Zürcher Verschwörung - Michael Moritz - E-Book

Zürcher Verschwörung E-Book

Michael Moritz

4,0

Beschreibung

Albin Studer, ehemaliger Offizier der päpstlichen Schweizergarde, wird erschlagen. Die Tatwaffe: eine Boule-Kugel.Tatort: Platzspitz, Zürich. Der Täter: der Drogensüchtige Demenga. Für die Polizei und den Vatikan ist der Fall somit erledigt. Nicht aber für Roger Stahl, Gardist des Papstes mit Spezialaufgaben. Ehe er jedoch Demenga befragen kann, stirbt der an einer Überdosis Heroin. Und als plötzlich die Jagd auf ein ominöses Buch aus Studers Nachlass ausbricht, muss Stahl erkennen: Albin Studer war nicht der Mensch, für den er ihn hielt … Ein intelligenter Krimi, der kustvoll verknüpft, was einen spannenden Roman ausmacht: Sex and Crime, Liebe und Leidenschaft - und eine Countdown, der kalte Schauer über den Rücken jagt. Nicht nur für Züricher!

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Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den grossen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen («Tatort», «SOKO Köln», «Die Sitte», «Post Mortem»). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschienen «Tod in der Rheinaue», «Roter Regen», «Weinselig» und «Lost Place Vienna».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/judigrafie Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-097-1 Kriminalroman Originalausgabe

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Gesetzt den Fall,

Sie haben nie einen Menschen umgebracht:

Wie erklären Sie sich,

dass es dazu nie gekommen ist?

1

Stahl bekreuzigte sich. Die Frau neben ihm sah von der Modezeitschrift auf und schenkte ihm einen Blick feinen Spotts. Stahl war kein Feigling, aber Katholik. Er wusste, dass der Himmel nicht über den Wolken hing, aber er hatte sich den Respekt vor dem Fliegen bewahrt.

Der Pilot verstand seinen Job, das Flugzeug setzte sanft auf. Es war es wert gewesen, sich zu bekreuzigen.

Stahl sah auf die Boulevardzeitung, die er sich zu Beginn des Fluges vom Stapel genommen hatte, und dachte beim wiederholten Lesen der Schlagzeile, dass er sich auch für Albin bekreuzigt hatte. Einmal bekreuzigen für eine Landung und für den Tod eines alten Freundes. Das konnte man effizient nennen. Und Effizienz war es auch, was Stahl von Albin gelernt hatte: keine unnötigen Aktionen, keine Kapriolen, keine Schnörkel.

«Junkie erschlägt Gardisten mit Boule-Kugel!» Die Buchstaben sprangen fett aus dem Papier. Albin wäre das zu schrill gewesen. Ein leiser Nachruf im Kreise der Veteranen hätte ihm genügt. Jetzt sorgte Albin für Aufregung und eine erhöhte Auflage: Ein ermordeter Ex-Gardist der Schweizergarde war immer ein gefundenes Fressen für die Presse. Sofort kramten die Journalisten den spektakulären Doppelmord von 1998 aus den Archiven. Damals wurden Oberst Alois Estermann, der Kommandant der Schweizergarde, und seine Frau Gladys Meza Romero ermordet. Als Täter hatte man Vizekorporal Cédric Tornay ausgemacht. Das Motiv sei Rache gewesen. Estermann war erst zehn Stunden vor seinem Tod von Papst Johannes Paul II. zum Kommandanten gekürt worden. Tornay, dem selbst wegen schlechter Führung die Verdienstmedaille verweigert worden war, war daraufhin ausgerastet und hatte sich durch die zwei Morde Gerechtigkeit verschafft. So jedenfalls hatte es die Garde des Vatikans ermittelt. Die Öffentlichkeit wollte sich damit nicht zufriedengeben. Alles, was aus dem Vatikan drang, roch nach mehr, bauschte die Phantasie all jener auf, denen der Eintritt in die inneren Gemächer versagt blieb.

Ein Mysterium: ein Staat auf einem Hügel von vierundvierzig Hektaren gelegen, der undurchsichtiger operierte als fünf Geheimdienste zusammen. Es blieb nicht aus, dass man hinter der Tragödie um Estermann mehr vermutete: Homosexualität, Verbindung zur Staatssicherheit der ehemaligen DDR, düstere Rituale von Opus Dei oder die ganz grosse Weltverschwörung. Es gab sogar Menschen, die vermuteten, dass im Vatikan Ausserirdische beherbergt wurden.

Stahl wusste nur: Estermann war am 4. Mai getötet worden. Zwei Tage später, am 6. Mai 1998, war Stahl als dritter Rekrut zur Fahne der Garde geschritten, hatte mit der linken Hand die waagrecht gehaltene Stange umfasst und mit der rechten die drei Finger zum Eid gespreizt. Kaplan Weiss hatte die Eidesformel vorgelesen:

«Ich schwöre, treu, redlich und ehrenhaft zu dienen dem regierenden Papst, Johannes Paul II., und seinen rechtmässigen Nachfolgern, und mich mit ganzer Kraft für sie einzusetzen, bereit, wenn es erheischt sein sollte, selbst mein Leben für sie hinzugeben. Ich übernehme dieselbe Verpflichtung gegenüber dem Kollegium der Kardinäle während der Sedisvakanz des Apostolischen Stuhls. Ich verspreche überdies dem Herrn Kommandanten und meinen übrigen Vorgesetzten meine Achtung, Treue und Gehorsam. Ich schwöre, alles das zu beachten, was die Ehre meines Standes von mir verlangt.»

Und Stahl hatte wiederholt: «Ich, Rekrut Roger Stahl, schwöre, alles das, was mir soeben vorgelesen wurde, gewissenhaft und treu zu halten, so wahr mir Gott und seine Heiligen helfen.»

«Könnte ich bitte durch?», fragte die Frau vom Fensterplatz, die es offenbar eilig hatte. Erst jetzt bemerkte Stahl, dass die übrigen Passagiere bereits ausgestiegen waren.

«Entschuldigen Sie vielmals, ich war in Gedanken.» Er stand auf und liess die Frau an sich vorbei. Sie reckte sich zum Gepäckfach, um ihren Koffer herauszunehmen. Dabei spannten sich die Waden ihrer schlanken Beine zu kleinen Kugeln, die beige Bluse rutschte aus dem Bund des kurzen Rockes und liess ein Stück nackter Haut blitzen.

«Warten Sie, ich helfe Ihnen», sagte Stahl und griff nach ihrem Koffer. Stahl mass knapp eins neunzig, sein durchtrainierter Körper wirkte trotz der langen Extremitäten keineswegs schlaksig; vielmehr tänzerisch.

«Danke», sagte die Frau, nahm den Koffer entgegen und warf einen Blick auf die silberne Rolex. «Mit der Schweizer Pünktlichkeit ist es auch vorbei. Das sind ja Verhältnisse.»

Stahl wusste nicht, ob sie ihn oder den Piloten für die Verspätung des Flugzeugs verantwortlich machte. Er sah noch mal auf ihre Beine, die hinter dem schmalen Rollkoffer bei jedem Schritt aufblitzten, und sprang in Gedanken von ihren Waden zur Boule-Kugel, die Albin erschlagen haben sollte. Dann nahm er seinen dunkelblauen Trenchcoat, den er sich von Lézard für diesen Sommer gekauft hatte. Er warf den leichten Mantel lässig über den Unterarm und ging auf die beiden Stewardessen zu, die ihm einen schönen Aufenthalt in Zürich wünschten und ihm zum Abschied ein Tablett mit Schokolade entgegenstreckten. Er griff sich zweimal «Zartbitter» und lächelte dazu doppelt so süss. Dann trat er auf die Metalltreppe hinaus.

Er hielt kurz inne und inhalierte die frische Luft: Zürich im September. Heimat. Es schien ihm eine Ewigkeit, dass er hier gewesen war.

Cecilia starrte auf den Bücherschatz und holte tief Luft. Wo beginnen? Das Regal vor ihr hatte eine Länge von etwa sechs Metern und reichte bis unter die hohe Decke. Die Tablare, feiner italienischer Nussbaum, glänzten schlicht und zurückhaltend; die Bücher sollten zur Geltung kommen. Das taten sie. Unzählige Erstausgaben, edle Sammlungen von Denkern und Dichtern: streitsüchtige Philosophen bedrängten friedvolle Theologen, Praktiker konkurrierten mit Theoretikern, Wissenschaftler feilschten mit Künstlern.

Cecilia musste aufpassen, sich nicht bei jedem Buch zwischen den Seiten zu verlieren, sondern das zu tun, wozu sie hier war: die Folianten in Kartons zu verpacken, um sie dann ins Antiquariat zu transportieren. Allein konnte sie das niemals schaffen. Linus hatte sich mal wieder verspätet. Er würde dem Verkehr die Schuld geben, aber Cecilia ahnte Arges. Er hatte wieder begonnen zu saufen. Das Ende des Sommers war eingeläutet. Sobald die Altweiber ihre Fäden spannten, griff Linus zur Flasche. Pünktlich zu Weihnachten würde er sich dann selbst auf Entzug setzen und mit seiner Ungeniessbarkeit die Familienfeier zerstören. So lief es jedes Jahr. Am besten ertrug man ihn von Mai bis Ende August. Heute war aber der 5. September und Sonntag dazu. Cecilia mochte nicht daran denken, dass sie täglich mit Linus zu tun haben würde. Aber sie hatte Tante Hedwig versprochen, so lange auszuhelfen, bis sie nicht mehr an Krücken gehen musste. Das neue Hüftgelenk durfte nicht zu früh belastet werden, wollte Hedwig wieder die Alte werden. Und mit fünfundsechzig heilten die Wunden eben nicht mehr so schnell. Vor allem, wenn man, statt sich zu bewegen, lieber unzählige Zigarren nebst einer Flasche Rotwein genoss und sich tagein, tagaus im Ohrensessel zum Literaturstudium lümmelte.

Ohne die finanzielle Unterstützung und die Kontakte von Tante Hedwig hätte sich Cecilia ihr Studium niemals leisten können. Viele wollten Journalisten werden, aber nur wenige schafften es, gelesen zu werden. Hedwig kannte Leute, die wichtig waren, und Cecilia hatte es sich längst abgeschminkt, nur mit ihren Fähigkeiten allein Karriere zu machen. Sie wusste, dass man auch Gelegenheiten ergreifen musste, wenn man es nach oben schaffen wollte. Lange genug hatte sie für die «Fabrikzeitung» geschrieben. Jetzt war sie neunundzwanzig und wollte Leitartikel verfassen, die diskutiert wurden. Am liebsten hätte sie aber ein grosses Projekt gehabt, für das sie recherchieren durfte. Wie ein Regenwurm im Komposthaufen konnte sie sich in Quellentexten verkriechen und sich von einer Information zur nächsten fressen. Allerdings waren solche Geschenke keinem Verleger der Welt abzutrotzen. Zumindest nicht, wenn man Cecilia Fetz hiess und bislang nur Porträts über Underground-Bands und Graffiti-Künstler vorzuweisen hatte, und nebenbei für ein Juwelier-Magazin alte Kriminalfälle auf eine Seite zusammenstutzen musste. Ein grosses kulturelles Thema, besser noch ein Skandal, der die Gesellschaft interessieren und bewegen würde, bei dem man Zeit hatte, sauber zu arbeiten – das wäre was. Wenn Hedwig mit ihrem Erbe vorzeitig rausrücken würde, könnte Cecilia sich das Projekt sogar auf eigene Faust finanzieren. Danach wäre sie dick drin im Geschäft.

Cecilia wischte ihren Tagtraum mit einem Atemzug weg und warf das dicke Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, in den Karton zu den anderen Folianten. Es klatschte auf und staubte.

Im Schloss der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel. Besass Linus auch einen? Cecilia dachte, Hedwig hätte nur einen von Albin Studer erhalten. Der Tod des alten Gardisten wäre vielleicht auch eine Story, aus der man mehr machen könnte. Aber die hatten sich längst andere geschnappt; ausserdem war es nur eine Geschichte für allenfalls drei Tage: «Junkie erschlägt Ex-Gardisten». Manche würden die alten Diskussionen um den Drogenmissbrauch und die Beschaffungskriminalität heraufbeschwören. Dabei würden sie in den Archiven der achtziger und neunziger Jahre kramen. Alles schon gesagt.

Sie drehte sich nicht um, als sie Schritte hinter sich hörte.

«Du kannst die ersten Kartons direkt runterbringen. Ich würde gerne vor Mittag die erste Fuhre in den Laden schaffen», sagte sie und nahm den Schopenhauer, um ihn in einem der Kartons zu verstauen.

Während sie auf den wilden Haarschopf des Philosophen sah, spürte sie einen Schlag auf den Hinterkopf, und Schopenhauers Konterfei tauchte in tiefes Schwarz.

Stahl hatte die Fahrt mit dem Taxi durch seine Heimatstadt genossen. Er war einer der wenigen, denen es gelungen war, aus dem Kanton Zürich in der Garde aufgenommen zu werden. Die kleine Armee wurde von Wallisern dominiert. Der Vatikan hatte sie über die Jahrhunderte bevorzugt, weil sie als Erzkatholiken galten. Es war nicht leicht, sich zwischen ihnen einen Platz zu verschaffen. Aber Stahl hatte sich durchgebissen. Mehr als das. Er war zum Sonderdiplomat für spezielle Einsätze erkoren worden und genoss dadurch einen besonderen Status. Er erhielt seine Aufträge direkt vom Camerlengo. Das hatte ihm nicht nur Respekt, sondern auch Neider beschert. Vor allem die Walliser hatten nicht verstanden, warum nicht einer aus ihren Reihen dieses Vertrauen genoss.

Er zahlte und wartete, bis der Fahrer ihm sein Gepäck aus dem Kofferraum hob. Der untersetzte Mann mit dem verschwitzten Hemd ächzte unter dem Gewicht des Koffers. Stahl nahm ihm das Gepäckstück aus der Hand, ehe es auf den Asphalt schlagen konnte. Der Fahrer lächelte dankbar. Für das grosszügige Trinkgeld, das Stahl ihm gegeben hatte, durfte er das erwarten.

Stahl sah zur Schweizer Flagge über dem Eingang des Hotels hinauf, die von zwei blau-weissen Fahnen flankiert wurde. Er nahm den Koffer und steuerte auf den «Schweizerhof» zu. Vierhundert Franken pro Nacht konnte er sich leisten. Er wollte nur drei Tage hierbleiben, ehe er wieder mit wesentlich kleinerem Gepäck an Orten zu übernachten hatte, an denen man sich schon freute, wenn es überhaupt fliessend Wasser gab.

Ein Yuppie-Pärchen verliess eben das Hotel und lachte hochglanz. Ihm gehörte die Welt, es konnte sich den Luxus leisten. Stahl sah ihm nach, dann blickte er wieder auf den Eingang des Hotels. Nein, er würde hier nicht übernachten können. Dieses Zürich war nie seine Heimat gewesen, und er wollte sie sich jetzt auch nicht erkaufen. Er packte seinen Rollkoffer und zog ihn hinter sich her, entlang der Löwenstrasse. Eine Viertelstunde würde es zu Fuss dauern, dann wäre er dort, wo er einst zu Hause gewesen war.

Zürich am Sonntag war noch immer so beschissen und tot wie eh und je. Daran hatte sich nichts geändert. Die Sihl wälzte hellbraune Brühe. Das gestrige Gewitter hatte den Schlamm aufgewühlt und nach oben gedrückt. Der Fluss zeigte, dass es in der Stadt auch noch andere Farben als die des Geldes gab, und erlaubte sich bisweilen, das Stadtbild zu trüben. Stahl überquerte bei der Gessnerallee die Sihl und bog in die Militärstrasse ein. Allmählich kam er ins Schwitzen. Die Septembersonne brannte stärker, als er erwartet hatte. Er könnte seinen Trenchcoat ausziehen, aber dann müsste er ihn tragen.

Hinter der Kaserne blieb er kurz stehen. Der Platz war bevölkert mit Wohnwagen, die ein Zelt mit der Aufschrift «Broadway» umzingelten. Artisten in knappen Höschen spielten Volleyball über eine gespannte Schnur und vertrieben sich die Zeit bis zur Nachmittagsvorstellung.

Stahl setzte seinen Marsch fort und spürte in der Magengrube, wie sich etwas zu einem Kloss verdichtete. Er war sich nicht mehr so sicher, ob der «Schweizerhof» nicht doch die bessere Adresse gewesen wäre. Allmählich änderte sich das Strassenbild. Die ersten Afrikanerinnen mit gestellten Brüsten und hochhackigen Absätzen zwinkerten ihm zu, einige verkaterte Zuhälter diskutierten laut über die gestrige Niederlage des FC Zürich gegen Erzfeind Basel, und zwei Junkies wackelten auf Stahl zu, um sich von ihm mit einem devoten Lächeln eine Zigarette zu schnorren.

Er griff in die Innentasche seines Trenchcoats und fingerte ein silbernes Etui hervor. Er liess es aufschnappen und streckte es den Jungs entgegen. Der eine nahm mit zittrigen Fingern gleich vier Kippen, die er mit seinem Kollegen teilte. Sie trotteten davon. Stahl ging die letzten Meter in Richtung Heimat und stand in der Langstrasse, direkt vor dem Hotel «Rothaus». Der rote Backstein lud ein, das Gewimmel auf der Strasse liess den bigotten Sonntag vergessen. Hier würde er sich wohlfühlen, redete er sich ein, und steuerte auf den Eingang zu.

Um an die Rezeption zu gelangen, musste Stahl durch den Frühstücksraum, der eher wie eine dunkle Bierstube aussah.

Die Frau an der Rezeption hatte den Gast bereits wahrgenommen, liess sich durch sein Auftreten aber nicht hetzen. Sie verglich Belege in einem Ordner mit Daten auf dem Bildschirm.

«Einen Moment, bitte. Bin gleich da», sagte sie, und Stahl wurde jetzt richtig flau im Magen. Diese Stimme war Heimat. Rau wie ein angerostetes Reibeisen, und dennoch warm wie die Septembersonne. Unverhofft schweisstreibend.

Er hatte nach ihr recherchiert, wollte wissen, was sie trieb, ob und wo sie lebte. Es war ein Leichtes gewesen, es herauszukriegen. Aber im Voraus hatte er lange mit sich gerungen, ob er es tun sollte. Jetzt stand er hier, vor ihr. Sie hatte ihn noch nicht erkannt. Ob er doch besser wieder umkehren sollte? Noch war Gelegenheit dazu.

«Sie wünschen?», fragte Regula und lächelte ihn an, wie nur sie es konnte. Ein Lächeln, das entwaffnete. Immer und jederzeit. Solange sie diese Waffe noch besass, musste er sich um sie keine Sorgen machen.

Das Lächeln fror ein, dafür weiteten sich ihre Augen. Lähmende Stille, die ein Jubelschrei zerschnitt: «Roger! Gopfridstutz. Das gibt’s doch nicht.» Regula kam hinter der Rezeption hervorgerannt und umarmte Stahl. Dann sah sie ihn wieder an, lachte und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück, und Skepsis machte sich auf ihrem Gesicht breit. «Läss. Uu-läss gsesch us. Wie de Mister Bond persönlech. Besch of gheimer Mission? Oder wer hed di is Soho gscheckt? »

«Wie geht’s dir?», fragte Stahl und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiss von der Stirn.

«Gut. Eigentlich ganz gut.»

«Eigentlich?»

«Na ja. Geldsorgen, Männer, das Übliche. Alltag eben.»

Stahl nickte.

«Weisst du überhaupt, was das ist: Alltag?», fragte Regula und schob angriffslustig den Kiefer nach vorne. «Dem wolltest du doch immer entkommen. Hast du es geschafft?»

Stahl zuckte mit den Schultern. «Irgendwann wird auch das Nichtalltägliche zum Alltag. Wie die Sucht nach Freiheit ein Gefängnis ist.»

«Trotzdem lieber frei als im Heim oder im Gefängnis. Oder?»

Regula sah ihn an, und in ihren Blicken flackerten Bilder der Vergangenheit. Für Regula war Stahl nicht der Erste gewesen, aber sie hatte ihm gezeigt, wie man küsste und Sex ohne Bezahlung geniessen konnte. Zwei Jahre lang waren sie im Heim so etwas wie ein Paar gewesen. Eine richtige Beziehung zu leben, das hatte sie bis dahin niemand gelehrt, und sie waren jung und hatten sich vor Nähe gefürchtet. Stahl war zwei Jahre vor Regula aus dem Heim entlassen worden. Er hatte ihr versprochen, auf sie zu warten. Aber das Leben hatte beiden die Zeit nicht gegönnt. Für junge Menschen, die gelernt hatten, Versprechen zu brechen, war ein Liebesgelübde im Kampf um den nächsten Bissen Brot schnell vergessen.

Sie waren sich noch einmal begegnet, vor zehn Jahren. Stahl war bereits in Rom und war nur für eine Stippvisite nach Zürich gekommen. Es war Zufall gewesen, dass sie sich über den Weg gelaufen waren. Sommerkino am Helvetiaplatz. Ausgerechnet «Rocco und seine Brüder» hatten sie sich angesehen. Danach waren sie wieder im Bett gelandet. Eine Abschiedsnummer auf vergangene Zeiten. Sie hatten sich versprochen, sich nie wieder zu begegnen. Jeder sollte von nun an seinen eigenen Weg gehen. Und jetzt stand Stahl vor ihr. Wieder hatte er ein Versprechen nicht gehalten. Und wieder nahm es ihm Regula nicht übel.

«Brauchst du etwa ein Zimmer?», fragte Regula.

«Für drei Tage.»

«Siehst aus, als könntest du dir etwas Besseres leisten.»

«Hab’s versucht. Aber ich fühl mich dort zu allein.»

«Scheissstallgeruch, was? Irgendwie kommt man nie davon los. Willst du deinen Alten besuchen?»

Stahl schüttelte den Kopf.

«Meiner ist vor zwei Jahren gestorben. Komisches Gefühl. Ich war tatsächlich auf der Beerdigung. Dabei hatte ich mir geschworen, das niemals zu tun. Aber ich war es meinem Sohn schuldig.»

«Du hast einen Sohn?»

«Richy. Er ist fünf.»

«Und der Vater?»

Regula lachte. Es war ein Überlebenslachen. «Huere Siech. Mängmol isch es halt wie emmer. Endlosschlaufe.»

Stahl hob fragend die Brauen. Er verstand nicht.

Regula biss sich auf die Unterlippe, dann verzog sie die Lippen wie ein Clown und sagte: «Jamaikaner. Sitzt seit einem Jahr.»

«Drogen?»

«Was sonst.»

«Wie steht es mit dir? Bist du sauber?»

«Vom Heroin bin ich schon lange weg. Manchmal ein wenig Koks, damit ich weiss, dass ich der Boss der Langstrasse bin.» Sie presste die Lippen zusammen und hob die Brauen.

«Und wer ist sonst der Boss der Langstrasse?»

«Ist derzeit nicht ganz klar. Dein Alter jedenfalls nicht mehr. Der hat Gnadenfrist. Vielleicht solltest du ihn doch mal besuchen. Die Alten gehören nun mal zu einem, ob man will oder nicht.»

Stahl sah sie an. Sie hatte ihr rotes Haar noch nicht nachgefärbt. Es glänzte so feurig wie einst. Ihre hellgrünen Augen strahlten aus dem Sommersprossengesicht, das auch im Hochsommer keine Bräune annahm. Ihre vollen Lippen schürzten sich, als warteten sie auf einen Kuss, und das selbst gestochene Tattoo, das sich aus ihrem Dekolleté räkelte und auf dem Stahl manche Nacht geschlafen hatte, hob sich mit jedem Atemzug.

«Zimmer 301 wäre frei. Hundertneunundzwanzig Franken pro Nacht. Bezahlung im Voraus», sagte Regula.

«Internet?»

«Drei Franken zusätzlich. Gilt aber die ganze Woche.»

«In Ordnung.» Stahl bezahlte mit Karte und füllte den Meldeschein aus.

«Im Lift drückst du auf die Vier. Dann musst du eine Stiege hinunter, um auf die Dreihunderter zu kommen.»

Regula reichte ihm den elektronischen Schlüssel und berührte ihn leicht.

«Schön, dich zu sehen.»

«Vielleicht könnten wir ja mal –»

«Besser nicht.»

Palm sah sich um. Viel war nicht los. So ein Renner, wie Stahl angepriesen hatte, schien der Mittagstisch hier nicht zu sein. Die «Kronenhalle» an der Rämistrasse wäre ihm lieber gewesen. Nicht nur, weil er dort unverbindlich Geschäftsleute treffen konnte und dabei mitbekam, was gerade so lief; auch das Geschnetzelte war sensationell. Alles stimmte, Preis-Leistung ohne Risiko. Das liebte Palm. Für diese Kategorien war er zuständig, damit kannte er sich aus. Die Risiken sollten andere eingehen. Seine Aufgabe war, davon zu profitieren oder rasch Abstand zu nehmen. Nur solange er dieses Gespür hatte, begehrten ihn seine Kunden. Und sein Gespür verriet ihm, dass dieser Laden eher Verdruss als Genuss bringen würde. Schon der Name: «Krummes Kreuz». «An seinem Namen sollst du ihn erkennen», murmelte Palm. «Kronenhalle», das klang nach grossem Orchester. Palm assoziierte mit «Krummes Kreuz» sofort einen geschundenen Jesus, dem sich das Kreuz unter dem Kreuz bog, während er es über den Leidensweg schleppte. Palm spürte umgehend ein Ziehen bei der Wirbelsäule in der Lendengegend. Die Bandscheiben zwischen L3 und L5 waren ihm erst vor einem Jahr herausgesprungen. Schmerzen, die er nie mehr vergass, und die ihn bei jedem Erwachen daran ermahnten, seine Morgen-Gymnastik zu machen. Heute hatte er sie ausgelassen, zum zweiten Mal in dieser Woche. Am Donnerstag war es die Ermordung von Albin Studer gewesen, heute war es Stahls Ankunft, die ihn hinderten, sich in Ruhe und Hingabe dem aufsteigenden Prana zu widmen. Er ahnte, dass sich das rächen würde. Vor allem, wenn er sich in dem Schuppen umsah, in den ihn Stahl beordert hatte. Säufer und Nutten, wohin man sah. Und viele leere Plätze.

Er hatte die Langstrasse noch nie gemocht. Sie gehörte für ihn nicht zu Zürich, sondern zur Dritten Welt. In seinem Boss-Anzug und der dunkelblauen Krawatte kam er sich vor wie ein saftiges Steak inmitten eines Hyänenkäfigs. Gleich würden sie ihn beschnuppern. Erst die Nutten, dann deren Zuhälter. Sein Geld war er so oder so los. Hauptsache, er kam mit dem Leben davon. Was bildete Stahl sich ein, ihn hierherzubestellen. Und warum war er so blöde gewesen, dieser Aufforderung zu folgen? Überhaupt war es ein Witz, dass Stahl entschied, wo man ass. Immerhin war Palm der Auftraggeber. Aber Stahl hatte diese Art, der Palm nicht widerstehen konnte. Er war Stahl ausgeliefert. Sie hatten ihn im Vatikan nicht nur an den Waffen geschult, sondern auch in listiger Diplomatie und schwarzer Rhetorik. Als hätte ihn Benedikt selbst unter der Fuchtel gehabt. Sicher aber war, dass er Studers Schüler war. Und dass Studer mit allen Wassern gewaschen gewesen war, war kein Geheimnis. Dass ihn aber ausgerechnet ein Junkie mit einer Boule-Kugel erschlagen haben sollte, mochte glauben, wer wollte. Aber es war die einfachste Lösung für alle. Der Vatikan hatte keine Lust auf eine grössere öffentliche Geschichte, die Zürcher Polizei gab sich mit dem Junkie zufrieden, dessen Fingerabdrücke man auf der Kugel gefunden hatte. Nur ein Geschäftsmann aus Zug, der Palm einen Anwalt in die Kanzlei geschickt hatte, glaubte nicht an die einfache Lösung. Deshalb sass Palm nun hier und wartete auf Stahl. Und wegen Alfred.

«Was trinkst du?», fragte eine Kellnerin in knappen Höschen und mit einem geschwollenen Auge, das durch den dunklen Teint ihres Gesichtes nicht blau, sondern violett schimmerte.

«Ich warte noch auf jemand.» Palm spielte auf Zeit. Er sah nicht ein, warum er etwas bestellen sollte, wenn er sich noch nicht einmal sicher war, ob Stahl hier überhaupt auftauchen würde. Vielleicht hatte er ihn nur zum Scherz hierherbestellt.

«Die Mädchen warten auch», sagte die Kellnerin und deutete mit dem Kopf zu einigen Frauen, die gelangweilt rauchten und auf Kundschaft hofften.

Palm hatte nichts gegen bezahlte Liebe. Auch er genehmigte sich hin und wieder ein Mädchen. Das lag allerdings zwei Preisklassen höher und gehörte einem Escort Service an. Man konnte sogar mit ihnen in die Oper gehen und sie vor Geschäftspartnern als aktuelle Beziehung ausgeben. Aber was er hier sah, sprach ihn überhaupt nicht an, es schauderte ihn. Wenn die ihn erst einmal in den Schwitzkasten nahmen, wäre es mit den Bandscheiben ein für alle Mal vorbei.

Palm blickte nervös auf die Uhr. Es war bereits zehn nach eins. Ein geplatztes Cordon bleu ging an den Nebentisch. Der Käse quoll eitrig aus der Panade. Bevor sich eine der Ladys an seinen Tisch setzte, bestellte er sich lieber auch ein Cordon bleu. Übler konnte ihm davon auch nicht werden.

Stahl sah sich um, als er das «Rothaus» verliess. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Berufskrankheit? Konnte gut sein. Von Anfang an hatte ihn Albin darauf getrimmt, wachsam zu sein. Aber warum sollte ihn jemand beschatten? Er war nur gekommen, um einem alten Freund die letzte Ehre zu erweisen. Ein Mann mit einem grauen Mantel und einer Sonnenbrille fiel ihm auf. Er stand an der Bushaltestelle und las im «Sonntagsblick». Stahl wartete, da der Bus gerade kam. Er verdeckte den Mann. Dann fuhr er weiter. Der Mann war verschwunden.

Stahl sah auf seine Uhr. Eine kleine Verspätung würde ihm Palm wohl verzeihen. Albins Wohnung lag um die Ecke, an der Engelstrasse 88. Stahl wollte wissen, wie sein alter Mentor gelebt hatte. Fünf Jahre lang hatte er nichts mehr von Albin gehört. Er hatte dem Veteranen immer wieder geschrieben; nicht nur per E-Mail, auch postalisch. Aber Albin hatte nie darauf geantwortet. Vor zwei Jahren hatte Stahl dann weitere Versuche unterlassen. Vielleicht hätte er sich mit Albins Schweigen nicht zufriedengeben dürfen. Ja, er hätte nach Zürich fahren und Albin fragen sollen, warum er schwieg. Stahl machte sich jetzt Vorwürfe, aber er hatte auch Entschuldigungen; mehr als genug. Er war im Dauereinsatz. Urlaub kannte er nicht. Wenn er nicht für den Vatikan unterwegs war, erledigte er Depeschen für Palm. So gefiel ihm sein Leben. Ein Tag jagte den anderen, er fühlte sich am Puls der Zeit: wichtig und nützlich. Manchmal berauschte ihn das Gefühl, selbst am Rädchen des Weltenlaufs zu drehen, weil er die Leute zusammenbrachte, die an den Fäden hinter den Kulissen zogen. Stahl wusste selten, was gespielt wurde, er war nur der Kurier. Es war besser, nicht zu wissen, ob er mit einem Koffer Dynamit oder mit Depeschen unterwegs war, die einer Region bessere Lebensumstände versprachen. Jetzt hatte er keine Depesche dabei, dafür Erinnerungen an einen verstorbenen Freund, den er gern noch etwas gefragt hätte.

Stahl besass keinen Schlüssel für Albins Wohnung. Aber als Agent des Papstes beherrschte er das Handwerk, Türen auch ohne zu öffnen. Prangten auf dem Wappen des Vatikans nicht die beiden Schlüssel Petri? Stahl musste jedes Mal daran denken, wenn er sich an einem Schloss zu schaffen machte. Es klackte. Die Riegel sprangen unter dem Druck der Schliesswerkzeuge auf.

Es roch nach Vatikan in der Wohnung. Anders wusste Stahl den Geruch nicht zu beschreiben, der ihn umhüllte. Vielleicht hatte Albin ein italienisches Putzmittel benutzt. Jedenfalls glich die scharfe Sauberkeit, die in Stahls Nase biss, sehr den Duftnoten seines Arbeitgebers. Eine Vertrautheit breitete sich in Stahl aus, die ihn zugleich rührte. Es war Trauer, die das Wissen um die eigene Vergänglichkeit auslöste: Jahre, die wie im Flug an ihm vorbeigerast waren ohne Innehalten, ohne dem Fragen nach dem Morgen und dem Ziel. Jetzt bahnten sich Fragen den Weg an die Oberfläche. Gleichzeitig schleppten sie schwere Tränen mit. Stahl hustete sie aus. Er wollte nicht, dass sie ihm über die Wangen liefen, wischte sie weg, noch ehe sie genug Tropfen waren, um das Lid zu verlassen.

Er tastete nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Eine Jugendstillampe erhellte den Flur und zeigte ein halb leer geräumtes Bücherregal. Stahl erkannte, dass der Moder der Folianten die Duftnote des Potpourris war, die ihn an Rom erinnerte. Er selbst hatte die alten Schinken nie gemocht. Sie waren ihm zu schwerfällig. Er war ein Mann der digitalen Welt. Er mochte auch die Folklore der Gardisten nicht. Wie war er froh gewesen, als er endlich nicht mehr mit der Hellebarde und dem blau-gelben Gewand Wache schieben und exerzieren musste.

Es lag ihm fern, eines der Bücher anzufassen. Sie erinnerten ihn zu sehr an die drei Jahre, in denen er in der Bibliothek des Vatikans aushelfen musste. Zuerst hielt er es für reine Zeitverschwendung. Nicht nur, dass er die Bücher schleppen musste – der Camerlengo forderte von Stahl auch, das ein oder andere davon zu lesen und mündlich zusammenzufassen. Aber auch damit nicht genug: Der Kämmerer selbst zitierte ihn alle zwei Wochen zu sich und forderte ihn auf, Stellung zu beziehen. Mal zu Augustinus, dann zu Thomas Hobbes, das nächste Mal zu Ignatius von Loyola, Franz von Assisi oder Immanuel Kant. Und wenn es der Camerlengo ganz lustig meinte, konnte er in einer Sitzung ansatzlos von Mussolini zu Sergio Leone und von Brecht zu Max Frisch springen.

Stahl spürte, wie ihm allein bei dem Gedanken an die alten Verhöre der Schweiss auf die Stirn stieg. Erst später begriff er, wozu diese «Inquisitorischen Sitzungen», wie sie der Kämmerer scherzhaft zu nennen pflegte, nützlich waren. Stahl erhielt nicht nur ein Studium in Philosophie, Theologie und Literatur auf zweitem Bildungsweg, er lernte auch, Wissen zu verknüpfen und schlagfertig damit rhetorische Waffen zu schmieden. Man hatte ihn nicht nur militärisch geschult, sondern auch seinen Geist geschärft. Und das war die Voraussetzung, dass er sich nun als Spezialagent des Vatikans in feinere Stoffe hüllen durfte.

Er stieg über einen mit Büchern gefüllten Karton und ging in den angrenzenden Salon. Auch hier knipste er das Licht an und war überrascht, eine bewusstlose Frau auf dem Ardakan-Teppich liegen zu sehen.

Palm säbelte mit einem stumpfen Messer durch die Kruste des Cordon bleu, spiesste die eroberte Ecke auf die Gabel und zögerte, ehe er sie sich in den Mund schob. Er witterte Salmonellen, so wie er den noch immer lauernden Nutten Filzläuse der dritten Generation unterstellte. Immerhin liess es sich kauen. Wenn es erst einmal drin war, war es egal. Sein Handy fiepte. Stahl.

«Ja?»

Während er dem Anrufer zuhörte, bestellte er per Handzeichen eine Stange. Die Kellnerin mit dem violetten Auge tat geschäftig.

«Verstehe. Polizei? Wieso Polizei? … Wie du willst. Aber mich hältst du da raus … nein, ich komme nicht vorbei. Ich brauche keine Fragen von der Polizei … Wir sehen uns morgen zum Frühstück … Nein, nicht im ‹Rothaus›. Auf keinen Fall. Mir reicht die Langstrasse einmal in fünf Jahren … das ‹Felix› wär mir lieber. Und: Halt dich da raus, so weit du kannst. Es gibt Wichtigeres.»

Er legte auf. Die Kellnerin hatte nicht gewartet, bis Palm sein Gespräch beendet hatte. Sie hatte das Bier so auf den Tisch geknallt, dass es leicht überschwappte und Flecken auf Palms abgelegte Sonnenbrille klebte. Palm griff nach dem Glas, trank einen Schluck, legte eine Zwanziger-Note auf den Tisch und setzte sich die bekleckerte Brille auf. Die Flecken auf dem Brillenglas veränderten den Blick auf das Lokal kaum. Palm verliess den Schuppen.

Stahl war überrascht, wie flink die Wildkatze ihre Krallen nach ihm ausgefahren hatte. Nur einen Moment lang war er nicht achtsam gewesen, hing dem Gespräch mit Palm nach. «Es gibt Wichtigeres», hatte Palm gesagt. Stahl fragte sich, wie man «Wichtigeres» definierte. Und aus welcher Perspektive Umstände für den einen weniger wichtig, für den anderen hingegen existenziell wurden. Albin war tot, und jetzt, da er in dessen Wohnung den Vatikan und Jahre seiner Prägung roch, schien ihm nichts wichtiger, als dem toten Freund die letzte Ehre zu erweisen und ihm im Nachhinein Zeit zu widmen.

Er hatte die bewusstlose junge Frau auf dem Teppich vergessen. Seine rechte Wange brannte von den Fingernägeln, die sich dort hineingekrallt hatten. Er wollte ihr nicht das Handgelenk brechen, aber sie würde ihren Griff nur lockern, wenn sie ihrerseits Schmerz spürte. Stahl löste sich aus der Klammer. Die junge Frau schrie auf und hielt sich schmerzverzerrt die rechte Achselhöhle. Dort hatte ihr Stahl mit den Fingerkuppen seiner Linken hineingestossen, wohldosiert. Er packte ihre Handgelenke, drückte sie auf den Teppich und raunte mit dem Tonfall eines Tierbändigers: «Ruhig, ganz ruhig. Ich tue Ihnen nichts. Ich habe Sie hier nur gefunden.»

Die Frau schien ihm nicht zu glauben. Die Sätze klangen nach Vorabendserie. Sie versuchte nun, ihn mit ihren Knien unten am Rücken zu treffen. Stahl riss sie mit einem Ruck vom Boden, dass sie überraschend auf den Füssen zu stehen kam. Dann wirbelte er sie einmal im Kreis und liess ihre Handgelenke los. Sie landete auf einem abgewetzten Sofa. Er nutzte den Augenblick ihrer Verblüffung, nahm sein Handy und wählte eine Nummer. «Guten Abend. Schicken Sie bitte jemanden in die Engelstrasse 88. In der Wohnung von Albin Studer gab es einen Einbruch.»

Während er sprach, behielt er die Wildkatze fest im Blick. Sie rührte sich nicht, sondern wartete gespannt, was als Nächstes geschehen würde.

«Haben Sie wirklich die Polizei angerufen?», fragte sie.

«Ja. Warum sollte ich nicht?»

«Wer sind Sie?»

«Ein Freund von Albin Studer.»

«Er ist tot.»

«Ich weiss. Und wer sind Sie?»

«Cecilia Fetz. Ich arbeite für meine Tante. Sie hat ein Antiquariat. Und Studer hat ihr seine Bibliothek vermacht.»

«Sie sind aber schnell. Albin ist noch nicht unter der Erde, und Sie räumen ihm schon die Wohnung aus. Dazu am heiligen Sonntag.»

«Es geht nicht anders. Ich muss nächste Woche mit meiner Diplomarbeit beginnen. Und meine Tante kann die Bücher nicht allein ausräumen. Ausser mir hat sie niemanden.»

«Wieso waren Sie bewusstlos?»

«Schlag auf den Hinterkopf.»

«Haben Sie den Täter gesehen?»

«Nur gehört, wie er reinkam. Aber ich dachte, es sei Linus. Der wollte beim Tragen helfen.»

«Wer ist Linus?»

«Mein Onkel. Hedwigs Bruder.»

«Und wo ist er jetzt?»

«Vermutlich besoffen. Er trinkt manchmal gern über den Durst.»

«Die Polizei wird gleich hier sein. Vielleicht sehen wir uns vorher ein wenig um? Meinen Sie, Sie sehen, wenn hier etwas fehlt?»

«Ich weiss nicht. So gut kenne ich die Wohnung nicht. Ich bin zwar seit heute Morgen hier, habe mich aber nur um die Bücher gekümmert.»

«Wenn eines der Bücher fehlen sollte, würde Ihnen das auffallen?»

«Wieso sollte eines fehlen?»

«Weil sie wertvoll sind. Das müssten Sie doch wissen. Und Ihre Tante weiss das bestimmt noch besser. Sonst hätte sie es nicht so eilig damit, sie abzuholen.»

«Haben Sie eine Zigarette?», fragte Cecilia.

Er griff in die Innentasche seines Jacketts und brachte sein Etui zum Vorschein. Er näherte sich damit Cecilia und liess es vor ihrer Nase aufspringen. Sie nahm sich eine Zigarette. Stahl schob sich ebenfalls eine zwischen die Lippen und gab erst Cecilia, dann sich Feuer.

Cecilia inhalierte nervös, während Stahl den Rauch lange in den Lungen behielt.

Es läutete. Stahl ging zur Tür und öffnete. Er vernahm die Schritte der Polizisten tief unten im Flur. Sie hatten es nicht eilig.

«Haben Sie angerufen?», fragte der ältere der beiden Uniformierten.

«Ja. Kommen Sie doch rein.»

2

Stahl wunderte sich, dass Palm sich verspätete. Er knabberte an seinem Gipfeli und nippte an der Schale. Das «Felix» war ihm zu bunt und zu verspielt. Aber es hatte Charme. Er blätterte die NZZ durch, aber das Gedruckte liess ihn kalt. Es war viel los in der Welt. Stahl wusste, dass er nicht einmal ein Drittel davon glauben durfte, was geschrieben wurde.

Palm wich zwei Touristen aus, die das Café gerade verlassen wollten, und stiess dabei beinahe mit der Kellnerin zusammen. Er schien nervös.

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