

Einen davon hatte es nun erwischt.

Neben Petersens Füßen klaffte ein Loch im Boden. Der Rosenstrauch, der bei Johns Abfahrt noch dort gestanden hatte, lag mit herausgerissenen Wurzeln auf dem Gras.

Johns Anweisung hatte gelautet, die Büsche auf der linken Seite ein wenig zu stutzen, anschließend den Rasen zu mähen und Unkraut zu jäten.

»Es … tut mir furchtbar leid«, stammelte Remko Petersen, »ich dachte … also … ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf der Schweißperlen standen.

»Ich schlage vor, wir beruhigen uns jetzt alle«, machte sich John bemerkbar. »Es geht ja schließlich nur um einen Rosenstrauch.«

»Nur einen Rosenstrauch?« Ben hob ungläubig die Augenbrauen. »Dieser Kretin hier …«

»Vater!« John stemmte die Hände in die Hüften. So froh er war, dass sein Vater den Infarkt überstanden hatte, und so sehr er sich um ihn sorgte … Alles wollte er ihm nun auch wieder nicht durchgehen lassen. »Dein Herz. Komm mal wieder runter.« John ging zu dem Loch hinüber, um zu sehen, ob überhaupt ein Schaden entstanden war. Vielleicht konnte man die Rosen einfach wieder einpflanzen.

»Vergiss es«, meinte sein Vater, der den Gedanken wohl erahnte. »Er hat die Wurzeln sauber gekappt.«

Das stimmte, wie John mit einem Blick erkannte. Damit war der Strauch wohl hinüber.

Etwas anderes erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit.

John bückte sich über das Loch, das Petersen gegraben hatte. Etwas oberhalb der Stelle, wo der Rosenstrauch gestanden hatte, ragte ein weißes Plastikteil aus der Erde hervor.

»Was ist das?« Mit einer Hand schaufelte John den Dreck zur Seite und legte einen kleinen Plastikkasten frei, der an einem Stromkabel hing.

»Hm«, machte Ben, der neben ihn getreten war. »Das ist jedenfalls nicht von uns. Bestimmt von drüben. Die haben doch mal wegen dem Pool und der neuen Außenbeleuchtung hier rumgebuddelt, als wir nicht da waren.«

John legte noch ein wenig mehr von dem Stromkabel frei, das ziemlich genau auf der Grundstücksgrenze verlief, hin zu einer der Lampen, die um den Pool des Nachbargartens platziert waren.

»Ja, das scheint hinzukommen.«

»Hätten wir besser mal einen Zaun oder gleich eine Mauer gebaut«, moserte Ben. »Dann könnten die uns wenigstens nicht ständig auf den Teller glotzen.«

John erhob sich und blickte zu dem Nachbarhaus hinüber. Es wurde an Feriengäste vermietet, war neueren Baujahrs und erinnerte nur noch in Zügen an ein klassisches Friesenhaus. Das hohe Reetdach saß auf einem modernen Bungalow mit großen Fenstern. Soviel John wusste, gehörte das Haus einem Hamburger Anwalt. Im Garten hatte er nachträglich einen Swimmingpool bauen lassen, womit er offenbar den Wünschen seiner zahlungskräftigen Kundschaft nachkam. Rings um das Becken, das direkt an Johns Garten angrenzte, standen säulenförmige Außenlampen.

»Wie auch immer«, meinte Ben. »Das macht meine Rosen leider nicht wieder lebendig.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das volle graue Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, und massierte sich dann den Bart, während er Remko Petersen musterte. »Also, was schlagen Sie vor, junger Mann?«

Petersen blickte zwischen dem Loch im Boden und dem ramponierten Strauch hin und her. Der Schweiß lief ihm in langen Nasen über Stirn und Schläfen, obwohl es so warm noch gar nicht war. »Ich … kaufe Ihnen einen neuen. Natürlich berechne ich Ihnen nichts dafür.«

Ben lachte. »Na, das wäre ja auch noch schöner.«

John hörte der Unterhaltung der beiden nur mit einem Ohr zu. In dem Ferienhaus nebenan war ein Mann an die Terrassentür getreten, die nach hinten raus zum Pool führte. Er hielt sich ein Telefon ans Ohr und schien lautstark mit jemandem zu streiten. Gegen die Sonne konnte John lediglich die Silhouette hinter dem Glas ausmachen, kein Gesicht.

Als der Mann bemerkte, dass John zu ihm hinübersah, zog er rasch die Gardinen vor und verschwand von der Tür.

Ein seltsamer Kauz.

John wusste nicht genau, seit wann der Mann in dem Ferienhaus wohnte. Er selbst war mit Celine erst vor einer Woche hergekommen, doch Ben hatte wegen der Reha fast den gesamten Sommer hier verbracht, und der Mann musste das Haus eine ähnlich lange Zeit angemietet haben.

Ein Dauergast. Dazu ein sehr stiller.

Sie hörten selten einen Ton von nebenan, der Mann ließ sich nicht im Garten blicken, und wenn er den Kopf zur Tür herausstreckte, ging er nur eilig zu seinem Mietwagen, einem kleinen Elektroauto, und brauste davon.

John war dem Mann lediglich einmal über den Weg gelaufen, als er morgens vom Brötchenholen kam. Statt in sein Elektroauto zu springen, hatte er ausnahmsweise den Fußweg in den Ort eingeschlagen und nicht verhindern können, dass sie sich begegneten. John hatte im Vorbeigehen gegrüßt, darauf allerdings keine Erwiderung erhalten.

»Außerdem erwarte ich, dass Sie uns die weiteren Arbeiten, also Rasenmähen und Unkrautjäten, nicht in Rechnung stellen.« Ben sah den Gärtner erwartungsvoll an. »Aus Kulanz.«

John wollte seinen Vater mahnen, es nicht vollends zu übertreiben. Doch zu seiner Überraschung stimmte Remko Petersen anstandslos zu. »Geht klar. Ein neuer Rosenstrauch. Rasenmähen und Unkraut.«

»Bis heute Abend«, schob Ben nach.

»Vater, nun ist aber wirklich gut«, sagte John. »Ein wenig Zeit sollten wir ihm geben …«

»Er hat sich die Suppe eingebrockt, also muss er sie auch auslöffeln.«

Celine verdrehte die Augen. »Mensch, Grandpa, jetzt eskalier nicht ständig. So hübsch waren die Rosen auch nicht.«

»Ein bisschen mehr Respekt vor dem Alter, bitte.«

»Also, bevor Sie beide jetzt auch noch anfangen zu streiten …«, Remko Petersen setzte sich in Bewegung. »Ich besorg den neuen Strauch, und bis heute Abend ist er im Boden, versprochen.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.« Ben ging hinüber zur Terrasse und setzte sich in den neuen Strandkorb, der auf der rechten Seite neben dem hochgewachsenen Strandhafer stand. »Jetzt könnte ich ein Pils gebrauchen.«

»Ich auch«, sagte John. »Es gibt nämlich schlimmere Dinge als ausgerissene Rosensträucher.«

»Gödecke?«, fragte sein Vater.

»Allerdings …«

In dem Moment öffnete sich die Terrassentür, und Juri Rabanus kam heraus, Johns ehemaliger Kollege bei der Kriminalpolizei und ein weiteres Mitglied ihrer kleinen Feriengemeinschaft im alten Kapitänshaus. »John, magst du mal gerade kommen?«

»Was denn?«

»Es gibt eine Bombe zu entschärfen.«

2    Lilly

Sie tauchte das Paddel ein und machte einen kräftigen Zug. Das SUP, auf dem sie stand, schnitt durch das vom Wind gekräuselte Wasser der Flensburger Förde. Sie achtete darauf, locker in den Knien zu bleiben, so wie es ihr der Lehrer im Wochenendkurs beigebracht hatte. Es lief besser, als sie erwartet hatte. Sie hatte schon beinahe die Hälfte der Strecke zurückgelegt, die sie sich vorgenommen hatte.

Lilly Velasco, mahnte sie sich selbst, du wolltest dich entspannen und keinen neuen Rekord aufstellen.

Sie wartete, bis das überdimensionierte Surfbrett zum Stillstand kam, dann setzte sie sich hin und ließ die Beine ins Wasser baumeln.

Warum so eilig, wenn der Moment so schön sein kann.

Lilly Velasco, Erste Hauptkommissarin der Flensburger Kripo, blickte sich um. Rechts von ihr lag der Strand von Wassersleben, einem Vorort von Flensburg, der sich am Mittag mit Badegästen gefüllt hatte. Einige hundert Meter vor ihr befand sich ein kleiner Jachthafen, ihre Wegmarke, bei der sie umkehren und wieder nach Hause paddeln wollte. Links von ihr öffnete sich die Förde, auf der einige Segelschiffe ihre Bahnen zogen.

Wenn Lilly über die Schulter sah, konnte sie zwischen den Villen das kleine Haus ausmachen, das sie mit Juri und den Kindern bewohnte. Dass sie sich ein Haus in dieser Lage leisten konnten, hatten sie einzig und allein einer Tante von Juri zu verdanken, die im hohen Alter nicht mehr zurechtgekommen war. Sie hatten mit ihr getauscht, die alte Dame lebte nun glücklich in Lilly Wohnung in der Flensburger Innenstadt.

Lilly legte sich auf den Rücken und streckte die Beine auf dem Brett aus. Die Sonne stand hoch am Himmel, hatte aber schon nicht mehr so viel Kraft wie im Hochsommer.

Sie schloss die Augen und genoss die Stille. Nur der Wind und das Glucksen des Wassers.

Es war schon eine ganze Weile her, dass sie Zeit für sich gehabt hatte. Seit der Geburt von Frouke, der Tochter, die sie mit John hatte, und dem Wiedereinstieg in den Job war sie vielleicht morgens ein paar Minuten im Bad allein gewesen und dann auf der Hin- und Rückfahrt vom Präsidium. Ansonsten hatte sie entweder Mann und Kinder oder Kollegen und Kriminelle um die Ohren.

Insofern hatte sie auch Juris Vorschlag begrüßt, dass er ein paar Tage mit Frouke bei John auf Sylt verbringen könnte. Juri befand sich noch immer in Elternzeit, und John konnte sich unter seiner fachkundigen Aufsicht in der Handhabung des kleinen Wonneproppens üben. Dann könnte er vielleicht auch bald mal alleine auf Frouke aufpassen.

Oder?

In diesem Punkt war Lilly sich noch nicht sicher.

Sie hatte John lange verschwiegen, dass Frouke seine Tochter war. Über ein Jahr lang. Natürlich hatte sie ihre – guten – Gründe gehabt. Doch das schlechte Gewissen plagte sie. Nicht nur wegen John, demgegenüber sie eine gewisse Schuld verspürte. Für Kinder war es wichtig, von Beginn an eine Beziehung zu ihren Eltern aufzubauen. Und sie hatte Frouke ihren Vater vorenthalten. Natürlich hatte die Kleine davon nichts mitbekommen, aber wer wusste schon, wie sich das auswirken konnte?

Und trotz allem sträubte sich etwas in ihr bei der Vorstellung, John mit Frouke allein zu lassen.

Frouke mochte zwar ihr gemeinsames Kind sein, und Lilly wollte auch, dass sie Kontakt zu ihrem leiblichen Vater hatte. Doch nach allem, was John sich ihr gegenüber geleistet hatte, musste er sich ihr Vertrauen erst wieder verdienen. Ihre Heirat war beschlossene Sache gewesen. Sie hatte sein Kind unter ihrem Herzen getragen. Und dann war er einfach der Wünschelrute zwischen seinen Beinen gefolgt und hatte sich in eine andere verliebt, eine Mörderin noch dazu. Er hatte die Ermittlungen – in die Lilly involviert gewesen war – manipuliert und damit nicht nur die Frau mit ihrer Tat davonkommen lassen, sondern auch seine und Lillys Karrieren aufs Spiel gesetzt.

Lilly wusste noch heute, wie sich dieser Verrat gleich einem sengenden Dolch in ihr Herz gebohrt hatte.

Aber das lag hinter ihnen, redete sie sich selbst gut zu.

Sie hatte Frieden mit John geschlossen.

Deshalb hatte sie Juris Idee zugestimmt, wenn auch mehr aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus, damit sie einfach mal die Seele baumeln lassen konnte.

Juri hatte Amélie, seine Tochter aus erster Ehe, für eine Woche zu ihrer Großmutter geschickt – wogegen das Kind nichts einzuwenden gehabt hatte, immerhin gab es bei Oma immer selbst gebackenen Zitronenkuchen und jede Menge Schokolade. Dann hatte er seine Sachen gepackt und war mit Frouke nach Sylt gefahren.

Allein sein.

Nichts müssen müssen.

Ruhe.

Natürlich war das nur ein vorübergehender Zustand, ein kurzer, seltener Moment des Innehaltens im allgemeinen Chaos, das schon in wenigen Stunden wieder über sie hereinbrechen würde.

Am Abend wollte das Fernsehteam eines Privatsenders auf dem Präsidium mit ihr Aufnahmen für eine Konkurrenzsendung zu Aktenzeichen XY … ungelöst machen, die sich ebenfalls mit Cold Cases beschäftigte.

Lilly stand kurz davor, in einer solchen Sache einen Durchbruch zu erzielen, und die Methode, die dabei Anwendung fand, hatte bei den Fernsehleuten Interesse entfacht.

Sie blickte auf die wasserdichte Uhr an ihrem Handgelenk. Noch gut zwei Stunden, bis sie auf dem Präsidium erscheinen musste. Wenn sie wirklich bis zum Hafen paddeln wollte, konnte das womöglich in Stress ausarten.

Lieber noch ein wenig die Batterien aufladen.

Lilly schloss die Augen und genoss für eine Weile die Sonne. Dann machte sie sich auf den Rückweg.

Als sie an dem kleinen Kiesstrand in der Nähe ihres Hauses ankam und das Paddelbrett aus dem Wasser zog, klingelte ihr Smartphone. Sie hatte es in einem wasserdichten Beutel verpackt, also dauerte es einen Moment, bis sie es herausgeholt hatte.

Es war ihr Kollege Tommy Fitzen.

»Du kommst besser sofort auf das Präsidium«, hörte sie seine Stimme.

»Warum, sind die Fernsehfritzen schon da?«

»Nein. Aber wir haben hier ein Problem. Die Fernsehleute scheinen nicht die Einzigen zu sein, die sich für den Fall interessieren.«

Der altersschwache Aufzug im Flensburger Präsidium ruckelte hoch in die dritte Etage. Lilly nutzte die Gelegenheit, ihr Äußeres einem letzten Check zu unterziehen.

Alltagskleidung, hatte die Moderatorin der Fernsehsendung bei ihrem Kennenlerntelefonat gesagt, auf keinen Fall verkleiden, das wirkt nicht authentisch.

Lilly hatte sich für Jeans, weiße Bluse und ein blaues Jackett entschieden. Nach Tommys Anruf hatte sie sich beeilt, daher stellte sie erst jetzt im Spiegel der Aufzugskabine fest, dass das Jackett um die Hüften leicht spannte, wenn sie es zuknöpfte. Sie ließ es daher lieber offen und drehte sich einmal in jede Richtung, während sie ihr Spiegelbild musterte.

Ein Friseurbesuch hätte auch nicht geschadet. Das messingfarbene Haar hing ihr wie Schnittlauch vom Kopf. Lilly holte ein Haarband aus ihrer Handtasche und band sich schnell einen Pferdeschwanz.

Ob die vom Fernsehen sie wohl vorher schminkten?

Die Haut um ihre ausgeprägten Wangenknochen glühte von der Sonne wie eine Signalboje.

Die Aufzugtüren öffneten sich.

Mit schnellen Schritten ging Lilly über den Flur zu Laborraum Nummer zwei auf der Etage der Kriminaltechnik.

In Wahrheit hatte der Raum bislang keine Rolle bei ihrer Arbeit gespielt, doch die Fernsehleute fanden das Labor als Kulisse grandios.

Als sie die Tür öffnete, erwarteten Tommy Fitzen und Jassie Behnke sie bereits.

Tommy trug wie üblich Jeans, Sweatshirt und seine über alles geliebte Lederjacke, die ordentlich Patina angesetzt hatte. Er hielt einen Becher Kaffee in der Hand und winkte ihr damit zu. »Da bist du ja endlich.«

»Ging nicht schneller. Entschuldigt.« Sie nickte Jassie Behnke zu, die in weißem Kittel – ebenfalls auf Wunsch der Filmleute – auf einem Hocker saß.

Behnke war die Assistentin von Dr. Radke vom rechtsmedizinischen Institut in Kiel. In diesem Fall kam ihr allerdings die Hauptrolle zu. Tommy und Lilly selbst waren eher Statisten oder Erfüllungsgehilfen.

Lilly musterte das Ergebnis von Behnkes monatelanger Arbeit, das die junge Rechtsmedizinerin neben sich auf dem Labortisch abgestellt hatte. Eine Büste des Jungen, dessen Leiche vor Jahrzehnten aufgefunden worden war und dessen Mörder man bis heute nicht aufgespürt hatte. Lilly hatte die Büste bislang nur einmal in halb fertigem Zustand bei einem Besuch in Kiel gesehen.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Die sterblichen Überreste des Jungen waren in einem bedauernswerten Zustand gewesen. In anderen Fällen gab es meistens ein Gesicht, dazu eine Lebensgeschichte, was einem das Opfer nahebrachte. Hier hatte bislang beides gefehlt. Kein Gesicht, kein Name, keine Geschichte.

Das hatte sich nun geändert. Jetzt gab es ein Gesicht. Und das machte es persönlicher. Lilly spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Es war ein Kind gewesen, ein kleiner Junge, dem man Unbeschreibliches angetan hatte.

Sie räusperte sich und zwang sich zur Sachlichkeit. »Ist wirklich gut geworden.«

»Danke«, meinte Jassie Behnke. »Und Sie glauben wirklich, dass ihn jemand wiedererkennen könnte?«

Lilly hob die Schultern. »Es ist zumindest den Versuch wert. Die Sendung hat eine ordentliche Reichweite. Da schauen ein paar Millionen zu. Also, wer weiß.«

Lilly musterte das Gesicht des Jungen, das Jassie Behnke auf Basis einer Schädelreplik aus dem Computertomografen rekonstruiert hatte. Es war erst ihre zweite Arbeit dieser Art, und Lilly hatte auch nur zufällig von Behnkes Spezialgebiet erfahren, als sie im Kieler Institut einen Kaffee mit der jungen Frau getrunken hatte.

In Radkes Abwesenheit hatte sie sich ganz redselig gezeigt. Als sie ihre Fähigkeit erwähnt hatte, die Gesichter von Toten zu modellieren, hatte Lilly sofort an den alten Fall mit dem Jungen denken müssen. Die Ermittlungen waren unter anderem immer wieder daran gescheitert, dass es kein Bild von ihm gab. Als seine Leiche gefunden worden war, war der Verwesungsprozess bereits so weit fortgeschritten gewesen, dass es schon aus Pietätsgründen nicht infrage gekommen war, mithilfe eines Fotos seine Identität zu ermitteln.

Doch vielleicht würde ihnen das dank der Büste und der Fernsehsendung gelingen.

Blonder Pagenschnitt. Eine noch kindliche Stupsnase. Blaue Augen. Rundliche, volle Lippen. Eigentlich ein Allerweltsgesicht. Sie würden Glück brauchen.

»Also, was gibt es denn so Dringendes, das du mir nicht am Telefon erzählen wolltest?«, fragte Lilly, an Tommy gewandt.

»Ich hatte noch nicht alle Informationen beisammen, um die Situation korrekt einschätzen zu können«, verteidigte er sich.

»Aber jetzt bist du so weit?«

»Allerdings. Wir wurden gehackt.«

»Gehackt?« Lilly hob die Augenbrauen. »Du meinst, wie in: jemand hat sich in irgendeinen Computer gehackt?«

»Nicht in irgendeinen Computer. Jemand hat sich Zugriff auf das System des Präsidiums verschafft. Und er hatte es auf einen ganz bestimmten Datensatz abgesehen … unseren ungelösten Fall.«

»Auf unseren Jungen hier?« Lilly deutete mit einem Nicken auf die Büste.

»So ist es. Noch ist unklar, wer hinter dem Raubzug steckt. Aber derjenige hat sich alle Infos zu dem Fall heruntergezogen, auch diejenigen, die wir von der Büste fürs Fernsehen gemacht haben.«

»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Jessie Behnke. »Ich kenne mich da nicht aus. Heißt das, wir können das mit der Fernsehsendung knicken?«

»Nein«, erklärte Tommy. »Die Daten sind noch da. Es wurde lediglich eine Kopie gezogen. Außerdem haben wir dem Fernsehen ja die Fotos schon vorab zur weiteren Verarbeitung geschickt. Wir können die Aufnahme also wie geplant machen.«

Lilly zog sich einen Hocker heran. »Das Spannende ist vielmehr, dass es überhaupt jemandem gelungen ist, in unser System einzudringen. Das ist nämlich ziemlich gut gesichert. Da kommt man nur rein, wenn man ein echter Crack ist – oder wenn man über Insiderwissen verfügt und jemandem seine Passwörter klaut. Außerdem …« Ihr Blick wanderte zu der Büste. »Es ist doch verwunderlich, dass sich ausgerechnet jetzt jemand für diesen alten Fall interessiert. Für einen Jungen, dessen Identität wir noch nicht einmal kennen.«

»Ja«, stimmte Tommy zu. »Man fragt sich, wie derjenige darauf gekommen ist. Und wie hat er von der Büste erfahren …«

»… und warum braucht er unbedingt ein Foto davon?« Lilly blickte ihre beiden Mitstreiter abwechselnd an. »Vielleicht ist dieser Fall ja doch nicht so kalt, wie wir dachten.«

3    John

»Beim Entschärfen der kleinen Bombe solltest du vorsichtig sein«, erklärte Juri mit einem Schmunzeln. »Am besten ein wenig Abstand halten, allein wegen der Gasentfaltung.«

Die Sonne schien durch das Fenster herein und ließ die Narbe glänzen, die in Juris linker Gesichtshälfte von der Schläfe am Auge vorbei quer über die Wange verlief. Sein Blick war auf den Tisch vor ihm gerichtet.

»So schwierig wird’s schon nicht sein.« John fühlte sich der Aufgabe durchaus gewachsen.

»Oh«, machte Juri, »manchmal explodiert sie mitten bei der Arbeit. Dann gehst du besser in Deckung, sonst bekommst du noch was ins Gesicht.«

»Darf ich? Sonst lerne ich es nie.« John schob ihn ein Stück zur Seite und trat an den Wickeltisch.

Juri hielt ihm ein Döschen Mentholsalbe hin. »Hilft. Einfach unter die Nase …«

»Wie in der Leichenhalle? Jetzt mach mal halblang.«

»Ich spreche nur aus Erfahrung.«

John setzte ein Lächeln auf, das sofort von dem kleinen Bündel erwidert wurde, das in einer vollen Windel vor ihm auf dem Tisch lag.

Frouke.

Seine Tochter.

So ganz konnte er es noch immer nicht begreifen.

Lilly hatte ihm erst kürzlich eröffnet, dass es sich bei dem Kind, das sie vor etwa einem Jahr auf die Welt gebracht hatte, um seine Tochter handelte.

Natürlich hatte er mit seinem Verhalten selbst dazu beigetragen, dass sie mit der Wahrheit so lange hinter dem Berg gehalten hatte. Er hatte sie betrogen, indem er sich in eine Verdächtige verliebt und dazu noch die Ermittlungen manipuliert hatte. Mit den Folgen musste er leben.

Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass er dieses kleine Mädchen mit den blauen Augen, das ihn da anstrahlte, über alles liebte.

John erinnerte sich noch an den Moment, als Lilly ihm die Wahrheit eröffnet hatte. Es war auf der Terrasse hinter dem Kapitänshaus bei einem Grillfest gewesen. Er hatte mit Frouke gespielt. Lilly war dazugekommen und hatte ihm wie aus heiterem Himmel erklärt, dass es seine leibliche Tochter sei, die er da im Arm hielt.

Er hatte es nicht sofort begriffen. Doch dann hatte eine Woge puren Glücks ihn durchflutet. Ein Gefühl, so rein und stark wie noch kein anderes in seinem Leben.

Froukes Miene verfinsterte sich plötzlich wieder.

»Ja, ich weiß«, sagte John. »Das fühlt sich nicht gut an. Ich helf dir da raus.« Er wollte die Klebestreifen der Windel lösen, als sich Juri abermals zu Wort meldete.

»Noch ein Tipp, bevor du loslegst.«

»Nämlich?«

»Leg dir die neue Windel schon mal parat.«

»Ach so, ja, natürlich.« John ging zur Wickeltasche hinüber, die Juri mitgebracht hatte.

»Und lass Frouke nie allein auf dem Tisch liegen, sonst kugelt sie dir noch runter.«

»Geht klar, Herr Kommissar.« John machte sich ans Werk, nahm die alte Windel ab und begann, Frouke sauber zu machen. Juri hatte nicht übertrieben, der Gestank war fürchterlich.

»Es wäre doch schön, wenn Frouke dann bald mal alleine bei dir bleibt«, schlug Juri vor. »Was meinst du?«

»Sicher, meinetwegen gerne.«

»Ich fände das auch gut. Damit ihr zwei euch besser kennenlernt.«

»Danke.« John warf Juri einen Seitenblick zu. »Du weißt, dass ich dir das hoch anrechne …«

»Ist doch selbstverständlich.«

»Ist es nicht.«

Mit der Narbe im Gesicht, dem kantigen Kinn mit Dreitagebart, der Stoppelfrisur und der Statur eines austrainierten Boxers machte Juri auf den ersten Blick nicht den Eindruck eines warmherzigen Familienvaters.

Doch genau das war er.

Lilly und er waren noch nicht lange verheiratet, als Frouke zur Welt kam. Dennoch behandelte Juri das Kind wie sein eigenes. Vielleicht lag es daran, dass er sich genau das immer gewünscht hatte. Vater sein und sich um die Kinder kümmern. Seine erste Frau war vor vielen Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben, und seitdem war er mit ihrer gemeinsamen Tochter Amélie allein gewesen. Wegen der Arbeit hatte er nie genug Zeit für sie gehabt. Daher wusste John, dass sein Freund sich gerade im siebten Elternzeithimmel befand.

»Ich bin nicht dein Problem«, meinte Juri. »Ich würde sie dir gleich hierlassen. Aber … nun ja …«

John schloss die Laschen der frischen Windel. »Lilly.«

»Sie traut dir noch nicht wieder über den Weg.«

»Kann ich verstehen.« Er hatte vor einiger Zeit einen Versuch gemacht, sich bei ihr zu entschuldigen. Doch für eine große Versöhnung hatte es nicht gereicht. Das Misstrauen auf Lillys Seite war geblieben.

»Du solltest mal in Ruhe mit ihr reden. Ihr Vertrauen zurückgewinnen.«

»Und wie stelle ich das deiner Meinung nach am besten an?«

»Ich glaube, es würde sie sehr freuen, wenn du als Vater für Frouke da wärst und dich nicht aus der Affäre ziehst.«

»Das ist auch nicht meine Absicht … mich aus der Affäre zu ziehen. Aber wie soll ich für Frouke da sein, wenn sie mich nicht lässt?«

»Hm.« Juri schob die Unterlippe vor. »Manchmal ist das mit den Frauen … wie soll ich sagen …«

»Kompliziert.«

»Ja. Aber du wirst schon einen Weg finden.«

John zog Frouke ihren Strampelanzug wieder an und nahm sie auf den Arm. Sie bedankte sich für den gelungenen Service bei ihm mit einem süßen Giggeln, was ein behagliches Kribbeln rund um Johns Herz auslöste.

»Was hat eigentlich Gödecke gesagt?«, fragte Juri.

»Frag lieber nicht.«

»Aber er hatte doch signalisiert …«

»Ja, hatte er. Bei den Oberen ist er aber offenbar auf Granit gestoßen, was meine Rückkehr angeht. Ich vermute, da kocht irgendwas im Hintergrund, von dem ich nichts weiß.«

»Tja, da bin ich im Moment auch nicht so gut informiert. Was heißt das jetzt für dich?«

»Dass ich mir vermutlich einen anderen Job suchen muss.«

»Geh doch zurück nach Friedrichstadt.«

»Um kein Geld der Welt. Ich werde schon etwas finden. Und wenn ich mich als Privatdetektiv selbstständig mache. Ich habe Celine versprochen, dass wir in Flensburg bleiben und sie in Ruhe den Schulabschluss machen kann …«

»Ist ja interessant«, kam es von hinten. Celine hatte sich angeschlichen und lehnte mit verschränkten Armen in der Türöffnung. »Und wann wolltest du mir von deinem Gespräch mit Gödecke erzählen?«

»Ich hab ihn doch gerade erst getroffen …«

Unten klingelte es an der Tür.

Celine streckte die Arme aus, und John reichte ihr Frouke.

»Hallo, kleine Schwester, jetzt bist du wieder gut gelaunt, was?«

John ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür.

Ein Paketbote stand vor dem Haus, in der Hand einen rechteckigen Karton von der Größe eines Aktenordners. »Ich habe hier etwas für Herrn Moser.«

»Moser?«, wunderte sich John. »Den gibt es hier nicht.«

»Steht aber hier drauf.« Er drehte das Paket so, dass John den Adressaufkleber lesen konnte: Max Moser c/o John Benthien.

John schüttelte den Kopf. »Bei Benthien sind Sie hier richtig. Aber ein Max Moser wohnt nicht bei mir. Das muss ein Irrtum sein.«

Hinter ihm kamen Schritte die Treppe herunter. »Wie war noch mal der Name?«, fragte Celine, die Frouke noch immer auf dem Arm hielt.

»Moser«, antwortete der Paketbote. »Max Moser.«

Celine machte große Augen. »Oh Gott, ich wusste es. Ich wusste es! Er ist es wirklich!«

John sah den Paketboten an, der auch nur mit den Schultern zuckte. »Muss mir der Name etwas sagen?«

»Mensch, Daddy, du lebst echt hinter dem Mond. Unser stiller Nachbar nebenan. Ich hab ihn ja nur von Weitem gesehen, aber ich hatte gleich die Vermutung …«

»Du meinst den Kerl, der nicht die Tageszeit sagt?«

»Mhm.« Sie nickte.

»Also ist das Paket für nebenan«, erklärte John dem Boten.

»Könnten Sie es trotzdem annehmen?« Der Bote setzte eine flehende Miene auf, der John entnahm, dass der Mann es eilig hatte und sich den Weg gerne sparen wollte.

»Natürlich«, schaltete sich Celine ein. »Wir bringen es dann rüber.«

»Danke.«

John nahm die Sendung mit einem Seufzen entgegen, und der Bote lief zurück zu seinem Lieferwagen und fuhr so schnell davon, dass die Kieselsteine in der Einfahrt zu allen Seiten flogen.

»Lass mich das machen«, meinte Celine und wollte John Frouke anvertrauen.

»Nein«, sagte er, »ich übernehme das. Vielleicht kann der gute Herr mir erklären, weshalb seine Post bei uns landet.«

John zog sich ein Paar Schuhe an und ging mit dem Paket in der Hand hinüber zum Nachbarhaus. Eine Marmortreppe führte hinauf zum Eingang, neben dem eine moderne Gegensprechanlage mit Kameraauge angebracht war.

John klingelte und wartete. Nichts tat sich.

Er wollte es ein weiteres Mal versuchen, als er hinter sich das Surren eines Elektroautos hörte. Es hielt in der Auffahrt neben der Treppe. Ein Mann mit schwarzem Hut und grauem Vollbart stieg aus, auf der Nase eine blau getönte Brille.

»Herr Moser?«, fragte John.

Der Mann erwiderte nichts und blieb wie angewurzelt neben seinem Auto stehen. John ging zu ihm rüber.

»Benthien von nebenan.« Er deutete auf sein Kapitänshaus und winkte dann mit dem Paket. »Ich habe Post für Sie.«

Der Mann nahm die Sendung wortlos entgegen, fasste sich nur kurz an die Hutkrempe, ging dann schnellen Schrittes zum Eingang hinauf und verschwand durch die Haustür, noch bevor John etwas sagen konnte.

Äußerst charmant, dachte er, schüttelte den Kopf und ging zurück zum Kapitänshaus, wo Celine ihn mit Frouke in der Tür erwartete.

»So ein ungehobelter Zeitgenosse«, schimpfte John. »Er hat sich noch nicht mal bedankt.«

Celine lachte kurz. »Sag mal, dir ist wirklich nicht klar, mit wem du da gerade gesprochen hast, oder?«

4    Sanna

Der Autozug ratterte am späten Nachmittag in gemächlichem Tempo über den Hindenburgdamm auf Sylt zu. Auf der rechten Seite kam das Morsum Kliff in Sicht, dessen Abbruchkante in der Sonne rotbraun leuchtete. Das Wasser war bei Ebbe weit zurückgewichen, und in der Ferne machten sich von der Insel aus mehreren Gruppen von Wanderern auf den Weg ins Watt.

Staatsanwältin Sanna Harmstorf hatte das Fenster auf der Fahrerseite ein Stück weit heruntergelassen und genoss die frische Brise, die ins Wageninnere wehte. Genau das Richtige, um einen klaren Kopf zu bekommen, nachdem sie den Vormittag im stickigen Gerichtssaal verbracht hatte – um am Ende mit einer Niederlage nach Hause zu gehen.

Es war der Tag der Urteilsverkündung gewesen. In einem aufsehenerregenden Fall. Norbert Sonnekamp, Staatsdiener im Flensburger Umweltamt, musste sich Bestechlichkeit vorwerfen lassen, und das in mehreren Fällen. Die Beweislage war sonnenklar gewesen, und die Medien hatten lange vor dem offiziellen Urteilsspruch über den Mann gerichtet.

Vorschnell, wie sich gezeigt hatte.

Am Vergehen des Mannes bestand kein Zweifel.

Doch der Richter hatte Sannas Forderung nach einer saftigen Geldbuße und einer Freiheitsstrafe auf Bewährung abgelehnt. Mit der Begründung, dass die Ermittlungsbeamten bei der Sicherstellung der Beweise Formfehler begangen hatten.

Sanna hatte noch jetzt die Szene vor Augen, wie der Beklagte, ein dicklicher Glatzkopf, nach dem Freispruch feixend aufgesprungen, seinen Anwalt umarmt und eine Faust zum Sieg in die Luft gestreckt hatte.

In normalen Zeiten hätte sie sich damit trösten können, dass der Ruf des Mannes ohnehin ruiniert war. Heutzutage sah das anders aus. Er hatte vor dem Gerichtsgebäude gleich damit angefangen, sich vor laufenden Fernsehkameras als Opfer von staatlicher Willkür zu inszenieren.

Was den Fall für Sanna besonders ärgerlich machte, war ihre persönliche Situation.

Nach ihrem Fehlverhalten bei einem der letzten Ermittlungsverfahren, die sie geleitet hatte, war ihr Leumund bei der Staatsanwaltschaft angeknackst. Ein Erfolg hätte ihr gut zu Gesicht gestanden.

Sanna schaltete das Autoradio ein, fuhr die Lehne ihres Sitzes zurück und versuchte, sich zu entspannen und die letzten Minuten der Fahrt zu genießen.

Vergiss das alles für eine Weile. Komm runter.

Sie hatte sich den Nachmittag und den Rest der Woche freigenommen, um bei ihrer Schwester Jaane zu sein.

Jaane wohnte in Munkmarsch in dem kleinen Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatten. Sie hatte heute Geburtstag, und Sanna hatte ihr versprochen vorbeizuschauen. Warum dann nicht gleich ein paar Tage auf der Insel verbringen, hatte sie sich gedacht.

Obwohl Jaane alles war, was ihr von ihrer Familie geblieben war, hatte Sanna ihre Schwester in letzter Zeit vernachlässigt. Die Arbeit war ihr wichtiger gewesen. Und das hatte Konsequenzen gehabt, für sie beide.

Auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit hatte Jaane sich einer sektenähnlichen Gemeinschaft angeschlossen, einer Freikirche. Ausgerechnet dort hatten Sanna ihre Ermittlungen hingeführt. Sie hätte ihre Befangenheit sofort aufdecken müssen, was sie aber nicht getan hatte.

Der Generalstaatsanwalt hatte es bei einer Rüge belassen, mit dem deutlichen Hinweis, dass sie fortan unter Beobachtung stünde.

So weit das Berufliche.

Privat hatte Sanna sich vorgenommen, Jaane nicht noch einmal derart aus den Augen zu verlieren. Im Erwachsenenalter hatte man das Borderlinesyndrom bei ihrer Schwester diagnostiziert. Eine labile Persönlichkeit, die ein stabiles Umfeld brauchte, das ihr Halt gab.

Nach der Eskapade mit der Freikirche war Sannas erste Maßnahme ein gemeinsamer Urlaub gewesen. Zwei Wochen Schottland mit dem Auto. Edinburgh, die Highlands und ein Abstecher auf die Isle of Sky. Einsame Landschaften. Nebel. Ruhe. Schafe. Die eine oder andere Whiskyprobe.

Die gemeinsame Zeit hatte ihnen beiden gutgetan.

Doch danach hatte die Arbeit Sanna voll unter Beschlag genommen. Seit ihrem letzten Besuch bei Jaane waren nun schon wieder einige Wochen vergangen.

Der Zug erreichte den Bahnhof Westerland und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen.

Sanna ließ den Motor an und fuhr hinter den anderen Autos im Schritttempo von der Rampe. Die letzte Woche der Sommerferien war angebrochen, und in den Straßen der Stadt wimmelte es von Urlaubern.

Vom Bahnhof aus folgte sie der Keitumer Landstraße, vorbei am Flughafen, wo gerade eine Maschine der Inselfluglinie abhob.

Am Ortseingang Keitum wollte Sanna im Kreisverkehr auf die Munkmarscher Chaussee einbiegen, doch die Fahrbahn wurde von einem Streifenwagen und einem Absperrgitter blockiert.

Sanna fuhr rechts ran, ließ zunächst die hinter ihr kommenden Wagen passieren, stieg dann aus und ging zu den beiden Uniformierten hinüber, die einem Ehepaar mit einem Mietwagen gerade die Umgehung erklärten.

»Bitte steigen Sie wieder in Ihren Wagen«, sagte der Größere der beiden, ein Mann mit schwarzem Vollbart. »Die Straße ist leider gesperrt …«

»Das sehe ich.« Sanna zeigte ihm ihren Ausweis. »Ich muss nach Munkmarsch.«

Der Bärtige hob die Schultern. »Tut mir leid, Frau Staatsanwältin. Von Norden aus ist zwar auch abgesperrt, aber sie kommen näher an den Ort ran. Dann können Sie den Wagen stehen lassen und zu Fuß weiter. Nach Munkmarsch ist es von der Sperrung aus nicht mehr weit.«

»Ich habe den Kofferraum voller Gepäck«, Sanna deutete auf ihren Wagen. »Soll ich das quer durch den Ort schleppen? Was ist hier überhaupt los?«

»Filmaufnahmen.«

»Und deshalb riegeln Sie den ganzen Ort ab?«

»Ist eine größere Sache. Und es ist ja auch nur für ein paar Stunden.«

Der zweite Streifenpolizist hatte die Urlauber abgefertigt und kam nun zu ihnen herüber. Er zeigte sich etwas konzilianter als sein Kollege. »Wir können Sie natürlich durchlassen. Aber dann kommen Sie auch nur bis zur zweiten Absperrung direkt vor dem Ortseingang.«

»Immerhin bin ich meinem Ziel so etwas näher.« Die Straße, die zu Jaanes Haus führte, zweigte direkt am südlichen Ortseingang von Munkmarsch in die Dünen ab. Vielleicht konnte sie die Sperre doch umfahren, und ansonsten war der Fußweg definitiv kürzer. »Ich versuche mein Glück.«

Der Polizist wies seinen bärtigen Kollegen an, das Absperrgitter zur Seite zu räumen.

Sanna stieg wieder in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr weiter, nicht ohne den Uniformierten mit einem kurzen Wink zu danken.

Die weitere Fahrt erinnerte sie an Schottland. Sie war alleine auf der Straße. Nur das Wattenmeer auf der rechten Seite, links Heidelandschaft, mittendrin ein Leuchtturm und eine Weide, auf der eine Schafsherde graste.

Sie kam tatsächlich nur bis kurz vor den Ortseingang von Munkmarsch. Dort stand wieder ein Absperrgitter, davor ein Streifenwagen. An einem Kotflügel lehnte mit verschränkten Armen eine alte Bekannte, Soni Kumari, die Chefin der Inselpolizei. Sanna hatte vor einiger Zeit bei einem Fall mit ihr zusammengearbeitet.

Hinter dem Absperrgitter parkten mehrere Lastwagen, dazwischen befand sich eine Art Imbissstand, wo Filmleute einen Kaffee tranken. Sie trugen Arbeitskleidung, einige waren mit Headset und Funkgerät ausgestattet, andere hatten Werkzeuggürtel um die Hüften. Unzählige Kabel verliefen über dem Boden und führten zu dem etwas weiter dahinter gelegenen Drehort, von dem nur ein Kranwagen zu sehen war, auf dessen Ausleger ein Mann mit einer Kamera saß.

Soni Kumari hatte Sannas Wagen bemerkt. Sie wandte sich der Straße zu und kam ihr mit erhobener Hand entgegen.

Sanna hielt an und stellte den Motor aus.

»Sie können hier nicht durch«, hörte sie die Stimme der Inselpolizistin durchs offene Fenster. »Wie kommen Sie überhaupt …«

»Guten Tag, Frau Kollegin«, sagte Sanna beim Aussteigen.

»Oh … Frau Staatsanwältin. Entschuldigen Sie, ich hab Sie nicht gleich erkannt.« Kumari hatte die schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine Sonnenbrille.

»Ist ja auch schon eine Weile her. Ich habe Ihre Kollegen in Keitum so lange beschwatzt, bis sie Erbarmen mit mir hatten.« Sanna deutete auf die schmale Straße, die hinter den Lastwagen in die Dünen führte. »Ich wollte meiner Schwester einen Besuch abstatten. Sie hat heute Geburtstag.«

»Ich fürchte, da muss ich Ihnen die Party verderben. Hier ist wirklich kein Durchkommen. Die sind mitten im Dreh.«

»Und wenn ich mich vorsichtig durchschlängele? Ich muss gar nicht in den Ort rein. Meine Straße geht gleich da vorne ab.«

»Genau dort wird ja gedreht. Das geht also leider wirklich nicht.«

Sanna seufzte. Sie wünschte, ihre Schwester hätte sie vorgewarnt. »Wie lange wird das denn hier dauern?«

»Schwer zu sagen …« Kumari wandte sich nach dem Kamerakran um. »Die sind schon eine ganze Weile zugange. Eigentlich wird hier nur eine Szene gedreht. Hätte nicht gedacht, dass das so lange dauert.«

»Bei meinem Glück sind die bestimmt noch heute Abend dran. Wie wäre es, wenn ich den Wagen an der Seite parke und mich dann zu Fuß durchschlage?«

»Klar, das können Sie machen. Lassen Sie mir Ihre Handynummer da, dann schicke ich Ihnen eine Nachricht, wenn die fertig sind.«

»Gerne.« Sanna diktierte ihr die Nummer und wollte schon um die Absperrung herumgehen, als Kumari sie erneut aufhielt.

»Moment.« Sie verschwand hinter dem Gitter und ging zu einem der Filmleute hinüber, der auf einem Klappstuhl saß und einen unterbeschäftigten Eindruck machte. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand studierte er die Zeitung. Kumari sprach kurz mit ihm und ließ sich etwas aushändigen. Dann kam sie zurück. »Hier, tragen Sie den, dann gibt es keine Fragen.«

Sie reichte Sanna einen Besucherausweis, den sie sich an das Revers ihres Jacketts klemmte. Nach der Gerichtsverhandlung war sie nur kurz zum Hausboot gefahren, das sie im Flensburger Hafen bewohnte, und hatte das Nötigste zusammengepackt. Aufs Umziehen hatte sie verzichten müssen, sonst hätte sie ihren Zug in Niebüll nicht mehr erwischt.

Sanna machte sich auf den Weg.

Zwischen den geparkten Lastwagen herrschte emsiges Treiben. Die Leute gingen zügig, aber unaufgeregt ihrer Arbeit nach. Bei einem der Trucks stand die Tür offen, und Sanna konnte im Vorbeigehen eine Reihe von Spiegeln und Stühlen erkennen. Auf einem von ihnen saß eine Frau, die gerade geschminkt wurde.

Sannas Weg endete bei einem Schienenstrang, der provisorisch auf der Straße verlegt war. Augenscheinlich fuhr der Kamerakran darauf. Er wurde gerade in Position gebracht, nur wenige Meter von der Straße entfernt, die Sanna zu ihrem Ziel führen würde.

Während sie im Gehen die Arbeiten der Filmcrew beobachtete, stieß Sanna plötzlich mit jemandem zusammen. Sie stolperte und landete der Länge nach auf dem Asphalt.

»Ach, verdammt!«, hörte sie über sich jemanden fluchen.

Als sie aufblickte, sah sie eine Frau in Jeans, knallrotem T-Shirt und Joggingschuhen. Sie trug eine Baseballkappe, die sie sich tief ins mit Sommersprossen übersäte Gesicht gezogen hatte. Feuerrote Haare lugten unter der Mütze hervor.

Die Frau rückte das Headset zurecht, das ihr halb vom Kopf gerutscht war. In der einen Hand hielt sie ein Klemmbrett, mit der freien griff sie nach dem Funkgerät an ihrem Gürtel. »Wir sind so weit. Versuchen wir es noch einmal.«

Erst dann wandte sie sich Sanna zu. »Haben Sie sich verletzt?«

Sanna rappelte sich auf und blickte an sich herunter. Ihr Jackett hatte ein wenig Schmutz abbekommen, doch die Knie ihrer Hose waren zerlöchert.

»Na, schöne Bescherung«, sagte die Frau. »Den Fummel können wir vergessen. Sie sollten vorsichtiger sein, das Zeug ist teuer. Und wir haben nicht allzu viele davon im Kostümfundus …« Die Frau verstummte, als ihr Blick auf Sannas Besucherausweis fiel. »Tut mir leid. Sie gehören nicht zu uns. Sind Sie von der Presse oder so was?«

»Nein«, erwiderte Sanna, »ich möchte nur meine Schwester besuchen. Sie wohnt gleich dort drüben.« Sie deutete auf die Straße zu den Dünen.

»Da müssen Sie einen Moment warten. Wir drehen jetzt. Sie können danach weiter.« Sie fasste mit einer Hand an das Headset. »Ah, okay, es geht jetzt los. Kommen Sie hier rüber, dann stehen wir nicht im Weg.«

Sie schob Sanna vor sich her bis zu einer Gruppe von mehreren Leuten, die sich unweit des Kamerakrans versammelt hatten. Einer von ihnen, ein Mann mit Schiebermütze und Stahlgestellbrille, setzte sich gerade in einen Regiestuhl. Er trug einen hellen Tweedanzug. Auf der Rückenlehne seines Stuhls stand ein Name geschrieben: G. McQueen.

»Loki Mossby.« Die Frau streckte Sanna die Hand hin. »Ich bin die leitende Produzentin.«

»Sanna Harmstorf.« Sie erwiderte den Handschlag.

»Sorry für die Unannehmlichkeiten. Wir sind hier bald fertig.«

»Kein Problem. Ich komme nicht jeden Tag an ein Filmset.«

»Ja, am Anfang finden die Leute das immer ganz spannend. Aber irgendwann gehen wir ihnen nur noch auf den Zeiger, weil wir ihren Alltag durcheinanderbringen. Ich wette, das wird hier auf der Insel nicht anders sein. Vor allem mitten in den Sommerferien. Das verdanken wir unserem wunderbaren …«

Der Mann im Tweedanzug nahm ein Megafon zur Hand. »Ruhe! Und … Action!«

Sanna hörte den Motor eines Autos aufheulen.

Loki Mossby deutete mit ausgestrecktem Finger auf die Hauptstraße und flüsterte: »Dort spielt die Musik.«

Mit quietschenden Reifen kam ein SUV um die Ecke geschossen. Sein Heck wedelte wild nach links und rechts, bis der Fahrer den Geländewagen wieder eingefangen hatte. Er beschleunigte kurz weiter, kam dann vor einem der letzten Häuser von Munkmarsch zum Stehen.

»Cut … Cut!«, rief der Regisseur. »Well done!«

Ohne dass er weitere Anweisungen geben musste, kletterte der Fahrer aus dem Wagen, und eine junge blonde Frau stieg stattdessen ein. Sie trug eine schmutzige Cargohose und ein Rippshirt, das ihre trainierten Arme betonte. Sanna wünschte, sie hätte auch nur ansatzweise eine solche Figur wie die Frau.

Als sie hinter dem Steuer saß, schloss sie die Tür und reckte den Daumen durchs offene Fenster.

Der Regisseur griff abermals zum Megafon. »Okay, Ladies and Gentlemen, alle auf Position. Ruhe!« Er sprach mit englischem Akzent. »Und … Action!«

Die Frau im Rippshirt stieß die Fahrertür des Geländewagens auf und sprang heraus. Hatte sie eben noch völlig entspannt gewirkt, machte sie nun einen ebenso wütenden wie gehetzten Eindruck. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Dann langte sie in den Wagen hinein und zog zu Sannas Überraschung eine Armbrust hervor.

Derart bewaffnet, stürmte sie mit entschlossenen Schritten auf das Haus zu, vor dem der SUV zum Stehen gekommen war.

In diesem Moment trat ein Mann aus der Haustür. Ein hagerer Kerl mit knochigen Wangen und wirrer grauer Mähne. Er trug einen Anzug und hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Nachdem er die Haustür abgeschlossen hatte, stieg er die Stufen des Eingangs hinunter und blieb wie angewurzelt stehen, als er die Frau sah, die mit der Armbrust auf ihn zugestürmt kam.

»Du …«, stammelte er.

»Ja, du siehst richtig, ich bin es, du Dreckskerl!«, spie sie ihm entgegen. Sie blieb wenige Meter vor ihm stehen und zielte mit der Waffe auf seine Brust.

»Aber … nein … Ich verstehe nicht, was das soll.« Er schüttelte den Kopf und stellte den Aktenkoffer ab.

»Doch, du verstehst ganz genau. Du weißt, was du getan hast, Mistfliege! All die Jahre hast du es gewusst. In deinem Innern! Und nun, da der Tag sich jährt, ist sie gekommen … die Zeit … die Zeit der Abrechnung!«

In dem schmalen, knochigen Gesicht des Mannes zeigte sich pure Angst. »Aber du kannst doch nicht … nicht hier, auf offener Straße, am helllichten Tag. Ich habe Frau und Kinder. Bitte erbarme dich!«

Er fuhr sich zunächst mit der Hand durch das graue Haar, dann griff er in sein Jackett.

»Das hättest du dir vorher überlegen sollen«, zischte die Frau. »Deine Hure und deine … deine …« Die Frau stockte. »Deine Hure und deine Gören sind als Nächste dran.«

Der Mann machte einen Schritt zur Seite und zog blitzschnell die Hand aus dem Jackett. Eine kleine Pistole lag darin. Er zielte damit auf die Frau und drückte ab.

Nichts geschah.

Der Mann betätigte erneut den Abzug.

Wieder nichts.

Er warf die Waffe wutentbrannt auf den Boden. »So eine Kacke! So eine verdammte Kacke! Nichts funktioniert hier!«

Vor Sanna stieß der Regisseur einen nicht zu überhörenden Seufzer aus und stand auf. Entnervt rief er: »Cut!«

Der Mann mit der grauen Mähne stürmte auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. »Mit euch verfluchten Amateuren kann man nicht zusammenarbeiten! Diese dusselige Kuh kann sich ihren Text nicht merken.« Er zeigte auf die Frau im Rippshirt, die entschuldigend die Hände hob. »Und wer hat eigentlich diese Scheißdialoge verbrochen? Ich hab dir schon mal gesagt, dass das Mist ist. So spricht doch kein Mensch. Und … warum drehen wir die Scheißszene überhaupt am helllichten Tag? Das muss bei Nacht spielen. Im strömenden Regen. Das soll doch dramatisch sein, oder etwa nicht? Wir sind doch nicht bei der Sesamstraße!«

»Calm down«, versuchte es der Regisseur und stand auf. »Beruhig dich, Klaus. Komm wieder runter, und dann versuchen wir es noch mal.«

»Noch mal?« Der Schauspieler raufte sich die Haare, die nun noch wilder von seinem Kopf abstanden. »Du kannst den Scheiß noch tausendmal drehen, und es wird nicht besser. Was soll das mit der Armbrust? Wo kommt die plötzlich her?«

»Wir haben doch schon darüber gesprochen. Wenn ich nichts von Max bekomme, muss ich das Drehbuch schreiben … Ich kann auch nur frei improvisieren.«

»Soll ich dir was sagen?« Der Grauhaarige stand dem Regisseur nun Auge in Auge gegenüber. »Du kannst es einfach nicht! Du schreibst dir da einen gehörigen Mist zusammen. Holt mir Max her. Er wollte den neuen Entwurf doch schon längst fertig haben.«

Der Regisseur wandte sich langsam um. Sein Blick wanderte zu Loki Mossby, die neben Sanna schweigend die Schultern hob und den Kopf schüttelte.

»Hör zu, Klaus«, versuchte es der Regisseur wieder mit seinem Star. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Er arbeitet am Skript. Wir müssen ihm Zeit lassen und ihm vertrauen. Am Ende wird sich alles zusammenfügen.«

Der Grauhaarige machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ihr könnt mich alle mal. Ich geh zurück ins Hotel und besauf mich. Wenn ihr Max ans Set kriegt oder er das neue Drehbuch endlich komplett hat, könnt ihr mich holen kommen. So macht der ganze Mist doch keinen Sinn!«

Er drängte sich an dem Regisseur vorbei und rempelte ihn dabei derart mit der Schulter an, dass der arme Mann rückwärts in seinen Regiestuhl stolperte.