Tod in der Rheinaue - Michael Moritz - E-Book

Tod in der Rheinaue E-Book

Michael Moritz

4,8

Beschreibung

Der erfolgreiche Kriegsfotograf Killian kehrt nach zwanzig Jahren leer und müde von der Front in seine südbadische Heimat zurück. Er hat den Tod in allen Facetten abgelichtet, jetzt sehnt er sich danach, hier, am sonnigen Kaiserstuhl, wieder das Leben und zu sich selbst zu finden. Doch stattdessen entdeckt er während eines morgendlichen Fototermins in den Rheinauen eine Wasserleiche – und der Tote ist für ihn kein Unbekannter. Mit einem Mal wird seine Suche nach sich selbst zur Jagd auf den Mörder …

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Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den großen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen (»Tatort«, »SOKO Köln«, »Die Sitte«, »Postmortem«). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschienen seine Kriminalromane »Tod in der Rheinaue«, »Roter Regen«, »Weinselig« und »Lost Place Vienna«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-663-8 Der Badische Krimi Originalausgabe

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Für meine Mutter Gabriele

»On rencontre sa destinée souvent par des chemins

Qu'on prend pour l'éviter.«

(Man trifft sein Schicksal oft auf den Wegen,

die man nimmt, um ihm auszuweichen.)

Jean de la Fontaine

EINS

Killian kauerte in seinem Faltboot und hielt den Atem an. Es war bereits sein vierter Versuch. Diesmal musste er den richtigen Moment erwischen, sonst wäre der ganze Tag zum Teufel.

Der Nebel riss auf und gestattete einigen wenigen Sonnenstrahlen, direktes Licht auf die alten Grabsteine zu werfen. Killian drückte ab, der Motor seiner Nikon feuerte unaufhörlich Belichtungszeiten auf das NASA-Objektiv und fing alles ein, was sich in Peilrichtung befand.

Killian war Moshe auf ewig dankbar, dass er ihm diesen fein geschliffenen Kristall besorgt hatte. Zwar war er Moshe dafür einen Gefallen schuldig, den dieser sicherlich auch irgendwann einlösen würde, aber bis dahin erfreute er sich wie ein Kind an seinem Spielzeug. Er lächelte bei dem Gedanken an Moshe in sich hinein. Wenn der wüsste, dass er hier die alten Gräber eines vergessenen jüdischen Friedhofs befeuerte, würde er ihm mit Sicherheit den Mossad an die Fersen hängen.

Aber Moshe war weit weg, und das war gut so. Nachdem Israel das Gegenfeuer am Gaza eröffnet hatte, war Killians Telefon nicht mehr stillgestanden. Obwohl er seine Nummer geändert hatte, wusste er, wer dran war, und hatte sich geweigert, den Anruf entgegenzunehmen. Killian hatte die Schnauze voll. Nach zwanzig Jahren Kriegsreportage war er leer. Er hatte alle Varianten, den Tod zu fotografieren, für sich erschöpft. Er selbst sah sich nur noch wie einen Totenschädel durch das Okular starren. Ein Schädel fotografierte Schädel.

Er suchte das Leben, den Tod kannte er in- und auswendig. Deswegen war er vor einem halben Jahr an den Kaiserstuhl zurückgekehrt. Er hoffte, in der badischen Wiege seiner Kindheit die Wurzeln seines Lebens zu finden. Bislang nur mit mäßigem Erfolg.

Es war einfach so gekommen, Killian hatte es noch nicht einmal geplant. Aber als er in Oberrotweil vor dem ehemaligen Lager der Raiffeisenbank gestanden war und gesehen hatte, dass der Schuppen zu vermieten war, war ihm der Gedanke gekommen, hier an Ort und Stelle ein Atelier zu eröffnen. Ernähren würde er sich von Kalenderfotografie und drittklassiger Regionalwerbung, hauptsächlich würde er sich aber der Fotografie des Naturlichts widmen, um so die eigene Dunkelheit zu erhellen. Mit seinem Ersparten würde er fünf Jahre auskommen können, das brauchte hier aber niemand zu wissen. Man war den Badenern sofort suspekt, wenn man nicht für sein tägliches Brot arbeitete, also war es besser, er kümmerte sich um ein paar Alibi-Jobs. Da ihn hier kaum mehr jemand kannte, wussten die meisten auch nur, dass es einen neuen Fotografen im Ort gab.

Killian war in Bötzingen aufgewachsen, einem Dorf am Fuße des Kaiserstuhls, von Oberrotweil rund acht Kilometer entfernt. Mit wenigen Schritten war Killian auf den Schelinger Matten, die ihm das Gefühl gaben, sich in den Highlands von Schottland zu verlieren. Dort stieg er oft und gerne hoch, um im Schutz der ungeschorenen Gräser dem Lied des Windes zu lauschen.

Heute früh hatte er sich gegen die Wiesen entschieden und war zur Fotojagd in die Rheinauen gefahren. Er hatte das Faltboot in seinen alten Defender geschmissen und war losgezogen. Schon in der Nacht hatte er gerochen, dass der Morgen ein besonderes Licht werfen würde, und seine Nase hatte ihn nicht im Stich gelassen.

Die Grautöne, die sich im Nebel brachen und durch die Wasseroberfläche nochmals reflektiert wurden, übertrafen alles, was er sich ausgemalt hatte. Er war wie im Rausch. So musste es einem Wildschwein ergehen, das plötzlich in ein Feld weißer Alba-Trüffel stolpert.

Er paddelte zurück und feuerte erneut auf die jüdischen Grabsteine. Er schoss blind, wie er es im Krieg gelernt hatte. Er wusste, dass alle Einstellungen stimmten. Es ging jetzt nur noch darum, den Moment zuzulassen.

Killian stieß einen Schrei der Befreiung aus. Auf ein solches Gefühl hatte er lange Zeit warten müssen. Und fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass es ihm zum ersten Mal seit drei Jahren gut ging. Er schluckte den Schrei auch sofort hinunter, aber dann brach es aus ihm heraus, und er begann heftig zu schluchzen.

Er wusste, dass dieses Weinen seinen Buckel, den er mit sich herumschleppte, nicht mit einem Mal würde abtragen können, aber es war ein Anfang. Die Trauer musste schmelzen, und jeder Tag, der dazu beitrug, war ein guter Tag.

Er löste sich von seinen Tränen und blinzelte zu den alten Grabsteinen, die sich am Ufer des versteckten Rheinarmes aus dem Morast reckten. Der Nebel hatte den Sonnenschlitz wieder geschlossen, die Magie war verschwunden. Aber er hatte sie eingefangen. Er freute sich schon auf den Nachmittag, wenn er die Beute im Atelier sezieren durfte. Er würde die Fotos nicht für einen Kalender verbraten. Dafür waren sie ihm zu kostbar. Lieber würde er sie in sein Lichtprojekt einbauen oder in eine Reportage über die jüdische Gemeinde im 17.Jahrhundert.

Allerdings schrieb er nicht gern. Es kostete ihn Überwindung und Stunden vor leerem Papier. So schnell er auch ein Bild schießen konnte, das genau aussagte, was er beabsichtigte, so schwer tat er sich mit Worten. Er sah immer gleich das ganze Bild; es in Worte zu kleiden glich dagegen einem Puzzle mit zehntausend Teilen.

Killian überlegte, ob er wieder zu der Stelle zurückpaddeln sollte, an der er den Defender geparkt hatte, oder ob er sich noch eine Weile ins Unterholz wagen sollte. Kalt war ihm noch nicht, und vielleicht gelang ihm noch ein Raureif-Foto, das er im Kalender unterbringen konnte. Ein plötzlicher Ruck nahm ihm die Entscheidung ab. Irgendetwas hatte das Faltboot abrupt abgebremst. Killian vermutete erst einen Holzstamm, dann erkannte er, dass es sich um den Arm eines toten Menschen handelte.

***

Hauptkommissar Belledin war bedient. Schon zwischen Weihnachten und Neujahr hatte er nicht freigehabt, da sollte ihm wenigstens die knappe Woche vom Jahresanfang bis zu den Heiligen Drei Königen gegönnt sein.

Er hatte sein Frühstücksei sauber geköpft und beruhigt festgestellt, dass es seiner Frau Birgit gelungen war, das Ei genau so lange zu kochen, dass er den Dotter genießen konnte, wie er ihn mochte: Wachsweich musste er sein, damit er die Butterbrezel darin eintauchen konnte.

Jetzt tropfte der Dotter von der Brezel auf den Tellerrand, weil Belledin in der anderen Hand das Telefon hielt, durch das er die Information über eine Leiche in den Rheinauen bekam. Eine Wasserleiche hatten sie lange nicht mehr gehabt. Aber auch das war für Belledin kein Grund, das wachsweiche Ei sich selbst zu überlassen. Trotzig löffelte er es aus. Vor allem weil die Leiche in Mackenheim lag, also im Elsass. Da hatten sich die französischen Kollegen drum zu kümmern.

»Wie, an uns abgegeben? Seit wann geht das so einfach? Was? Ja, verstehe… Ein Fotograf hat die Leiche gefunden? Für wen arbeitet der, etwa für die Badische? Ich komme. Haltet den Kerl fest, bis ich da bin.« Er drückte den Anrufer weg und warf sich das Reststück Brezel in den Mund.

Birgit kam gerade mit Nusskuchen herein.

»Tut mir leid, Biggi, aber die Toten haben keinen Respekt vor wachsweichen Eiern«, grunzte er und stibitzte sich ein dickes Stück Nusskuchen vom Teller.

Biggi seufzte, aber Belledin wusste, dass es ihr eigentlich egal war, ob er zu Hause oder unterwegs war. Sie war Hausfrau und hatte darüber hinaus keinerlei Ambitionen. Es war ihr über die dreiundzwanzig Jahre Ehe gelungen, aus ihm, dem einstigen sportlichen und schönen Bello, einen gemütlichen Schmerbauch zu machen, mehr Kompliment konnte man der badischen Küche nicht zollen.

Und dass er das dickste Stück Kuchen vom Teller genommen hatte, würde sie vollauf zufriedenstellen. Er musste nun mal Verbrecher jagen, so wie sie noch zwei Kuchen für den Hausfrauenbund zu backen und die Wäsche zu bügeln hatte. Was war daran verkehrt? Urlaub kannte sie als Hausfrau ebenso wenig wie er als Polizist. Worüber sollte sie also klagen? Schließlich hatten sie ein wunderschönes Haus, wenngleich es viel Arbeit machte, es sauber zu halten. Und wenn Biggi sauber sagte, dann meinte sie auch sauber. Hätte Belledin den Staubsauger mitgenommen, wäre sie vielleicht unruhig geworden, aber da nur er verschwand, stellte sie den Teller mit dem Nusskuchen neben dem halb gelöffelten Ei ab und blickte durch die Terrassentür in den vom Raureif überzogenen Garten.

***

Belledin saß in seinem Audi und hörte Heinrich Heine: »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Er hatte das Hörbuch von seiner Tochter Annette zu Weihnachten geschenkt bekommen. Sie studierte Germanistik und Literatur, der Teufel wusste, was sie damit einmal anfangen wollte. Aber Belledin hörte sich das Zeug an. Der Sprecher hatte etwas Beruhigendes, und Belledin glaubte, seine Stimme aus einer Bierwerbung zu kennen.

Von Merdingen bis nach Sasbach würde er ein Weilchen brauchen, etwa vierzig Minuten. Dort würde er über den Rhein setzen. Er hatte keine Lust zu rasen. Tote liefen nicht davon, und Zeugen waren selbst schuld, wenn sie sich in die Arbeit der Polizei einmischten. Er ärgerte sich über die Franzosen. Nur weil es sich bei der Leiche um einen Deutschen handelte, kehrten sie dem Fall sofort den Rücken. Manchmal wünschte er sich wieder feste Grenzen. Diese Binnenmentalität, wenn es ums Verschieben der Drecksarbeit ging, kotzte ihn an.

Belledin lebte erst seit zwei Jahren in Merdingen. Manchmal vermisste er sein Heimatdorf Bötzingen. Aber das Haus in Merdingen war ein richtiges Schnäppchen gewesen. Es hatte einem ehemaligen Radprofi gehört, der in seinen großen Zeiten dort sein Lager aufgeschlagen hatte. Nachdem aber erst die private Beziehung und dann auch noch die sportliche Karriere den Bach runtergegangen waren, hatte der Radfahrer keine Lust mehr gehabt, im verträumten Merdingen zu logieren. Böse Zungen behaupteten, dass Belledin den Zuschlag für das Haus bekommen hätte, weil er dem in Dopingverdacht geratenen Radprofi geholfen habe, ein paar Epo-Fläschchen unauffindbar zu machen.

Aber an dem Gerücht war nichts dran. Belledin hatte noch nie Kapital aus seiner Position geschlagen, zumindest nicht bewusst. Er war integer und gerecht, jedenfalls sich selbst gegenüber. Er war stolz darauf, neben seinem Beruf auch im Gemeinderat von Merdingen zu sitzen und sich für liberale Politik einzusetzen.

Und »liberal« bedeutete auch »ohne Tempolimit«. Denn obwohl er sich vorgenommen hatte, langsam an den Tatort zu fahren, ertappte er sich doch wieder dabei, wie er die Nadel seines Tachometers über die Hundertvierziger-Marke trieb. Eigentlich keine Geschwindigkeit für ihn, aber er befand sich nicht auf derA 5 nach Karlsruhe, sondern auf der kurvenreichen Landstraße zwischen Wasenweiler und Ihringen. Und es war Januar.

Belledin wurde durch zahlreiche Kreuze, die an der walnussbaumgesäumten Strecke standen, an einige alte Weggefährten erinnert, die es von dieser Rennbahn geputzt hatte. Er selbst hatte mit achtzehn an Rennen teilgenommen, war aber immer mit einem blauen Auge davongekommen. Dafür war er allerdings auch immer nur Zweiter gewesen. Sein Überlebensinstinkt hatte ihm geflüstert, dass es besser wäre, rechtzeitig den Fuß vom Pedal zu nehmen.

Viele Helden, die bei den Mädels höher im Kurs gestanden hatten, weil sie im Gegensatz zu ihm echte Draufgänger gewesen waren, weilten nicht mehr unter den Lebenden. Allein im Sommer'89 hatte es drei Lokalmatadore von der Piste gefegt. Zwei davon waren direkt im Grab gelandet, der dritte, Jürgen, saß seitdem im Rollstuhl.

Belledin war das damalige Nachtrennen auch mitgefahren, hatte auf dem vierten Platz gelegen und keine Promille im Blut und wurde am Ende Sieger. Gefeiert hatte ihn aber niemand. Der Schock der Dreier-Karambolage hatte ihm den Siegesjubel verwehrt. Dafür waren aber auch mit einem Schlag drei der heißesten Bräute frei geworden. Eine davon war Biggi gewesen.

Belledin hatte zwar alle drei getröstet, doch die anderen beiden hatten schnell begriffen, dass er eine Nummer vier war und das auch bleiben würde.

Nur Biggi hatte seine Sachlichkeit nicht gestört. Sie war froh, dass sie ihn hatte und es ihm schon genügte, dass ihre Brüste größer als sein Kopf waren. Was hätte sie wohl getan, wenn sie die Freundin von Jürgen gewesen wäre, und nicht von Günther, den es direkt erwischt hatte? Wie hätte sich Biggi von einem Freund trennen können, der im Rollstuhl saß? Heidrun hatte das eiskalt fertiggebracht. Aber die war auch nach Köln gezogen.

Biggi hatte in der Heimat bleiben wollen, und da hatte ihr nichts Besseres passieren können, als von Belledin abgegriffen zu werden. Auch wenn sie kurz nach der Heirat auseinandergegangen war wie ein Hefezopf, ihre Brüste waren noch immer größer als Belledins Kopf, und sie war die beste Hausfrau des Landfrauenbunds. Dreimal hintereinander hatte sie sich die begehrte Medaille geholt. Manche munkelten zwar, dass man die Wahl aus Respekt vor dem Hauptkommissar immer zugunsten der Gattin ausfallen ließ, aber Belledin hörte nicht auf das Geschwätz. Er wusste, dass sie gut war und was er an Biggi noch immer hatte.

Deshalb nahm er den Fuß vom Pedal und drosselte in der Kurve, in der Günther sich einst um die Leitplanke gewickelt hatte, den Motor des Audis auf bescheidene achtzig Stundenkilometer. Dann wechselte er die CD, da der Sprecher ihn allmählich einzuschläfern begann. Radio mochte er auch nicht. Also legte er eine Scheibe ein, auf der der Männergesangsverein Merdingen zu hören war. »Ich hatte einen Kameraden« war passend, die frostige Landschaft und sein Gemütszustand konnten dieses Pathos verkraften.

***

Killian blickte auf die aufgedunsene Wasserleiche. Die Spurensicherer zogen den Reißverschluss über den Toten und ließen ihn abtransportieren.

»Der Kommissar wird gleich hier sein. Wollen Sie einen Tee?«

Killian nickte stumm, der Beamte reichte ihm einen Plastikbecher mit dampfendem Aufguss. Killian schlürfte und atmete tief durch. Damit, dass der Tee so hochprozentig war, hatte er nicht gerechnet.

Der Beamte lachte: »Mirabell, selbst gebrannt. Vom Tee allein wird einem nicht warm bei der Kälte.«

Killian rang sich ein Lächeln ab und nickte zustimmend. Ihm war nicht nach Smalltalk.

Der Beamte schien dafür aber keine Fühler zu haben und fuhr in seinem Slang, der ein Gemisch aus Urbadisch und hart erarbeitetem Hochdeutsch war, fort: »Hab das Brennrecht geerbt. Schon vor sieben Jahren. Bin aber nie dazu gekommen. Dieses Jahr hab ich dann mal angefangen, und für den ersten Selbstgebrannten ist der gar nicht mal so schlecht, oder?«

Er erwartete eine Antwort. Killian gab sie ihm, indem er die Lippen schürzte und stumm nickte.

Das war der Vorteil, wenn man in Baden war. Man konnte, aber man musste nicht reden. Es genügte, wenn man das Grundalphabet der stummen Mimik beherrschte. In Köln oder Hamburg wäre man damit sofort ein Ausgestoßener, ein Mundfauler, in Baden gehörte gerade das zum guten Ton. Lieber ein Wort zu wenig als hundert zu viel. Der Badener war im Stande, Gedanken so zu lesen, wie er sie für richtig hielt. Missverständnisse ergaben sich daraus zwar zwangsläufig, aber die wurden ebenso stillschweigend ausgeräumt, wie sie entstanden waren.

Der Beamte war zufrieden und schenkte Killian noch mal nach. An Gastfreundschaft sollte es nicht mangeln.

Und dies war eines dieser Missverständnisse. Killian wollte keinen zweiten Trunk, aber er nickte dennoch ab. Es lag nun an ihm, den Tee langsamer auszutrinken als den ersten, um nicht völlig abgefüllt zu werden. Immerhin hatte er noch nichts gefrühstückt, und der Anblick der Leiche war nicht appetitlich gewesen.

Leichen waren für ihn zwar ebenso Alltag wie für den Forensiker, aber diese Leiche unterschied sich von all den namenlosen Soldaten, Müttern und Kindern, die er zwischen Kosovo, Sambia und Afghanistan abgelichtet hatte.

Denn diese Leiche war für ihn kein Unbekannter, sondern hatte einen Namen: Bernd Ambs.

Killian hatte ihn zuerst gar nicht erkannt. Erst als die Beamten seine Papiere aus der Jacke gefischt und den Namen genannt hatten, hatte Killian in dem entstellten Gesicht seinen alten Schulfreund wiedererkannt. Er hatte Bernd zuletzt vor über zehn Jahren gesehen, bei einem kurzen Abstecher in die Heimat, weil seine Mutter mit Metastasen in Leber und Lunge im Krankenhaus gelegen hatte. Während er gerade einen Preis für eine Fotoreportage im Kosovo erhalten hatte und mit Konterfei durch die Presse gereicht wurde, weil er die beeindruckendsten Bilder der Massengräber geschossen hatte, hauste Bernd noch immer in seinem Jugendzimmer und versorgte neben einem Wellensittich auch noch seinen kranken Vater. Der Krebs der Eltern schien ihn und Killian für den Moment zu verbinden.

Bernds Mutter hatte sich abgesetzt, weil sie nicht mit einem Pflegefall leben wollte. Sie fühlte sich noch zu jung und lebenslustig, als dass sie mit einem nach Tod riechenden Mann die kostbare Zeit vergeuden wollte. Also feierte sie im Rheinland den Karneval ihrer Wechseljahre, während Bernd versuchte, seinem Vater die letzte Würde zu erweisen. Er war damit völlig überfordert gewesen, aber er hatte es durchgestanden, während Killian froh darüber gewesen war, gleich wieder an die Front fliehen und seine Mutter den Ärzten überlassen zu dürfen.

Bernd hatte die Krankheit seines Vaters wiederum als Alibi benutzt, sich gehen zu lassen. Beim Anblick seines nun erfolgreichen Freundes Killian hatte er sich verschämt dem Wellensittich zugewandt, ihn mit Jod-S11-Körnchen gefüttert und leise gesagt: »Weißt, ich bin halt ein Loser…«

Der Wellensittich hatte nichts darauf erwidert, Killian auch nicht; zu bedrückend war die Stimmung in der Wohnung gewesen. Aus dem Wohnzimmer drang die Stimme eines Fernsehrichters, dann hörte man den Vater nach Bernd rufen.

Das war das Zeichen für Killian gewesen, zu gehen. Sie hatten sich wortlos verabschiedet, und jetzt waren sie sich wortlos wiederbegegnet.

Killian fühlte sich elend. Vielleicht hätte er etwas erwidern sollen, als sich Bernd selbst zum Loser ernannt hatte. Aber er hatte es mit so viel Überzeugung gesagt, dass kein Blatt Papier, geschweige denn ein Wort, dazwischen gepasst hätte.

Was war seitdem passiert? Wie waren die zehn Jahre für Bernd verlaufen? Wie hatte er gelebt, bis er so starb? Killian fühlte plötzlich eine Verpflichtung, sich Bernds anzunehmen. Wenn er sich schon nicht um den lebenden Freund gekümmert hatte, so wollte er doch posthum den Toten verstehen.

Ein Bild nach dem anderen tauchte aus seinen Erinnerungen auf. Wie sie vor einem zähnefletschenden Boxer zusammen durch die Maisfelder geflüchtet waren, beim Kirschenklauen in den Obstplantagen, wie sie im Bötzinger Freibad auf dem Dreimeterbrett mit prahlerischen Sprüngen um die Mädels gebalzt hatten. Fußball, Disco, Schule schwänzen, erste Zigarren, erster Vollrausch, Fummeln in der Möhlinhütte. Ein Bild jagte das nächste, und am Ende der Diashow blitzte immer wieder Bernds totes aufgedunsenes Gesicht auf.

Killian hatte während seiner internen Diashow unmerklich den Becher mit dem Mirabell-Tee-Gemisch erneut geleert, und der Beamte hatte das als Aufforderung empfunden, noch mal nachzufüllen. Man nickte sich wieder einvernehmend zu und schlürfte auch den dritten Becher.

Mitten in den Schluck hinein bretterte ein silbergrauer Audi. Der Wagen lag viel zu tief, aber es schien den Fahrer nicht zu stören, dass Geäst und Steine gegen den Unterboden trommelten. Er bremste nah am Tatort ab und stieg aus dem Wagen. Es war Belledin.

»He nei!«, stieß er in tiefstem Badisch aus. »Lebsch du au noch?« Er streckte Killian seine behaarte Pranke entgegen und drückte kräftig zu.

Killian war gewappnet. Er wusste noch aus früheren Tagen um den Schraubstockgriff Belledins. Irgendwo musste der mal gelesen haben, dass Männer mit solchem Handschlag Zupackende wären. Er unterstrich den Händedruck, indem er fragend die buschigen Augenbrauen hob, solange er zudrückte. Damit war die Begrüßung erst einmal beendet.

Belledin wandte sich von Killian ab und ging seiner Arbeit nach. Zeit für einen Plausch war später immer noch. »Un, weiß ma scho, wer's isch?«, fragte er in die Runde.

»Der Tote heißt Bernd Ambs«, antwortete der Beamte, der Killian mit Mirabell versorgt hatte.

Nach einem längeren stummen Nicken brummte Belledin: »Das musste ja irgendwann mal so kommen. Fremdeinwirkung?« Unwillkürlich war auch er jetzt in den Badisch-Hochdeutsch-Slang gefallen, den sich die Beamten dieser Gegend zu eigen gemacht hatten.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Der Doc sagte, er sei ertrunken. Genaueres kann er aber erst nach der Autopsie sagen.«

Belledin nickte wieder, dann drehte er sich zu Killian. »Der gute alte Ambs. Völlig heruntergekommen in den letzten Jahren. Zuletzt war er bei BPD in Umkirch, hat dort Pakete umgeladen. Ich war zweimal dort, weil in dem Schuppen Hehlerware gehandelt wurde. Allerdings ohne Erfolg. Die Bande haben wir nie drangekriegt.«

»Hatte Bernd was damit zu tun?«, fragte Killian.

Belledin schüttelte den Kopf. »Der hatte mit gar nichts mehr was zu tun. Hat mit keinem mehr geredet, nur zu Hause gehockt, vor dem Computer, und seine Mutter gepflegt.«

»Seine Mutter? Ich dachte, die wäre abgehauen?«

»Nach dem Tod von seinem Vater ist sie zurückgekommen. Zwei Jahre später wurde sie auch krank, aber Ambs hat sie gepflegt und trotzdem sein Studium fertig gemacht. Alle dachten, jetzt würde er endlich die Kurve kriegen. Aber dann, mit einem Mal, war er bei BPD und hat mit niemandem mehr ein Wort gewechselt.«

»Und seine Mutter?«

»Lebt noch. Scheiße, ich hab keine Lust, es ihr zu sagen. Wagner, das machst du.«

Mit Wagner war der Beamte gemeint, der die Lizenz zum Schnapsbrennen besaß. Er nickte und goss sich nach.

Belledin hatte Ambs fast genauso gut gekannt wie Killian. Auch er war aufs Martin-Schongauer-Gymnasium in Breisach gegangen. Man kannte sich hier: Die Schule war klein, der Kaiserstuhl ebenfalls. Und gewisse Platzhirsche waren zu gewissen Zeiten dominant und bestimmten in einem kleinen Zeitfenster die Szene. Das war mit Belledin und Jürgen nicht anders gewesen als mit Ambs und Killian. Wer Persönlichkeit hatte, ragte sofort heraus und spielte seinen Part. Die Provinzbühne lebte davon.

Belledin wollte sich per Handschlag von Killian verabschieden, aber der hielt demonstrativ den Becher in der rechten Hand, sodass er um einen zweiten Schraubstock herumkam.

»Wagner, du nimmst den Bericht von Killian auf, ich muss weiter.«

Wagner nickte wortlos, Belledin stakste durch den Raureif, stieg in den Audi und bretterte davon. Für ihn war die Arbeit offenbar erst einmal erledigt. Wahrscheinlich fuhr er nach Hause zum Mittagessen. Seine Statur ließ jedenfalls einen Dauerhunger vermuten. Ob er immer noch mit Biggi zusammen war?, überlegte Killian.

Wagner blickte ihn jetzt auffordernd an. Aber Killian stellte sich dumm.

»Wollen Sie mit aufs Revier?«, wurde Wagner dann deutlicher.

»Haben Sie kein Diktafon?«, fragte Killian in der Hoffnung, weiteren Schnäpsen aus dem Weg zu gehen; außerdem hatte er keine Lust auf Beamtenräume, ihm war nach Natur. Zu oft hatte er in den letzten Jahren Verhören beigewohnt oder über sich selbst ergehen lassen müssen.

»Batterie ist leer. Ich benutze das Ding selten. Und irgendjemand hat es angelassen beim letzten Mal.«

In Baden gab es immer irgendjemand, der schuld an etwas war, nur man selbst hatte stets ein reines Gewissen, wenigstens nach außen hin. Im Inneren zerriss es die meisten nach einer gewissen Zeit der äußeren Reinheit. Entweder sie begannen zu saufen, wurden fett vom mächtigen Essen oder erhängten sich im Novembernebel.

»Ich hab Batterien dabei«, versuchte sich Killian zu retten.

»Aber ob sie die passende Größe haben?«, unkte Wagner, kramte aber trotzdem das Diktafon aus der Jackentasche.

Killian kannte das Modell. Er hatte auf seinen Reisen einige davon verschlissen. Ein Diktafon war besser als Schreibzeug. Man konnte seine Gedanken festhalten, während man fotografierte. Das hatte manchmal eine andere Direktheit als das Schreiben im Nachhinein; die Redakteure nannten das »Authentizität«. Killian verabscheute dieses Modewort, das immer und überall gebraucht wurde, wenn man etwas als besonders wertvoll stempeln wollte.

Wagners Modell war noch recht groß, es musste aus den frühen Neunzigern stammen. Solche Teile hatte man im Kosovo noch gehabt, aber schon im letzten Irakkrieg waren es nur noch kleine Mikrofone gewesen, die das Gesprochene über Funk in den Rechner speisten und die Sprache über ein Transferprogramm in Texte umwandelte. Ein ungeheurer Luxus, den Killian ebenfalls Moshe zu verdanken gehabt hatte.

Schon wieder war ihm Moshe in den Sinn gekommen. Er sollte verflucht sein!

Killian fingerte eine Batterie aus seiner Ersatzkamera heraus, die in das Diktafon passte, und übernahm den Austausch auch gleich selbst. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Am Ende rutschte Wagner die Batterie noch aus den Fingern und landete im Bach. Und eine solche Schuldfrage wollte er Belledins Hilfssheriff nicht aufbürden.

Die Batterie passte, das Aufnahmelämpchen blinkte, und Wagner konnte mit seinen Fragen beginnen.

***

Noch zwei Zigaretten lugten aus Swinthas zerknülltem Päckchen. Sie fingerte eine davon heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete das Zippo. Der Tabak glomm sofort, und die Rauchwolke zeichnete sich deutlich in der frostigen Luft ab.

Schon eine halbe Stunde wartete sie vor dem verschlossenen Atelier auf Killian; in der Zeit hatte sie bereits zwei Zigaretten gequalmt. Eigentlich sollte das die Ration für einen Tag sein, aber sie hatte nichts zu lesen dabei, und im Dorf herumlaufen wollte sie auch nicht. Sie hatte keine Lust, irgendwelchen Idioten zu begegnen, mit denen sie übers Wetter reden musste. Noch schlimmer wären alte Kollegen von der Schule, die bei ihrem Anblick »ABI 08!!!« grölten in der Hoffnung, sie würde den stumpfsinnigen Schlachtruf erwidern.

Swintha war die Außenseiterin in ihrer Klasse gewesen. Aber nicht nur in der Klasse, die ganze Schule war ihr fremd erschienen. Wie ein Alien war sie sich immer vorgekommen, missverstanden vom Rest der Welt. Allein schon der westgotische Name, den sich ihr Vater für sie ausgedacht hatte. Was hatte sie sich alles anhören müssen. »'s isch Winter, Swintha«, war noch einer der einfallsreicheren Reime gewesen. Swintha hätte ihren Vater gern gefragt, wie er auf so einen Namen kommen konnte, aber der hatte sich vom Acker gemacht, ehe sie sprechen konnte.

Seitdem sie ihre roten Haare zu einem Pagenkopf geschnitten hatte, wirkte sie noch spitzbübischer, die brennende Kippe im Mundwinkel rundete das Bild, das sie von sich zeichnen wollte, vollends ab. Sie hatte sich mit dem Fahrrad von Breisach nach Oberrotweil geschwungen und sich dabei fast die Finger abgefroren. Aber ihre Mutter Bärbel wollte ihr das Auto nicht geben, und auf die Bahn hatte sie keine Lust gehabt.

Ihre Mutter wollte auch nicht, dass sie zu Killian ging, denn Killian war Bärbels Jugendliebe. Seitdem er wieder zurück war, hatte es kein anderes Thema mehr gegeben. Jeden Tag hatte Bärbel von Killian und ihren früheren Polit-Aktionen erzählt. Durchdacht und zielgerichtet sei alles gewesen, immer mit dem Blick auf politische Aufklärung, niemals aus dumpfem Vandalismus. Vier Jahre waren Bärbel und Killian das Paar an der Schule gewesen, hatten die Schülerzeitung aufgemischt, er mit Fotos, sie mit messerscharfen Texten.

Warum es dann plötzlich auseinandergegangen war, hatte Bärbel nie erzählt. Tja, und dann war Sven gekommen, der blonde Engel aus Schweden, und hatte Swintha ihren Namen gegeben.

Sie hatte sich aber nicht Bärbels Geschichten wegen die Mühe gemacht, sich mit dem Fahrrad durch die Kälte zu kämpfen, sondern aus ureigenen Beweggründen. Vor fünf Jahren, sie war gerade vierzehn geworden, steckte sie in der Krise ihres Lebens. Die Hormone der Pubertät schienen es mit ihr besonders hart zu meinen. Von einer Laune wurde sie in die nächste geschleudert, niemand, aber auch gar niemand war in der Lage, sie auch nur annähernd zu verstehen. Lehrer waren von Grund auf blöde, Bärbel war überhaupt die allerdoofste Kuh, und die Freundinnen kümmerten sich nur noch um Frisur und verpickelte Mopedfahrer.

In dieser lebensbedrohlichen Zeit, die sich in Südbaden vor allem zwischen November und Februar zur Suizidhölle auswachsen konnte, war Swintha auf einen Bildband gestoßen, der ihrem Leben Halt und Bedeutung gab. Es war an einem Sonntag gewesen. Bärbel war auf einer Wahlveranstaltung für die Grünen, der Montag lauerte unerbittlich vor der Tür, und Swintha hatte sich heimlich mit einer Flasche Wodka auf den Dachboden verzogen, um sich mit einem einsamen Komasaufen allem zu entziehen. Als sie die Flasche halb geleert hatte, war ihr Blick auf einen verschlossenen Karton gefallen, der in der hinteren Ecke des Dachbodens stand.

Swintha schien der Karton ebenso einsam und verlassen wie sie selbst, deswegen war sie auf ihn zugerobbt und hatte ihn erst tröstend gestreichelt, um ihn dann zu öffnen. Er war voll von Fotos. Fotos von Bärbel zwischen sechzehn und zwanzig, Fotos von Demonstrationen, vom Martin-Schongauer-Gymnasium und von alten Bauern und Handwerkern aus der Region. Klare Gesichter, Menschen mit Würde und Haltung, trotz ihrer Einfachheit.

Und dann war da dieser Bildband gewesen. »Momente des Lichts– zwischen Kosovo und Simbabwe«, KILLIAN. Swintha war schon vom Foto des Einbandes fasziniert gewesen. Als sie das Buch aufgeschlagen hatte, war sie von der Magie der Fotos mehr berauscht gewesen, als es drei Wodkaflaschen vermocht hätten. Es war, als würden die Bilder Swinthas Seele entspringen, als würde sie selbst die Fotos geschossen haben.

Swintha vergaß den Wodka und begann bitterlich zu weinen. Alles, was sich in ihr angestaut hatte, platzte aus ihr heraus. Sie musste aufpassen, dass sie die Fotos nicht mit ihrem Rotz und ihren Tränen versaute, aber es gab kein Halten mehr, alle Dämme waren gebrochen. Heiser vor Schluchzen lag sie auf dem Dachboden und fühlte innerliche Befreiung.

Dann hatte sie sich den Bildband noch mal richtig angesehen. Wieder und immer wieder, bis jedes einzelne Foto zu einem Teil ihrer selbst geworden war. Von da an begann sie zu schreiben. Und jeder Text, den sie zu Papier brachte, entsprang einem Impuls, den ihr der Bildband gegeben hatte. Aber sie gab die Texte niemandem zu lesen. Ohne die Fotos waren sie nur halb. Das Gegenstück fehlte, um die Kunst ganz zu machen. Da Bärbel den Bildband nicht vermisste, hatte Swintha ihn an sich genommen. Und immer wenn ihr die Hormone ins Gehege kamen, meditierte sie über den Fotos und setzte ihr eigenes Leben wieder in Relation zu anderen Lebensentwürfen.

Und jetzt stand sie hier, vor dem Atelier jenes Fotografen, den ihre Mutter früher geliebt hatte und der Swintha durch seine Fotos das Leben gerettet hatte. Es hatte sie viel Mut gekostet, hierherzuradeln. Und sie hoffte bei jeder Zigarette, die sie anzündete, dass Killian noch nicht kommen möge. Wenn sie die letzte geraucht hätte und er noch immer nicht hier wäre, würde sie wieder fahren. Dann hätte das Schicksal ihre Zusammenkunft eben vertagt.

Swintha warf die aufgerauchte Kippe auf den Boden und trat die Glut mit der Spitze ihres Stiefels aus. Sie blickte in die Schachtel und pokerte mit sich. Sollte sie noch ein paar Minuten warten, ehe sie die letzte Zigarette anzündete, oder sollte sie sie sofort nachschieben, um es hinter sich zu bringen?

Sie entschied sich, zu warten. Sie wollte die Begegnung nicht verschieben, sie wusste nicht, ob sie noch mal den Mut aufbringen würde, hierherzukommen. Jetzt war sie hier, jetzt sollte es sich entscheiden. Sie hatte sich vorgenommen, Killian nicht zu sagen, wer ihre Mutter war. Da sie den Nachnamen ihres Vaters hatte, würde sie noch nicht einmal lügen müssen.

***

Wenn ihn die Streifenpolizei anhalten würde, wäre der Lappen weg, das wusste Killian, aber Wagner hatte keine Gnade gekannt. Zwei weitere Mirabell waren nötig gewesen, um das Verhör ordentlich auf das Diktafon zu bringen.

Der Defender holperte über den Feldweg aus dem Rheinwald und wuchtete sich auf die Straße. Der Wagen hatte sich bereits auf der Hinfahrt häufiger verschluckt, irgendetwas war wohl mit der Benzinpumpe nicht in Ordnung. Killian würde nach Heilige Drei Könige zu Hilpert gehen, damit der sich die Mucken näher betrachtete.

Der Wagen war noch ein Relikt der Blauhelme aus dem Kosovo. So schnell, wie sie ins ehemalige Jugoslawien gekommen waren, so schnell hatten sie sich auch wieder zurückgezogen, nachdem Milosevic das Lied vom Frieden geträllert hatte. Für Killian war es eine günstige Gelegenheit gewesen, sich so eine Kiste zum Schnäppchenpreis zu sichern. Jetzt war der Wagen schon etwas in die Jahre gekommen, soff zudem viel zu viel Sprit, aber Killian wollte sich nicht von ihm trennen. Hier schien er ihm fast noch wichtiger als an der Front. Das Auto schützte ihn vor den Angriffen allgegenwärtiger Dorfverschönerung, weil es ihn an härtere Realitäten erinnerte. Hätte er gedurft, wäre er am liebsten mit einem Panzer durch die Gegend gefahren, um ja niemanden an sich ranzulassen.

Als er seinen Wagen durch die flurbereinigten Reben steuerte, fragte er sich ernsthaft, warum er überhaupt wieder hierhergekommen war. Brauchte es erst fünf Mirabell-Schnäpse, um wieder klar zu sehen? Was hatte sich hier denn geändert, seitdem er den Kaiserstuhl verlassen hatte? Nichts, aber auch gar nichts. Die Dörfer waren von einfallslosen Architekten mit Spießbürgerlichkeit und Ökoschick zugekleistert worden, sodass kaum mehr ein Strauch atmen konnte, darunter lag noch immer die ständig lauernde Missgunst und Bigotterie, frei nach der Bibel: Misstraue deinem Nächsten wie dir selbst. Killian merkte, wie er seine Gedanken in einen Zornesstrudel jagte, und bremste sich ein. Er war ungerecht. Seine Heimat besaß auch viel Schönes: die Weinberge, das warme Licht, die strotzende Fruchtbarkeit des Vulkangesteins und Menschen, die trotz ihres chronischen Misstrauens, mit dem sie allem Neuen und Fremden begegneten, eine herzliche Verbindlichkeit entwickeln konnten, die dann für alle Ewigkeit galt.

Und einer dieser Menschen war Bernd Ambs gewesen. Killian hatte oft an ihn gedacht, hatte ihn besuchen wollen, es aber immer wieder verschoben; aus Angst, Ambs wäre möglicherweise noch tiefer in Selbstzerfleischung gefallen.

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg zum Propheten, stichelte Killian zynisch gegen sich selbst. Bernd Ambs hatte nun ihn besucht, in Form eines Alptraums.

Er kurbelte das Fenster runter und hielt seinen Schädel in den eisigen Fahrtwind. Er wollte einen klaren Kopf bekommen. Es konnte nicht angehen, dass der Tag sich von ihm verabschiedete, nur weil er ein paar Schnäpse gekippt hatte. Der Wagen bockte erneut. Killian verzichtete auf den Umweg durch die Reblandschaft und lenkte das Gefährt auf dem kürzeren Weg über die Landstraße. Bis nach Hause würde er noch kommen. Und bis Bötzingen würde es am Mittwoch auch noch reichen.

Sein Handy begann zu brummen. Er zog den Kopf wieder ins Wageninnere, griff mit der rechten Hand in die Innentasche seiner Kutte und blickte auf das Display: »Unbekannter Anrufer«. Killian ließ es brummen. Er hatte keine Lust auf unbekannte Anrufer. Es konnte Moshe sein, und dem war er momentan nicht gewachsen. Nach dem Tod von Ambs, den Schnäpsen und der Flurbereinigung hätte der alte Fuchs leichtes Spiel mit ihm gehabt. Ehe er auch nur begriffen hätte, was Moshe von ihm wollte, wäre er bereits im Flieger nach Tel Aviv gesessen, um zwölf Stunden später mit den ersten Bodentruppen zwischen Kugelhagel und Raketendonner exklusive Bilder zu schießen.

Das Brummen hörte auf, kurze Zeit später blinkte das Handy, dann begann die Mailbox-Abfrage mit regelmäßigem Piepsen zu nerven. Killian entschied sich, sie zu erlösen, und hörte die Aufnahme ab.

»Hier ist Wagner. Ich wollte nur sagen, dass vor der Ortseinfahrt Oberrottweil unsere Kollegen stehen. Vielleicht ist es besser, Sie fahren von anders herum ins Dorf.«

Killian staunte nicht schlecht. Das war ein feiner Zug von Wagner, aber der erste Schritt zur Vetternwirtschaft. Und gerade der wollte Killian endlich entkommen. Es genügte, dass er mit allen Geheimdiensten dieser Welt auf der Ebene der Gefallen und Gegengefallen Schlittschuh lief, da wollte er nicht auch noch einem drittklassigen Dorfpolizisten etwas schuldig sein. Aber seinen Führerschein wollte er auch nicht verlieren. Ohne Auto war er hier aufgeschmissen. Also riss Killian das Lenkrad herum und fuhr über einen holprigen Feldweg zum Atelier, auch wenn er dabei riskierte, dass sich die Benzinpumpe nun völlig verschluckte.

Doch der Defender hielt durch und erreichte bald teerigen Untergrund. Killian steuerte ihn durch einige enge Gassen und landete endlich vor der Laderampe des alten Raiffeisenlagers, wo ihn bereits ein hübsches rothaariges Mädchen erwartete.

***

Swintha hatte sich gerade die letzte Zigarette aus dem Päckchen gefischt und war im Begriff, sie anzuzünden, steckte sie aber wieder zurück. Eigentlich hatte sie sich Killian rauchend vorgestellt, aber man konnte nie wissen. Die militanten Nichtraucher waren mittlerweile in der Überzahl, Bärbel war ein Paradeexemplar dieser Spezies. Da Killian aus derselben Epoche kam, konnte auch er einer von ihnen sein.

Killian zog die Handbremse an und stieg aus dem Auto. Obwohl ihm das rothaarige Mädchen nicht entgangen war, kümmerte er sich nicht groß um sie, sondern widmete sich seinem Equipment. Er hatte heute Morgen tolle Fotos gejagt, davon war er überzeugt, und die wollte er jetzt endlich sichten. Da konnten die Queen von England, die Frau Kanzlerin oder Moshe persönlich neben ihm stehen, die Kunst ging vor. Er blickte kurz auf, nickte und schlug die Tür des Defenders zu. Dann stieg er mit den Fototaschen die Treppe des Ateliers hoch und öffnete die große hölzerne Schiebetür des ehemaligen Lagers.

Die junge Frau schwang sich auf und versperrte ihm den Weg. »Können Sie einen Lehrling gebrauchen?«, brach es aus ihr heraus.

Killian trat einen Schritt zurück und musste dabei aufpassen, nicht von der Rampe zu fallen. Er musterte den roten Pagenkopf und das hübsche Gesicht und fühlte sich an irgendjemanden erinnert. Auch diese Dreistigkeit kam ihm bekannt vor. Nicht uncharmant, nur ungewohnt.

»Ein Model könnte ich eher gebrauchen. Machst du auch Akt?«

Er konnte wirklich ein Fiesling sein. Er wollte nur testen, wie weit sie war. Die Farbe ihrer Haare schien ins Gesicht abzufärben, und Killian lächelte zufrieden. Es war ihm nicht nach Sex, und mit so jungen Frauen schon zweimal nicht. Was konnte man mit Mädchen anschließend reden, wenn es vorüber war? Und es war immer viel zu schnell vorüber, und dann hörte man naives Zukunftsgeplapper von jungen Gören, die noch immer von zu Hause Taschengeld bekamen, einem aber erklären wollten, wie das Leben funktionierte.

Die mutige und zugleich schüchterne junge Frau schien aber anders geschnitzt zu sein. Jedenfalls plapperte sie nicht gleich drauflos, um sich auf sicheres Terrain zu retten, sondern hielt die Gesichtsröte geduldig aus.

»Ich kann keinen Lehrling gebrauchen. Ich bin kein Meister, ich darf nicht ausbilden, tut mir leid. In Breisach kenne ich aber jemanden, der immer wieder Lehrlinge sucht.«

»Ich weiß, aber ich will keine Hochzeitsfotos machen, ich will richtige Fotos schießen«, entgegnete das Mädchen und hielt Killians Blick stand.

»Dann kauf dir eine Kamera und leg los. Heute geht das alles ganz einfach. Digital, anschließend eliminierst du die Fehler mit irgendeiner Software.«

»Ich will Fotografie lernen, nicht fotografieren«, erwiderte das Mädchen, und ihre Stimme hatte Nachdruck erhalten.

Killian hob die Brauen. Wer solche Sätze von sich gab, von dem wollte er noch mehr hören. »Wollen wir reingehen? Ich war heute schon viel zu lange in der Kälte. Wir trinken einen Tee, du erzählst mir was von dir, und dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.«

Er ging vor, knipste das Atelierlicht an und sagte dabei: »Stromverschwendung, ich weiß. Aber ich mag keine Dunkelheit, und das Tageslicht fällt hier nur spärlich ein.« Dann warf er seine Fototaschen auf ein Barocksofa und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. »Tut mir leid, Kaffee habe ich nicht, ich trinke sonst nur heißes Wasser.«

»Ich trinke auch heißes Wasser«, antwortete das Mädchen.

»Mit Roibusch oder schwarzem Tee?«, fragte Killian nach.

»Schwarzem Tee und Zitrone«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Killian grinste in sich hinein. Er genoss die Unsicherheit seines Gastes, wollte daraus aber kein Kapital schlagen. Das Wasser dampfte rasch im Tauchsieder, der Tee war flugs serviert. Das Mädchen tropfte sich die Viertelzitrone in die Tasse und nippte daran.

»Keinen Zucker?«, fragte Killian.

Sie schüttelte den Kopf.

Die Art und Weise, wie sie den Kopf bewegte, erinnerte ihn wieder an jemanden. Aber er wollte nicht darauf kommen. Es war eines jener verflixten Déjà-vus, die einem den Schlaf rauben konnten.

»Wie heißt du?«, fragte er. Vielleicht kam er ja über den Namen auf die Person, die ihn gerade innerlich foppte.

»Swintha.«

Killian blickte sie stumm an und ließ den Klang des Namens noch eine Weile durch das Atelier schweben, ehe er ihn sanft in seinem Hirn zu landen erlaubte. Dann nahm er einen Schluck heißes Wasser und sagte:

»Mataswintha, einzige Tochter des Westgoten-Königs Eutharich und der Amalaswintha, etwa 518 geboren. Dafür siehst du mir noch recht frisch aus.«

Das Eis schien gebrochen. Swintha lächelte befreit.

»Und mit Nachnamen?«, fragte Killian.

»Andersson.«

»Andersson? Swintha Andersson? Mit dem Namen musst du Model werden«, lachte er. »Entschuldige, aber der Name ist wirklich großartig. Kein Jenne, Bühler, Maier, sondern Andersson, Swintha Andersson. Das ist wirklich klasse, Kompliment.«

Swintha lachte nun ebenfalls und ein schallendes Glucksen brach aus ihr heraus.

Killian erschrak. Er kannte nur einen Menschen, der ähnlich herzerfrischend lachen konnte, aber dieses Lachen hatte er seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gehört. Er kniff die Augen zusammen, blickte auf die Grübchen, die roten Haare und wurde mit einem Mal todernst.

»Andersson? Nicht vielleicht doch Engler?«

Swinthas Lachen verstummte sofort, wieder trieb es ihr die Röte ins Gesicht.

Der Blick, mit dem Killian sie musterte, war eindeutig. Er hatte sie als Tochter seiner alten Jugendliebe Bärbel Engler erkannt.

Wie sollte das einem so geschulten Blick entgehen? Auch wenn sie charakterlich so verschieden waren, einige Ähnlichkeiten waren nicht zu leugnen.

»Ich heiße Andersson, meine Mutter heißt Engler.«

Killian nickte. »Verstehe. Hätte ihr wenigstens einen Doppelnamen zugetraut.« Er setzte einen kleinen spöttischen Lacher hinterher. Dann schwieg er und blickte Swintha stumm an.

Swintha schien die Musterung unangenehm. Sie stand auf und nahm ihren Mantel, den sie zuvor über die Lehne des Sofas gelegt hatte.

»Du willst schon gehen? Aber wir haben doch noch gar nichts besprochen.«

Swintha war irritiert. »Ich dachte, wegen meiner Mutter, da gäbe es nichts mehr zu besprechen…«, stotterte sie, obwohl sie sonst nie stotterte.

»Das tut nichts zur Sache. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner finden und du ein Gefühl für den Moment hast, kann ich dir vielleicht etwas beibringen. Aber eine Lehre ist nicht drin, das ist außerhalb meiner Kompetenz. Ich kann dir auch nur wenig bezahlen. Und ob ich dich als Praktikantin nehme, stellt sich erst heraus, wenn ich dich geprüft habe. Und wenn du jetzt gehst, kann ich dich nicht prüfen.«

Sie legte den Mantel wieder ab und sah Killian offen ins Gesicht. »Also, prüfen Sie mich.«

Killian lächelte.

Er packte seine Fototasche aus, warf den Mac an und verband die Kamera mit dem Computer. Es dauerte dann eine Weile, bis die Fotos vom Morgen als Thumbnails auf dem Bildschirm auftauchten. Er klickte einige an, die nacheinander aufsprangen und den Bildschirm bevölkerten.

»Komm her. Du siehst sie dir in Ruhe an und sagst mir anschließend, welche dir am besten gefallen– und warum. Lass dir alle Zeit, die du brauchst. Du kannst es mir in fünf Minuten sagen, aber auch erst in zwei Stunden, das bleibt ganz dir überlassen.«

Swintha setzte sich auf den Bürostuhl vor den Rechner und schob die Maus über die Matte, um sich die Fotos anzusehen.

Killian zog sich in die Küche zurück. »Magst du Curry?«, rief er Swintha zu, die bereits staunend vor einigen Bildern saß.

»Ja, ich mag Curry«, erwiderte sie abwesend und klickte weiter durch die Bilder.

Killian freute sich darüber, nicht allein mittagzuessen. Er liebte es, zu kochen. Es war nicht die raffinierteste Küche, aber es schmeckte immer, zumindest ihm selbst. Er freute sich auch über Swintha und hoffte fast, dass sie das richtige Auge hatte. Er brauchte einen zweiten Blick, nachdem er sich so leer geschossen hatte. Und Swintha trug dieses Frische, Unverbrauchte in sich, das ihn selbst früher so frei und unabhängig gemacht und ihm das Gefühl geschenkt hatte, die Welt zu erobern.

Und sie erinnerte ihn an Bärbel.

***

Belledin hatte gekleckert. Allerdings war es auch unmöglich, bei diesem Essen nicht zu kleckern. Biggi hatte ihm den Teller randvoll gepackt mit Rehrücken, Kartoffelbrei, Rotkraut und eben jener schweren Pilzsahnesoße, die er so sehr mochte, mit einem Schuss Zitrone und gerösteten Zwiebeln. Dass ein Teil davon nun auf seinem frischen Hemd klebte, entlockte ihm lediglich ein kurzes Brummen, dann schaufelte er weiter Kartoffelbrei in sich hinein, den er besonders schätzte, weil er sich dabei nicht mit Kauen aufhalten musste.

Er war bequem geworden in der letzten Zeit. Ob das ein Zeichen einer bevorstehenden Midlife-Crisis war? Der Gedanke ging, wie er kam, denn erneut spritzte die Soße. Diesmal aber auf die weiße Tischdecke.

Biggi stieß einen Seufzer aus, lächelte ihn dabei aber nur liebevoll an. Sie wusste, dass er nervös war, aber sie fragte nicht nach. Nicht aus Desinteresse, sondern weil sie schon sehr früh in ihrer Ehe abgemacht hatten, dass der Polizeifunk vor der Haustür blieb. Lediglich wenn größere Karriereentscheidungen anstanden, wurde Biggi zu Rate gezogen. Aber Mord und Totschlag sollten außerhalb der Ehe bleiben.

Belledin schenkte den Klecksen auf der Tischdecke keine weitere Beachtung. Er nagte das zarte Fleisch vom Gebein des Rehs und dachte an die Zeiten, als er körperlich noch in Form gewesen war. Auch diese Gedanken waren dezente Hinweise auf eine lauernde Midlife-Crisis. Belledin war einst die Hoffnung des deutschen Zehnkampfes gewesen; ein Athlet vor dem Herrn, griechisch-römischer ging es nicht mehr. Ende der achtziger Jahre war er im Stande gewesen, ohne härteres Training achttausend Punkte zu sammeln und dabei immer noch zu lächeln. Der VFBStuttgart wollte ihn abwerben, aber für Belledin kam es gar nicht in Frage, nach Württemberg zu wechseln. Er war Badener und über seine Groß- und Urgroßväter tief im vulkanischen Lössboden der Rheinebene verwurzelt. Hätte er sich verpflanzen lassen, er wäre eingegangen wie ein Weinstock in der Antarktis.

Auch als man ihm vor zwei Jahren angeboten hatte, eine SOKO in Stuttgart zu leiten, hatte er ohne mit der Wimper zu zucken abgelehnt. Das wäre Prestige und um einiges mehr an Geld gewesen. Da aber für Belledin jeder zweite Schwabe von vornherein ein Verbrecher war, wäre er nur mit Verhaftungen beschäftigt gewesen. Hier, in der Heimat, wusste er, das Gesetz vom Leben und Lebenlassen haarscharf auszulegen; in Stuttgart wäre er ein orientierungsloser Elefant im Porzellanladen gewesen. Er hätte kurz drei Stufen nach oben genommen und wäre dann hoffnungslos abgestürzt. Da arbeitete er lieber mit den Elsässern zusammen. Die Grenze zwischen Baden und Frankreich schien ihm überwindbarer als der inländische Schritt zu den bigotten Häuslebauern. Auch wenn er noch immer mit den französischen Kollegen haderte, dass sie die Leiche in Mackenheim grußlos an ihn weitergereicht hatten.

Erneut spritzte es. Diesmal reichte Belledins Soßenschwung sogar bis hinüber auf Biggis Bluse. Ein Champignon landete im Ausschnitt ihrer Bluse und machte beim Aufkommen mit einem kleinen Klatschgeräusch auf sich aufmerksam. Biggi sah auf den Fremdling hinunter, so gut es ihr Doppelkinn zuließ.

Auch Belledin blickte auf den verirrten Champignon. Er fokussierte lediglich die beiden großen Wölbungen und den Pilz, den Rest blendete er aus. Sie waren schon dreiundzwanzig Jahre ein Paar, da musste man manche Dinge ausblenden, um noch etwas voneinander zu haben. Belledin gelang es mit dieser Technik sehr gut, sich in Erregung zu bringen. Er war satt, nun bekam er Appetit.

Und er wusste, dass Biggi das, war ihr bevorstand, nicht unangenehm war. Sie liebte es, wenn ihr Bello sich an ihr verausgabte und sie noch den Zehnkämpfer von einst in ihm erkannte. Das brachte ihr selbst und Belledin die Zeiten zurück, in der ihre Hüften noch schmaler und die Haut straffer gewesen waren.

»Bello«, gurrte sie kokett und zog den Atem dabei tief in die Brust, damit sich ihre Ungeheuer noch mehr in seinen Blick fraßen.

Der Rest war eine Routine, mit der sie es immerhin fast bis zur Silberhochzeit gebracht hatten.

***

Swintha war noch nicht weit gekommen mit der Sichtung der Bilder. Sie nahm sich Zeit, wollte sich nicht entscheiden, aus Angst, nicht die richtigen auszusuchen. Aber sie war auch gefesselt von jedem einzelnen Bild. Obwohl es immer wieder dieselben Motive waren, barg doch jedes Bild eine andere Stimmung, eine andere Geschichte. Swintha hätte sofort wieder mit Schreiben beginnen können, aber sie wagte es nicht, sich zu offenbaren.

Killian kehrte mit zwei dampfenden Schalen aus der Küche zurück; Reis mit Curryhuhn.

»Das ging aber schnell«, staunte Swintha, der die Pause gelegen kam.

»Hatte ich gestern schon vorbereitet. Mag es immer gerne, wenn das Curry durchzieht.« Er reichte Swintha eine Schale, dann setzte er sich auf das Barocksofa und begann das Curry zu gabeln.

Swintha tat es ihm nach und verzog nach dreimaligem Kauen den Mund. »Ist das scharf!«

Killian lachte. »Im Kühlschrank ist Joghurt, bedien dich. Löffel sind in der blauen Tasse…«

Swintha war sofort aufgesprungen und in die Küche geeilt. Rasch versorgte sie sich mit Joghurt, dann kehrte sie zurück.

»Aber sonst ist es lecker.« Sie grinste, dass sich ihre Grübchen in die Wangen bissen, und setzte ein Glucksen hinterher.

Für Killian war es wie eine Pawlow'sche Klingel, die ihn mehr als zwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit warf. Was hatte er mit Bärbel für einen Spaß gehabt! Jeden Blödsinn, den man sich vorstellen konnte, hatten sie gemeinsam durchgezogen, und dann war es auf einmal aus gewesen. Wie so vieles auf einmal aus gewesen war. Die Freundschaft mit Bernd Ambs zählte auch dazu. Bernd war tot. Bärbel lebte noch, und vor ihm saß ihre Tochter, die eine Magierin der Zeit zu sein schien.

Killians Gedanken konnten sich im Augenblick nicht zwischen Bernd und Bärbel entscheiden, also versuchte er zu ergründen, warum damals auf einmal alles so anders gekommen war. Bärbel hatte in Freiburg mit dem Studium begonnen, Bernd war zur Bundeswehr gegangen, weil es ihm für seine Wirtschaftskarriere wichtig erschien, und er selbst hatte sich für zwanzig Monate dem Zivildienst verschrieben.

Jeder von ihnen war in einer neuen Welt gelandet, die ihre eigenen Anforderungen hatte. War man auf dem Gymnasium noch die Beste in Geschichte und Geografie, so musste man sich an der Uni nun mit ganz anderen Schlaumeiern messen, die Adam Smith genauso gut vertreten konnten wie Bärbel den Marxismus. Wer hier punkten wollte, musste sich mehr ins Zeug legen als im Leistungskurs.

Bernd war in Pfullendorf bei den Kanonieren gelandet, wo mehr gefressen und gesoffen wurde als sonst etwas. Als er zum ersten Heimurlaub nach Bötzingen gekommen war, hatte ihm seine Freundin Anke direkt den Laufpass gegeben. Daraufhin war er gleich wieder nach Pfullendorf gefahren, um sich das freie Wochenende mit den neuen Kameraden um die Ohren zu schlagen.

Killian selbst musste zusehen, wie er die Eindrücke des Zivildienstes verarbeitete.

Man konnte sich entscheiden, wie man wollte, manchen Aufgaben im Leben konnte man nicht entrinnen. Er war als Kriegsdienstverweigerer gestartet und am Ende ein Elitesoldat der ganz besonderen Art geworden. Zwar schoss er nicht mit echter Munition, aber er feuerte Belichtungszeiten, um den Tod einzufangen.

Während man bei der Bundeswehr am Modell lernte, wie man auf effiziente Weise Menschen tötete, sah Killian beim Zivildienst echte Menschen sterben. Er nahm sogar so weit Kontakt mit dem Tod auf, dass er ihn schon riechen konnte, wenn er ein Zimmer betrat. Um sich mit schwarzem Humor aus der emotionalen Bedrängnis zu retten, schloss er mit seinen beiden Zivi-Kollegen sogar Wetten ab, wie lange es der jeweilige Kunde noch machen würde. Supervision gab es nicht, eine vorbereitende Einschulungszeit fehlte ebenfalls. Man wurde ins kalte Wasser geschmissen und musste schwimmen.

Bärbel war zu sehr mit ihrem Studium und den neuen Freunden in Freiburg beschäftigt, um zu merken, wie er sich immer mehr mit dem Tod anfreundete und ihn um Audienzen bat, damit er ihn fotografieren konnte. Politische Veranstaltungen und Demos gingen ihm mittlerweile am Arsch vorbei, waren ihm nur noch aufgeblasene Wichtigtuerei wohlbehüteter intellektueller Schwätzer, die betroffen Kerzen anzündeten und sich Händchen haltend anschwiegen, während in den Häusern der eigenen Dörfer der Familienkrieg tobte.