Zu keinem ein Wort! - Günter Saalmann - E-Book

Zu keinem ein Wort! E-Book

Günter Saalmann

4,9

Beschreibung

Sommer 1989. Noch scheint alles in Ruhe zu verharren. Doch es brodelt unter der Kruste. Dann wird Kordula, Tochter eines polnischen Nachbarn, überfallen; ein Hakenkreuz in ihre Haut geschnitten. Die Staatssicherheit vertuscht, wo sie vorgibt, zu ermitteln. Unschuldige werden verhört, diffamiert und ausspioniert, während die Neonazis immer dreister werden. Diese Geschichte beruht auf einem authentischen Fall. INHALT: Die Friedhofsfete Tönes Land Noch ein Besuch Der Rütlischwur Wo ist Kordula? Alfreds Märchen Der Hetzartikel Im Freibad Schlimme Entdeckung Das Protokoll Eine Amtsenthebung Entschlüsse reifen Nächtliche Aktion Die Luft brennt Der Schlei Das schwächste Kettenglied Es kommt anders Missglücktes Rendezvous Kommandant-Akimow-Straße 28 Kerzen statt Fackeln Die Festnahme Ypsi, Ypsi, Ypsi Alles stürzt Die Abrechnung Bitterer Nachgeschmack LESEPROBE: Ich tue es für Kordula, denkt er, und das Bewusstsein von Mut und Selbstaufopferung wärmt ihn von innen. Trotzdem, er hätte Strümpfe anziehen sollen. Löffel holt einen Hammer und eine Handvoll Nägel hervor und gibt sie Alfred zum Halten. Er steigt als erster über den Schulhofzaun, das Zaunfeld schreit in der rostigen Halterung. Alfred reicht das Werkzeug nach und folgt. Alles bleibt ruhig, sie schleichen hart an der Ziegelwand entlang, vorüber an der Hausmeisterwohnung. Durch die zerschlagenen Scheiben des Heizungskellers dringt der Geruch der Braunkohle. »Keinen Appetit auf Brikett?«, fragt Alfred. »Schnauze, Mann!« Alfred tappt in eine Pfütze, sie erreichen den Fahnenmast. Löffel hebt seine Jacke und wickelt seine Schärpe ab. »Was steht drauf?«, fragt Alfred. »Siehst du morgen.« Löffel erklimmt die Betonpfeiler, die die Stange zwischen sich halten. Steckt den Hammer in die Gesäßtasche und nimmt ein paar Nägel zwischen die Zähne. Alfred begreift: Sein Kumpel will die neue Fahne nicht einfach an das Rollenseil hängen, damit jeder sie gleich wieder herunterkurbeln kann. Löffel klettert leise schimpfend, die drei oder vier Meter dauern eine Ewigkeit, der Mast ist nass und glitschig. Alfred spürt eine Spur Kränkung, schon in die Planung der Aktion wurde er nicht einbezogen, und jetzt wird ihm bloß das Amt des Schmierestehers zugetraut. »He, warum fängst du nicht endlich an?« »Hier hängt schon ’ne Fahne«, flüstert es von oben. »Die hängt immer da. Schmeiß sie runter.«

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Die Friedhofsfete

Tönes Land

Noch ein Besuch

Der Rütlischwur

Wo ist Kordula?

Alfreds Märchen

Der Hetzartikel

Im Freibad

Schlimme Entdeckung

Das Protokoll

Eine Amtsenthebung

Entschlüsse reifen

Nächtliche Aktion

Die Luft brennt

Der Schlei

Das schwächste Kettenglied

Es kommt anders

Missglücktes Rendezvous

Kommandant-Akimow-Straße 28

Kerzen statt Fackeln

Die Festnahme

Ypsi, Ypsi, Ypsi

Alles stürzt

Die Abrechnung

Bitterer Nachgeschmack

Günter Saalmann

E-Books von Günter Saalmann

Impressum

Günter Saalmann

Zu keinem ein Wort!

Ein Kriminalfall

ISBN 978-3-86394-054-6 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1993 in Der KinderbuchVerlag

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Friedhofsfete

Der Regen hat aufgehört.

Alfred duckt den Nacken in den Kragen der Felljacke. Kalt ist es noch einmal geworden an diesem 20. April 1989 in diesem windigen, vom Bergbau geschundenen Winkel des Vaterlandes. Die Abraumhalde vor dem Bleihimmel hat den Umriss eines Stahlhelms. Und so heißt sie bei den Leuten: Der Ölschnitzer Helm. Es würde Alfred nicht sehr wundern, wenn plötzlich der Teufel käme und das Ding genau auf Ölschnitz stülpen würde. Dann säßen die braven Bürger für alle Zukunft trocken und warm. Und schön miefig.

Bei dem Gedanken kichert Alfred schadenfroh vor sich hin. Ein erstaunter Brillenblick seiner Mitschülerin Ella Rychlik trifft ihn, die an seiner Seite dahinzockelt, bemüht, nicht zu humpeln. Sie hat neue Lederschuhe an und eine Blase am Fuß.

Die Klasse trabt verdrossen hinter Frau Schultheiß her, die sich diesen Nachmittagsausflug ausgedacht hat. Und die ihr Unternehmen jetzt wohl selbst verflucht. Sie legt Tempo vor.

Die Abkürzung durch die Schrebergärten ist glitschig. Ella greift Halt suchend nach Alfreds Oberarm, damit sie nicht hinrutscht.

Er macht den Arm steif, sie lässt wieder los.

»Pardon«, sagt sie. »Jetzt ist die Blase bestimmt aufgegangen.«

»Sorry«, brummt er.

»Wir zwei vertreten hier wieder mal die gesamte Pestalozzi-Fraktion.«

»Sieht so aus.«

»Hanno latscht keinen Schritt mehr zu Fuß.«

»Hm.«

»Löffel hat’s auch nicht nötig.«

Ich Rindvieh, denkt Alfred. Warum latsche ich hier mit, lasse mir Dialoge aufzwingen.

»Unser Geburtstagskind Simone fehlt auch.« Ella Rychlik klemmt ihren Regenschirm unter den anderen Arm, und damit ist das Gespräch versiegt. In der Klasse bürgert sich allmählich für das pummelige Mädchen der Spitzname Ypsilon ein. Und zwar wegen des Anblicks ihrer Vorderpartie in den prall gewölbten Jeans.

Die »Pestalozzifraktion«, das sind jene, die von der Ölschnitzer Pestalozzischule in diese 11a der Gennadi-Akimow-Schule übernommen wurden.

Die die Ehre hatten, »Erweiterte Oberschüler« zu werden.

Hanno. Hanno Viertels.

Ingo Drews, genannt Löffel.

Simone Meinecke.

Ella selber — Ypsilon.

Alfred Donner.

Ein Mitglied der Fraktion blieb unerwähnt. Kordula. Manche nennen sie »die Polin«.

Kordula Przebylla. Von ihrem polnischen Vater hat sie das krause, ganz tief braune Haar, das elektrisch-blau sprüht, wenn Disko-Spotlights sich darin verfangen, die leicht gebogene Nase mit den beweglichen Nüstern. Das Sichelpaar ihrer schwarzen, wie vor Staunen gehobenen Brauen, das helle, ovale Gesicht. Alfred besitzt noch von seinem Großvater einen Bildband über den Maler Chagall. Dort gibt es solche Schneewittchengesichter, sanft und bestürzend.

Kordel, das Biest. An ihr musste Alfred vor drei oder vier Jahren die Liebe erfahren. Das neue Gefühl traf ihn wie ein Boxhieb, als er beim Sportfest im Gras ihr Medaillon fand. Es war ein großer ovaler Porzellananhänger mit dem Christuskreuz darauf. Die geflochtene Lederschnur war korallenrot und gerissen, und ihn überkam der Wunsch, den Fund an die Wange zu drücken. Er schaute sich verstohlen um und tat es: Das Porzellan bewahrte noch einen Rest Wärme der Mädchenhaut. Er gab den Schmuck nicht sofort zurück, sondern legte ihn abends in einen Briefumschlag und verfasste — in Geheimschrift! — ein Gedicht. Es begann: Ich hab eine Kordel gefunden, damit ist mein Herz nun gebunden ...

Wie glühte er damals für seinen feinsinnigen Einfall, die geflochtene Schnur, die ja eine Art Kordel war, mit dem Vornamen der Trägerin dichterisch zu verknüpfen!

Übrigens bekam sie bereits in der siebenten Klasse ihren Busen, von dem heutzutage die Männer Froschaugen kriegen. Der schon damals beim Sportfest beträchtlich hüpfte, zusammen mit dem Medaillon an der korallenroten Kordel.

Das Gedicht endete in einer gereimten Leseanweisung für die Geheimschrift. Er hat in den Umschlag noch eine Handvoll Gummibärchen getan, von denen er wusste, dass Kordula sie fleißig aß, weil den Mädchen angeblich davon kräftige Fingernägel wuchsen.

Die Nägel sind ihr gewachsen. Von seinem poetischen Erguss hat sie wahrscheinlich nicht Kenntnis genommen. Konnte sie nicht, denn die Leseanweisung war versehentlich ebenfalls in Geheimschrift aufgeschrieben. Ja, er war durcheinander, damals. Spätere Gedichte, hauptsächlich über die Jahreszeiten Herbst und Winter — hat er nicht mehr in Geheimschrift notiert. Sie zeigten denn auch Wirkung, und zwar öffentliche: Man wählte ihn alljährlich zum Wandzeitungsredakteur, froh, einen Trottel gefunden zu haben.

Alfred lächelt müde. Vom Thema Liebe hat er seitdem die Finger gelassen, schriftlich und überhaupt.

Er weiß inzwischen, dass einer wie er bei einem Mädchen wie Kordula nichts ausrichten wird. Wie sollte er auch. Ein Stino von sechzehneinhalb, der sich alle sechs Wochen rasiert, mit dem lächerlichen Namen Alfred Donner, aber ohne Spitznamen (Ein Spitzname würde wenigstens auf irgendeine Art Originalität hindeuten.), untersetzt, mit einer Nase, die einmal — genetische Erblast — kartoffelig wird, mit einer aschblonden Haartolle über der Schläfe, die aussieht wie eine Cremerolle vom Konditor.

Ach, Kordel.

Sie sind am Ziel. Neben der Einfahrt zum alten Pfarrgut hängt jetzt das Schild:

PRODUKTIONSGENOSSENSCHAFT WERKTÄTIGER ZIERFISCHZÜCHTER »FRIEDENSWACHT« NIEDERÖLSCHNITZ

Im Innenhof stehen Löffels klappriges Moped und ein funkelndes Motorrad, Hannos E.T.Z. Und da löst sich Hanno rauchend von der Mauer, von Kopf bis Fuß in glänzendem Kunstleder.

»Die andern sind schon drin«, mit einem Kopfnicken weist er auf eine Tür.

Frau Schultheiß reagiert gallig. »Konnten die Herrschaften uns das nicht wenigstens vorher mitteilen, das sie mit ihren Knatterkisten fahren wollen? Ausgemacht war ...«

»Aber Frau Schultheiß! Knatterkisten!«

Damit ist das Thema erledigt.

Kordula, Löffel und Simone sitzen schon im Büro beim Vorsitzenden der »Friedenswacht«, Herrn Schwann. Kordula hat ihren Walkman im Haar versteckt.

In den nächsten zwei Stunden besichtigt die Klasse Guppis und Schleierschwänze in der umgebauten Fachwerkscheune und erfährt, dass die Zierfischzüchter obendrein Nutzfisch, Karpfen und Schlei für den Gabentisch der Republik mästen. (Der Vorsitzende wählt politische Vokabeln, dies ist ein Protokollbesuch.) Frau Schultheiß dankt. Andrea und Anke überreichen die Blumen.

Danach kommt der gemütliche Teil. Es gibt ein reichhaltiges Getränkeangebot, und aus der Privatwohnung über der Kantine dringen, beharrlich wiederholt, Takte aus einem Klavierstück. »Kulturelle Umrahmung, Reinhard live«, sagt Alfred.

»Mendelssohn, Lieder ohne Worte, du Banause«, sagt Kordula.

Reinhard Schwann, einer der Söhne des Vorsitzenden, geht in die Parallelklasse.

Nach ausgiebigem Imbiss treten die Besucher den Rückmarsch an. Die Motorisierten haben noch was vor. Alfred kalkuliert: Kordula ist als Hannos Sozia hergeritten, Simone auf dem Rücksitz von Löffels Moped. Er wird seinen alten Kumpel Löffel rumkriegen, dass der auf dem Heimweg ihn auflädt.

Er schlägt sich zu dem kleinen Trupp. Sie schieben die Fahrzeuge quer über die Wiese. Ypsilon heftet sich an seine Fersen. Trotz Blase im Schuh.

»Mal wieder die Pestalozzifraktion?« Die ordnungsgemäß Abmarschierenden winken ein bisschen neidisch.

Der Himmel hat unvermittelt aufgeklart, es ist April, und wenn die Nachmittagssonne noch einmal durchbricht, ist es erträglich warm.

Der Karpfenteich liegt etwa hundert Meter von der »Friedenswacht« entfernt. Künstlich angelegt, aber er könnte nicht malerischer liegen. Ein blankes Auge, von der Fahrstraße aus nicht zu bemerken, umragt von düsteren, noch ziemlich gesunden Fichten, in Ufernähe bewachsen mit verkrüppeltem Wacholder und Krautwerk.

Geborstene Grabplatten liegen halb im Gras versunken. Die Fahrzeuge werden gegen die Reste des Gewölbes gelehnt, das eigentlich nur noch ein Haufen geschwärzter Ziegel ist und einst zum städtischen Krematorium gehörte.

Ein verwunschener Platz, der Niederölschnitzer Friedhof, auch wenn seit Jahren hier nicht mehr bestattet wird.

»Hier haben sie gleich die Würmer für die Karpfen«, lästert Löffel, »sie müssen nur buddeln.«

»Gesegnete Mahlzeit!« Ypsilon schlenkert ihre Brille am Bügel. Das soll leicht und unbefangen aussehen: Ferien-Frau aus der Westwerbung, locker, vorurteilslos. Aber Ypsilon ist nicht der Typ, rein optisch nicht. Sie merkt es wohl selber, klappt die Brille zusammen und heftet ihren blauen Blick auf Alfred. »Was wollen wir ausgerechnet bei den Würmern?«

»Ist das nicht irre romantisch?«, ruft Simone, hakt sich bei den Mädels unter und führt die Gesellschaft zu einer tischgroßen Grabplatte. »Zwanzigster April, mein siebzehnter Geburtstag, Leute, wir starten die Party hier, mal sehen, wen’s gruselt.« Sie wedelt mit ihren blonden Haaren und zieht eine lange Flasche Nordhäuser Doppelkorn unter der Kutte hervor.

Sie lassen sich zwanglos nieder.

»Hab schon wärmer gesessen«, bemerkt Alfred.

»Und trockener«, ergänzt Ypsilon.

»Und es wird immer feuchter!«, lacht Löffel, öffnet ebenfalls seine Jacke und hebt aus der Innentasche einen weiteren halben Liter Nordhäuser. Alfred entsinnt sich, dass im Selbstbedienungsregal der Kantine gerade diese Marke reichlich vorrätig war.

Die erste Flasche kreist. Das Zeug ist wasserhell und feuert. Alfred seiht es vorsichtig durch die Zähne, um nicht zu viel abzubekommen.

Doch nach einer halben Stunde rotiert die Welt. Auf jeden wirkt der Schnaps anders.

Löffel hat ein zerbröselndes Brikett aus dem Boden gepolkt und macht sich daran, es zu essen. Er kaut krachend und faselt etwas von Kohlehydraten, die der Körper zur Verbrennung braucht.

Kordula möchte Disco.

Ein plötzlicher Schmerz treibt Alfred Tränen in die Augen. Kordulas kräftige Fingernägel haben sich in seine Nasenscheidewand gekrallt, sie führt ihn wie einen Tanzbären um den Grabstein. Er tut, als seien die Tränen Lachtränen, und schielt auf seinen Riecher. Sie zieht ihn zu sich ran und gibt ihm einen feuchten Kuss mitten auf den Mund. Damit ist er entlassen.

Gleich darauf schwankt sie eng umschlungen mit Hanno auf dem Nachbargrab. Aus ihrem Walkman zirpt es, und er hat den kräftigen Nacken geneigt und das Ohr an ihrem rechten Headphone. Alfred beobachtet ihr Gesicht, das an Hannos Schulter liegt: Die Augen sind sanft und erstaunt in die Ferne gerichtet.

Ypsilon, die inzwischen ihre Brille glücklich zerbrach, stochert mit einem Bügel in Alfreds Ohr. »Was ist, Donner, grollst du?«

Der alte Witz mit seinem Familiennamen. Alfred sitzt mit schmerzender Nase. Der Sprit rumort in seinem Magen und bohrt im Gehirn, er hat Wut. Auf Kordula.

Auf Hanno.

Hanno Viertels, blond wie ein Wikinger, mit seiner kurzen Nase und den kleinen Ohren, von denen er eins beharrlich an Kordulas Musikstöpsel drückt, weil er ja sonst den Sound nicht mitkriegt.

Das wird auch dem Geburtstagskind zu viel. »He, das ist meine Fete!« Sie zerrt den brikettverschmierten Löffel auf die »Tanzfläche«, gießt sich an ihn. Bei jeder Drehung verpasst sie ihrer Freundin Kordula einen Schubs mit dem Hintern.

»Ich tanz nicht«, sagt Ypsilon. »Wegen meiner Blase.«

Tönes Land

Es wird zeitig Abend. Alfred ärgert sich und friert. Jetzt gleich wird er nach Hause gehen. Er hat dem Ehepaar Donner versprochen, nicht so spät zu kommen.

»Wir machen ein Feuer!«, sagt Ypsilon.

Das Trümmerholz, verschnörkeltes Gestühl aus dem ehemaligen Andachtsraum der Kapelle, kracht unter dem Tritt.

In Hannos Werkzeugkasten entdecken sie ein Stück Benzinleitung, saugen Gemisch aus dem Tank an und lassen es in die bereits geleerte Flasche rinnen. Sie begießen ihren Holzstapel, Hanno hat ein Feuerzeug. Die Flamme pufft hoch, fällt dann erst einmal in sich zusammen, aber bald brennt das Holz. Alfred und Ypsilon hocken dabei und legen Fichtenäste nach, die zischend und knackend ihr Schicksal annehmen.

Die Tanzpaare haben sich entknäuelt und setzen sich nahe heran. Vor dem Himmel beginnen die fernen Fenster der Stadt zu leuchten. Und manchmal trägt ein Windstoß Johlen und heiseres Staccatogebrüll herunter zu ihnen.

»Fußball«, vermutet Alfred.

»Quatsch. Sie feiern meinen Geburtstag«, kichert Simone.

»Klingt so, als kämen sie näher«, sagt Ypsilon. »Kann sein, sie sehen das Feuer.«

»Es ist bloß die wechselnde Windstärke«, sagt Alfred.

Die zweite Flasche ist noch dreiviertel voll. Sie beschließen, vernünftiger weiterzutrinken.

»He, Polin, mach mal ’n Strip zur Abwechslung«, schlägt Löffel vor.

Simone gibt ihm eins auf den Mund: »Friss dein Brikett.«

»Ich will ’n Strip!«, quengelt Löffel.

»Also ich mach keinen«, sagt Simone. »Du etwa, Ypsilon? He, Kordula, huste ihnen was!«

»Du erkältest dich Kordula«, warnt Ypsilon. Dabei guckt sie Alfred an, als erwarte sie nun endlich Protest aus männlichem Mund. Aber Alfred tut, als bemerke er ihren Seitenblick nicht.

»Horcht mal!«, sagt sie. »Hat da im Gebüsch nicht was geknackt?«

Sie lauschen. Es ist, als knackte und knisterte die Nacht um sie her. Aber die Geräusche kommen wohl aus dem Feuer.

»’n Strip? Warum nicht?«, meint Kordula versonnen. »Wir haben’s doch schön warm.«

Und sie erhebt sich, um Balance bemüht, posiert auf einer kleineren Grabplatte und beginnt ein gemäßigtes Hüftkreisen.

Sie fängt bei dem unteren Knopf ihrer Jacke an, knöpft langsam weiter bis zur Mitte, die Hand zögert und öffnet dann den oberen Knopf. Das Kleidungsstück landet in Alfreds Gesicht. Der Pulli darunter hat einen weiten Halsausschnitt, sie zieht ihn sich mit einem Ruck über den Kopf, hat aber die Headphones nicht bedacht. Der Pulli hängt an der Schnur.

Sie trägt einen BH.

Der ist aus feiner Spitze. Trotz der nur noch schwachen Glut der Feuerstelle sieht Alfred die großen dunklen Brustwarzen und stöhnt leise. Löffel stochert in der Asche, und die Beleuchtung wird besser.

»Schluss jetzt«, murmelt Ypsilon.

»Warum aufhören?«, fragt Kordula schrill. »Den Herren quellen doch die Pupillen über, jetzt kriegen sie endlich mal genug zu sehen!« Ihr Gesicht glüht im Widerschein. Sie fummelt auf ihrem Rücken, behält den BH in der Hand: »Bitte, Senhores Machos, soll’s noch ein bisschen mehr sein?«

Ihre Brüste rollen im Bauchtanzrhythmus, ebenmäßig, schwer und schön.

»Tralala, ich bin ja die Prinzessin Glasnostia ...«

Das Geträller klingt aggressiv und reichlich alkoholisiert. Sie flippt endgültig aus, steigert das Tempo und lässt den Gekreuzigten auf ihrem Medaillon um ihren Hals kreisen wie einen Fliehkraftregler.

»Was hieß gleich Glasnostia?«, fragt Simone, die das Fach Russisch ablehnt.

»Vermutlich >Die obenrum Offene <«, murmelt Ypsilon.

Kordula weiß auf einmal nicht weiter: »Jetzt müsste hier ’n Vorhang sein.«

Und sie legt sich mit nacktem Rücken auf den Stein, streckt sich lang aus, verdeckt ihre Brust mit gekreuzten Händen und erstarrt zum Bildnis. »Schlussszene Schneewittchen im Glassarg« kommandiert sie und blinzelt mit fast geschlossenen Wimpern: »Los, alle Zwerge, weinen!«

Plötzlich aber quietscht sie auf, rafft ihre Sachen: »Da, im Gebüsch!«

Ruckartig wenden alle die Hälse. Zum Greifen nah schwebt hinter ihnen in der Luft wie ein eingedrückter Lampionmond ein Gesicht. In dem breit und unbeweglich grinsenden Mund ragt ein verwaister Zahnstumpf.

»Ach du, Tönes Land!«, sagt jemand erleichtert. Da tropfen Worte aus dem Mund des Mondes, der Sinn ist längst verloren: »Wie ... finden ... Sie ... unser tönes Land?«

»Unser tönes Land finden wir super wie immer«, antwortet Hanno. »Und nun komm runter von der Leiter, Mann!«

Jedermann in Ölschnitz kennt »Tönes Land« mit seiner Leiter. Der arme Mensch läuft Sommer wie Winter ohne Hemd umher, nur in einem fadenscheinigen, von blanken Abzeichen klimpernden Jackett, den Hals verhüllt mit einem Wollschal.

Es gibt Storys über ihn: Einmal soll er zum Staatsfeiertag sein Fenster mit roten Papierfähnchen geschmückt haben, wie er es bei den Nachbarn gesehen hatte. Aber auf seinen Fähnchen war das Hakenkreuz, er hatte ein Bündel davon auf dem Oberboden aufgestöbert.

Seine Mutter, bei der er lebt, wurde verwarnt.

Es heißt auch, früher merkte ein Fremder ihm auf den ersten Blick nichts an, und so stellte ihn ein russischer Natschalnik auf dem Uranschacht bei der Werkfeuerwehr ein, verpasste ihm Helm und Brandaxt. Eines Tages zündete der neue Brandschützer das Depot an, nur, um als erster Alarm zu schlagen. Unter Einsatz seines Lebens rettete er ein Dutzend Leitern. Ein stürzendes Mauerstück beulte ihm das Gesicht ein und begrub sein letztes bisschen Verstand.

Gefährlich wird er nur, wenn man ihm seine Leiter streitig machen will. Von der trennt er sich nie, bugsiert sie sogar durch die Sparkassentür, wenn er seine Invalidenrente abholt. Wie es of bei solchen Menschen ist — er hat Muskeln wie ein Gorilla. »Wie finden Sie unser tönes Land?«

Nur für ihn macht es Sinn, dass er an den unmöglichsten Orten seine Klappleiter breitstellt, den sicheren Stand kontrolliert und langsam und bedächtig hinaufsteigt bis zum vorletzten Tritt. Dass er dann mit der Hand seine tief liegenden Äuglein schirmt, als müsste er ausschauen nach einem Ereignis in ungewisser Ferne. Manche sagen, ganz so plemplem ist er nicht, denn er peilt auch über die Hecke vom Freibad nach den Weibern.

»Okay«, sagt Hanno, »hast von Weitem das Feuer gesehen, alter Spanner? Da bist du uns besuchen gekommen. Steig von der Leiter, sollst nicht leben wie ’n Hund!« Er hält dem seltsamen Gast eine Handvoll Zigaretten entgegen.

Da steigt Tönes Land herunter, nimmt Hannos Köder mit Selbstverständlichkeit und schreitet mit schwerem Schritt auf Kordula zu, die sich inzwischen notdürftig bekleidet hat. Er grinst freundlich und streckt ihr die Zigaretten hin.

Kordula schüttelt heftig den Kopf.

Der Abgewiesene bewegt irritiert den Kopf zwischen den breiten Schultern und ähnelt auf einmal einer alten Schildkröte. Er sieht Hannos Feuerzeug liegen, bückt sich danach, knipst es an. Erfreut hält er die steile Gasflamme in Kordulas Kraushaar, das knisternd auflodert.

Da wirbelt er durch die Luft, landet krachend im Gras.

Ein Schulterwurf. Hanno ist Judoka. Dritter Kyu, grüner Gürtel.

Mit einem Heullaut rappelt sich der Geworfene auf und humpelt zurück zu seiner Leiter, schnaufend vor Kränkung, und bald hat ihn die Nacht verschluckt.

Noch ein Besuch

Kordula hat das Geknister in ihrem Haar mit zwei, drei Schlägen erstickt.

»Hanno, du bist selber auch nicht ganz normal«, sagt sie.

Auch die anderen finden, dass Hannos Reaktion überzogen war, jeder stand doch sprungbereit, um zu helfen.

Hanno sucht sein Feuerzeug und findet es nicht. So nimmt er die Flasche und trinkt sie leer. Ypsilon drängt zum Aufbruch: »Es reicht. Ab nach Hause! Bewegt eure Hintern!«

Aber Löffel legt neue Äste in die Glut. Er möchte erst ein bisschen ausnüchtern. Und wie sie so diskutieren, mit wie viel Promille ein trainierter Gelegenheitstrinker noch sicher fährt, nähert sich von der »Friedenswacht« her das Gefunkel einer Taschenlampe.

Ein Blecheimer scheppert, etwas platscht in den Teich, und die blanke Oberfläche kräuselt sich und brodelt von fetten Fischrücken. Die Gestalt kommt gemächlich zum Feuer; man kennt das flache schwarze Filzkäppchen, allgemein genannt das »Hitel«. Der Träger ist Reinhard Schwann aus der Parallelklasse, der Klavierspieler von heute Nachmittag. Seine Goldbrille funkelt, er setzt den Eimer ab und lässt sich darauf nieder wie auf einem Nachttopf. Er wippt mit einem Knie.

»Schönen Abend die Herrschaften. Hab die Biester gefüttert und wollte mal nach dem Rechten sehen ...«

»Und, was siehst du?«, fragt Hanno unfreundlich. »Flaschen«, sagt Reinhard und stützt das Kinn auf die Faust. Sitzt da wie der »Denker« des Bildhauers Rodin.

Hanno mustert ihn scheel. »Wir feiern Geburtstag.«

»Verstehe. Aufm Friedhof.«

»Na und.«

»Sicher ein historisches Jubläum? Vielleicht das hundertste?«

»Siehst du hier ’ne Hundertjährige?« Simone wirft ihr Blondhaar mit gespielter Kränkung. »Gratulation«, Reinhard verbeugt sich ironisch. »Ich dachte schon, hier feiern die Faschos den > Führergeburtstag<, den zwanzigsten April achzehnneunundachzig, auf den Tag genau vor hundert Jahren.«

Er zwickt mit seinen großen, nervigen Fingern ein Gänseblümchen aus dem Gras und schenkt es Simone.