Zornige Flut - Sabine Weiß - E-Book

Zornige Flut E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Sein oder nicht sein? Ein neuer Fall bringt Liv Lammers an ihre Grenzen


Nach einem nächtlichen Brand in ihrem Haus ist Kriminalkommissarin Liv Lammers gerade erst in den Dienst zurückgekehrt, als sie nach Sylt gerufen wird. Ausgerechnet einer ihrer Kollegen hat in einer Fastenklinik bei Archsum einen menschlichen Schädel gefunden. Die Verletzungsspuren sprechen für einen gewaltsamen Tod, doch es erscheint nahezu unmöglich, den Schädel einem Vermisstenfall zuzuordnen. Oder handelt es sich bei dem Opfer etwa um eine bekannte Sylter Galeristin, die sich seit Monaten nicht bei ihren Freunden gemeldet hat? Noch während sie und ihre Kollegen von der Flensburger Mordkommission ermitteln, entgeht Liv einem erneuten Unfall nur knapp. Ein furchtbarer Verdacht kommt auf: Versucht jemand, die Aufklärung des Falls zu verhindern? Oder hat es jemand auf Livs Leben abgesehen?


Hochspannung auf Deutschlands beliebtester Insel - Liv Lammers ermittelt in ihrem 7. Fall auf Sylt

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Inhalt

Cover

Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog Flensburg, 6. Oktober, 0:25 Uhr

1 Sylt, Archsum, 12. Oktober, 23:05 Uhr

2 Kiel, 13. Oktober, 7:25 Uhr

3 Sylt, 12:59 Uhr

4 Archsum, 16:12 Uhr

5 Westerland, 18:30 Uhr

6 Westerland, 14. Oktober, 7:45 Uhr

7 Westerland, 14:30 Uhr

8 Wenningstedt, 15. Oktober, 8:38 Uhr

9 Flensburg, 18. Oktober, 9:55 Uhr

10 Kiel, 17:55 Uhr

11 List, 20. Oktober, 15:00 Uhr

12 Flensburg, 22. Oktober, 7:25 Uhr

13 Flensburg, 9:55 Uhr

14 Rantumbecken, 23. Oktober, 9:08 Uhr

15 Westerland, 24. Oktober, 7:55 Uhr

16 Kampen, 12:55 Uhr

17 Hörnum, 16:01 Uhr

18 Westerland, 25. Oktober, 8:25 Uhr

19 Flensburg, 26. Oktober, 9:11 Uhr

20 Westerland, 27. Oktober, 7:40 Uhr

21 Kampen, 17:05 Uhr

22 Munkmarsch, 22:35 Uhr

23 Westerland, 28. Oktober, 8:45 Uhr

24 Westerland, 14:05 Uhr

25 Niebüll, 29. Oktober, 9:55 Uhr

Epilog Flensburg, 3. November, 18:45 Uhr

Anmerkungen und Dank

Über das Buch

Sein oder nicht sein? Ein neuer Fall bringt Liv Lammers an ihre Grenzen Nach einem nächtlichen Brand in ihrem Haus ist Kriminalkommissarin Liv Lammers gerade erst in den Dienst zurückgekehrt, als sie nach Sylt gerufen wird. Ausgerechnet einer ihrer Kollegen hat in einer Fastenklinik bei Archsum einen menschlichen Schädel gefunden. Die Verletzungsspuren sprechen für einen gewaltsamen Tod, doch es erscheint nahezu unmöglich, den Schädel einem Vermisstenfall zuzuordnen. Oder handelt es sich bei dem Opfer etwa um eine bekannte Sylter Galeristin, die sich seit Monaten nicht bei ihren Freunden gemeldet hat? Noch während sie und ihre Kollegen von der Flensburger Mordkommission ermitteln, entgeht Liv einem erneuten Unfall nur knapp. Ein furchtbarer Verdacht kommt auf: Versucht jemand, die Aufklärung des Falls zu verhindern? Oder hat es jemand auf Livs Leben abgesehen? Hochspannung auf Deutschlands beliebtester Insel – Liv Lammers ermittelt in ihrem 7. Fall auf Sylt

Weitere Titel der Autorin

Historische Romane

Hansetochter

Das Geheimnis von Stralsund

Die Feinde der Hansetochter

Die Tochter des Fechtmeisters

Die Arznei der Könige

Die Perlenfischerin

Der Chirurg und die Spielfrau

Krone der Welt

Gold und Ehre

Blüte der Zeit

Aus der Reihe um Liv Lammers

Schwarze Brandung

Brennende Gischt

Finsteres Kliff

Blutige Düne

Tödliche See

Düsteres Watt

Viele Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitete nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. Seit 2007 veröffentlicht sie erfolgreich Historische Romane, seit 2016 zusätzlich Krimis um Kommissarin Liv Lammers und ihr Team. Mit deren Fall DÜSTERES WATT gelang ihr 2022 der lang verdiente Sprung auf die Bestsellerliste. Wenn Sabine Weiß nicht auf Recherchereise für ihre Bücher ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn bei Hamburg.

SABINEWEISS

ZORNIGEFLUT

Sylt-Krimi

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Dr. Stefanie Heinen Covermotive: © Achim Thomae / gettyimages; © Bildagentur Zoonar GmbH/shutterstock Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4251-1

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Prolog

Flensburg, 6. Oktober, 0:25 Uhr

Die Bettdecke klebte an ihrer Haut. Sanna strampelte sich frei, reckte die Arme über den Kopf, sodass ihr nass geschwitzter Körper abkühlen konnte. Es war einfach viel zu warm für Oktober! In ihren Schläfen stach es wie mit Nadeln. Woher kam dieser Kopfschmerz? Hatte sie schief gelegen oder zu lange auf ihr Handy gestarrt, wie ihre Mutter es ihr immer wieder vorwarf? Aber die wusste ja nicht, welche wichtigen Aufgaben sie bis in die Nacht hinein wach hielten. Gerade jetzt, in den Ferien.

Im Haus war es still. Und doch war etwas anders. Sannas Hand wanderte über die Bettkante, erreichte den Teppich. Zorro war nicht da. Ihr Hund musste unbemerkt hinausgetrottet sein. Sie verkroch sich unter der Decke. Obgleich der schreckliche Vorfall jetzt ein Jahr her war, hatte sie es noch immer gern, wenn ihr Hund vor ihrem Bett schlief. Nicht, dass die Angst sie in dem alten Kapitänshaus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter lebte, je gepackt hätte. Drei Generationen Lammers unter einem Dach, drei starke Frauen – einen schützenderen Hafen konnte es nicht geben. Auch sie selbst war stark, das wusste Sanna. Und doch gab es einen Riss in ihrem Nervenkostüm, den sie nicht geflickt bekam.

Das Stechen nahm zu. Sie massierte sich die Schläfen, fühlte sich zu schlapp, um eine Kopfschmerztablette zu holen. Gesundschlafen würde sie sich, wie sie es als Kind schon getan hatte.

Gerade wollte Sanna sich wieder die Bettdecke über ihren Kopf ziehen und einkuscheln, als ihr siedend heiß klar wurde, was nicht stimmte. Adrenalin flutete ihren Körper. Dieser Geruch! Rauch! Irgendwo brannte es!

Sie sprang aus dem Bett, packte ihr Smartphone.

»Mam!« Ihr Schrei klang dünn. Schon riss Sanna die Tür auf, wollte zu Livs Zimmer stürzen. Das orangerote Flackern auf der schmalen Treppe bremste sie. Im Erdgeschoss brannte es! Und das Feuer war schon groß!

Panik erfasste sie. Wo war Zorro? Wieder schrie sie. Wenigstens war ihre Großmutter nicht im Haus.

Livs Schlafzimmertür flog auf. Die Haare ihrer Mutter waren wirr, unter dem weiten Ramones-Shirt staksten lang und nackt die Beine heraus. Sanna sah, wie in ihr sofort die Polizistin übernahm. Nicht umsonst arbeitete Liv für das K1, die Mordkommission der Polizeidirektion Flensburg. »Du rufst die Feuerwehr! Ich schnappe mir den Feuerlöscher an der Kellertreppe!«

»Die Flammen sind schon ganz nah!«

»Ich passe auf mich auf.« Liv sah ihr fest in die Augen, berührte zart ihre Wange, sprang im nächsten Augenblick die Stufen hinunter.

»Zorro muss unten sein!«, rief Sanna ihr nach.

Auf ihrem Display tauchte das Verbindungssymbol auf. Als Sanna sich zu Wort meldete, war ihre Mutter bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden.

***

Am Fuß der Treppe schlug Liv Hitze entgegen. Die Küche brannte lichterloh. Hatten Sanna oder sie den Herd oder eine Kerze angelassen? Auszuschließen war es nicht, obgleich sie sicher war, vor dem Zubettgehen alles noch einmal kontrolliert zu haben. Von oben hörte sie ihre Tochter telefonieren. Gut, dass Sanna den Brand bemerkt hatte. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie weitergeschlafen hätten! Oft genug hatte Liv die Leichen derjenigen gesehen, die an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben oder gar verbrannt waren.

Sie riss den Feuerlöscher aus der Verankerung, entfernte die Sicherung, hämmerte auf den Schlagknopf. Die Flammen hatten bereits die Teppiche erfasst, züngelten die Wände hoch, fraßen Sannas Kinderzeichnungen, jugendliche Kunstwerke und ihre eigenen Konzertplakate. Schaum spritzte aus dem Feuerlöscher, viel zu wenig, um das Feuer zu ersticken. Gegen die Flammen war der kleine Hausfeuerlöscher machtlos.

Panische Rufe von oben. Sanna! Sie mussten raus hier, so schnell wie möglich. Livs Blick scannte das Erdgeschoss. Der Weg zur Haustür war durch den Brand versperrt, und auch zur Terrasse hin loderte Feuer, was Liv ihre Theorie von der vergessenen Herdflamme in Zweifel ziehen ließ. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn sie sich beeilten, würden sie es noch in den Garten schaffen.

Sie sprang die Treppe hoch. Ihr Puls hämmerte in ihren Adern, Painkiller von Judas Priest röhrte in ihren Ohren, hundertdrei Beats per Minute. Verdammt – das Schlagzeug! Würde es im Keller ein Raub der Flammen werden? Aber was zählte jetzt Besitz – sie mussten ihr Leben retten!

Der Rauch wurde dichter. Livs Hals kratzte, sie hustete. »Wir brauchen nasse Decken! Ich hole nur schnell die Dokumententasche!«

Sanna starrte sie panisch an. »Zorro! Wo ist Zorro?«

Den Mischling hatte Liv nicht gesehen. Warum hatte der Hund den Brand nicht bemerkt, nicht angeschlagen? Und warum hatten die Rauchmelder versagt? »Den finden wir schon! Mach jetzt!«

Liv zerrte die feuerfeste Tasche aus dem Schrank, brachte Klamottenstapel ins Wanken, die auf sie niederprasselten, stieß sich den Fuß am Bettpfosten, fluchte. Im Flur warf Sanna ihr eine tropfnasse Decke zu; sie selbst trug eine als Umhang.

Die Treppe hinunter. Hitze auf ihrer Haut. Es war so heiß, dass ihre Haare sich bald kräuseln mussten. Gestank von schmurgelndem Plastik. Kopfschmerz pochte in ihren Schädel. Der Weg zur Terrasse war von Flammen versperrt, bis zur Zimmerdecke reckten sie sich. Das Bücherregal loderte hell, krachte gegen den Sessel, in dem Elise so gern strickte. Er fing sofort Feuer. Gut, dass ihre Großmutter nicht zu Hause war! Eigentlich wären auch Sanna und sie unterwegs gewesen – wären ihre Freunde nicht krank geworden. Der Gedanke ließ sie erstarren. Glas knackte, splitterte. »Wir müssen wieder hoch, aus dem Dachfenster! Nun mach schon!«

»Da!« Sanna stürzte auf das Sofa zu, das ebenfalls in Flammen stand.

Liv packte den Arm ihrer Tochter, riss sie zurück. »Bist du verrückt?«

»Zorro!« Ein Hustenanfall schüttelte Sanna.

Jetzt sah auch Liv es. Zorro lag unter dem Couchtisch, um seine Schnauze reflektierte eine Pfütze das flackernde Licht.

»Er atmet! Ich sehe es!«, rief Sanna panisch.

»Ab nach oben! Raus aufs Dach! Ich hole ihn!«

»Versprich es!«

Liv nickte. Ihre Tochter rannte hoch, blickte sich noch einmal um. »Raus mit dir!«, schrie Liv. Von draußen meinte sie das Heulen der Sirenen zu hören. Aber die Straßen im steil am Fördeufer gelegenen Kapitänsviertel waren eng, und wenn nur ein einziges Auto den Weg versperrte …

Zorro zu holen war Wahnsinn. Bei einem Brand sollte man die Wohnung so schnell wie möglich verlassen. Das wusste jeder. Gleichzeitig blitzte in ihr auf, wie sie den halb verhungerten Mischling im Urlaub adoptiert hatten, wie glücklich Sanna und Elise mit ihm spielten oder trainierten, wie er seinen Kopf vertrauensvoll auf ihre Knie legte. Nein, er war ein Familienmitglied. Sie konnte ihn nicht zurücklassen.

Entschlossen zog Liv die nasse Decke enger um sich und warf sich den Flammen entgegen.

1

Sylt, Archsum, 12. Oktober, 23:05 Uhr

Ein Knurren durchschnitt die Nacht. Er zuckte zusammen, krümmte sich. Neben ihm jaulte es. Stöhnend stemmte er sich hoch. Mit einem erschrockenen Kläffen wachte auch Pinky auf. Sein Hund hatte geträumt, wieder einmal.

»Sch!«, zischte KP, wie Karlpeter Botersen-Evers sich selbst nannte. »Du weißt doch, was der Fastengockel über ungezogene Hunde gesagt hat!«

Der Terrier zuckte mit den Ohren, legte den Kopf dann schief – ein Anblick, der ihn, den gefürchteten Chef der Kriminaltechnik der Polizeidirektion Flensburg, sonst immer zum Schmelzen brachte. Heute aber war seine Laune auf dem Tiefpunkt. Dabei hatte er gedacht, es könnte nicht noch schlimmer werden. Doch es kam schlimmer. Jeden Tag aufs Neue. Wenn er morgens Dr. Daniel Xanthen, den Leiter der Fastenklinik mit dem perlweißen Lächeln, den gezupften Augenbrauen und der durchtrainierten Figur, traf, würde er jedes Mal am liebsten verduften. Wie mitleidig der Doktor ihn ansah, wenn er vor ihm herumstolzierte! Ganz nach dem Motto: Bei Ihnen ist ohnehin Hopfen und Malz verloren.

Mühsam kam KP auf die Füße. Seine Knie waren weich wie Pudding, ihm war schwummrig, und er fröstelte. Er presste die Hand in seine Magenkuhle. Was für eine Schnapsidee, in einer Fastenklinik einzuchecken – und das ausgerechnet auf einer Insel, auf der man noch im kleinsten Kaff ausgezeichnet speisen konnte! Sterneköche, deftige Hausmannskost, köstliche Kuchen. Bei dem Gedanken an die Sylter Gastronomie lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Immerhin hatte er eine Klinik gefunden, in der man Hunde duldete. Eine Trennung hätte Pinky nicht verkraftet, und wenn er ehrlich war, hing er genauso an ihr, und das nicht erst, seit seine Frau auf ihre Freiheit und ihre Form von Selbstverwirklichung bestand, die ihn oft genug ausschloss.

KP wankte zum Schrank, öffnete jede Schublade und jedes Fach, dann zerrte er seine Reisetasche unter dem Bett hervor und wühlte auch in dieser. Nichts! Nicht einmal ein Schokoriegel, eine verloren gegangene Nuss oder ein winziger Pfefferminzdrops. Er hielt das einfach nicht mehr aus! Immer nur Wasser, Säfte und dünne Brühen. Und dafür investierte er wertvolle Urlaubstage! Das Wellness- und Sportprogramm war ohnehin unerträglich. Fastenwandern nannten sie das – Fastenschwafeln wohl eher. Stundenlang musste er bei eisigem Wind die Lebensbeichten der anderen ertragen. Angeblich beschleunigten das Wandern und das maritime Aerosol den Entgiftungsprozess.

Doch er hatte keine Wahl. Er musste die Fastenkur durchstehen. Sein Hausarzt hatte ihm den Ernst der Lage unmissverständlich klargemacht. Außerdem fand Claudia ihn zu dick. So ging es nicht weiter. Er musste abspecken, und das schaffte er nicht, wenn ihn wieder einmal ein Fall in die Überstunden und zum Süßigkeitenregal des Supermarkts trieb.

KP stürzte ein Glas Wasser hinunter. Ekelhafte Plörre. Jetzt eine kühle Berliner Weiße oder wenigstens ein Eistee …

Pinky beobachtete ihn aufmerksam. »Immerhin musst du nicht hungern«, murmelte KP. Beinahe sehnsüchtig dachte er an die gut gefüllten Fressnäpfe der Vierbeiner, schüttelte gleich darauf entsetzt den Kopf – so weit war es schon gekommen! Er warf sich auf das Bett, das unter seinem Gewicht ächzte, und kniff die Augen zu. Mühsam versuchte er es mit einer Atemtechnik, die ihnen die Yogalehrerin beigebracht hatte. War jetzt Dampfatmung, Seufzeratmung oder Walzeratmung angesagt?

Das flaue Gefühl in seinem Bauch verstärkte sich. Wieder störte Magengrummeln die Stille. Kein Auge würde er zumachen, nicht so. Er hatte noch nie hungrig einschlafen können. Irgendwo in dieser bescheuerten Klinik musste es doch etwas geben, was ihn ein wenig sättigen und endlich schlafen lassen würde.

KP wandte sich seinem Jack Russell zu. »Ich bin gleich wieder da. Du musst hierbleiben, sei schön still.« Pinkys Augen glänzten im Zwielicht wie Murmeln. Leise fiepte sie. KPs Entschlossenheit geriet ins Wanken. »Nein, das geht nicht! Hunde, die sich nicht benehmen, werden nach Hause geschickt!« Herrchen ebenso, setzte er in Gedanken hinzu, da war der Fastengockel entschieden gewesen. Pinky tapste zur Tür. »Na gut, aber keinen Mucks, verstehst du!«

Leise die Tür geöffnet, auf den Flur gespäht, der nur von einem Nachtlicht erhellt wurde. Die anderen Gäste schienen zu schlafen, genau wie der Fastengockel. Das hoffte er zumindest. Nicht auszudenken, wenn ihn jemand ertappte. Auf Zehenspitzen lief er den Gang hinunter. Auf einmal kam KP sich sehr albern vor. Gut, dass keiner seiner Kollegen von dieser Reise wusste!

Auch jetzt, in der Nacht, war nicht zu übersehen, dass die Fastenklinik hypermodern war, sehr stylisch, und nur aus Fenstern zu bestehen schien. Sogar die Sauna war mit bodentiefen Glasflächen ausgestattet, damit man über die Wiesen bis zum Deich blicken konnte. Allerdings fühlte KP sich dadurch auch immer beobachtet. Anders als die meisten seiner Leidensgenossen hatte er es auch noch nicht über sich gebracht, nach dem Saunagang nackt im Garten abzukühlen.

KP hielt inne, lauschte. An den Wänden hingen abstrakte Gemälde mit geisterhaften Gestalten. Immer waren nur einzelne Teile von Gesicht oder Körper zu erkennen, was ihm missfiel. Als Kriminaltechniker liebte er Klarheit und Ordnung, wenn er sich privat auch manchmal gehen ließ. Vorsichtig schlich er weiter. Im Speisesaal – schon die Bezeichnung war ein Hohn! – waren alle Schränke leer. Die Küche war abgesperrt. Natürlich könnte er seine Dietrich-Sammlung aus seinem Koffer holen und das Türschloss knacken, aber ein bisschen übertrieben kam ihm das schon vor.

Verstohlen sah er sich um. Wo waren die Vorratsräume? So etwas musste es doch für das Personal, das Fastenbrechen und selbst zur Zubereitung der dünnen Suppen geben! Im Aufenthaltsraum herrschte beinahe buddhistische Kargheit. Der einzige Blickfang war das große Aquarium im Raumteiler. Er blieb stehen. Der Anblick der eleganten Segelflosser, der geselligen Neonsalmler und der fleißigen Algenfresser beruhigten ihn. Begleitet vom leisen Summen des Aquariums untersuchte er den Raum genauso sorgfältig wie sonst einen Tatort. Nichts.

KPs Oberschenkelmuskeln zitterten. Vielleicht hätte er sich für FdH entscheiden sollen oder die Weight Watchers – radikales Fasten wie hier war einfach nichts für ihn. Sein Blick blieb an den Schranktüren des Raumteilers hängen, die er bislang übersehen hatte. Er beugte sich hinunter, öffnete sie – plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Taumelnd sank KP gegen den Schrank, der unter seiner Berührung erbebte, suchte Halt. Er ließ sich auf das Laminat sinken, bis sein Kreislauf sich beruhigt hatte. Im Sitzen durchwühlte er die Schrankfächer. Endlich, eine Dose! Er zuckte zurück – nur muffiges Fischfutter. Er stemmte sich hoch, schloss die Schranktüren wieder. Die Vorratskammer musste sich auf der anderen Seite des Aufenthaltsraums befinden.

Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Auch Pinky war erstarrt, hatte eine Pfote vom Boden gehoben und musterte ihn aufmerksam. Sie war eben ein Jagdhund. KP legte den Finger auf die Lippen. Wie peinlich wäre es, wenn ihn jemand hier entdecken würde! Was plätscherte da? Abgelenkt lauschte er. Pinky knurrte, tänzelte. Irritiert bemerkte KP, dass sich ihre Pfotenabdrücke auf dem Boden abzeichneten. Da musste etwas nass sein. Er sah genauer hin. Das Aquarium verlor Wasser! Vermutlich hatten die Dichtungen gelitten, als er dagegengewankt war. Das konnte doch nicht wahr sein!

KP ruckelte an dem Becken, in der Hoffnung, es so wieder richten zu können. Das Plätschern wurde lauter, Wasser tropfte auf seine Füße. Er fluchte. So viel zu seiner geheimen Suche! Das Becken ließ sich so schnell nicht kitten, das war klar. Er musste die Fische retten. Hatte er nicht irgendwo Eimer gesehen? Licht an! Jetzt war es egal, wenn er Lärm machte. Handtücher auf die Wasserlache. Kescher, er brauchte einen Kescher! Pinky kläffte.

»Was ist denn hier los?« Die Schlafbrille auf die Stirn geschoben, in Seidenhosen und oberkörperfrei – Dieses Sixpack! Angeber! – stürzte der Leiter der Fastenklinik herein. Ausnahmsweise war das penetrante Lächeln aus seinem Gesicht gewischt. »Was soll der Lärm? Was treiben Sie …«

KP drückte ihm eine Vase in die Hand. »Fassen Sie lieber mit an, statt dumme Fragen zu stellen!«

»Was erlauben Sie …«

In diesem Augenblick sprang knackend die Frontscheibe. Gleich darauf zerbarst das Aquarium, und Hunderte Liter Wasser ergossen sich in den Aufenthaltsraum. Algen spülten aus dem Raumteiler, Steine und sonstige Dekoration polterten herunter, Fische zappelten auf dem Boden. Pinky kläffte, Xanthen schrie auf, andere Gäste kamen schlaftrunken hereingestolpert. Hektisch versuchten sie, die zuckenden Fische zu retten, schöpften sie mit den Händen in Kannen, Gläser und Schalen. KP schwitzte, keuchte, der Stress machte seine Brust eng. Sein Arzt hatte recht, er war fett und außer Form. Schließlich hielt er um Atem ringend inne, stützte die Handflächen auf die Knie. Er musste abreisen, und zwar so bald wie möglich!

»Herr Botersen-Evers – Sie sind mir eine Erklärung schuldig! Und bringen Sie gefälligst Ihren Hund zur Ruhe!« Dr. Xanthens Augen funkelten zornig. Er schien gar nicht zu bemerken, wie etliche der weiblichen Gäste ihn anstarrten. Inzwischen schimmerte seine muskulöse Brust wie eingeölt, die dünne Schlafanzughose klebte ihm nass am Körper. Ein Appetithappen für hungernde Fastengäste.

»Pinky!«, schrie KP. Doch sein Hund gehorchte nicht. Er winselte, knurrte, scharrte auf der anderen Seite des zerstörten Raumteilers. Hatten sie einen Fisch übersehen? KP eilte zu ihr. Der kleine Hund tänzelte um etwas Ballförmiges, das vor ihm auf dem Boden lag, stupste es immer wieder mit der Schnauze an, sodass es wackelte. War das etwa … KP stockte der Atem. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie war das möglich?

Er hob Pinky auf den Arm, beugte sich über den Fund. Tatsächlich. Schlagartig war er nüchtern und hellwach. So schnell würde er diesen Ort wohl doch nicht verlassen können. Und die Hoffnung auf Geheimhaltung war dahin.

In diesem Augenblick durchschnitt ein Schrei die Stille.

2

Kiel, 13. Oktober, 7:25 Uhr

Als Liv die Schiebetür ihres Bullis öffnete, schlug ihr muffige Luft entgegen. Der Herbst war so warm und trocken wie noch nie. Als sie hineinstieg, ließ sie daher die Seite auf. Im Wagen war es ohnehin so eng, dass sie sich kaum bewegen konnte. Angesichts der Umzugskartons und Wäschekörbe sank ihr Mut. So wenig war ihnen nach dem Wohnungsbrand geblieben! Einen Teil ihrer Habseligkeiten hatten sie eingelagert, die verbliebene Kleidung fuhr sie in ihrem Bulli spazieren, der sich zu einer Art mobilem Kleiderschrank gemausert hatte.

Liv öffnete die erste Kiste. Rauchgeruch drang ihr in die Nase, als sie das Seidenkleid beiseiteschob. Absurderweise war ausgerechnet der Teil ihrer Garderobe verschont worden, den sie bereits zum Einmotten aussortiert hatte, also die Sommersachen. Letztlich spielten ihr der goldene Herbst – oder die Klimaerwärmung – in die Hände.

Während Liv ihre Sportkleidung herauskramte, stiegen die Bilder des Brandes und seiner Folgen wieder in ihr auf. Im letzten Moment waren Sanna und sie, den leblosen Hund auf den Schultern, über die Gaube auf das Dach und ins Freie geklettert. Gleichzeitig waren Feuerwehr und Ambulanz eingetroffen. Sie hatten Glück gehabt und nur kleine Brand- und Schürfwunden davongetragen. Das Löschen der letzten Glutnester hatte bis in die Morgenstunden gedauert, dann war die Kriminaltechnik angerückt. Da es mehrere Brandherde gab, war schnell der Verdacht aufgekommen, dass es sich um Brandstiftung gehandelt haben könnte; ein Gedanke, der Liv gleichermaßen wütend machte und beunruhigte. Wer wäre so gewissenlos, Menschenleben in Kauf zu nehmen? Und warum? Hatte einer der Verbrecher, die sie hinter Gitter gebracht hatte, dafür Rache genommen? Wer sonst käme infrage? Für Brandstiftung sprach auch, dass Zorro erbrochen hatte, das hatte sie bei seiner Rettung bemerkt – vielleicht war er vergiftet worden. Allerdings hatte er möglicherweise auch beim Spaziergang etwas Verdorbenes gefressen.

Sebastian, Livs Freund, hatte angeboten, dass sie bei ihm einziehen konnten, aber das tägliche Pendeln von Kiel nach Flensburg erschien ihr zu kompliziert, vor allem da Sanna hier ihre Schule, Sportverein und Freunde hatte. Mit dem Auto fuhr sie zwar nur etwa eine Stunde, mit der Bahn jedoch knapp zwei. Außerdem wäre Sebastians Wohnung mit drei zusätzlichen Personen beengt – und sie wollten natürlich auch mit Elise zusammenbleiben. Deshalb waren sie zunächst in eine Pension gezogen, in der sie es aber auf Dauer nicht ausgehalten hatten. Zu eng, zu trist war diese Unterkunft. Also hatten sie das Angebot von Freunden angenommen, bei ihnen unterzuschlüpfen. So viele hatten ihnen beigestanden! Selbst ihre Schwester Annika hatte eine Nachricht auf ihrem Handy hinterlassen und Hilfe angeboten. Liv war erstaunt über dieses Angebot gewesen, denn ihr Verhältnis war zerrüttet, nicht erst seit dem Tod ihres Vaters vor knapp zwei Monaten.

Seit dem Brand pendelte sie deshalb zwischen Flensburg und Kiel. Das Pensionszimmer hatten sie dennoch vorerst behalten. Glücklicherweise war es nicht teuer, denn sie mussten die Miete für das Haus – wenn auch gemindert – weiterzahlen. Stellte sich später heraus, dass der Vermieter Mitschuld an dem Feuer trug, weil es beispielsweise einen Kabelbrand gegeben hatte, würden sie eventuell Schadenersatzansprüche stellen können. Für den Hausrat sprangen wahrscheinlich die Versicherungen ein. Welche zahlen musste, entschied sich aber erst, wenn auch die Brandursache geklärt war.

Liv unterdrückte einen Seufzer. Zu gern wäre sie sofort ins Kapitänsviertel zurückgekehrt. Im Moment aber mied sie es; zu weh tat es, die Zerstörung ihres Zuhauses zu sehen. Wenigstens hatte sie ihre Großmutter Elise davon abhalten können, ihre Lesereise abzubrechen; der Schock würde sie noch früh genug treffen. Hoffentlich hatten das K6, die Kriminaltechnik der Polizeidirektion, und die Versicherungen die Prüfung des Brandes bald abgeschlossen.

Liv stopfte Sportsachen und Turnschuhe in ihre Reisetasche. Sie sollte es positiv sehen: Immerhin regnete oder fror es nicht. Neue Kleidung war erst einmal nicht drin. Der Tierarzt für Zorro hatte Unsummen gekostet, und sie würden einiges auslegen müssen, um zumindest einen Teil ihres Hausstands neu zu kaufen.

Mit Schwung warf sie die Schiebetür zu und ging zur Bäckerei, um noch schnell ein paar Brötchen zu kaufen. Kaum hatte sie den Laden verlassen, klingelte ihr Handy. Ein Kollege vom K6, endlich!

Sie wischte die Schrift vom Display. »Moin, Liv hier. Gibt es endlich etwas Neues wegen der Brandursachenermittlung?«, fragte sie geradeheraus.

Was Karlpeter Botersen-Evers ihr zu sagen hatte, änderte ihre Pläne für den Tag. Statt zum Sport ging Liv zurück zum Bulli. Hoffentlich fand sie wenigstens ein paar wetterfeste und warme Kleidungsstücke. Auf Sylt würde sie sie brauchen.

Zurück in Sebastians Altbauwohnung hörte Liv das Plätschern der Dusche und seinen Gesang. Ein Lächeln erhellte ihre Züge. Aus Angst vor Verletzung war es ihr anfangs schwergefallen, ihre Gefühle für Sebastian zuzulassen. Doch die Schmetterlinge in ihrem Bauch hatten sich nicht aufhalten lassen – und ihm ging es genauso. Heikel waren in Livs Augen allein seine enge Beziehung zu seiner Ex-Frau Larissa und die Ablehnung, die sein Sohn Noah ihr entgegenbrachte. Sie hatte sich noch verstärkt, seit Liv öfter bei Sebastian übernachtete.

Liv legte die Brötchentüte auf das Sideboard und schlüpfte in das handtuchschmale Bad, durch das der Duschnebel waberte. Sie musste Sebastian unbedingt erzählen, was sie erfahren hatte! Die letzten Takte von How High The Moon verklangen. Liv überlegte kurz, diesen Jazz-Standard, den Ella Fitzgerald so großartig gesungen hatte, demnächst ebenfalls zu spielen, als ihr einfiel, dass ihr Schlagzeug noch immer in dem durch Feuer und Löschwasser zerstörten Haus stand. Ob die Drums überhaupt noch intakt waren?

Sebastian öffnete den Duschvorhang einen Spalt. Sein nasser Lockenkopf tauchte auf, er lächelte sie an, streckte die Hand nach ihr aus. »Da bist du ja! Ich habe dich beim Aufstehen vermisst.«

In ihrer Jacke fühlte Liv sich wie in einer Sauna. Dennoch ließ sie sich heranziehen, bis Duschwasser auf sie spritzte. »Willst du nicht hereinkommen?«, murmelte Sebastian zwischen zwei Küssen.

»Das ist eine ausgezeichnete Idee.« Schon schälte sie sich aus ihrer Kleidung. Nur fünf Minuten. Wer wusste schon, wann sie wieder Zeit füreinander haben würden.

Wenig später ließ ein Geräusch sie innehalten. »Papa – bist du hier?«

Noah! Liv spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Sie hielt sich mit der rechten Hand an Sebastian fest und versuchte mit der linken, sich an den Kacheln abzustützen. Vielleicht hätten sie doch einfach ins Bett zurückgehen sollen …

Leises Tapsen.

Sebastian riss die Augen auf. »Ich bin gleich fertig!«, rief er schnell. Nicht, dass sein Sohn hereinkam und den Duschvorhang öffnete! Ein nervöses Lachen stieg in Liv auf, das sie mühsam unterdrückte. »Magst du schon den Frühstückstisch decken? Ich komme gleich zu dir!«

Stille.

»Da waren komische Geräusche«, rief Noah misstrauisch.

»Ich habe beim Duschen gesungen«, improvisierte Sebastian. Liv musste sich auf die Lippen beißen. Sie sah, dass sich Sebastian ebenfalls das Lachen verkniff. »Wir frühstücken gleich, geh schon in die Küche, okay?«

Als sie wenig später die Küche betrat, hatte Noah bereits den Tisch gedeckt. Wie jeden Morgen standen ein Stuhl und ein Gedeck zu wenig bereit. Mit der Trennung seiner Eltern war Noah einigermaßen zurechtgekommen, aber dass sein Vater jetzt eine Freundin hatte, gefiel ihm gar nicht. Liv musste ihm zugestehen, dass es sich für ihn seltsam anfühlen musste, dass sie an den Wochenenden so oft bei Sebastian in Kiel war. Auch für sie war der Umgang mit dem Sechsjährigen ungewohnt. Sie selbst war schon als Teenager schwanger geworden; Sannas Grundschulzeit war also lange her, und da Liv damals vollauf mit ihrer eigenen Ausbildung beschäftigt gewesen war, hatte sie an diese Zeit nur flüchtige Erinnerungen. Elise hatte ihr damals viel abgenommen, hatte ihr in jeder Hinsicht beigestanden.

»Guten Morgen, Noah. Hast du gut geschlafen?«, fragte Liv und legte die Brötchentüte auf den Tisch.

Noah ignorierte sie und setzte sein Kuscheltier auf den Tisch. Sogar der Plüschelefant bekam einen kleinen Plastikteller – nur sie nicht.

Scheinbar überrascht sah Liv sich um. »Schade, ich dachte, Noah wäre hier. Ich habe ihm und seinem Kuscheltier doch extra Milchhörnchen mitgebracht.« Die Augen des Jungen wurden groß. Liv öffnete die Brötchentüte. »Wie gut die duften! Na, dann muss ich sie wohl selbst essen.« Entsetzt riss Noah den Mund auf, hielt ihr seinen Teller hin. Liv nahm den kleinen Teller, der mit einer bunten Tierkolonne geschmückt war. »Ist der für mich? Das ist aber nett.« Sie stellte ihn an anderer Stelle auf den Tisch. »Jetzt brauche ich nur noch einen Stuhl.« Sie holte für Noah einen neuen Teller aus dem Schrank, legte ein Milchhörnchen drauf und drapierte das andere für den Elefanten auf den Plastikteller.

Sebastian trat ein, nach Rasierwasser und Zahnpasta duftend, und küsste erst Noah und dann sie. Nach den vielen schlechten und seltsamen Erfahrungen, die Liv mit Männern gemacht hatte, kam ihr ihr neues Glück noch immer unwirklich vor. »Ich bin gleich bei euch«, sagte er und wandte sich an Liv: »Hast du im Bulli deine Sportsachen gefunden?«

»Schon, aber ich fürchte, ich kann euch heute nicht in die Kletterhalle begleiten.« Liv bemerkte, wie Erleichterung über Noahs Gesicht huschte, während Sebastian sichtlich enttäuscht war. »Das K6 hat angerufen. Danach habe ich mit Hennes telefoniert. Wir treffen uns heute Mittag in Niebüll am Autozug.«

»Was gibt’s?«

Livs Blick flackerte zu Noah. Der Junge spielte mit seinem Kuscheltier, murmelte: »Das müssen wir Mama erzählen«, und marschierte hinaus. Liv hörte die Tür zuschlagen. Vermutlich ging er in den anderen Stock hoch, wo seine Mutter wohnte. Für Noah war die Trennung der Eltern auch deshalb halbwegs zu verschmerzen, weil beide im gleichen Wohnhaus lebten.

»Botersen-Evers hat in einem Aquarium in Archsum einen menschlichen Schädel gefunden.«

»Offenbar handelt es sich bei diesem nicht um ein Überbleibsel aus einer Anatomie, sonst wärest du nicht angerufen worden.«

Liv nickte. Schädel wurden in der Tat häufiger gefunden. Meist stellte sich heraus, dass sie einmal als medizinische Lehrobjekte gedient hatten und irgendwann abhandengekommen waren. »Im Hinterkopf befindet sich offenbar ein Loch, oberhalb der Hutkrempe gibt es Terrassenbrüche.« Beides waren klare Hinweise auf Gewalteinwirkung, denn die imaginäre Hutkrempen-Linie markierte die Grenze, oberhalb derer Verletzungen höchstwahrscheinlich nicht durch Stürze entstanden waren, sondern dem Opfer von fremder Hand zugefügt wurden.

Sebastian nickte nun ebenfalls, und Liv sah, wie es in ihm arbeitete. Ebenso wenig, wie sie ihr kriminalistisches Gehirn ausschalten konnte, war er in der Lage, seine rechtsmedizinische Kompetenz ruhen zu lassen. Doch als sie gerade begannen, sich über den Fund auszutauschen, kam Noah zurück.

»Mama muss dringend mit dir sprechen. Komm mit, Papa!«, sagte er und umfasste Sebastians Finger. Liv blieb allein zurück. Als Sebastian ihr nach einer halben Stunde eine Kurznachricht schickte, dass es noch etwas dauern würde, machte sie sich auf den Weg.

***

Er ließ sich in seinem Sitz tief hinter das Armaturenbrett gleiten, damit sie ihn nicht sah. Nun verließ sie das Grundstück, steuerte auf den schrottreifen Camper zu. Zu ärgerlich, dass sein Plan nicht aufgegangen war!

So einen Patzer wie diesen durfte er sich kein zweites Mal erlauben. In seinem Job herrschte harte Konkurrenz. Mit großem Abstand fuhr er ihrem VW-Bus hinterher. Als er daran dachte, wie sein Auftraggeber ihn wegen des vermasselten Anschlags zur Schnecke gemacht hatte, pulste die Ader auf seiner Stirn. Er zwang sich zur Ruhe. Die Nachricht in seiner Mailbox war voller Vorwürfe und Beschimpfungen gewesen. Angesichts des nörgelnd-verquasten Tons hatte er erstmals überlegt, ob es sich in Wahrheit um eine Auftraggeberin handelte, die einen Stimmenverzerrer benutzte. Nun … solange er seine Vermutung nicht verifizieren konnte, blieb er bei dem Wahrscheinlichsten – und das war nun mal ein Mann.

Immer wieder hatte sein Auftraggeber davon geschwafelt, wie viel Nerven ihn diese Verzögerung kostete, wie viele Micromorts. Aufschneider! Er hasste Menschen, die mit Fremdwörtern um sich warfen. Dennoch hatte er den Begriff nachgeschlagen: Micromort bezeichnete die Maßeinheit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, dass ein bestimmtes Handeln zum Tod führte, das Lebensrisiko also. Sein Fehlschlag schien also den Auftraggeber dem Tod näher zu bringen, zumindest bildete dieser sich das ein. Nun, sollte er. Allerdings durfte sein Auftraggeber nicht verrecken, ohne ihm zuvor sein Honorar gezahlt zu haben. Und das war fürstlich. Eine Kommissarin zu töten war schließlich besonders heikel und erforderte exakte Planung. Deshalb waren seine Konkurrenten vermutlich vor diesem Job zurückgeschreckt.

Erneut fragte er sich, was diese Lammers verbrochen haben mochte, das einen Mord rechtfertigte. Aber letztlich konnte es ihm egal sein.

Noch immer hatte das Pulsen nicht nachgelassen. An einer Ampel massierte er die Stirn, als könnte er es wegwischen. Nachweisen lassen würde sich die Brandstiftung nicht, darauf hatte er geachtet. Trotzdem würde er die Kommissarin auch weiterhin im Blick behalten, um Zeit und Ort zu bestimmen, an dem er unauffällig seinen Auftrag erfüllen und sie ins Jenseits befördern konnte.

***

Während Liv vor dem Parkplatz am Bahnhof auf Hennes wartete, holte sie ihr Handy heraus, um ihrer Tochter zu schreiben, die bei einer Freundin übernachtete. Sie zog den Wollpulli aus, den sie sich von Sebastian geliehen hatte, und überflog die Kurznachricht, die er ihr geschickt hatte. Er entschuldigte sich dafür, dass er so lange bei Larissa gewesen war, und erklärte, sie habe seine Hilfe gebraucht. Liv unterdrückte ein Seufzen. In Momenten wie diesen kam sie sich wie ein Eindringling vor, was albern war, da die Ehe der beiden schon in die Brüche gegangen war, ehe Sebastian und sie ein Paar geworden waren. Gut, dass Sanna entspannter auf Sebastian reagierte!

Wie geht es euch? Gut geschlafen?, tippte sie in ihr Smartphone.

Zu ihrem Erstaunen rief Sanna Sekunden später an. »Zorro ist immer noch schwach. Musste ihn beim Gassigehen das letzte Stück tragen. Am liebsten würde ich ihn gar nicht allein lassen. Heute geht es ja noch, aber morgen muss ich arbeiten.«

Der Anblick des Hundes stand Liv noch lebendig vor Augen. Nachdem sie ihn über das Dach ins Freie gewuchtet hatten, hatte er nur ins Leere gestarrt, die Atmung war flach gewesen, sein Puls hatte gerast. Der Tierarzt hatte Zorro mit Sauerstoff versorgt, aber noch immer war unklar, ob die Lunge dauerhaft gelitten hatte. »Morgen kann ich mich vielleicht um Zorro kümmern«, sagte sie. »Zur Not kann ich ihn mit ins Kommissariat nehmen.«

»Damit deine Kollegen ihn wieder mit Keksen mästen?« Sanna lachte, und Liv vermisste sie auf einmal schrecklich, genau wie Elise, ihre Großmutter. »Vermutlich passt Chiaras Mutter auf Zorro auf. Die ist ohnehin im Homeoffice. Oder Maja erlaubt mir doch noch, Zorro mit ins Café zu nehmen.« Livs Freundin Maja war eine entspannte Arbeitgeberin, aber ein Hund, der den ganzen Tag hinter dem Tresen herumlungerte, könnte ihre Geduld dennoch strapazieren.

»Hast du eigentlich schon was von der Versicherung gehört?«, fragte Sanna und riss Liv damit aus ihren Gedanken. »Es nervt langsam, immer dieselben Klamotten anzuziehen. Überhaupt will ich in mein Zimmer zurück.«

»Ich auch«, gestand Liv. »Aber von der Versicherung kam noch nichts. Ich hake nach. Ehe wir ins Haus zurückkönnen, muss der Vermieter eh erst mal sanieren.«

»Ätzend. Immerhin bin ich nächstes Wochenende bei Kimi auf Sylt.«

»Okay. Dann kümmere ich mich um Zorro, versprochen.« Der Dienstwagen ihrer Kollegen bog um die Ecke. Liv winkte. »Ich muss Schluss machen. Hennes fährt gerade vor.«

»Grüß ihn von mir! Wenn wir nächste Woche bei ihm übernachten, mach ich ihn im Scrabble fertig.«

»Das sage ich ihm. Viel Spaß beim Jobben, und grüß Maja schön! Hab dich lieb, Lütte!« Bevor Liv noch mehr sagen konnte, hatte ihre Tochter schon aufgelegt.

Der Wagen kam neben ihr zum Stehen. Durch das offene Fenster schallte ein Song von Pink Floyds Album The Dark Side of the Moon. Es roch penetrant nach Pfefferminz, und kurz fürchtete Liv, ihr Freund und Kollege könnte heimlich geraucht haben. Dabei nahm er den Warnschuss aus dem Sommer eigentlich ernst; seit seinem Krankenhausaufenthalt verwendete Hennes nicht einmal mehr Nikotinkaugummis. Liv stieg ein und bestellte sogleich Sannas Grüße.

Hennes lachte und gab Gas, seine langen grauen Haare flatterten im Fahrtwind. Er trug einen hochgeschlossenen Rollkragenpulli und einen dicken Schal, wodurch sein Kopf wie eine Kirsche auf einem Törtchen wirkte. »Sanna wird sich umgucken! Ich habe geübt. Ich kenne Fremdwörter, die habt ihr noch nicht einmal gehört! Bald kann mir ohnehin keiner mehr was. Weder beim Scrabble noch sonst wo.«

Liv sah Hennes von der Seite an. Ihr Kollege klang grimmig. Ende des Jahres sollte er pensioniert werden, was Liv bedauerte, für ihn aber ein echtes Problem zu sein schien. Tatsächlich konnte auch sie sich Hennes nicht als Pensionär vorstellen, so sehr lebte er für seinen Beruf.

Auf dem Autozug schälte Hennes sich aus den Wollklamotten und schenkte ihnen aus einer Thermoskanne Tee ein. Währenddessen nahm Liv die Landschaft zu beiden Seiten der Gleise in sich auf. Auch hier schien es lange nicht geregnet zu haben, denn zwischen den Feldern wirbelte eine Bö Staub auf. Unter herbstbunten Ästen drängten sich Pferde dicht aneinander. Hennes und sie glichen ab, was sie bisher über den Fall wussten.

»Fastenklinik, wie?« Hennes kicherte. »Ich hoffe, Botersen-Evers hat die Kur abgebrochen, sonst ist er bestimmt knatterig.«

»Wie hat er den Schädel überhaupt im Aquarium gefunden?«

Hennes hob die Schultern. »Frag mich was Leichteres.« Er wurde ernst. »Und bei dir? Neue Erkenntnisse zur Brandursache?«

Liv schüttelte den Kopf. »Die Kollegen vom K6 sind sicher im Stress, weil ihr Chef nicht da ist. Schon verdächtig, wenn ein Feuer an zwei Stellen gleichzeitig ausbricht.« Sie sah auf die Nordsee hinaus, die sich nun beidseitig des Hindenburgdamms abzeichnete. Ihre Brust wurde weit, als sie die unzähligen Zugvögel sah, die an der reichen Tafel des Wattenmeers rasteten.

»Was Neues zum Testament deines Vaters?«

»Ist noch nicht eröffnet. Offenbar hatte Ocke einen Bruder, von dem niemand wusste und der bislang noch nicht aufgespürt werden konnte.« Sie sah ihn an. »Du glaubst doch nicht etwa, dass der Brand und Ockes Testament zusammenhängen?«

Hennes hob die Schultern. »Wenn’s um so viel Geld geht …«

Alter Groll wallte in ihr auf. »Mein Vater hat mich schon vor vielen Jahren enterbt.« Sie wollte das Geld ohnehin nicht. Schon als Jugendliche hatte sie gegen die Bauprojekte und Immobilienspekulationen ihres Vaters protestiert. Als sie mit Sanna schwanger geworden war, hatten sie sich weiter entzweit, und in den letzten Jahren hatte sich ihr Verhältnis nicht gebessert. Eher im Gegenteil.

»Und doch wollte er vor seinem Tod noch mit dir über sein Testament sprechen.«

Liv ging über Hennes’ Bemerkung hinweg. Der Tod ihres Vaters erfüllte sie mit widersprüchlichen Gefühlen, von denen Erleichterung das stärkste und zugleich erschreckendste war. Eine Erleichterung, die sich noch verstärkt hatte, als ihre Schwester sie nicht zur Beerdigung eingeladen hatte. Liv hatte Ockes Leichnam gesehen, wusste auch so, dass sie ihn nicht mehr zu fürchten, nicht mehr zu hassen brauchte.

Sie beobachtete einen Vogelschwarm, der zwischen den ins Watt ragenden Lahnungen zur Landung ansetzte. Waren das Stare? Liv sah beeindruckt zu, wie sie erneut aufstoben und Muster in den Himmel malten. Deutlich zeichnete sich die Sylter Küstenlinie gegen das Azur des Himmels ab. Ein schmaler Streifen Sandweiß und Dünengrün mit ein paar Farbtupfern und Kirchtürmen – ein zerbrechliches Bollwerk gegen die Urgewalt des Meeres. »Sebastian meinte, der Bereitschaftsdienst des Rechtsmedizinischen Instituts könnte noch heute möglicherweise Geschlecht, ungefähres Alter und Liegezeit bestimmen. Er will sich den Schädel dann morgen vornehmen. Hoffentlich gibt es Besonderheiten.«

Hennes nickte zustimmend. Der Zustand der Zähne oder Hinweise auf Operationen halfen in der Regel bei der Feststellung der Identität eines Opfers.

Je länger Liv über den Fund nachdachte, umso mehr regte sie sich auf. »Wenn ein Spaziergänger in einem Wald einen Schädel findet und die Polizei bei ihren Ermittlungen den Rest des Skeletts entdeckt, ist das eines. Aber ein Schädel in einem Aquarium? Wer ist so kaltblütig, dass er jemanden erschlägt, den Kopf abtrennt und ihn in einer Klinik vor den Augen der Öffentlichkeit deponiert?«, sprach sie aus, was ihr durch den Kopf ging.

Hennes drehte seinen Teebecher in den Händen. »Gute Frage. Du hast aber noch einen Schritt vergessen: die Mazeration. Der Schädel muss abgekocht oder anderweitig behandelt worden sein. Hätte man ihn direkt nach der Enthauptung ins Aquarium gesteckt, wäre er von der Fäulnis aufgeschwemmt worden, das Wasser wäre in kürzester Zeit verdorben und die Fische eingegangen.«

Eine Gänsehaut kroch Livs Rücken hoch. Nicht nur das mutmaßliche Tötungsdelikt ließ sie erschauern. Allein die Vorstellung, jemanden zu töten und ihm dann eine Säge an den Hals zu setzen, um sich mit ihr durch Schichten von Haut, Fett, Muskeln und Sehnen zu schneiden, war entsetzlich. Jemanden zu zerstückeln war eine harte, ekelerregende Arbeit. Und doch kam so etwas regelmäßig vor.

Sie versuchte, die Tat nüchtern zu betrachten, und ging im Geiste die Informationen aus dem Lehrbuch durch, das sie während ihrer Ausbildung hatte lesen müssen. Man unterschied zwischen natürlicher Leichenzerstückelung, also Leichenzerfall, zufälliger Leichenzerstückelung beispielsweise bei Unfällen, nicht kriminellen Leichenzerstückelungen und krimineller Leichenzerstückelung. Bei Letzterer grenzte man defensive und offensive Leichenzerstückelungen voneinander ab – hatte also der Täter das Opfer zerstückelt, um es loszuwerden, oder war eine sadistische, gestörte Persönlichkeit am Werk gewesen?

War ihr aktuelles Opfer bei der Enthauptung bereits tot gewesen? So makaber es war, so hoffte Liv es doch. Würde Sebastian herausfinden, ob die Schläge, die die Schädelverletzungen verursacht hatten, sofort zum Tod geführt hatten?

Irgendwo lief jemand frei herum, der zu derartiger Kaltblütigkeit und Grausamkeit fähig war. Es wurde höchste Zeit, ihn zu fassen.

3

Sylt, 12:59 Uhr

Sylt begrüßte sie mit einer warmen, würzig duftenden Brise, in der sich Meersalz und Wildkräuter mischten. Langsam glitten sie vom Autozug und durch Westerland. Hinter der Einkaufsmeile von Tinnum lichtete sich die Bebauung, wenig später brachte die Sonne die violette Besenheide und den Herbstglanz der Hundsrosen zum Leuchten.

Liv öffnete das Fenster und sog tief die Seeluft ein. Sofort durchflutete sie neue Energie. Sylt war eine Welt für sich, immer ein wenig fremd und mit eigenen Regeln, und zugleich ihre Heimat. Hennes blendete auf, als ein Lamborghini sie überholte und so dicht vor ihnen einscherte, dass er kurz auf die Bremse musste. »Fettes Auto, aber für den Führerschein hat’s nicht gereicht!«, schimpfte er.

Liv lachte. »Gib es zu: Wenn du erst Rentner bist, wirst du unsere Einsätze auf Sylt vermissen!«

»Auf keinen Fall! Diese neunundneunzig Quadratkilometer Schnöseltum können mir gestohlen bleiben.«

»Sylt hat so viele schöne Seiten. Und auch nette Leute.«

Hennes grinste breit. »Ich wusste doch, dass du dich die ganze Zeit verstellst und tief im Inneren zur Sylter Snobiety gehörst.«

Sie überquerten den Keitumer Kreisel und den Bahnübergang und fuhren eine Weile zwischen Feldern hindurch. »Archsum – schöne Aussichten für Ihren Urlaub«, verkündete das reetgedeckte Ortsschild. »Wie der beschauliche Luftkurort aus dem Reiseführer sieht das hier nicht aus«, murmelte Hennes.

»Stimmt. Auch davon, dass die Seefahrt früher Haupterwerb der Bewohner gewesen ist, spürt man nichts mehr. Selbst die Landwirtschaft schwächelt erheblich«, meinte Liv, die im Nachbarort Morsum aufgewachsen war. »Hier jetzt rechts.«

Sie bogen in eine der kleinen, von schmucken Häusern flankierten Straßen ein. Es ging Richtung Nössedeich, wo sich Wiesen und Priele bis zum Watt erstreckten und sich Schafe und Radfahrer gegen den Wind stemmten. In einiger Entfernung erhob sich der wild bewachsene Hügel der früheren Archsumburg, einer etwa zweitausend Jahre alten Ringwall-Anlage, die bei Archäologen immer noch Begeisterungsstürme hervorrief. Am Ende einer schmalen Sackgasse parkten sie.

Die Einfahrt zur Fastenklinik war von einem hohen Sichtschutz, Kiesbeeten und einer Buddha-Statue flankiert, die allerdings nicht den gemütlichen Religionsstifter zeigte, sondern einen abgemagerten, dessen Rippen deutlich hervortraten. Wesentlich freundlicher wirkte das Grundstück gegenüber: ein Reetdachhaus hinter einem niedrigen Steinwall mit einem abwechslungsreich bepflanzten Garten, in dem noch erstaunlich viel blühte, darunter etliche Rosen. Eine ältere Dame beobachtete sie, eine Gartenschere in den Händen. Liv grüßte sie freundlich; aufmerksame Nachbarn konnten bei einer polizeilichen Ermittlung nützlich sein.

Das K6 war bereits eingetroffen, hatte abgesperrt und einen Spurenpfad eingerichtet; Karlpeter Botersen-Evers musste seinen Kollegen Dampf gemacht haben. Sobald er sie sah, kam er ihnen entgegen, einen Terrier auf der Armbeuge. »Du siehst ja schon richtiggehend eingefallen aus«, begrüßte Hennes ihn. »Beinahe wie dieser Buddha.«

»Deine Stichelei kannst du dir sparen«, murrte Botersen-Evers und wandte sich demonstrativ Liv zu.

Auch auf sie wirkte der Leiter der Kriminaltechnik verändert. Seine Wangen schienen schlaff herunterzuhängen, das Hemd spannte nicht so stark wie üblich um den Bauch, und der Hosenbund wurde durch einen Gürtel gerafft. Liv hielt dem Terrier die Finger hin, damit er sie beschnuppern konnte, und redete leise mit ihm.

»Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast«, sagte sie dann zu ihrem Kollegen.

»Das ist Pinky.« Botersen-Evers ließ zu, dass sie den Terrier streichelte, ging dann aber auf dem Spurenpfad voraus. »Hab von dem Brand bei dir gehört. Großer Mist. Wie geht es deiner Familie und deinem vierbeinigen Freund?«

Während Liv berichtete, betraten sie die weitläufigen, lichten Räume. Sie sah sich um. Sparsame Möblierung, einzelne Orchideen in schlichten Töpfen. An den Wänden hingen großformatige Leinwände und Schwarz-Weiß-Fotografien. Auf manchen erkannte Liv nur Umrisse, manchmal schattenhafte Ausschnitte von Gesichtern oder Körpern, aber immer ging es um den Menschen.

»Jetzt sag aber mal, wie du den Schädel in dem Aquarium gefunden hast. Bist du getaucht, oder was? Wolltest dir einen Fisch für eine geheime Mahlzeit fangen?« Hennes kicherte.

»Haha.« Botersen-Evers verzog keine Miene, sondern führte sie weiter, vorbei an einem Raum, aus dem aufgeregte Stimmen drangen. Durch den Türspalt sahen sie eine Menschentraube. »Ich habe erst mal alle in den Speisesaal geschickt, damit sie nicht noch mehr auf den Spuren herumtrampeln.«

Ein gut aussehender, hochgewachsener Mann mit langen Haaren löste sich aus der Menge und schoss auf sie zu. Sein schlichter Leinenanzug im Mao-Stil und der wiegende Gang ließen einen durchtrainierten Körper erahnen, seine markanten Brauen waren zusammengezogen. »Ich verlange, dass Sie mich sofort über das weitere Vorgehen in Kenntnis setzen. Meine Gäste sind verunsichert – und das in einer Situation, die eigentlich ihr Wohlbefinden fördern soll. Einige wollen sogar abreisen! Diese Unruhe muss so schnell wie möglich beendet werden!«

Botersen-Evers hob beschwichtigend die Hände. »Ich sagte Ihnen doch bereits, dass meine Kollegen vom K1 übernehmen werden, sobald die Spurensicherung abgeschlossen ist. Natürlich werden Frau Lammers und Herr Erdt mit der nötigen Diskretion und Schnelligkeit vorgehen.«

Statt besänftigt zu sein, griff der Mann Botersen-Evers weiter an. Erst jetzt fiel Liv auf, dass er weder Schuhe noch Socken trug. »Auch Sie sollten sich auf die Reinigung von Geist und Körper besinnen! Wenn Sie meditiert hätten, um Ihre Schwäche zu bekämpfen, wären Sie auch nicht hier durch die Gänge getigert und hätten das Aquarium nicht …«

Liv ging der Tonfall gegen den Strich, aber Hennes kam ihr zuvor. »Ihnen ist wohl nicht klar, dass wir es vermutlich mit einem Kapitalverbrechen zu tun haben? Sollte es nötig werden, machen wir diese Klinik dicht.«

»Sie sind der Leiter dieser Fastenklinik, nehme ich an?«, sagte Liv verbindlicher.

Ihr Gegenüber musterte sie wohlgefällig. Er nahm ihre Hand und hielt sie, zu lange, wie Liv fand. »Dr. Daniel Xanthen, sehr erfreut.«

Unauffällig wischte sich Liv die Hand an der Hose ab. »Wir werden uns ein Bild von der Lage machen und würden dann ausführlich mit Ihnen, Ihrem Personal und Ihren Gästen sprechen.«

»Meinen Gästen? Was haben die damit zu tun?«

»Das werden wir herausfinden. Und jetzt gehen Sie bitte in den Raum zurück, der Ihnen zugewiesen wurde.«

Liv und ihre Kollegen wandten sich ab und betraten einen Saal, der mit Sofas und Sitzgruppen bestückt war. Um den Raumteiler in der Mitte herrschte Chaos. Oda, eine Kriminaltechnikerin, grüßte sie und stellte dann eine weitere Spurenmarke auf. Der Hund in Botersen-Evers’ Arm japste aufgeregt. Der Kriminaltechniker griff ihn noch ein wenig fester, während er mit der anderen Hand einen Zettel aus der Brusttasche zog. »Ich habe eine Liste der Leute angelegt, die hier arbeiten. Außerdem sind sechzehn Gäste anwesend.«

»Erstaunlich viele. Ich dachte immer, man fastet nur im Frühjahr«, meinte Hennes.

»Es ist nie zu spät, den Körper zu reinigen und abzuspecken. Vor allem, wenn die Weihnachtszeit naht, in der man ohnehin über die Stränge schlägt.« Botersen-Evers schluckte mühsam. »Daneben haben Lieferanten, Reinigungspersonal, Hausmeister, Gärtner und so weiter Zugang zu diesem Haus. Es gibt keine Einlasskontrolle, nur einen Zahlencode für die Tür, den jeder Gast bei der Ankunft bekommt.«

Liv sah sich um. Der Schädel lag auf einem Tisch. Aus gebührendem Abstand nahm sie ihn in Augenschein. Hellbeiger Knochen, dunkle Höhlen von Augen und Nase, die einen grünlichen Schimmer hatten, als seien sie von Algen bewachsen. Zu ihrer Enttäuschung keine Zähne. Im oberen Hinterkopf zwei Lücken und Brüche, eine wirkte eckig wie von einem kantigen Werkzeug.

»Der hat im Aquarium gelegen? Kaum vorstellbar, dass ihn niemand vorher entdeckt hat.«

»Der Schädel war vermutlich zwischen Steinen und Sand verborgen, vielleicht sogar begraben. Aufschluss darüber werden uns hoffentlich Fotos geben. Aquarienbauer dokumentieren ihre Werke, davon ist auszugehen. Auch bei Veranstaltungen oder von Gästen dürfte hier fotografiert worden sein. Aufgefallen ist mir der Schädel vorher jedenfalls nicht. Als das Aquarium kaputtging, wurde er auf den Boden geschwemmt, weshalb Pinky anschlug.«

»Kluger Hund. Apropos: Sind die Suchhunde schon angefordert?«, fragte Liv.

Botersen-Evers und Hennes nickten simultan. Sie hatten die Tiere in der Hoffnung angefragt, mit ihrer Hilfe im Haus oder auf dem Grundstück den Rest des Skeletts ausfindig zu machen, was die Ermittlungen erheblich erleichtern würde.

»Wurde sonst noch etwas gefunden, was Hinweise auf die Identität der oder des Toten geben könnte?«, wollte Hennes wissen.