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Der vorgetäuschte Suizid eines Waldaufsehers entpuppt sich als Auftakt zu einer familiären Treibjagd unter den Angehörigen einer eingeschworenen Sippe, zu denen ebenfalls der neue Freund von Kommissarin Mara Vennemanns Schwester Larissa gehört. Das unerwartete Aufeinandertreffen von persönlichen und beruflichen Interessen, entwickelt sich für die Kommissare Vennemann und Koslowski zu einer emotionalen Herausfoderung.
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Seitenzahl: 564
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Im grünen Wald, da wo die Drossel singt,
wo im Gebüsch das muntre Rehlein springt;
wo Tannen, Fichten steh‘n am Waldessaum,
verlebt ich meiner Jugend schönsten Traum.
Das Rehlein trank wohl aus dem klaren Bach,
indes der Kuckuck aus dem Walde lacht;
der Jäger zielt schon hinter einem Baum,
das war des Rehleins letzter Lebenstraum.
Getroffen war‘s und sterbend lag es da,
das man zuvor noch munter springen sah;
da trat der Jäger aus des Waldes Saum
und sprach: das Leben ist ja nur ein Traum.
Die Jugendjahr, sie sind schon längst entfloh‘n,
die er verlebt, als junger Waidmannssohn;
er nahm die Büchse, schlug sie an ein‘ Baum
und sprach: das Leben ist ja nur ein Traum.
aus: Deutsches Jägerliederbuch (1959)
Der Wald steht schwarz und schweiget
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Die heraufziehende Dämmerung des anbrechenden Tages umarmte die Schwärze der Nacht und vermischte sich mit ihr zu einem verschwommenen Anthrazit. Ein schmaler Streifen schimmernden Kupfers markierte den Horizont, wo der Himmel die Erde küsste.
Die dunklen Stämme der Bäume zeichneten sich schemenhaft im feuchten Dunst ab, dessen winzige Tröpfchen irisierend zu schillern begannen. Noch herrschte tiefe Stille. Eine erste leichte Brise strich durch das herbstlich bunte Laub und lud verwelkende Blätter zum finalen Tanz.
Plötzlich durchschnitten die grellen Lichtkegel zweier Scheinwerfer das neblige Gespinst. Ihre auf- und ab hüpfenden Strahlen verschreckten die noch ruhenden Vögel und ließen sie verwirrt empor flattern.
Das Fahrzeug stoppte auf einer schmalen Schneise seitlich des Weges, die Scheinwerfer erloschen und das Motorengeräusch erstarb. Als habe es dieses irritierende Intermezzo nicht gegeben, senkte sich die Dämmerung augenblicklich wieder zwischen die fahlen Stämme und für einen kurzen Moment kehrte die Stille zurück.
Dann mischte sich, unter das Geräusch der quietschenden Fahrzeugtür, der unflätige Fluch eines Mannes, dessen Fuß beim Aussteigen im schlammigen Morast versank, was ihn um ein Haar zum Straucheln gebracht hätte. Zwar verärgert über die unglückliche Wahl des Standortes, untersagte er es sich jedoch, den Wagen erneut zu starten und umzuparken. Seine Mission war heikel genug.
Angestrengt lauschte der Eindringling in die zurückgekehrte Stille und schalt sich schulterzuckend einen Narren. Wer sollte ihn um diese frühe Stunde an diesem verlassenen Ort hören? Das wäre höchst außergewöhnlich. Allerdings war sein Aufenthalt hier ebenfalls alles andere als gewöhnlich.
Sorgsam darauf bedacht, nicht erneut im Matsch einzusinken, schaltete er die kleine Lampe an seinem Stirnband ein, griff nach dem Rucksack auf dem Rücksitz des Geländewagens und hängte ihn sich um. Dann öffnete er die Heckklappe und verharrte erneut. Diesmal jedoch weniger aus Vorsicht, als vielmehr in der Absicht, seine Kräfte zu sammeln. Schnaufend zerrte er ein gewaltiges Bündel in einer schwarzen Plastikplane an den Rand der Ladefläche, atmete tief ein und warf sich die Last aufknurrend über die Schulter. Er zitterte kurz unter dem Gewicht und richtete sich ausatmend auf.
Die stampfenden Schritte des Störenfrieds gruben sich in den schlüpfrigen Weg. Die Atemwölkchen seines rhythmischen Keuchens verwirbelten durch den Frühnebel im dünnen Lichtstrahl der Stirnlampe.
Gefühlt endlos schlängelte sich der schmale Pfad um eine Wiese herum, bevor er sich zwischen den schlanken Stämmen des angrenzenden Waldstücks verlor. Hier herrschte noch Finsternis und der Eindringling musste höllisch aufpassen, dass sich die Plastikfolie nicht in tief hängenden Zweigen verfing.
Der Rücken des Mannes krümmte sich mehr und mehr unter der Last und seine Muskeln bebten mittlerweile vor Anstrengung. Schließlich erreichte er einen Hochsitz am Rande einer schmalen Lichtung.
Bei dem Ansitz handelte es sich eine rundum geschlossenen Konstruktion, die einer senkrecht stehende Holzschachtel ähnelte. Sie schmiegte sich in das Geäst einer mächtigen Buche und war über eine schmale Leiter erreichbar, die lediglich im oberen Bereich durch einen Handlauf gesichert wurde. Ein Vorhängeschloss versperrte normalerweise die roh gezimmerte Tür des Ansitzes gegen unbefugte Besucher. Doch an diesem Morgen stand die einen Spalt breit offen.
Der frühe Störenfried bemerkte es nicht. Erschöpft ließ er seine Last am Fuß der Leiter zu Boden gleiten und reckte aufstöhnend seine verkrampften Muskeln. Dann machte er sich daran, die Folie von dem schlaffen Körper abzuwickeln. Er knüllte sie achtlos zusammen und stopfte sie in den mitgeführten Rucksack, dem er zuvor ein Paar Turnschuhe entnommen hatte. Er tauschte sie gegen die klobigen Gummistiefel, die er trug, und stülpte diese der reglosen Gestalt im Gras an die Füße.
Erleichtert richtete sich der Mann auf. Seine Aufgabe war erledigt.
Minuten später zerriss ein Schuss die friedliche Stille und erneut stoben die aufgeschreckten Vögel in den mittlerweile silbergrauen Himmel. Ihr empörtes Kreischen verebbte kaum merklich in der erwachenden Geräuschkulisse des anbrechenden Morgens.
Der dunkelgrüne Geländewagen parkte nach wie vor auf der Schneise neben dem Waldweg. Fahrertür und Heckklappe standen weit offen und der Schlüssel, mit dem silbernen Hirschgeweihanhänger, baumelte im Zündschloss.
Die Kommissare Matthias Koslowski und Mara Vennemann genossen ihr dienstfreies Wochenende und starteten den Sonntagvormittag mit einem ausgiebigen Frühstück. Ihre Riesenschnauzerhündin R5 lag zu ihren Füßen und hoffte auf das eine oder andere kleine Häppchen.
»Ein Sonntag wie aus dem Bilderbuch«, freute sich die Kommissarin, »die Sonne lacht und wir haben endlich einmal alle Zeit der Welt für uns.«
»Noch ist es friedlich«, pflichtete Matthias Koslowski seiner Partnerin zwinkernd bei, »doch wenn die Zwerge erst einmal munter werden, ist es vorbei mit der sonntäglichen Ruhe.«
»Als ob dich das in den vergangenen Wochen jemals gestört hätte«, entgegnete Mara lächelnd, »ich gewann vielmehr den Eindruck, dass du es kaum erwarten kannst, bis die Kinder auftauchen.«
»So beunruhigend es auch erscheinen mag, kann ich nicht umhin, festzustellen, dass es deinem Empfinden gänzlich an professioneller Objektivität mangelt.«
»Das sagt der Richtige«, lachte Mara auf, »und ich komme nicht umhin, anzumerken, dass eine derart geschniegelte Wortwahl aus deinem Mund irgendwie albern klingt.«
»Albern? So bewertest du also meine Bestrebungen, meinen berüchtigten Ruhrpott-Slang zu verfeinern?« Der Kommissar bemühte sich um einen halbwegs ernsten Gesichtsausdruck, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch, während er ein noch warmes Brötchen aufschnitt.
»Hmm.« Mara stibitzte Matthias das zerteilte Backwerk aus der Hand. »Welcher Ansporn verbirgt sich wohl tatsächlich hinter deiner logopädischen Selbsttherapie?«
Matthias Koslowski starrte nachdenklich auf seine leere Hand und fühlte sich eigentümlich ertappt.
»Nun?« Mara dachte nicht daran, ihn vom Haken zu lassen.
»Wie lange gedenkst du deiner Schwester und den Kids eigentlich noch Asyl zu gewähren?«, wechselte er spontan das Thema und griff nach einem weiteren Brötchen.
»Fragst du mich das ernsthaft?« Mara suchte seinen ausweichenden Blick.
Der Kommissar konzentrierte sich auf eine akkurate Schnittlinie in dem Backwerk. »Klar.«
»Nun, solange, bis Larissa für sich und die Kinder eine passende Unterkunft gefunden hat«, antwortete Mara leichthin.
Matthias deponierte das Brötchenmesser neben seinem Teller und suchte nun seinerseits ihren Blick. Maras schelmisches Zwinkern nahm ihm augenblicklich den Wind aus den Segeln. »Es ist ja nicht so, dass mich die Anwesenheit der kleinen Familie stören würde«, rechtfertigte er seine Frage, »doch finde ich, du solltest langsam mal … ach Mist ... es ist einfach die fehlende Perspektive«, verhedderte er sich in einem vagen Erklärungsansatz.
»Fehlende Perspektive, sieh an«, die Kommissarin nickte zustimmend, »im Hinblick auf was?«
»Ach, keine Ahnung«, brummte Matthias und bestrich seine Brötchenhälften mit Butter. »Doch sie wohnen bereits seit Monaten bei uns und du hast deiner Schwester den Bürojob auf Gut Steinberg vermittelt. Möglicherweise möchte sie sich nach einer eigenen Wohnung umsehen.«
»Nun, wenn dem so wäre, würde sie es uns sicher mitteilen, denkst du nicht?« Liebevoll strich sie über seinen Oberarm. »Reichst du mir bitte die Marmelade?«
»Möglicherweise ist es Larissa unangenehm, dieses Thema anzuschneiden.«
»Blödsinn, Mako, warum sollte ihr das peinlich sein?« Mara löffelte Erdbeermarmelade auf die zweite Brötchenhälfte und hielt mitten in der Bewegung inne, den langstieligen Löffel auf Matthias gerichtet. »Außerdem passt die Wohnung im Obergeschoss doch perfekt für die drei, und ich bin dankbar für Larissas Hilfe im Haushalt.«
»Für Larissa mag mietfreies Wohnen durchaus verlockend sein«, knurrte Matthias und belegte sein Brötchen mit Salami und einigen Tomatenscheiben.
»Ich kann von meiner Schwester doch keine Miete verlangen«, erboste sich Mara.
»Warum nicht?« Matthias ließ nicht locker in seiner Einschätzung. »Außerdem erinnere ich mich vage an dein Statement, sämtliche familiären Bande gekappt zu haben, da du deine beiden Schwestern nur zu ertragen glaubtest, wenn sie fern von dir weilten.«
»Auf Alma trifft das auch nach wie vor zu«, gestand Mara kleinlaut ein, »ich wüsste nicht einmal, wo sie sich derzeit aufhält, wenn Larissa mir nicht von ihrer Wohnung in der Nähe von Rostock erzählt hätte. Und ich gestehe, dass ich mehr als verwundert war, dass sich Larissa in ihrer Notlage an mich wandte und nicht an Alma, denn die beiden hatten schon immer ein engeres Verhältnis zueinander. Doch andererseits freut es mich, dass Larissa bei mir Zuflucht gesucht hat.«
»Hat sie dir einen Grund für ihre Entscheidung genannt?«
Mara schüttelte den Kopf. »Bisher noch nicht.«
»Findest du nicht, es wäre langsam an der Zeit, mehr über die Begleitumstände zu erfahren?«
»Ich werde nicht nachfragen, Mako.«
»Wirst du nicht.« Der Kommissar schüttelte lächelnd den Kopf. Wann immer Mara seinen allseits bekannten Spitznamen verwendete, bemühte sie sich unbewusst um einen Hauch Dominanz.
»Ich werde Larissas Vertrauen nicht durch unangebrachte Neugier aufs Spiel setzen.« Obwohl Mara gerne mehr über die Umstände der überstürzten Flucht ihrer Schwester erfahren hätte, widerstrebte es ihr, sie direkt darauf anzusprechen.
»Vertrauen wird es erst, wenn sie ihre Vergangenheit mit dir teilt. Du hast nicht die geringste Vorstellung davon, was deine Schwester, in alle den Jahren, in Finnland erlebt hat.«
»Stimmt. Ich weiß gar nichts von Larissa.« Mara nippte nachdenklich an ihrem Kaffee. »Es ist so schrecklich viel Zeit vergangen, ohne dass wir voneinander hörten. Jede lebte ihr eigenes Leben, und zu Larissa scheint es nicht besonders freundlich gewesen zu sein.« Es erschütterte Mara zutiefst, dass ihrer Schwester offenbar nur die Flucht als einziger Ausweg erschienen war. Lediglich mit einer Reisetasche, einigen Schmuckstücken und etwas Bargeld hatte sie die gemeinsame Wohnung in Helsinki verlassen, während ihr Lebensgefährte, anlässlich der Veröffentlichung seines neusten Romans, einige Werbetermine wahrnahm.
Der Kummer in Maras Stimme versetzte dem Kommissar einen Stich. »Wie kam es zu dieser Distanz zwischen euch?«, fragte er behutsam.
»Nun, vermutlich lag es daran, dass ich die Ältere war«, erklärte Mara, »unsere Mutter war nervlich wenig belastbar und floh in alle möglichen Leiden, um sich den Anforderungen einer Familie zu entziehen, besonders, wenn es zwischen Vater und ihr schwierig wurde. Dann war es grundsätzlich meine Aufgabe, den Haushalt zu organisieren und mich um meine jüngeren Schwestern zu kümmern, beziehungsweise sie zur Raison zu bringen, denn Alma war bereits als Kind überaus launisch und Larissa ließ sich von ihr mitreißen.«
»Die erzieherischen Ambitionen der großen Schwester kamen demnach nicht sehr gut an?«
»Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Mit der Zeit vertiefte sich die Kluft zwischen uns immer drastischer. Irgendwann gingen wir uns nur noch aus dem Weg.« Mara griff nach ihrem Kaffeebecher und blinzelte Matthias über dessen Rand hinweg an. »Du bestehst jetzt aber nicht auf detaillierten Schilderungen, oder?«
»Selbstverständlich nicht«, beeilte er sich zu versichern, »jeder schleppt doch an seiner Vergangenheit. Belassen wir unsere dazugehörenden Erinnerungen, wo sie sind.«
»Ich liebe deine verständnisvolle Art«, zwinkerte Mara und das Lächeln kehrte in ihre Augen zurück.
»War das jetzt zynisch oder aufrichtig gemeint?«
»Aus tiefster Seele aufrichtig«, versicherte sie.
»Na, ich weiß nicht, ob ich dir das vorbehaltlos glauben kann.« Matthias schien nicht vollends überzeugt.
Mara ergriff seine Hand und drückte sie zärtlich. »Es ist die Gegenwart, die zählt, und die Gegenwart sind wir.«
Er erwiderte ihren Händedruck und nickte besänftigt. Doch gänzlich fallenlassen mochte er das Thema noch nicht. »Erzähl mir mehr von Alma«, forderte er Mara auf.
»Sie ist die Hübscheste von uns dreien und war der Augenstern unseres Vaters. Er vergötterte sie. Larissa gleicht ihr. Ich hingegen komme nach unserer Mutter. Vermutlich fand ich daher niemals Beachtung in Vaters Augen.« Mara räusperte sich energisch. »Alma stieg in den internationalen Jetset auf und verweilt offenbar nur sporadisch in ihrer Wohnung in Rostock, da ihre Anwesenheit an aktuellen Event-Standorten unabdingbar zu sein scheint.« Maras Blick verlor sich im herbstlich bunten Garten.
»Welch unschätzbares Glück für Larissa, dass ihre sesshafte ältere Schwester, in Zeiten der Not, als Lückenbüßer zur Verfügung stand«, konnte Matthias es sich nicht verkneifen, anzumerken.
Mara zuckte zusammen. »Zynismus steht dir nicht, Mako.«
Er ignorierte ihre Zurechtweisung und wagte sich noch weiter aufs dünne Eis. »Welcher Beruf gehört denn zu Almas unstetem Leben?«
Seine Partnerin runzelte verdrießlich die Stirn. »Wird das jetzt ein Verhör?«
»Nichts liegt mir ferner«, beteuerte er treuherzig, »es interessiert mich einfach.«
»Alma ist offenbar ein gefragtes Model, vorzugsweise jedoch im Fahrwasser schillernder Dollarmillionäre.«
»Verstehe.« Matthias biss in sein Brötchen und beließ es bei dieser Offenbarung. »Somit bist du die einzige von euch Dreien, die mit einem seriösen Job ihren Lebensunterhalt selbst bestreitet und sich nicht von betuchten Männern aushalten lässt.«
»Das stimmt so nicht«, protestierte Mara, »Larissa absolvierte eine Lehre als Bürokauffrau, wurde dann jedoch kurz vor ihrem Abschluss schwanger.«
»Von Jussi Kaminen, dem Schriftsteller, nehme ich an.«
Mara nickte bestätigend. »Larissa lernte ihn anlässlich einer seiner PR-Rundreisen kennen. Kaminen verbucht in Deutschland die nachweislich größte Leserschaft.« Sie blies sich eine imaginäre Locke aus der Stirn. »Man stelle sich vor, im Land der Dichter und Denker, schafft es dieser Möchtegernautor mit seinem Fantasy-Müll um Feen und Kobolde, die mit üblen Machenschaften und ausufernden Sexorgien fiktives Unheil über die Menschheit bringen, auf Platz Eins der Bestsellerliste.« Ihr Blick wurde noch eine Nuance finsterer, als sie Matthias feixendes Grinsen gewahrte. »War ja klar, dass dich das antörnen würde, du unverbesserlicher Macho«, schnaubte sie wütend.
»Welcher echte Kerl würde bei der Anspielung auf Sexorgien wohl unbeteiligt bleiben?«, grinste er noch breiter, »du hast nicht zufällig ein Exemplar des Möchtegernautors im Regal? Nur, damit ich mir persönlich ein Bild über dessen Inkompetenz machen kann«, betonte er lachend und duckte sich, als Mara ein noch unbeachtetes Brötchen ergriff und nach ihm warf.
»Hey, man spielt nicht mit Lebensmitteln«, rügte Matthias zwinkernd, »doch bin ich dankbar, dass du nicht das Messer benutzt hast.«
»Koslowski, du bist und bleibst ein Banause«, schalt Mara lachend. »Und Jussi Kaminen ist ein arroganter finnischer Lackaffe. Er brachte meine Schwester mit seinem schnöseligen Gehabe komplett unter seine Kontrolle, machte ihr zwei Kinder, dachte jedoch im Traum nicht daran, sie zu heiraten. Angeblich, weil das Charisma des Fantasyautors, gegenüber seiner weiblichen Leserschaft, durch eine Ehe negativ beeinträchtigt worden wäre.«
»Dennoch verwundert es mich, dass der gefeierte Star den abrupten Bruch kommentarlos hinnimmt. Immerhin sind Brinja und Tore auch seine Kinder«, wandte Matthias ein.
»Sollten Kaminen irgendwann väterliche Gefühle übermannen, wird er keine Ansprüche geltend machen können, denn er hat die Kinder offiziell nie anerkannt«, frohlockte Mara.
»Gab es keinen Vaterschaftstest?«
»Nein, wozu auch? Er stellte seine Vaterschaft ja nie infrage. Nur beweisen kann er sie nach der Trennung ebenfalls nicht.«
»Hoffen wir, dass er es dabei belässt. Damit entspränge der Tragödie zumindest ein positiver Aspekt.« Matthias schob seinen Teller zurück und griff nach seinem Kaffeebecher. »Darf ich somit deiner wackeren Verteidigungsrede entnehmen, dass deine Schwester bei uns ein uneingeschränktes Wohnrecht genießt?«
Mara stellte die Frühstücksteller zusammen und goss sich ebenfalls Kaffee nach. »Wodurch nur hat Larissa deine plötzliche Skepsis verdient?«, wunderte sie sich, »sie ist zurückhaltend, versucht sich anzupassen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aus welchem Grund soll ich sie nicht unterstützen, wo ich doch die Möglichkeit dazu habe?«
»Möglicherweise träumte ich ja davon, unsere gemeinsame Zeit in trauter Zweisamkeit zu beginnen und nicht in einer Großfamilie.«
»Erzähl mir nicht, dass dich die Kinder stören, so wie du mit ihnen herumtollst«, kicherte Mara und knuffte den Partner spielerisch in die Seite. »Für Tore hast du ein Fußballtor im Garten errichtet, und Brinja hast du die Pflege deines heißgeliebten Pferdes übertragen.«
»Eben«, brummte Matthias, »der Zwerg will seither ständig mit mir kicken und verfolgt mich sogar bis aufs Klo, und Brinja hat mir Odins Liebe gestohlen. Der Brummer läuft wie ein Schoßhündchen hinter ihr her.«
Mara lachte schallend auf. »Ach Matthias, die Kinder würden dir doch fehlen, wenn sie plötzlich nicht mehr da wären. Stell dir nur die Ruhe in diesem Haus vor, ohne ihr Lachen und Gekreische.« Sie suchte seinen Blick. »Larissa hat mir übrigens erzählt, dass du Tore im Fußballverein angemeldet hast.«
»Ach, hat sie das?« Matthias wand sich verlegen unter Maras prüfendem Blick. »Nun ja, irgendein Hobby muss der Zwerg ja haben, wo seine große Schwester den Reitsport für sich entdeckt hat. Gleiches Recht für alle.«
»Dennoch willst du sie aus dem Haus haben?«, Mara konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen.
»Lieber jetzt, bevor ich mich zu sehr an die Zwerge gewöhne«, brummte Matthias und schüttelte die Warmhaltekanne. »Leer«, beschwerte er sich, »soll ich die Kaffeemaschine noch einmal in Gang setzen?«
»Für mich nicht«, wehrte Mara ab, »wenn wir noch vor dem Mittagessen unseren Ausritt unternehmen wollen, müssen wir uns allmählich fertig machen.« Lächelnd schob sie ihm ihren halbvollen Becher hin. »Hier, du Koffein-Junkie, nimm meinen.« Sie lächelte seine grimmige Miene entschlossen weg.
Ihr war durchaus bewusst, was ihren Partner tatsächlich umtrieb. Matthias quälten bereits jetzt Verlassensängste. Seit Larissa mit dem hiesigen Tierarzt angebändelt hatte, war nicht auszuschließen, dass sich mehr als eine flüchtige Episode zwischen den beiden entwickelte. Mara wünschte ihrer Schwester von Herzen, dass sie in dem Veterinär einen liebevollen Partner, und für sich und die Kinder eine glückliche Zukunft finden würde. Ähnlich dem Glück, das sie mit Matthias Koslowski verband. Mara genoss die Zweisamkeit mit ihm in vollen Zügen. Bei ihm fühlte sie sich angekommen, geborgen und glücklich. Matthias teilte Maras Lebensphilosophie sowie den Wunsch nach einem harmonischen Zuhause, als ausgleichenden Gegenpol zu ihrem mitunter fordernden Beruf bei der Mordkommission. Mit der Sanierung des in die Jahre gekommenen Kotten, hatten sie sich ihre persönliche Ruhezone geschaffen.
Das Piepen ihres Diensttelefons riss die Kommissarin abrupt aus ihren Gedanken. »Oh, bitte nicht«, schimpfte sie leise und Matthias runzelte ahnungsvoll die Stirn.
Ergeben stellte sich Mara dem Unausweichlichen und nahm das Gespräch an.
Noch während sie mit ihrem Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Uwe Berger, telefonierte, verdüsterte sich Matthias Stimmung zusehends. »War´s das mit unserem entspannten Wochenende?«, fragte er verdrießlich.
»Sieht ganz danach aus«, bestätigte Mara seufzend. »Es gibt einen Leichenfund in einem Waldstück, nicht weit von uns. Offenbar handelt es sich um einen Suizid, der aber möglicherweise keiner ist.«
Der Gerichtsmediziner Doktor Schröder kniete neben der Leiche. Seine behandschuhten Finger betasteten die sterblichen Überreste und Dinge, an die Matthias Koslowski nur widerwillig denken mochte. Daher gesellte er sich zu den Kollegen der Spurensicherung, die den Tatort vorab gesichert hatten, und überließ Mara Vennemann den unmittelbaren Kontakt zu dem Toten.
»Etwas Verwertbares gefunden?«, fragte er interessiert.
Einer der Kollegen in den weißen Schutzanzügen zuckte zweifelnd die Achseln. »Alles deutet auf einen Suizid hin, denn auf dem Pfad vom Fahrzeug bis zum Hochsitz, führt nur eine frische Fußspur, zudem nur in eine Richtung. Die im matschigen Untergrund erkennbaren Abdrücke scheinen in Größe und Umfang dem Schuhwerk des Opfers zu entsprechen. Rund um den Ansitz finden sich weitere Fußspuren, die auf diverse Benutzer schließen lassen.«
»Müssten dann nicht auch unterschiedliche Abdrücke auf dem Pfad erkennbar sein?«, hakte Matthias nach.
»Theoretisch schon, doch der Trampelpfad ist sehr festgetreten. Lediglich an einigen Stellen ist seine Konsistenz durch den Regen der vergangenen Tage matschig aufgeweicht, dort konnten wir auch die Abdrücke sicherstellen.«
»Ist das alles?« Der Kommissar sah sich suchend um.
»Der Parkplatz rund um das abgestellte Fahrzeug ist teilweise mit Schotter verfestigt, was keine exakten Hinweise auf spezifische Abdrücke zulässt. Wir fanden einige Rückstände noch nicht analysierter Zusammensetzung. Hierzu müsst ihr die Laborergebnisse abwarten. Kollege Schulte nimmt sich gerade den Geländewagen vor. Den unmittelbaren Fundort und den Hochsitz sondierten wir, bevor der Gerichtsmediziner eintraf. Die Ergebnisse stehen euch zur Verfügung. Die Tür des Ansitzes ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Der Tote trug den dazugehörenden Schlüssel in der Jackentasche bei sich. Wir haben das Innere der Kanzel ebenfalls untersucht und die Tür abschießend versiegelt. Doch denke ich nicht, dass die dort gesicherten Hinweise mit eurem Fall zu tun haben, der sich vornehmlich unterhalb des Hochsitzes abgespielt zu haben scheint und dieser, wie gesagt, verschlossen war.«
Mara Vennemann verharrte geduldig neben dem Pathologen. Doktor Schröder in seiner Befundaufnahme zu unterbrechen war niemals ratsam und beschwor lediglich dessen Unmut herauf. Also versicherte Mara dem Gerichtsmediziner durch ihre stillschweigende Präsenz ihr unangefochtenes Interesse und wartete ergeben.
Der Anblick des Toten war nichts für schwache Nerven. Der Schuss aus einem Gewehr hatte ihm einen Teil des Schädels zerschmettert und austretende Gehirnmasse gefächert verstreut. Von dem Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen. Aus der zerstörten linken Augenhöhle tropfte eine blutig glasige Masse.
Mara schauderte. Welche Verzweiflung vermochte einen Menschen anzutreiben, sich den Lauf eines Gewehrs in den Mund zu schieben und abzudrücken? Warum eine derart unhandliche Waffe? Eine Pistole hätte durchaus auch ihren Zweck erfüllt und wäre deutlich einfacher zu handhaben gewesen. Sie versuchte, sich die morbide Szene vorzustellen und schüttelte sich erneut.
Doktor Schröder brummte etwas vor sich hin und erhob sich. Er fixierte die Kommissarin mit beiläufigem Interesse und zog sich die Gummihandschuhe von den Fingern. »Was denken Sie, Frau Vennemann?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, »rätseln Sie darüber nach, warum ein Mensch seinem Leben auf diese Art und Weise ein Ende setzt?«
Mara nickte bestätigend. »Was brachte ihn dazu, sich mit einer dermaßen schweren und unhandlichen Waffe zu töten?«
»Exakt das ist auch meine Frage«, bestätigte Doktor Schröder und signalisierte den wartenden Beamten die Freigabe der Leiche zum Abtransport. »Zumal der Tote, in seiner Eigenschaft als Jagdaufseher, im Besitz eines Waffenscheines ist und mit Sicherheit über handlichere Schusswaffen verfügt.«
»Wir wissen demnach bereits, um wen es sich bei dem Toten handelt?«
»Die Personalien finden Sie bei den Kollegen der Schutzpolizei, die als Erstes vor Ort waren«, winkte Schröder ab, »bleiben wir also bei dem Ablauf der Vorgehensweise. Ein Gewehr, wie unsere Tatwaffe, für einen Suizid zu verwenden, ist nicht nur umständlich und mühselig, sondern bedarf zudem einigen Aufwandes, da der Arm eines Menschen, von seiner Länge her, für einen solchen Ablauf wenig geeignet erscheint. Darüber hinaus weckt die Position der Leiche in mir berechtigte Zweifel an einem Suizid, weshalb ich die Mordkommission anforderte.«
»Die Position?« Mara Vennemann betrachtete die Lage des Opfers. »Finden Sie es demnach ungewöhnlich, dass der Tote auf dem Rücken liegt? Irgendwohin muss er ja gefallen sein.«
»Exakt.« Doktor Schröder tippte Mara mit dem Finger an die Schulter. »Er müsste gefallen sein, wenn er sich im Stehen oder im Sitzen den tödlichen Schuss zugefügt hätte. Dann jedoch wäre die Wucht der Explosion, die seinen Schädel bersten ließ, nach oben oder zumindest nach schräg oben abgegangen, worauf eine Streuung der austretenden Hirnmasse, sowie der Schädelfragmente, in einem Kreis-ähnlichen Radius erfolgt wäre. Der Tote wäre zusammengesackt. Keinesfalls hätte er wie aufgebahrt auf dem Rücken gelegen.«
»Nachvollziehbar«, murmelte Mara.
»Wie Sie feststellen können, erfolgte der Austritt der beschriebenen Körperfragmente jedoch lediglich in Richtung der Bäume in einem fächerartigen Muster«, fuhr Schröder fort, »das heißt, der Mann lag bereits in der jetzigen Position, als der tödliche Schuss abgegeben wurde.«
»Er hätte sich demnach in aller Seelenruhe auf den Rücken gelegt, das Gewehr auf seinem Bauch positioniert, sich den Lauf in den Mund geschoben und mit einem Blick in den Himmel den Abzug durchgezogen?« Angesichts dieses Szenarios schüttelte Mara entgeistert den Kopf.
»Schwer vorstellbar, aber dennoch nicht gänzlich auszuschließen«, bestätigte Schröder.
»Unfassbar. Besonders, wenn man in der seelischen Verfassung ist, Schluss zu machen.«
»Möchten Sie es einmal ausprobieren?«
Mara blinzelte den Mediziner erschrocken an. »Wie bitte?«
Schröder schmunzelte amüsiert. »Legen Sie sich einmal auf den Boden und halten Sie lediglich das Gewehr in der erforderlichen Position. Dann werden Sie sofort erkennen, was ich meine.«
»Mara!« Matthias starrte entsetzt auf seine Kollegin, die ausgestreckt auf der Erde lag und ein, in Folie verpacktes Gewehr, auf ihrem Bauch balancierte. »Was, um Himmels willen, tust du da?«
Doktor Schröder lachte meckernd. »Ihre Kollegin macht sich gerade selbst ein Bild davon, dass es sich in diesem Fall möglicherweise nicht um einen Suizid, sondern um einen perfide geplanten Mord handelt.«
Mara Vennemann reichte dem Beamten der SpuSi das Gewehr und erhob sich. »Das würde bedeuten, dass der Mann zu dieser Stelle gebracht, aufgebahrt und exekutiert wurde?« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »War er zu diesem Zeitpunkt bereits tot oder lebte er noch?«
»Tot oder zumindest bewusstlos«, bestätigte Schröder. »Dazu kann ich mehr sagen, wenn ich die Laborwerte erhalte, beziehungsweise den Körper obduziert habe. Ich tippe allerdings auf bewusstlos. Die Leichenstarre beginnt bei einem Menschen sechs Stunden nach Todeseintritt. Der Körper wird innerhalb von zwölf Stunden völlig steif und diese Starre hält sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden an. Bei dem Toten hat sie noch nicht eingesetzt, denn er liegt definitiv noch keine sechsunddreißig Stunden hier im Wald. Also würde ich sagen, er ist vermutlich seit vier bis fünf Stunden tot, was mich wiederum annehmen lässt, dass er erst hier an Ort und Stelle verschied. Die zeitliche Abfolge von Transport, Ausrichtung und Ermordung, sowie Auffindung ist erstaunlich knapp begrenzt. Alles fand innerhalb dieser wenigen Stunden statt. Was sich daraus schlussfolgern lässt, fällt in Ihr Ressort.«
»Wie eine einstudierte Inszenierung«, murmelte Mara verblüfft, »wer hat den Mann gefunden?«
»Frederik Brandenburg, der Enkel des Waldbesitzers Bertram Müller. Der Mann war, nach eigenem Bekunden, mit dem Jagdverwalter an diesem Ansitz verabredet.«
»Dann handelt es sich bei dem Toten um eben diesen Jagdaufseher?«
»Ja.« Einer der beiden Polizeibeamten, die zu dem Fundort gerufen worden waren, reichte Matthias Koslowski einen Zettel. »Oswald Siedel, fünfundvierzig Jahre alt. Ich habe alle Daten aufgenommen, da sich Herr Brandenburg außer Stande sah, länger an diesem Ort zu verweilen. Sie finden ihn im Haus seines Großvaters, Bertram Müller, wo er für eine Befragung zur Verfügung steht. Adresse steht auch auf dem Zettel.«
»Brandenburg?«, hakte Mara nach, »ist der Mann eventuell mit dem Tierarzt Constantin Brandenburg verwandt?«
»Ist mir nicht bekannt«, versicherte der Polizeibeamte schulterzuckend, »der Mann hat sich lediglich als Frederik Brandenburg ausgewiesen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Sonderbar«, murmelte Mara und steckte die Notiz in ihre Jackentasche. Sie blickte sich suchend nach ihrem Kollegen um. Matthias stand etwas abseits und plauderte mit den Männern der SpuSi.
Mara gesellte sich zu der Gruppe und eröffnete Matthias die Zusammenhänge. Der Kriminalkommissar reagierte ungehalten. »Na wunderbar«, schimpfte er, »damit ist der Sonntag dann wohl vollends gelaufen. Wie weit ist es bis zu dem Anwesen des Waldbesitzers?«
Mara tippte die Kontaktdaten in ihr Handy ein und blickte kurz von dem leuchtenden Display auf. »Gerade mal fünfzehn Minuten. Bleib locker, Kollege, auf uns wartet zumindest noch ein entspannter Nachmittag.«
Das Anwesen des pensionierten Bauunternehmers und Jagdeigentümers, Bertram Müller, lag außerhalb einer kleinen Ortschaft zwischen Münster und Greven. Die elektronische Kamera seitlich des schmiedeeisernen Tores scannte das Fahrzeug samt Insassen. Matthias ließ das Seitenfenster herunter und hielt seinen Dienstausweis in den Suchradius der Linse. Beinahe lautlos öffneten sich die beiden Flügeltore und schlossen sich augenblicklich wieder, nachdem der Wagen die Einfahrt passiert hatte.
Die Zufahrt zum Haus führte im weiten Bogen auf ein blendend weiß verputztes Gebäude im Stil der Bauhausarchitektur zu. Das trutzige Haus wirkte in seiner Gesamtpräsenz verwinkelt, da die geraden Linien der einzelnen Kuben ineinander verschachtelt zu sein schienen. Mehrere Balkone und Dachterrassen untergliederten die strenge Architektur. Hüfthohe, weiße Mauern umschlossen die ebenerdigen Terrassen. Lediglich die schwarzen Holzrahmen der Fenster und Fenstertüren unterbrachen in unregelmäßiger Abfolge die weiße Fassade. Rings um das Gebäude passte sich ein betonierter Weg exakt den Konturen des Hauses an. Es lag inmitten weitläufiger Rasenflächen, aus denen sich ausschließlich schmale Kiefernstämme in den Himmel reckten. Eine andere Bepflanzung gab es nicht. Der imposante Komplex wirkte kühl, nüchtern und dennoch elitär. An der Rückfront des Gebäudes schillerte die Wasseroberfläche eines Sees zwischen den Kiefern und der leicht hügeligen Landschaft.
Mara stieg aus dem Wagen und zog die Nase kraus. »Welch kalte Pracht«, räsonierte sie ansatzweise abfällig, »wie kann man sich in diesen Quadern nur wohlfühlen?«
»Also, mir gefällt es.« Matthias Blick wanderte anerkennend über Gebäude und Grundstück. »Schnörkellos und gradlinig.«
Die Kommissarin starrte ihren Kollegen ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst.«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Doch. Ich finde, das Haus hat was.«
»Was denn? Es sieht aus, wie eine Verschachtelung überdimensional großer Schuhkartons.«
»Ist doch mal etwas anderes, als die ewig roten Backsteinhäuser dieser Region.«
»Man merkt, dass du nicht von hier stammst«, stichelte Mara, »im Pott wächst man ja inmitten von Betonklötzen auf.«
»Das, was du meinst, Mara, ist zweckmäßige Ruhrgebietsbebauung. Das hier«, er machte eine ausholende Handbewegung, »ist eine Form von Kunst.«
»Als ob du etwas von Architektur verstehen würdest, Mako.« Sie knuffte ihrem Partner spielerisch in die Seite.
»Du verkennst mich und meine Fähigkeiten immer wieder«, beschwerte sich Matthias und verschloss das Fahrzeug.
Die schwarz gebeizte, massive Haustüre öffnete sich und versagte Mara eine passende Erwiderung. Ein Mann kam lächelnd auf die Beamten zu.
»Constantin?« Mara blinzelte irritiert. Hatte der Beamte nicht versichert, der Mann, der den Toten gefunden hatte, hätte sich als Frederik Brandenburg ausgewiesen?
Fortwährend lächelnd hob der Mann beide Hände. »Bedaure, nein.« Doch selbst die Stimme schien identisch. »Ich bin Frederik Brandenburg. Ihrem Erstaunen entnehme ich, dass Sie meinen Zwillingsbruder bereits kennengelernt haben«, klärte der Mann das offenbare Missverständnis auf.
Eineiige Zwillinge! Mara räusperte ihre Verblüffung weg. »Kommissarin Vennemann und das ist mein Kollege Kommissar Koslowski, Mordkommission Münster«, stellte sie sich und Matthias vor. »Wir kennen Ihren Zwillingsbruder in der Tat, Herr Brandenburg. Er ist unser Tierarzt. Bitte entschuldigen Sie mein Erstaunen. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«
»Ja, das ist sie«, bestätigte Frederik Brandenburg und machte eine einladende Handbewegung Richtung Hauseingang. »Bitte, kommen Sie herein. Wir haben Sie bereits erwartet, allerdings befremdet es mich ein wenig, dass sich Mitarbeiter der Mordkommission der unliebsamen Sache annehmen. Handelt es sich bei dem Tod unseres Jagdaufsehers denn nicht um Selbstmord?«
»Ob Suizid oder Fremdeinwirkung, bei beiden Tathergängen handelt es sich um eine unnatürliche Form, aus dem Leben zu scheiden und dafür sind wir zuständig«, klärte Mara Frederik Brandenburg auf. »Unsere Ermittlungen befinden sich verständlicherweise noch in der Anfangsphase, dennoch ergeben sich bereits jetzt berechtigte Zweifel an einem Selbstmord.«
»Ach du meine Güte.« Frederik Brandenburg zeigte sich schockiert. »Bitte.« Er führte die Kommissare durch eine beeindruckende Halle in einen nicht minder bemerkenswerten Wohnraum. Die gesamte Stirnseite war verglast und gab den Blick auf den See frei.
In einem Sessel der schwarzen Ledersitzgruppe saß ein weißhaariger Mann und blickte den Besuchern interessiert entgegen.
»Darf ich bekannt machen, mein Großvater Bertram Müller, die Kommissare Vennemann und Koslowski von der Mordkommission Münster«, stellte Frederik Brandenburg vor.
Bertram Müller erhob sich andeutungsweise und nickte den Beamten grüßend zu. »Bitte, nehmen sie Platz. Doch gestatten sie mir vorab die Frage, was die Mordkommission mit dem Freitod meines Jagdaufsehers zu schaffen hat?«
Matthias Koslowski erklärte es erneut.
»Sie wollen ernsthaft andeuten, Oswald Siedel sei beim Ansitz im Wald mit seinem eigenen Gewehr erschossen worden? Das ist doch absurd.«
»Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht absurd anmuten mag, ist diese Möglichkeit keineswegs von der Hand zu weisen, Herr Müller«, verwehrte sich Mara, »und sollte es sich tatsächlich so abgespielt haben, haben wir es mit einem äußerst perfiden Mord an Ihrem Jagdaufseher zu tun. Unsere Aufgabe ist es nun, herauszufinden, ob Selbst- oder Fremdverschulden vorliegt, sowie die Hintergründe für diese Tat zu eruieren und, bei Fremdverschulden, den Täter ausfindig zu machen.«
Der alte Mann wedelte unwirsch mit der Hand. »Unsinn«, wiederholte er uneinsichtig, »alles reine Spekulation. Wer sollte denn so etwas machen? Das ist doch kompletter Humbug.«
»Großvater, die Beamten werden schon ihre Gründe haben, wenn sie Fremdverschulden in Erwägung ziehen und Oswald war, wie wir wissen, nicht überall beliebt.«
Mara horchte auf. »Können Sie uns diese Einschätzung näher erläutern?«, hakte sie nach.
»Ja, nun«, Frederik Brandenburg lächelte gewinnend, »ich möchte niemanden verunglimpfen, der sich nicht mehr rechtfertigen kann«, begann er zögernd, »doch Oswald war wenig diplomatisch im Umgang mit seinen Mitmenschen. Damit meine ich speziell Spaziergänger, besonders solche mit Hunden, Reiter, Pilzsammler und andere Freizeitaktivisten, die einen privaten Forst für einen öffentlichen Vergnügungspark halten. Wenn diese Leute dann auch noch nach Einbruch der Dämmerung durch das Revier stromerten, konnte Oswald schon mal durchaus unangenehm werden.«
»Verständlicherweise«, donnerte Bertram Müller in die Schilderung seines Enkels hinein, »diese nichtsnutzigen Umweltaktivisten haben in meinem Wald nichts zu suchen.«
»Großvater, wir können ihn ja schlecht vor ungebetenen Besuchern abschließen«, lächelte Frederik besänftigend, bevor er sich wieder den Beamten zuwandte. »Oswald Siedel bezichtigte zudem erst vor kurzem den holzverarbeitenden Betrieb, mit dem wir zusammenarbeiten, sich nicht ordnungsgemäß an den Abholzungsplan gehalten zu haben.«
»Soll heißen?«, hakte Matthias nach.
»Offenbar wurden mehr Bäume eingeschlagen als durch Siedel freigegeben waren.«
»Kommt so etwas öfter vor?«
»Nein, bisher noch nie«, brummte Bertram Müller verärgert, »in all den Jahren, in denen wir mit dem Sägewerk zusammenarbeiten, gab es niemals Ungereimtheiten. Eberhard Korbmann weist den Vorwurf zudem vehement zurück.«
»Ist das der Verantwortliche für den Holzeinschlag?«, fragte Mara.
»Eberhard Korbmann ist der Eigentümer des holzverarbeitenden Betriebs, der zudem die Waldarbeiter stellt«, korrigierte Bertram Müller.
»Sie halten es demnach für fragwürdig, dass Oswald Siedels Vorwürfe stichhaltig sind?«
»Ich halte sie für abstrus«, legte der Unternehmer sich nachdrücklich fest, »Korbmann hat es wahrlich nicht nötig, sich auf solch unlautere Art zu bereichern. Sein Betrieb arbeitet wirtschaftlich, produktiv und wird von den hiesigen Waldbesitzern durchweg favorisiert. Es bleibt mir ein Rätsel, warum Oswald Siedel derartige Vorwürfe gegen Korbmann und seine Mitarbeiter erhoben hat.«
»Möglicherweise war es Siedel selbst, der sich an unserem Holz bereicherte«, flocht Frederik in die Ausführungen seines Großvaters ein, »den schwarzen Peter den Waldarbeitern und somit Korbmann zuzuschieben, wäre ein naheliegender Schachzug gewesen, um sich aus der Schusslinie zu manövrieren.«
»Unterlass gefälligst derartige Verdächtigungen«, brauste Bertram Müller unwillig auf, »Siedel hat noch nie in die eigene Tasche gewirtschaftet.«
»Weißt du das genau? Dir legte er doch lediglich die Abrechnungen vor, da du ihm, in allen forstwirtschaftlichen Belangen, völlig freie Hand gelassen hast.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass ich die Kontrolle über meine Ländereien verloren habe.«
»Aber weitestgehend das Interesse«, konterte Frederik Brandenburg.
Die Kommissare verfolgten interessiert den Disput. Ganz so harmonisch, wie eingangs dargestellt, schien das Verhältnis zwischen Großvater und Enkel offenbar nicht zu sein.
»Bitte nennen Sie uns Name und Anschrift des holzverarbeitenden Betriebes, damit wir uns selbst ein Bild von der Geschäftsführung machen können«, brachte sich Matthias in Erinnerung zurück.
»Wozu sollte das gut sein?« Bertram Müller dachte nicht daran, sich durch freundliche Worte besänftigen zu lassen. »Es missfällt mir, dass Sie einen integren Geschäftspartner mit ihren Nachstellungen zu behelligen gedenken.«
»Wir behelligen niemanden, Herr Müller, sondern ermitteln rund um einen dubiosen Todesfall«, stellte Mara richtig, »zudem dürfte es im Interesse des Geschäftsführers des Sägewerks liegen, jeden möglichen Verdacht von seiner Firma abzuwenden.«
»Des Eigentümers!«, korrigierte Bertram Müller.
»Gut, des Eigentümers, wenn Ihnen so sehr daran gelegen ist«, kam Mara dem alten Mann entgegen.
»Das ist eine Frage der Einstellung, junge Frau. Bei mir hat immer alles seine Ordnung.«
Mara schluckte die erneute Zurechtweisung herunter und streckte sich unwillkürlich bei dieser Respektlosigkeit gegenüber ihrem Status.
Matthias erhob sich abrupt und Mara warf ihm einen warnenden Blick zu. »Name und Adresse, junger Mann«, wandte er sich wenig entgegenkommend an Frederik.
»Wir möchten ungern eine Verleumdungsklage seitens des holzverarbeitenden Betriebs riskieren«, wandte Brandenburg zögernd ein und suchte Blickkontakt zu seinem Großvater, der allerdings mit finsterer Miene stoisch schwieg.
»Wie wir Ihnen bereits versicherten, können wir unmöglich nachvollziehen, welche Vereinbarungen zwischen Korbmann und Siedel getroffen wurden«, fuhr der Jungunternehmer daher fort, »das betrifft insbesondere die festgelegte Anzahl an Raummetern, die zum Einschlag freigegeben waren. Dazu müssten Sie Siedels Unterlagen einsehen.«
»Hat der Jagdaufseher Familie, eine Frau? An wen können wir uns mit dem Antrag auf Einsichtnahme in die Bücher wenden?«
»Nein, soweit ich weiß, ist, pardon, war Oswald alleinstehend«, wich Frederik Brandenburg aus, »Siedel bewohnte das zum Revier meines Großvaters gehörende Forsthaus.«
Matthias fokussierte seine Aufmerksamkeit auf den jungen Mann, und ein andeutungsweise spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, ohne jedoch abfällig zu wirken. »Aus welchem Anlass waren Sie heute Morgen mit Herrn Siedel am Ort seines Dahinscheidens verabredet?«, wechselte er spontan das Thema.
Brandenburg räusperte sich irritiert und sein Blick huschte erneut zu seinem Großvater, der sich jedoch nach wie vor jedem Blickkontakt verschloss. »Nun«, begann Frederik Brandenburg verhalten, »wir wollten die kürzlich fertiggestellte Kanzel nutzen, um Schwarzwild zu jagen. Wildschweine«, fügte er erklärend hinzu, als er Matthias fragenden Gesichtsausdruck wahrnahm. »Die Viecher verursachen zurzeit einen nicht unerheblichen Wildschaden auf den benachbarten landwirtschaftlichen Flächen und die Beschwerden der Landwirte veranlassten uns, einzugreifen.
Bei meiner Ankunft auf der Schneise am Waldweg parkte Siedels Wagen bereits dort. Fahrertür und Heckklappe standen offen, was mich einerseits verwunderte, andererseits annehmen ließ, Oswald habe möglicherweise bereits ein Wildschwein erlegt und warte auf meine Hilfe beim Abtransport. Daher folgte ich nicht dem festgetretenen Pfad um die Wiese herum, sondern querte diese direkt bis zum Unterholz und von dort zum Hochsitz. Als ich Oswald im Frühnebel dort liegen sah, nahm ich zunächst an, er sei auf den feuchten Holzstreben der Leiter ausgerutscht und gestürzt, doch dann erkannte ich, was wirklich geschehen war. Der Anblick seines zerborstenen Schädels hat mich derart entsetzt, dass ich kopflos zum Parkplatz zurückgerannt bin. Von dort aus habe ich dann die Polizei informiert. Ich versicherte den eintreffenden Beamten nicht noch einmal zum Ort des grausigen Geschehens zurückkehren zu wollen, gab ihnen meine Personalien und bat sie, bei weiteren Fragen zum Haus meines Großvaters zu kommen.«
»Ich hätte nicht angenommen, dass ein passionierter Waidmann, beim Auffinden eines, von einer Kugel zerschmetterten Körpers, derart die Fassung verliert«, wunderte sich Matthias, »der Anblick von Blut und zerfetztem Gewebe müsste Ihnen doch vertraut sein?«
»So wie Ihnen auch, denke ich«, schoss Frederik zurück, »aber ist es deshalb denkbar, dass Sie nichts mehr empfinden, wenn sie an Ihren Tatorten auf die teils grausam entstellten Opfer treffen?«
»Sie halten die Lichtung im Wald demnach für einen Tatort?« Matthias ließ sich äußerlich nicht aus der Ruhe bringen, doch Mara spürte, wie es in ihm zu brodeln begann.
»Ist er es denn nicht? So wie ich Sie verstanden habe, ist auch ein Selbstmord eine kriminelle Handlung, sonst wären Sie ja wohl nicht hier.«
»Warum kamen Sie ausgerechnet hierher?«, mischte sich Mara in die Diskussion ein, bevor sich Matthias Langmut in Zorn verwandelte.
»Erstens, wollte ich meinen Großvater selbstverständlich umgehend über die Tragödie informieren, da er der Waldbesitzer und Arbeitgeber von Oswald Siedel ist. Zweites bewohne ich den Westflügel dieses Hauses. Es handelt sich somit auch um meine Adresse.«
»Wie war Ihr persönliches Verhältnis zum Jagdaufseher Ihres Großvaters?« Mara blieb fortwährend neutral und hoffte, ihren aufwallenden Ärger emotionslos kontrollieren zu können, während Matthias der Groll bereits deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
»Verdächtigen Sie etwa mich Ihrer konstruierten Tat?«
Die Kommissarin atmete tief ein. »Wir konstruieren keine Tathergänge, Herr Brandenburg, wir rekonstruieren sie«, korrigierte sie unmissverständlich, »und auch, wenn sich Ihnen, sowie Ihrem Großvater, der Sinn dieser Gewalttat zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erschließt, so seien Sie dennoch versichert, dass wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen werden, um einen etwaigen Täter ausfindig zu machen. Daher frage ich Sie noch einmal: Wie war ihr Verhältnis zu Oswald Siedel?«
»Gut«, antwortete Brandenburg vage.
»Wie gut genau?«, hakte Mara nach.
Frederik Brandenburg seufzte genervt auf. »Wir standen in regelmäßigem Kontakt, da sich mein Großvater, altersbedingt, nicht mehr häufig im Revier aufhält. Alle anfallenden Begebenheiten klärte Siedel vorzugsweise mit mir, ebenso erhielt er die Anweisungen meines Großvaters wiederum durch mich. Darüber hinaus pflegten wir keinen Kontakt, wenn es das ist, worauf sie hinauswollen.« Frederik Brandenburg stellte sich dem prüfenden Blick der Kommissarin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir hatten ein gutes Arbeitsverhältnis, auch wenn es hin und wieder zu geringfügigen Meinungsverschiedenheiten kam, besonders, wenn Oswald wieder einmal mit seinen Verschwörungstheorien aufwartete.«
»Sie messen seinen Anschuldigungen demnach keinen Stellenwert bei?«
»Bei näherer Betrachtung halte ich sie tatsächlich für überzogen, allerdings nach wie vor für ein denkbares Ablenkungsmanöver. Doch erschließt sich mir nicht, warum Oswald sich an ein paar Festmetern Holz bereichert haben sollte. Ich hatte mir vorgenommen, ihn bei unserem heutigen Treffen darauf anzusprechen, wozu es ja bedauerlicherweise nicht mehr kam.«
»Wann haben Sie heute Morgen das Haus verlassen?«
»Kurz vor 7:00 Uhr.«
»Genauer geht’s nicht?«
»Bedaure.« Das charmante Lächeln schien zu einer höflichen Maske eingefroren.
Mara drehte sich zu Bertram Müller um. »Wo befanden Sie sich heute früh, zwischen 6:30 Uhr und 8:00 Uhr, Herr Müller?«
»Na, das ist ja wohl unerhört«, brauste der Bauunternehmer auf. »Was glauben Sie, junge Frau, wo sich ein unbescholtener Bürger meines fortgeschrittenen Alters um die Zeit aufhält, wenn es draußen zu dämmern beginnt?«
Maras Kiefermuskeln spannten sich. »Was ich glaube, steht hier nicht zur Debatte, Herr Müller«, entgegnete sie kühl, »und demzufolge hätte ich jetzt gerne eine konkrete Antwort.«
»Im Bett!«
»Alleine?« Jetzt sprang Matthias für Mara in die Bresche.
»Das ist ja nicht zu fassen! Was nehmen Sie sich heraus?«, empörte sich Bertram Müller, »ich bin ein verheirateter Mann.« Seine, mit Altersflecken übersäten Hände umspannten die Lehnen des Sessels, wodurch die blauen Adern deutlich hervortraten. Mit einer einzigen Handbewegung schnitt Bertram Müller seinem Enkel das Wort ab, als dieser sich vermittelnd einmischen wollte. »Du schweigst ab sofort zu allem, was mit dieser leidigen Geschichte im Zusammenhang steht.«
»Wenn Sie Ihrem Enkel das Wort verbieten, kann sicher Ihre Gattin Ihre Aussage bestätigen.«
»Nein, kann sie nicht«, blaffte Müller zunehmend aufgebracht, »nach einem Schlaganfall ist Ida pflegebedürftig und seither, zusammen mit ihrer Betreuerin, im Souterrain des Hauses untergebracht.«
»Wie praktisch.« Matthias Koslowski konnte sich die beißende Erwiderung nicht verkneifen und ignorierte Maras warnenden Blick. »Ihren sorgsam aufeinander abgestimmten Erklärungen entnehme ich schlussfolgernd, dass Sie nichts, aber auch rein gar nichts mit dem Ableben Ihres Jagdaufsehers zu tun haben, Sie sich ein Gewaltverbrechen nicht annähernd vorstellen können und es absolut niemanden gibt, der Ihre Ausführungen bestätigen kann«, fuhr er ungerührt fort, »es gibt demzufolge keinen dienstbaren Geist, der einem Mann Ihres fortgeschrittenen Alters behilflich ist? Wer versorgt Sie mit den gängigsten Annehmlichkeiten wie Frühstück zum Beispiel? Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten hierfür kein Personal. Was ist mit der erwähnten Pflegekraft?«
Ungeduld und Zorn sind oftmals prekäre Ratgeber und sieht man einmal davon ab, dass sie der Wahrheitsfindung mitunter zuträglich sind, führen sie nicht selten zu unüberwindbaren Gräben. Wenn Blicke töten könnten, hätte Matthias Koslowski das Anwesen nicht lebend verlassen.
»Meine Haushälterin hat sonntags frei«, zischte Müller aufgebracht. »Ich bin durchaus noch in der körperlichen Verfassung, selbst Kaffee zu kochen und mir ein Brot zu schmieren. »Die Pflegekraft hat sich ausschließlich um meine Frau zu kümmern und in diesem Teil meines Hauses nichts zu suchen. Das betrifft fortan auch Sie und Ihre Kollegin. Verschwinden Sie umgehend von meinem Anwesen. Mein Enkel wird sie hinausgeleiten.«
»Gut, dann wärs das.« Mara erhob sich und Matthias folgte ihrem Beispiel. »Fürs erste, Herr Müller«, fügte sie sachlich hinzu, »denn es ist keineswegs auszuschließen, nein, es ist sogar zu erwarten«, verbesserte sie sich, »dass sich während unserer Ermittlungen weitere Fragen ergeben werden, für deren Beantwortung wir auf Sie zurückkommen müssen.«
»Die können Sie dann mit meinem Anwalt klären«, schnauzte Bertram Müller und blieb demonstrativ sitzen.
»Ja denken Sie denn, dass Sie einen Anwalt brauchen werden?« Matthias zog fragend die Augenbraue hoch und brachte den Zorn des alten Mannes zum Überkochen.
»Raus hier, sofort oder ich jage euch verdammten Schnüffler mit der Flinte vom Hof.«
»Großvater, bitte ...« Frederik Brandenburg war der eskalierende Affront sichtlich unangenehm.
»Am besten, du verschwindest gleich mit«, brüllte der Senior.
»Bitte, folgen Sie mir«, wandte sich Frederik an die Kommissare, »bevor ihn noch der Schlag trifft.« Er hielt den Kommissaren unmissverständlich die Tür auf.
Im Eingangsbereich blieb Matthias Koslowski abrupt stehen.«
»Ist noch etwas?«, fragte Brandenburg irritiert.
»Die Adressen Ihres Jagdaufsehers und die des Sägewerks«, erinnerte Matthias.
»Pardon.« Frederik Brandenburg trat an den runden Kristallglastisch des Entrees und notierte die Adressen auf der Rückseite zweier Visitenkarten. »War‘s das jetzt?«, fragte er kühl.
»Ja.« Mara fischte die Karten aus seinen Fingern und steckte sie in ihre Jackentasche. »Wir melden uns bei weiteren Fragen. Ihnen und Ihrem Großvater noch einen halbwegs ersprießlichen Sonntag.«
Frederik nickte knapp. Der Sarkasmus in Mara Vennemanns Bemerkung war ihm nicht entgangen.
»Wie kann dieser bornierte Lackaffe der Zwillingsbruder unseres Tierarztes sein?«, wunderte sich Mara Vennemann, als sie wieder in ihrem Wagen saßen. »Sagt man nicht, Zwillinge seien nahezu identisch und glichen einander nicht nur äußerlich wie ein Ei dem anderen?«
»Frederik Brandenburg ist der lebende Beweis für die Absurdität dieser Hypothese«, bestätigte Matthias, »er könnte seinem optischen Pendant charakterlich nicht unähnlicher sein. Der Typ ist mir mega suspekt!«, betonte er burschikos und zwinkerte Mara zu.
»Mega ist noch untertrieben«, bestärkte Mara ihn grinsend. »Den Ausdruck hast du von Brinja aufgeschnappt«, foppte sie ihn und quietschte auf, als er sie in sie Seite zwickte. Sie fingerte ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich erstatte kurz Uwe Berger Bericht«, sagte sie und betätigte die Kurzwahltaste für den Anschluss des Hauptkommissars.
Matthias Koslowski konzentrierte sich auf den Verkehr, während Mara mit Berger telefonierte.
»Gut, machen wir«, betonte sie ergeben und beendete das Gespräch.
»Was machen wir?«, fragte Matthias mit hochgezogener Augenbraue, »sag nicht, wir können den Rest dieses verkorksten Sonntags endgültig abschreiben?«
»Ich befürchte, es ist so. Wir sollen noch zum Forsthaus fahren, uns kurz dort umsehen und das Gebäude anschließend versiegeln. Die Spurensicherung ist dann gleich morgen früh vor Ort.«
»Na toll«, schmollte Matthias, »unseren Ausritt können wir demnach abhaken.«
»Ich gebe Larissa kurz Bescheid, dass sie die Pferde auf die Weide bringen soll, dann haben sie wenigstens ihre Bewegung«, entschied Mara und tippte eine weitere Nummer in ihr Handy ein.
Das Forsthaus lag abseits eines schmalen Wirtschaftsweges und war nur über eine geschotterte Zufahrt erreichbar. Unzählige, mit schlammigem Wasser gefüllte Schlaglöcher, erzwangen ein Schritttempo und der Wagen tastete sich rumpelnd voran.
»Grundgütiger, was für ein Holperweg«, schimpfte Matthias und versuchte, die tiefsten Löcher zu umkurven.
»Da wird morgen der Besuch einer Waschanlage zwingend notwendig«, konstatierte Mara, als Schlammspritzer die Seitenscheibe besprenkelten.
»Oswald Siedel scheint ein genügsamer Mensch gewesen zu sein«, brummte Matthias und parkte den verdreckten Wagen vor dem grau verputzen Forsthaus. »Das Haus macht einen ebenso heruntergekommenen Eindruck wie die Zufahrt und ruiniert vollends meine Vorstellung vom Förster im grünen Loden-Outfit vor einem blumengeschmückten Holzhaus.«
»Du schaust zu viele Heimatfilme«, spottete Mara.
Matthias nickte. »Ich liebe sie. Sie geben mir mehr, als deine Endzeit-Horror-Streifen«, konterte er nachdrücklich, »allerdings scheinen wir hier in genau so einem düsteren Abklatsch gelandet zu sein.«
Die Kommissare stiegen aus und umrundeten einen Berg Rindenmulch, um zu der schiefen Gartenpforte zu gelangen, die den Zutritt zum Grundstück nur halbherzig verwehrte.
Der Kommissar betrachtete die Holzschnitzel und dann die Zufahrt. »Damit ließen sich die gröbsten Löcher wirkungsvoll stopfen.«
»Vermutlich liegt das Zeug zu eben diesem Zweck genau vor dem Eingang«, grinste Mara und öffnete die quietschende Pforte. Ein großer Münsterländer sprang wild kläffend am Gitter eines Hundezwingers hoch. »Wir müssen die Versorgung des Hundes sicherstellen«, überlegte Mara. »Vielleicht weiß Jörg Hausmann von der Hundestaffel, wo wir das Tier vorerst unterbringen können.«
Der Jagdhund gebärdete sich wie toll, als Mara an der verschlossenen Haustüre rüttelte und Matthias durch das Fenster in den Hausflur starrte. »Hallo!«, rief er und klopfte gegen die Türfüllung. Eine Schelle konnte er nirgends entdecken. »Hallo! Ist jemand zu Hause?«
»Siedel lebte doch allein«, erinnerte Mara.
»Glaubst du tatsächlich alles, was der grinsende Schönling dir weiszumachen versucht?«, stichelte Matthias. »Laut Aussage des versnobte Bürschchens, unterhielt er lediglich dienstlichen Kontakt zum Jagdaufseher, was Siedels Intimleben definitiv ausschließt.«
»Damit könntest du richtig liegen.« Mara ging um das Haus herum und lugte durch jedes der Fenster. »Wie vertraulich mag das Verhältnis zwischen Großvater und Enkel wohl sein?«
»Wer von den beiden die dickeren Eier hat, meinst du? Das hat der Alte dem Sprössling ja wohl unmissverständlich klargemacht.«
»Herr Kommissar, Sie vergreifen sich im Ton«, rügte Mara lachend, »welche Position bekleidet Frederik Brandenburg demnach im Leben des pensionierten Bauunternehmers, beziehungsweise in dessen Firma? Inwieweit ist er handlungs- und weisungsbefugt?«
»Merk dir all deine Fragen gut«, riet Matthias und drückte gegen die Terrassentür an der Rückseite des Gebäudes, »du wirst bald genug Gelegenheit bekommen, diese mit Müllers Anwalt zu erörtern. Ich tippe trotz deiner Zweifel darauf, dass Frederik Brandenburg nicht nur die rechte Hand seines Großvaters ist, sondern auch dessen Geschäfte fortführt. Müller selbst ist dazu doch gar nicht mehr in der Lage und Blut ist immer noch dicker als Wasser.«
»Das hast du jetzt wiederum schön gesagt, Mako«, stichelte Mara, »es sei denn, du möchtest daraus irgendwelche Parallelen zu unserer häuslichen Situation ableiten.«
»Seit wann reagierst du derart empfindlich, Venne?«, mokierte sich Matthias, »alles, was wir während der Arbeit von uns geben, ist rein dienstlich zu bewerten und färbt niemals auf unser Privatleben ab. Also mach mir nicht mein Blut dick.«
»Schatzi, du verwechselt da etwas«, feixte Mara und sprang kichernd zur Seite, als er nach ihr griff. Lachend rannte sie um das Haus herum, gefolgt von ihrem grimmig knurrenden Kollegen.
»Du entkommst mir nicht«, schnaufte Matthias und erwischte Mara am Ärmel ihrer Jacke. Mit erhobenen Armen drehte sie sich zu ihm um und strahlte ihn an. »Ich ergebe mich«, prustete sie außer Atem.
»Was zu erwarten war«, grinste der Kommissar selbstgefällig, »und sei versichert, dem alte Griesgram wird es nicht anders ergehen. Er wird erkennen müssen, dass ich mich nicht widerspruchslos abspeisen lasse, nur weil ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund auf die Welt gekommen bin.«
Mara umspannte Matthias Gesicht mit beiden Händen. »Ich liebe deine offene, unbeschreiblich herzliche Art.«
»Das will ich doch stark hoffen«, Matthias küsste ihre Lippen, »unbeschreiblich trifft es ziemlich genau und damit meine ich nicht nur meine offene Art.«
»Ganz schön eingebildet, Herr Kollege.« Sie schmiegte sich wohlig in seine Arme. »Da hier offenkundig niemand anwesend ist, lass uns den Schuppen versiegeln und nach Hause fahren.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«, bekräftigte Matthias, »doch apropos Schuppen, wir sollten noch rasch einen Blick in das Nebengebäude werfen.«
Garage und Nebengebäude waren unverschlossen. In der Garage stapelten sich in einer Ecke mehrere Autoreifen und von der Decke baumelte ein korrodiertes Überbrückungskabel. Im Nebengebäude herrschte unüberschaubares Durcheinander. Die Regale längst der Wände waren vollgestopft mit Krempel, angefangen von Farbdosen, Pinseln, Werkzeugen, Jutesäcken, Töpfen, Fellen bis hin zu Gummistiefeln und verschnürten Zeitungsstapeln. Zwei Metallhaken baumelten an in der Decke einbetonierten Ösen. Mara wies auf eine dunkle Stelle am Boden. »Ist das Blut?«
Matthias kniete sich neben den Fleck. »Sieht so aus.« Sein Blick wanderte nach oben, zu den Fleischerhaken. »Da werden unsere Kollegen von der Spurensicherung ihre helle Freude haben«, prognostizierte er.
Direkt neben dem Eingang erregte ein gelber Plastikeimer mit Deckel Matthias Aufmerksamkeit. Er enthielt Hundefutter. »Na bitte«, freute er sich, »hungern muss der Krawallmacher wenigstens nicht.« Er nahm eine Blechdose und füllte sie mit den Pellets. »Ich schütte das Futter in den Zwinger. Da uns die Fellnase offenbar wenig freundlich gesonnen ist, muss sie wohl oder übel vom Boden fressen.«
Im auffrischenden Wind kräuselte sich die Wasseroberfläche des Sees und das Schilf im Uferbereich bog sich in den winzigen Wellen.
Bertram Müller starrte grübelnd in das stürmische Szenario. »Wie schätzt du die Situation ein?«, fragte er seinen Enkel, ohne ihn anzusehen.
»Ich versteh‘s nicht«, kommentierte Frederik kopfschüttelnd die unerfreuliche Entwicklung, »warum interpretieren Polizisten durchweg kriminelle Intentionen in offenkundige Begebenheiten hinein? Alles deutet doch fraglos auf einen Selbstmord Siedels hin, aber nein, da könnte möglicherweise jemand nachgeholfen haben, und schon belästigen einen diese Schnüffler wie ein Schwarm Schmeißfliegen.«
»Ich hoffe nur, sie werden keinen Mist finden, auf dem sie sich niederlassen können«, brummte Bertram verärgert.
»Selbstverständlich nicht«, versicherte Frederik nachdrücklich. »Wie du bereits anmerktest, handelte Oswald durchweg korrekt, zumindest war er ein Pedant. Es sollte mich nicht verwundern, wenn er einen Abschiedsbrief hinterlassen hätte, in dem er seine Verzweiflungstat begründet. Eine solche Erklärung wurde vermutlich nur noch nicht gefunden.«
»Dann wird es höchste Zeit«, knurrte Bertram, »wir beide kannten Siedel und seine penetrant akribische Art, die ihn andererseits für seinen Job prädestinierte.«
»Ich war von ihm nie so überzeugt, wie du.« Frederik trat an die Hausbar und füllte eins der Whiskygläser. »Auch einen Drink?«, bot er seinem Großvater an, doch der winkte ab.
Frederik zuckte mit der Schulter, ließ sich in einen der Ledersessel sinken und lehnte sich entspannt zurück. Versonnen drehte er das Glas in seiner Hand. »Wir können im Nachhinein schwerlich in Erfahrung bringen, was Siedel letztendlich dazu verleitete, seinem Leben mit einem derart spektakulären Schlussakkord ein Ende zu setzen. Ich weiß, du hältst es für abwegig, Großvater, doch angenommen, er hat sich tatsächlich an unseren Holzbeständen bereichert? Möglicherweise aus einer finanziellen Notlage heraus.«
»Papperlapapp!« Bertram wedelte unwirsch mit der Hand, als wolle er einen derartigen Verdacht verscheuchen, »dazu war Oswald nicht ansatzweise in der Lage. Veruntreuung kam in seinem Ehrenkodex nicht vor. Ein derartiges Versagen hätte ihn umgebracht.«
»Eben«, lächelte Frederik und nippte an seinem Whisky.
»Hat er, vor seinem Ableben, wenigstens bei Constantin noch etwas erreichen können?«, überspielte Bertram Frederiks sarkastische Bestätigung.
»Du meinst wegen des Holzeinschlags auf den Waldgrundstücken meines Bruders?«
»Was denn sonst«, schnauzte Bertram, »konnte Constantin letztendlich umgestimmt werden?«
»Ist mir nicht bekannt.«
»Verfluchter Mist. Auf den Parzellen stehen mächtige Buchen zum Einschlag bereit und der Preis für Buchenholz klettert gerade in den Himmel.«
»Wenn du möchtest, spreche ich persönlich bei meinem Bruder vor, doch große Hoffnung solltest du dir nicht machen. Warum auch? Das Holz gehört ohnehin ihm.«
»Ich will nicht nur das Holz, verdammt noch mal, ich will das Land zurückhaben, das deine Großmutter so leichtfertig an diesen Umweltfanatiker verschenkt hat.«
»Constantin war schon immer sehr naturverbunden.«
»Er ist ein alternativer Spinner«, fauchte Bertram, »ein Möchtegernweltverbesserer, der Sinn und Nutzen nicht mehr auseinanderhalten kann. Naturwald-Projekt. Welch hirnrissiger Unsinn. In meinen Wäldern herrscht gepflegte Ordnung, da liegen keine halb vermoderten Stämme unter wucherndem Unkraut herum.«
»Tja, so ist er nun mal.« Frederik stellte sein Glas auf der Granitplatte des Tisches ab und erhob sich. »Constantin wird seiner Überzeugung treu bleiben, Großvater. Wir sollten keine Treibjagd auf ihn vom Zaun brechen. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie er reagieren könnte, erführe er von den Plänen, eines Naherholungsgebietes rund um den See.«
»Diese Information ist und bleibt vorerst streng geheim.« Bertram Müllers Augen sprühten Funken. »Wage es nicht, irgendetwas darüber an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ich komme in Teufels Küche, sollte meine Quelle beim Bauamt auf diese Weise brüskiert werden.«
»Constantin könnte es möglicherweise von Siedel erfahren haben.«
»Unsinn. Wie sollte der unbedeutende Kleingeist an derartige Informationen gelangt sein, die noch nicht einmal spruchreif sind? Vorläufig werden mehrere Regionen für das Naherholungsgebiet in Betracht gezogen. Daher ist es doch so immens dringend, dass ich die Grundstücke wieder unter meine Kontrolle bringen kann.«
»Oswald hat mich mit unserem Architekten am See gesehen.«
»Ja, da soll mich doch ...«, wutentbrannt stemmte sich der pensionierte Bauunternehmer aus seinem Sessel hoch. »Denkst du, Siedel könnte etwas mitbekommen haben?«
Frederik zuckte mit den Schultern. »Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Er grüßte gewohnt zurückhaltend und musterte die Pläne in Hoffmanns Hand. Welche Schlüsse er, nach diesem kurzen Blick, daraus ziehen konnte, bleibt reine Spekulation. Ich hatte beabsichtigt, ihm heute auf den Zahn zu fühlen. Doch dann bringt der Mistkerl sich einfach um.«
»Wir können von Glück sagen, wenn er sein mögliches Wissen mit ins Jenseits genommen hat«, brummte Bertram Müller skeptisch. »Was hältst du von den vorläufigen Plänen?«
»Hervorragende Arbeit des Planungsbüros«, lobte Frederik anerkennend, »die Ferienhäuser und das dazugehörende Resort fügen sich perfekt in die Landschaft ein, ohne dem See seinen verträumten Charme zu rauben.«
»Folge mir in mein Arbeitszimmer«, ordnete Bertram an, »ich habe noch einige Änderungen angefügt, die ich dir gerne zeigen möchte.« Er zog die zweiflügelige Schiebetür auf, die den Wohnraum mit dem Arbeitszimmer verband. Interessiert beugte sich Frederik über die, auf dem opulenten Schreibtisch ausgerollten Entwürfe.
Brinja Vennemann stürmte den Kommissaren in der Einfahrt entgegen. »Onkel Mako, Ich habe Odin und Kevin geputzt, nur nicht auf ihren Rücken, da komme ich immer noch nicht ran«, erklärte sie stolz. »Jetzt sind sie zwar auf der Weide, aber sie haben sich noch nicht im Dreck gewälzt, also könntet ihr euren Ausritt noch schaffen.«
Matthias Koslowski rubbelte dem Mädchen durch die blonden Locken. »Du bist ein Schatz, junge Dame«, lobte er lachend, »was würden wir nur ohne dich machen?«
Die Seitentür des Kotten flog auf und Tore Vennemann hüpfte die Stufen hinunter. »Da bist du ja endlich, Onkel Mako«, jubelte er, »wir wollten doch kicken. Ich warte schon soooo lange auf dich.« Die Kinder nannten Matthias durchweg bei seinem Spitznamen.
Matthias fing Tore auf und wirbelte ihn durch die Luft.
Mara schmunzelte und kraulte R5, die das zurückkehrende Team ebenfalls überschwänglich begrüßte. »Nun, Herr Kommissar, ich würde sagen, Zwickmühlen-Konstellation«, lachte sie heiter, »entweder, enttäuschte Kinderseele oder Verzicht auf eine liebgewonnene Gewohnheit. Entscheide dich rasch, denn viel Zeit zum Überlegen bleibt dir nicht. Bei dem auffrischenden Wind lockt mich ein ausklingender Nachmittag vor dem Kamin allerdings mehr«, erleichterte sie ihrem Partner die Entscheidung.
Tores bettelnde himmelblaue Augen beendeten den Entscheidungskonflikt des Kommissars umgehend. »Die Männer spielen eine Runde Fußball, während uns die Damen einen ordentlichen Kaffee zubereiten. Soweit ich weiß, wartete in der Speisekammer frischer Pflaumenkuchen auf einen hungrigen Kriminalkommissar. Ich hoffe doch stark, ihr habt mir eine ordentliche Portion übrig gelassen.«
»Jippijeh!«, freute sich Tore und stürmte ums Haus herum zu seinem Fußballtor.
»Ich ziehe mich nur rasch um«, rief Matthias ihm hinterher, »und dir danke ich für deine vorausschauende Pferdepflege, Brinja, aber wir belassen es heute beim Weidetag für Odin und Kevin. Bring ihnen doch einen Apfel als Entschädigung«, schlug er vor.
Auch Brinja hüpfte Richtung Garten davon. Mara zwinkerte Matthias zu. »Wolltest du sie allen Ernstes loswerden?«
»Muss mich beeilen«, wich Matthias einer Stellungnahme aus und schlüpfte an ihr vorbei ins Haus, »der Keeper wartet nicht gerne in seinem Tor. Ruft uns, wenn der Kaffee fertig ist.«
Der Pflaumenkuchen lockte die Erwachsenen um den großen Tisch in der Diele, die beiden Kinder verweilten im Garten und schienen an einer zweiten Portion des köstlichen Gebäcks nicht interessiert.
»Sie haben sich ihre kleinen Bäuche bereits ordentlich voll gestopft«, lächelte Larissa.
»So lange sie mir etwas übrig lassen, sei es ihnen von Herzen vergönnt«, neckte Matthias und verteilte reichlich Schlagsahne auf seinem Kuchenstück.
»Danke, fürs Backen.« Mara tätschelte Larissas Hand. »Mir fehlt meistens die Zeit und die Muße für hausfrauliche Unternehmungen.«
Larissa Vennemann blickte ihre Schwester dankbar an. »Es ist mir einen Freude«, erwiderte sie nachdrücklich, »du ahnst nicht, wie viel es mir bedeutet, dass die Kinder und ich hier sein dürfen«, beteuerte sie, »ihr unbeschwertes Lachen und ihre strahlenden Augen bestätigen mir, dass sie das Trauma unserer Flucht, allmählich überwunden haben.«
»Es war die einzig richtige Entscheidung«, bestärkte Mara die Schwester, »nach dem, was du mir erzählt hast, war es an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen, Larissa.«
»Ich hatte stets gehofft, Jussi würde sich irgendwann zu seiner Familie bekennen, doch ich war wohl zu blauäugig. Obschon er uns rigoros verleugnete, möchte ich mir dennoch nicht seine Reaktion ausmalen, als er in das leere Haus zurückkam. Er trennt sich nur höchst ungern von seinem Eigentum und als solches hat er uns hinlänglich betrachtet.«