Zusammen wie Schwestern - Gayle Forman - E-Book

Zusammen wie Schwestern E-Book

Gayle Forman

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Freundinnen fürs Leben Der allererste Roman der Bestsellerautorin von WENN ICH BLEIBE und NUR EIN TAG … UND EIN GANZES JAHR "Wo bringen die mich hin?" "Es ist nur zu deinem Besten, Brit", sagte mein Dad. Ich wurde in ein kleines muffiges Zimmer geschoben und die Tür hinter mir abgeschlossen. Ich wartete darauf, dass mein Dad begriff, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte und mich hier rausholte. Aber das tat er nicht. Die 16jährige Brit Hemphill weiß nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen kann. Überzeugt, dass sie anders nicht zu bändigen ist, hat ihr Vater sie nach Red Rock abgeschoben – einem Internat für angeblich schwer erziehbare Jugendliche, wo die Therapie aus Beschimpfung und Bestrafung besteht und jene Mädchen bevorzugt werden, die über die anderen schlecht reden. Aber dann trifft Brit auf V, Bebe, Martha und Cassie – vier Mädchen, die sie davon abhalten durchzudrehen. Und zusammen haben sie die Chance, der düsteren Realität von Red Rock standzuhalten und mutig ihren Weg zu gehen. Brit Hemphill hat niemanden mehr, dem sie vertrauen kann. Ihre freiheitsliebende Mutter ist verschwunden, und ihr Vater, früher Brits engster Verbündeter, hat wieder geheiratet und sie ins Red-Rock-Internat abgeschoben, eine Einrichtung für Problemkinder. Aber die Betreuer dort sind grausam. Und Brits Horror vor den sogenannten Therapiestunden und den erschöpfenden körperlichen Arbeiten ist nichts gegen die Angst vor ihren hinterhältigen Mitschülerinnen, die sich Vorteile erschleichen, indem sie andere denunzieren. Doch als V, Bebe, Martha und Cassie, die vier Mädchen, die Britt davor bewahren durchzudrehen, ihr helfen, sich rauszuschleichen, um Jed zu treffen, den Jungen, mit dem sie in einer Band gespielt hat und an den sie nicht aufhören kann zu denken, wächst langsam in ihr die Zuversicht. Es gibt doch Menschen, denen sie vertrauen kann. Menschen, die ihr helfen könnten, Red Rock schließen zu lassen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 271

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gayle Forman

Zusammen wie Schwestern

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer

FISCHER E-Books

Gewidmet

allen unverstandenen Mädchen,

überall.

Auf den ersten Blick sah die Red Rock Academy aus wie ein heruntergekommenes Motel: ein gedrungenes, T-förmiges, zweistöckiges, beige verputztes Gebäude. Nur, dass das Red Rock mit Stacheldraht umzäunt war und zwei absurd muskelbepackte Neandertaler auf dem Gelände patrouillierten. »Was ist das, Dad?«, fragte ich, denn langsam dämmerte mir was.

»Nur ein Internat, das ich mir gern mal mit dir ansehen möchte.«

»Aber warum? Nächste Woche fängt doch bei uns zu Hause die Schule wieder an.«

»Unter anderem deswegen sind wir hier, Schatz. Weil du in der Schule zu Hause zuletzt nicht so gut zurechtgekommen bist.«

»Ach, Dad, die paar Vierer. Davon geht doch die Welt nicht unter.«

Dad rieb sich die Schläfen. »Die paar Vierer sind nicht das Schlimmste, Brit. Es geht um mehr. Ich hatte in letzter Zeit das Gefühl, dass du dich immer weiter von unserer Familie absonderst. Du bist nicht mehr du selbst, und ich möchte, dass dir geholfen wird, bevor …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Dads Hände zitterten. Ich bekam Gänsehaut. Irgendwas lief hier wirklich falsch.

Dann waren die beiden Muskelfreaks plötzlich rechts und links von mir, drehten mir die Arme auf den Rücken und zerrten mich vom Auto weg.

»Dad! Daddy, was passiert hier? Was soll das?«

»Bitte, bitte tun Sie ihr nicht weh!«, flehte Dad die Schlägertypen förmlich an. An mich gewandt sagte er: »Es ist nur zu deinem Besten, Liebes.«

Danke an:

 

Nina Collins, Maggie Ehrlich, Matthew Elblonk,

Lee Forman, Ruth Forman,

Tamara Glenny, Eliza Griswold,

Shahawna Kim, Deanna Kizis,

Kristin Marang,

Tamar Schamhart,

Nick Tucker und Willa Eve Forman Tucker.

Kapitel 1

Es sollte angeblich ein Ausflug zum Grand Canyon werden, zu dem ich gar keine Lust hatte. Mitten im Sommer war es in der Wüste etwa fünftausend Grad heiß – das und zwei Tage im Auto mit meinem Dad und dem Stiefmonster würde ich auf keinen Fall überleben. Das Stiefmonster nervt mich sowieso wegen allem und jedem. Alles stört sie an mir: mein Haar – dunkelrosa mit schwarzen Strähnen oder schwarz mit dunkelrosa Strähnen, je nach Perspektive. Meine Tattoos – ein keltisches Armband, eine Blumenranke um den Fußknöchel und ein Herz an einer Stelle, die das Stiefmonster niemals zu sehen bekommen wird. Und dieser schlechte Einfluss, den ich auf meinen Halbbruder Billy habe! Dabei ist er noch ein Baby, mein Gott, das meine Tattoos wahrscheinlich für Comics hält, falls es sie überhaupt bemerkt.

Außerdem war es das Labor-Day-Wochenende – die letzten freien, unbeschwerten Tage vor der elften Klasse. Es sollte der Kracher werden. Ich spiele Gitarre in einer Band namens Clod, und wir sollten beim Indian Summer Festival in Olympia auftreten, zusammen mit einer ganzen Menge wirklich echter Bands, solcher, die schon Plattenverträge haben. Es war der beste Auftritt, für den wir je gebucht worden waren, und eine Megasteigerung im Vergleich zu den Partys und Kneipen, wo wir sonst spielten. Aber das kapierte das Stiefmonster natürlich nicht. Sie hält Punk Rock für irgendein Teufelszeug und hat mir nach Billys Geburt verboten, weiter im Keller zu üben, damit ich seine zarte Seele nicht verderbe. Jetzt kann ich nur noch in Jeds Keller proben, was dem Stiefmonster auch nicht gefällt, weil Jed schon neunzehn ist und – Schnappatmung – mit einem Haufen von Leuten zusammenwohnt, unter denen aber nicht seine Eltern sind.

Also lehnte ich höflich ab. Na ja, vielleicht nicht ganz so höflich. Vielleicht sagte ich genau genommen: »Lieber würde ich Glas essen«, was nur bewirkte, dass das Stiefmonster sofort zu Dad rannte und der mich in seiner müden Art fragte, warum ich so frech sei. Ich erzählte ihm von dem Auftritt. Früher hatte er sich mal für Musik und solche Dinge interessiert, aber jetzt nahm er nur die Brille ab, rieb sich die Nasenwurzel und sagte, dass er nicht bereit sei zu diskutieren. Es sei ein Familienausflug. Aber so leicht gab ich nicht auf. Ich zog alle Register: Ich weinte, schwieg verstockt, warf mit Tellern um mich. Nichts nützte. Das Stiefmonster weigerte sich, mit mir zu reden, weshalb es zu einer Sache zwischen mir und Dad wurde. Und da ich ihn noch nie gut traurig sehen konnte, musste ich schließlich nachgeben.

Ich überbrachte die Nachricht meiner Band. Erik, unser kiffender Drummer, brummte nur: »Verdammte Scheiße, Mann«, aber Denise und Jed waren entsetzt. »Wir haben so hart dafür gearbeitet, du hast so hart dafür gearbeitet«, sagte Jed, und mit seiner Enttäuschung brach er mir das Herz. Er hatte recht. Vor drei Jahren hatte ich nicht mal den Unterschied zwischen einem C- und einem F-Akkord gekannt, und jetzt war ich für einen großen Auftritt gebucht worden. Aber Clod würde als Trio beim Indian Summer Festival spielen müssen. Ich war total fertig, weil ich nicht dabei sein konnte – wobei es andererseits irgendwie auch schön war, dass Jed so traurig darüber zu sein schien.

Ich hätte mir denken können, dass irgendetwas faul war, als am Freitagmorgen Dad allein die Scheißkarre packte, den ekelhaften braunen Minivan, den das Stiefmonster nach Billys Geburt unbedingt haben wollte. Sie und Billy waren nirgendwo zu sehen.

»Gott, sie ist immer zu spät. Du weißt, dass das eine Form von Dominanz ist?«

»Danke für die Psychoanalyse, Brit, aber deine Mom fährt nicht mit.«

»Sie ist nicht meine Mom, und was soll der Scheiß jetzt? Du hast gesagt, das sei ein Familienausflug, weshalb du mich gezwungen hast, mitzufahren und das Indian Summer Festival zu verpassen. Wenn die nicht mitkommen, fahre ich auch nicht.«

»Es ist ja ein Familienausflug«, behauptete mein Dad und schob mein Gepäck in den Kofferraum. »Aber zwei Tage Autofahrt sind zu viel für Billy. Sie fliegen, und wir treffen uns dort.«

Spätestens als wir uns Las Vegas näherten und Dad vorschlug, eine Pause zu machen, hätte ich checken müssen, dass hier etwas wirklich richtig faul war. Früher, als Mom noch da war, machten wir oft sowas. Sprangen spontan ins Auto und fuhren nach Las Vegas oder San Francisco. Ich weiß noch, wie wir mal in einer Nacht während einer Hitzewelle, als keiner schlafen konnte, unsere Schlafsäcke ins Auto schmissen und rauf in die Berge fuhren, wo ein perfekter kühler Wind wehte. Es war Ewigkeiten her, dass Dad etwas so Cooles gemacht hatte. Das Stiefmonster hatte ihn davon überzeugt, dass Spontaneität mit Verantwortungslosigkeit gleichzusetzen war.

An den künstlichen Kanälen vor dem Hotel Bellagio holte mir Dad etwas zum Mittagessen und lächelte sogar ein wenig, als ich mich über ein paar merkwürdig ausstaffierte Touristen lustig machte. Dann gingen wir in ein billiges Casino in der Innenstadt. Er meinte, es würde niemanden interessieren, dass ich erst sechzehn war, und gab mir zwanzig Dollar für die einarmigen Banditen. Unser kleiner Ausflug entwickelte sich gar nicht mal so übel. Doch als ich bemerkte, wie Dad mich beim Spielen ansah, fiel mir auf, dass er irgendwie leer wirkte, als hätte ihm jemand mit einem Staubsauger die Seele rausgesaugt oder so. Er freute sich nicht mal richtig, als ich fünfunddreißig Dollar gewann, und bestand darauf, das Geld einzustecken und für mich aufzubewahren. Noch ein rotes Warnsignal, das ich nicht bemerkte. Ich blöde, dämliche Kuh amüsierte mich einfach mit meinem Vater, der sich endlich wieder von einer Seite zeigte, die ich jahrelang vermisst hatte.

Als wir Las Vegas verließen, wurde er still und verschlossen, genau wie damals, nachdem das alles mit Mom passiert war. Ich sah, dass er das Lenkrad fest umklammerte, und die ganze Sache war echt schräg und verstörend. Ich war so damit beschäftigt rauszufinden, was mit ihm los war, dass mir gar nicht auffiel, dass wir nicht mehr in Richtung Grand Canyon fuhren, sondern nach Norden in Richtung Utah abgebogen waren. Alles, was ich erblickte, wenn ich aus dem Fenster schaute, waren rostrote Felsen, die für mich genug nach Grand Canyon aussahen. Als wir gegen Abend in eine kleine Stadt reinfuhren, dachte ich, wir würden noch einmal in einem Motel übernachten, und auf den ersten Blick sah die Red Rock Academy tatsächlich wie ein heruntergekommenes Motel aus: ein gedrungenes, T-förmiges, zweistöckiges, beige verputztes Gebäude. Nur, dass das Red Rock mit Stacheldraht umzäunt war und zwei absurd muskelbepackte Neandertaler auf dem Gelände patrouillierten.

»Was ist das, Dad?«, fragte ich, denn langsam dämmerte mir was.

»Nur ein Internat, das ich mir gern mal mit dir ansehen möchte.«

»Aber warum? Nächste Woche fängt doch bei uns zu Hause die Schule wieder an.«

»Unter anderem deswegen sind wir hier, Schatz. Weil du in der Schule zu Hause zuletzt nicht so gut zurechtgekommen bist.«

»Ach, Dad, die paar Vierer. Davon geht doch die Welt nicht unter.«

Dad rieb sich die Schläfen. »Die paar Vierer sind nicht das Schlimmste, Brit. Es geht um mehr. Ich hatte in letzter Zeit das Gefühl, dass du dich immer weiter von unserer Familie absonderst. Du bist nicht mehr du selbst, und ich möchte, dass dir geholfen wird, bevor …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Hey! Du meinst, ich soll hier hingehen? Wann denn?«

»Wir sehen es uns ja nur mal an«, wiederholte er.

Dad war schon immer ein mieser Lügner. Er wird rot und druckst rum. Und ich konnte ihm ansehen, dass kein Wort stimmte. Seine Hände zitterten. Ich bekam Gänsehaut. Irgendwas lief hier wirklich falsch.

»Was geht hier vor, Dad? Verdammt nochmal!«, schrie ich und stieß die Beifahrertür auf. Mein Herz schlug jetzt schnell und laut, dass es mir in den Ohren pochte. Die beiden Muskelfreaks standen plötzlich rechts und links von mir, drehten mir die Arme auf den Rücken und zerrten mich vom Auto weg.

»Dad! Daddy, was passiert hier? Was soll das?«

»Bitte, bitten tun Sie ihr nicht weh!«, flehte Dad die Schlägertypen förmlich an. An mich gewandt sagte er: »Es ist nur zu deinem Besten, Liebes.«

»Was machst du da, Dad?«, schrie ich. »Wo bringen die mich hin?«

»Es ist nur zu deinem Besten, Brit«, sagte er noch einmal, und ich merkte, dass er weinte, was mich noch mehr verängstigte.

Ich wurde in ein kleines, muffiges Zimmer geschoben und die Tür hinter mir abgeschlossen. Schluchzend wartete ich darauf, dass mein Dad begriff, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, und mich hier rausholte. Aber das tat er nicht. Ich hörte, wie er mit irgendeiner Frau sprach. Ich hörte, wie unser Auto ansprang und das Motorgeräusch in der Ferne verschwand. Wieder fing ich an zu schluchzen, bis mein ganzes Gesicht voller Tränen, Rotze und Speichel war. Ich weinte, aber niemand kam zu mir. Ich weinte, bis ich nicht mehr konnte und einschlief.

Als ich erwachte, vielleicht eine Stunde später, hatte ich im ersten Moment vergessen, wo ich war. Als es mir voller Schreck wieder einfiel, begriff ich auf einmal, warum ich hier eingesperrt war. Das Stiefmonster. Sie hatte mir das angetan. Meine Angst und Traurigkeit waren nichts im Vergleich zu meiner Wut auf sie. Und dann kam noch etwas anderes hinzu. Das Gefühl tiefer Enttäuschung. Denn trotz allem hatte ich mich darauf gefreut, den Grand Canyon zu sehen.

Kapitel 2

»Oppositionelles Trotzverhalten.« Red Rock hatte mir eine Psychotante zugeteilt, und sie beharrte darauf, dass ich diese Störung hätte. Wir saßen in ihrem dunklen Büro mit komischen Postern an der Wand, die wohl inspirierend sein sollten. Auf einem war ein Gänseschwarm zu sehen, der in Formation flog, und darüber stand: »Mit einem guten Plan kommt man meilenweit.« Sehr witzig. Ich könnte gar nicht meilenweit kommen, weil man mir meine Kleider und Schuhe abgenommen hatte, damit ich nicht weglaufen konnte. Ich trug einen Schlafanzug und Pantoffeln, mitten am Tag.

Die Psychotante laberte und laberte. Sie las mir aus einem großen, dicken Buch vor, das offenbar alle Geheimnisse der Seele enthielt. »›Häufig reizbar, wird Erwachsenen gegenüber oft ausfallend, trotzt aktiv oder weigert sich, Bitten oder Regeln Erwachsener zu befolgen, ärgert andere bewusst, macht andere für ihre Übertretungen oder ihr Fehlverhalten verantwortlich, ist häufig wütend oder aufgebracht, ist oft nachtragend und rachsüchtig …‹«

»Kommt dir das bekannt vor?«, fragte sie. Sie sah aus wie eine dieser Pilgerinnen. Sie war dünn, hatte einen Topfschnitt und trug eine hochgeschlossene Rüschenbluse, obwohl es in ihrem Büro kochend heiß war.

Ich stand ziemlich neben mir, wie man sich denken kann. Ich hatte in der Nacht kein Auge zugetan und blieb in dem kleinen Zimmer eingesperrt, bis mich die Schlägertypen holen kamen und mich zu einer genauso grobschlächtigen Krankenschwester brachten. Ich taufte sie sofort Helga. Helga konfiszierte meinen iPod und all meinen Schmuck, sogar meinen Bauchnabelring, und ignorierte meine Proteste, dass das Loch zuwachsen würde und ich es noch mal neu stechen lassen müsste. Nachdem sie meinen Schmuck in einen Umschlag gesteckt hatte, befahl sie mir, mich auszuziehen, während sie daneben stand. Sie zog Handschuhe über und fühlte in meinem Mund und unter meinen Achseln herum. Dann zwang sie mich, mich zu bücken und sah unten rein – vorne und hinten. Ich war noch nie gynäkologisch untersucht worden, deswegen schockierte mich das total, und ich fing an zu weinen. Helga gab mir nicht mal ein Taschentuch. Sie betatschte mich einfach weiter da unten rum, wahrscheinlich auf der Suche nach Drogen, obwohl ich mit so was nichts zu tun habe. Gras macht mich müde, und von Alkohol muss ich kotzen. Nein, danke.

Egal, als mir diese Psychotante, Dr. Clayton, jedenfalls an diesem Morgen erklärte, welche Störungen ich hätte, war ich zu fertig gewesen, um ihr zu sagen, dass ihre Liste von Symptomen auf so ziemlich alle Jugendlichen zutraf, die ich kannte. Ich brachte nichts weiter heraus als: »Ich nehme an, das haben Sie alles von meinem Stiefmonster«, worauf sie lächelte und wieder etwas auf ihrem Klemmbrett notierte.

»Dann will ich es mal in für dich verständliche Worte fassen. Deine schulischen Leistungen haben nachgelassen. Du bist fast nie zu Hause. Du bleibst manchmal die ganze Nacht weg. Und wenn du dich mal blicken lässt, verhältst du dich mürrisch und aufsässig.«

»Das stimmt gar nicht! Und wenn ich nachts lange wegbleibe, dann wegen der Auftritte! Unbekannte Bands kriegen immer nur die Termine um zwei Uhr morgens. Und bis wir dann unser Equipment abgebaut und eingeladen haben und zu Hause sind, ist es fünf. Aber es ist ja nicht so, als würde ich die ganze Nacht feiern.«

Dr. Clayton sagte nichts, sondern warf mir nur einen stiefmonstermäßigen, abfälligen Blick zu und fuhr mit der Liste meiner angeblichen Verfehlungen fort.

»Du behandelst deinen Körper wie eine Wand, auf die man Graffiti sprüht. Du bist unhöflich zu deiner Stiefmutter, mürrisch zu deinen Lehrern und unfreundlich zu deinem Bruder, und du scheinst ungelöste Probleme mit deiner Mutter zu haben.«

»Wagen Sie es bloß nicht, über meine Mutter zu reden!«, fuhr ich sie an und war selbst überrascht, wie aggressiv ich klang. Schon bei der Erwähnung von Mom wurde mir eiskalt, und die Tränen traten mir in die Augen. Sofort blinzelte ich sie weg. »Sie haben kein Recht, über sie zu reden.«

»Verstehe«, sagte Dr. Clayton und fügte ihren Aufzeichnungen eine weitere hinzu. »Gut, sollen wir dann auf die Schulregeln zu sprechen kommen?«, säuselte sie, als würde sie ein lustiges Spiel erklären. »Wir arbeiten hier mit einem Belohnungs- und Level-System. Als neue Schülerin beginnst du bei Level eins. Level eins ist in erster Linie eine Beurteilungsphase, in der unsere Mitarbeiter einen Eindruck davon gewinnen, wer du bist und welche Probleme du hast. Es ist auch eine Chance für dich, dich erstmals zu beweisen. Auf Level eins gibt es nur wenige Privilegien. Du darfst nicht raus und bleibst isoliert in einem Zimmer. In dem Zimmer machst du deine Hausaufgaben und nimmst deine Mahlzeiten ein. Du verlässt es nur für deine individuelle Therapie und um auf die Toilette zu gehen. Um sicherzugehen, dass du dich nicht selbst verletzt, wirst du rund um die Uhr überwacht.

Level zwei erreichst du, sobald wir festgestellt haben, dass keine Fluchtgefahr besteht und du bereit bist, an deinen Problemen zu arbeiten. Auf Level zwei bekommst du deine Schuhe zurück und kannst dein Zimmer zum Essen und zur Gruppentherapie verlassen. Außerdem darfst du Post von deiner Familie erhalten, falls die Mitarbeiter zustimmen.

Auf Level drei erhältst du weitere Privilegien. Du ziehst in ein Gemeinschaftszimmer um, darfst im Klassenzimmer am Unterricht teilnehmen und erhältst die Erlaubnis zum Briefkontakt, allerdings nur mit deiner Familie. Außerdem warten zahlreiche weitere Aktivitäten auf dich. Auf Level vier darfst du Make-up auflegen und Anrufe von Personen empfangen, die von unseren Mitarbeitern überprüft wurden. Wenn du Level fünf erreichst, darfst du Besuch von deiner Familie erhalten und an organisierten Ausflügen in die Stadt teilnehmen, etwa ins Kino oder zum Bowling.

Level sechs ist die höchste Stufe. Wenn du dir dieses Level verdient hast, darfst du Therapiegruppen leiten, ja, sogar neue Schülerinnen begleiten und das Schulgelände verlassen. Hast du Level sechs abgeschlossen, darfst du zurück nach Hause, aber bis dahin liegt ein weiter Weg vor dir. Es kann Monate, ja sogar Jahre dauern, bis du Level sechs erreichst. Es liegt ganz bei dir. Jedes Mal, wenn du dich schlecht benimmst, Regeln missachtest oder dich weigerst, ernsthaft bei deinen Therapien mitzuarbeiten, wirst du um ein oder zwei Level zurückgestuft. Wenn es die Situation erforderlich macht, sogar bis auf Level eins zurück.«

Beim letzten Satz lächelte sie, und man sah ihr an, dass ihr diese Vorstellung einen besonderen Kick gab.

Kapitel 3

Nach vier Tagen Einzelhaft begannen mir Achselhaare zu wachsen. Die Regeln der Red Rock Academy erlaubten unter Level fünf die Benutzung eines Rasierers nicht. Die Logik dahinter ist unklar. Ich habe noch nie gehört, dass ein Mädchen sich oder andere mit einem Ladyshaver verletzt hat. Doch als ich in das leere Bad ging, um zum ersten Mal zu duschen – überwacht von einer Mitarbeiterin –, bekam ich nur eine Flasche Babyshampoo, und das war’s. Keine Kämme. Keine Rasierer. Auf Level drei durfte man Elektrorasierer benutzen – ich nehme an, dass sie keine Angst hatten, wir könnten uns damit einen tödlichen Stromschlag versetzen –, doch bis dahin musste ich wie eine Wilde rumlaufen.

Zu den Demütigungen auf Level eins gehörte unter anderem die konstante Überwachung, sogar, wenn ich auf die Toilette ging. Nachts wurden wir von den Wachposten beobachtet, tagsüber von wechselnden Level-sechs-Schülerinnen. Manche von ihnen waren biestig und herablassend und ließen mich ihren überlegenen Status spüren. Ich hasste sie. Andere waren nett und herablassend und ermunterten mich ständig, brav das Programm zu absolvieren. Die hasste ich noch mehr.

Meine ersten Tage auf der Red Rock verbrachte ich also damit, nachzuempfinden, wie sich Zootiere fühlen mussten. Ich hatte nichts anderes zu tun, als die lächerlich einfachen Schulbücher zu lesen, die man mir gegeben hatte, unter anderem über Geometrie. Stoff für die neunte Klasse! Ich war buchstäblich zu Tränen gelangweilt, aber natürlich wollte ich auf keinen Fall, dass mich jemand weinen sah.

Die Therapiestunden hatte ich nicht bei Dr. Clayton, sondern beim Direktor der Red Rock Academy, einer Art liebevoll-strengem Guru namens Bud Austin. »Aber du kannst mich Sheriff nennen«, sagte er zu mir. »Das machen alle. Früher war ich ein Bulle, jetzt kümmere ich mich um die richtig schweren Fälle: euch Mädels.« Er lachte. Es war mein erster Tag in der Isolation, und er kam zu Besuch, einen Metallklappstuhl hinter sich herziehend. Er war groß, hatte dunkles Haar und einen buschigen Schnauzer, trug zu enge Jeans mit einem dicken Schlüsselbund an einer Gürtelschlaufe, und unter den hochgekrempelten Hosenbeinen schauten Cowboyboots aus Eidechsenleder hervor.

»Und jetzt will ich dir mal ein Geheimnis verraten«, fuhr er mit seiner oberflächlichen Einheitsansprache fort. »Am Anfang wirst du mich wahrscheinlich hassen. Das geht allen Mädels so. Aber ich sag dir was, eines Tages wirst du zur Vernunft kommen und erkennen, dass Red Rock das Beste ist, was dir passieren konnte, und dass ich eine der wichtigsten Personen bin, die dir hier drin begegnet sind. Verdammt, am Ende lädst mich sogar noch zu deiner Hochzeit ein!« Ich dachte nur: Hochzeit? Ich bin erst sechzehn! Aber er redete unbeirrt weiter. »Ich nehme mal an, deine Eltern sind zu nachsichtig gewesen. Deswegen geraten so Mädels wie du außer Kontrolle – deswegen, und weil sie Aufmerksamkeit wollen. Hier wirst du jede Menge davon bekommen. Denn weißt du was, Mädel?« (So nannte er uns alle, entweder so oder beim Nachnamen, nie beim Vornamen.) »Wir werden dein aus der Spur geratenes Leben wieder geradebiegen. Wir werden deine Einstellung ändern, und wir werden deine unangemessenen Verhaltensweisen durch sinnvolle ersetzen. Mit anderen Worten, wir bringen dich in Ordnung. Es wirkt vielleicht nicht so, aber wir lieben dich.«

Am nächsten Tag kam der Sheriff wieder in mein Zimmer, und wieder hatte er den Klappstuhl dabei. »So, Mädel, bist du bereit, dich dir selbst zu stellen?« Ich hielt das für die blödeste Frage der Welt. Was genau zu stellen? Es war, als hätte er mich bereits als hoffnungslose Irre abgestempelt. Also sagte ich nur: »Dafür bräuchte ich einen Spiegel. Aber ich gehe davon aus, dass zerbrechliches, reflektierendes Glas zu gefährlich wäre für eine Verrückte wie mich.« Der Sheriff stand auf, klappte seinen Stuhl zusammen, verließ den Raum und schob hinter sich den Riegel vor. Am nächsten Tag wieder dasselbe Spiel: »Hemphill, bist du bereit, dich dir zu stellen?« »Sie können mich mal«, sagte ich. Als er am dritten Tag mit seinem Stuhl und der Frage aufkreuzte, hätte ich ihm am liebsten gesagt, er könne sich gerne meinem Mittelfinger stellen, aber irgendetwas hielt mich davon ab, überhaupt etwas zu sagen. Daraufhin hielt er mir einen kleinen Vortrag darüber, dass ich es mir schwer- oder leichtmachen könne. Ich musste mir echt das Lachen verkneifen, weil er so dermaßen bescheuert war, und zugleich hätte ich am liebsten geweint, weil dieser Idiot das Sagen über mich hatte.

Ich hielt mich so tapfer ich konnte, weil ich keinem von ihnen – weder dem Sheriff, noch Helga, noch dem Stiefmonster, noch den gemeinen Sechsern – die Genugtuung gönnen wollte, mich am Boden zu sehen. Doch nachts, wenn das Licht ausgeschaltet und meine Tür von außen verriegelt worden war, weinte ich, bis mein Kissen durchgeweicht war.

Nach dem fünften Besuch des Sheriffs, als man meine Achselhaare schon fast flechten konnte, kam schließlich eine von Level sechs zu mir. Sie war groß und hatte ein markantes, eckiges Gesicht, umrahmt von schmutzig blondem Haar. Es war in flippige Stufen geschnitten; eigentlich eine zu aufwendige Frisur für unseren Knast. Aber vielleicht hatten die Sechser das Privileg, zum Friseur zu gehen.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Brit. So heißt du doch, nicht wahr?«, sagte sie mit der Art von mühsam gezügelter Ungeduld, die Lehrer für ihre begriffsstutzigsten Schüler aufheben. »Also, Brit, vielleicht gefällt es dir, im Schlafanzug allein in deinem Zimmer zu hocken, aber wenn nicht, solltest du aufhören, dich wie eine verstockte Rebellin aufzuführen. Das beeindruckt hier niemanden.«

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

»Den Quatsch kannst du dir sparen. Sag dem Sheriff einfach, du wärst bereit, dich dir zu stellen. Mehr brauchst du nicht, um auf Level zwei hochgestuft zu werden.«

»Echt jetzt?«

Mit einer hochgezogenen Augenbraue gab sie mir zu verstehen, für wie dämlich sie mich hielt. »Ich habe Besseres zu tun, als hier vor deiner Tür rumzuhocken und auf dich aufzupassen. Sag einfach, du wärst bereit, dich dir zu stellen. Völlig egal, ob das stimmt oder nicht. Tu uns allen einen Gefallen und gib deinen Stolz an der Zellentür ab.«

Das stellte sich als eine der wertvollsten Lektionen heraus, die ich in Red Rock lernen sollte.

Kapitel 4

»Du säufst!«

»Du bist eine Nutte!«

»Hure! Hure! Hure!«

Es war meine dritte Woche in Red Rock, und ich befand mich mit etwa zwanzig anderen Mädchen in einem der beiden Therapiezentren: riesige, leere Räume mit dreckigen Fensterscheiben, blauen Gymnastikmatten auf dem Boden und solchen ausgebleichten Inspirations-Postern wie bei der Psychotante. (Mein persönlicher Favorit: eine Katze, die sich an einen Baum klammerte. »Sie kann es, weil sie daran glaubt, dass sie es kann.« Äh, nein – sie kann es, weil sie Krallen hat.) Es gab keine Möbel. Ich nehme an, hier sollte keiner die Chance bekommen, mit Sachen um sich zu werfen.

Genau wie die anderen Insassinnen trug ich die obligatorische Uniform: khakifarbene Shorts und ein Red-Rock-Polohemd – ein Outfit, das bestimmt als modische Strafe gedacht war. Wir standen alle im Kreis, wie in der Sportstunde an einer Vorort-Highschool. Im Innern des Kreises befand sich ein Mädchen namens Sharon, das uns ansah wie ein Reh im Scheinwerferlicht, während es sich um sich selbst drehte und Beschimpfung nach Beschimpfung einkassierte. Eine Therapeutin namens Deirdre und ein Mädchen aus Level sechs namens Lisa feuerten uns an. »Sagt ihr, was ihr von ihr haltet! Fragt sie, warum sie mit jedem ins Bett geht! Fragt sie, warum sie keine Selbstachtung hat!«

Willkommen bei der »Konfrontationstherapie«. Angeblich soll man dabei seinen Problemen ins Auge sehen, aber hauptsächlich bringt sie einen zum Weinen – was der Sinn des Ganzen zu sein scheint, denn erst, wenn man in Tränen ausgebrochen ist, darf man den Kreis verlassen und das gerade Geschehene »verarbeiten«. Die Konfrontationstherapien, KTs, wie sie genannt werden, sind die Spiele für das Volk an der Red Rock, sehr gladiatorenhaft, und diejenigen, die im Kreis gelitten haben, führen sich umso grausamer auf, nachdem sie wieder wohlbehalten draußen sind. Shana zum Beispiel, das Mädchen, das »Hure« gerufen hatte, war noch in der Woche zuvor wegen ihrer Essstörungen beschimpft worden – bis sie zusammengebrochen und prompt mit einer Gruppenumarmung belohnt worden war.

Ich fand ziemlich schnell heraus, dass KTs typisch für die Red-Rock-Philosophie waren: Behandle Jugendliche mit oppositionellem Trotzverhalten wie Scheiße so lange, bis sie zusammenbrechen. Jetzt, wo ich auf Level zwei war, vergingen meine Tage mit KTs, abstrusen, predigthaften Einzelsitzungen mit dem Sheriff oder einem der anderen Therapeuten und – einmal die Woche – mit Dr. Clayton, die bereits vorgeschlagen hatte, mir Antidepressiva zu verabreichen. Tatsächlich war ich jetzt depressiv, aber nur, weil ich in Red Rock war. Die restlichen Stunden der Tage verbrachte ich wieder in meiner Zelle mit »selbstbestimmtem Lernen«, was bedeutete, dass ich einfachste Lückentexte bearbeiten sollte, obwohl ich zu Hause in English schon den Vorbereitungskurs fürs College besuchte. Ich durfte immer noch nicht an meinen Vater schreiben oder Briefe von ihm erhalten. Das würde erst auf Level drei möglich sein, wenn ich aus dem Zimmer raus und in die Schule gehen durfte.

»Brit, stimmt’s?«

Neben mir im Konfrontationskreis stand die Sechserin, die mir den Tipp gegeben hatte, wie man aus Level eins rauskam. Sie war einschüchternd groß, viel größer als ich, und musterte mich wieder mit diesem verächtlichen Blick. Allmählich hasste ich alle Level-Sechser – lauter brave, angepasste, arschkriecherische Snobs.

»Ich glaube, das mit meinem Namen hatten wir schon«, erwiderte ich.

Wieder zog sie die Augenbrauen hoch. »Okay, Brit. Beweg einfach nur den Mund.«

»Was?«

»Beweg nur die Lippen. Tu so, als würdest du etwas sagen.«

»Wie bitte?«

»Verstehst du kein Englisch oder bist du so blöd? Du ›beteiligst dich nicht am Prozess‹.« Sie flüsterte es, aber so scharf wie einen Befehl.

»Ich weiß gar nichts über dieses Mädchen. Ich kann sie nicht anschreien.«

»Bist du bescheuert oder taub? Beweg einfach nur den Mund. Tu so als ob. Oder du kriegst Probleme. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Bevor ich dazu kam, mir eine clevere Antwort auszudenken, war sie schon hinüber auf die andere Seite des Kreises gegangen, wo sie so inbrünstig Beschimpfungen ausstieß, dass man schon genau hinsehen musste, um zu erkennen, dass sie in Wirklichkeit keinen Laut von sich gab.

Ich wusste nicht, was ich von ihr halten sollte. Sie benahm sich mir gegenüber total grässlich, beleidigte mich nicht weniger als die Therapeuten und sagte mir, wie bescheuert ich war. Wollte sie mich reinlegen? In Red Rock konnte man aufsteigen, wenn man die eigenen Zimmergenossinnen verpetzte (so was von faschistisch). Aber ihre Ratschläge waren irgendwie subversiv, was mich vermuten ließ, dass sie mir vielleicht tatsächlich helfen wollte. Ich machte es so, wie sie es mir gesagt hatte, und es stellte sich als zweiter guter Tipp von ihr heraus. Ich tat also so, als beteiligte ich mich an den Gruppenbeschimpfungen, und prompt klopfte mir eine der Therapeutinnen auf den Rücken und meinte, ich würde mich gut entwickeln. Als ich später in derselben Woche einen Termin bei Dr. Clayton hatte, bedachte sie mich mit einem unheimlichen Lächeln und sagte, anscheinend sei ich endlich bereit, »mich meinen Dämonen zu stellen« und »meine Mauern niederzureißen«. Das bedeutete Beförderung auf Level drei und Unterricht in der Klasse – in einem fensterlosen Raum mit einem Dutzend Tische, wo ich weiter »selbstbestimmt lernen« würde, beobachtet von Wächtern, die so aussahen, als könnten sie nicht mal ihren Namen schreiben. Außerdem wurde ich in ein Zimmer mit drei anderen Insassinnen verlegt: einem dicken Mädchen namens Martha, einem reichen, hochnäsigen Blag namens Bebe und der blonden, bulimischen Tiffany, deren Laune zwischen hysterischer Fröhlichkeit und hysterischen Tränen schwankte.

Wenn ich nicht in der Schule, bei der Therapie oder beim Essen war, war ich bei der physischen Therapie. Diese bestand darin, vier Stunden lang in der glühenden Wüstenhitze zweieinhalb Kilo schwere Holzscheite von einem großen Haufen zu zerren, sie zwanzig Meter weit über einen staubigen Hof zu schleppen und sie zu einer Mauer aufzutürmen. Das klingt wie die schlimmste Qual, ich weiß, aber es war gar nicht so übel. Ich meine, anfangs tat mir jeder einzelne Muskel weh, und meine Hände wurden erst blutig und dann ganz schwielig. Außerdem machte mich die Arbeit durstig, und ich musste literweise Wasser trinken, durfte aber nur einmal pro Stunde pinkeln gehen. Aber die Therapeuten und Wachposten waren faul und hielten sich lieber im Schatten auf, so dass der Holzhof der einzige Ort war, an dem wir Insassen ungestört miteinander reden konnten.

»Das ruiniert mir die Hände!«, giftete Bebe. »Ich hatte so schöne Nägel.«

»Ach, halt die Klappe, Rodeo Drive«, schimpfte das Level-vier-Mädchen neben ihr.

»Wie oft soll ich dir das noch erklären, du Landei? Der Rodeo Drive liegt in Beverly Hills, und da gehen nur doofe Touristen shoppen. Ich wohne noch nicht mal in Beverly Hills. Ich wohne in Palisades. Also halt du die Klappe.« Jeder nannte Bebe »Rodeo Drive«. Alle waren wohl neidisch auf sie, weil sie so hübsch war mit ihrem langen, glänzenden Haar und den blauen Katzenaugen. Ihre Mutter war Marguerite Howarth, eine berühmte Soap-Schauspielerin. Bebe wohnte jetzt seit zwei Tagen mit mir in einem Zimmer, hatte sich bisher aber noch nicht dazu herabgelassen, mit mir zu reden, deshalb hatte ich keine Lust, in ihre Schusslinie zu geraten. Aber es war offenbar mein Glückstag.

»Und wo kommst du her?«, fragte sie mich.

»Oregon. Portland.«

»Ich bin mal da gewesen. Es hat geregnet, und die Leute haben hässliche Flanellklamotten getragen.«

Zufälligerweise liebte ich Portland und konnte es nicht ausstehen, wenn Leute aus L. A. meine Stadt schlechtmachten, aber mit den Flanellklamotten hatte sie recht, dass musste ich zugeben.

»Und warum bist du hier?«

»Keine Ahnung.«

»Ach, komm schon. Du musst doch irgendeine Ahnung haben, Schätzchen. Bulimie? Promiskes Verhalten? Selbstverletzung?«, zählte Bebe potentielle Störungen auf.

»Nichts davon.«

»Mal überlegen. Wenn man sich deine Frisur und deine Tattoos ansieht, könntest du Musikerin oder Künstlerin sein.«

»Musikerin«, sagte ich nur, insgeheim überrascht. »Meine Mutter war die Künstlerin von uns gewesen.«

»Aha. Heroin? Meth?«, riet Bebe.

»Nein, so was nicht. Ich spiele nur in einer Band, hab rosa Haare und ein Ungeheuer von Stiefmutter.«

»Ah, wir haben ein Aschenputtel im Haus!«, rief Bebe den anderen zu, bevor sie sich wieder zu mir umwandte. »Disney lässt grüßen. Was hat Clayton als Einweisungsgrund diagnostiziert?«

»Oppositionelles irgendwas.«

»Oppositionelles Trotzverhalten«, sagte eine selbstsichere Stimme hinter mir. Es war wieder dieses Mädchen, die hochgewachsene, zickige Sechserin mit den guten Ratschlägen. »Diesen Stempel kriegen wir alle aufgedrückt. Da braucht man nicht lange zu überlegen. Was hast du sonst noch verbrochen?«

»Keine Ahnung.«

Sie seufzte. »Okay, Frischling, dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen. Die Red-Rock-Insassen lassen sich grob in fünf Kategorien einteilen: diejenigen, die Drogen nehmen, aber nie etwas Schlimmeres als Gras oder Ecstasy, weil ein wöchentliches Anonymes-Alkoholiker-Treffen alles an Drogenbehandlung ist, was hier geboten wird. Dann haben wir die mit den sexuellen Verhaltensstörungen, darunter die kleinen Schlampen und die Lesben. Cassie, die da drüben« – sie deutete auf ein Mädchen mit kurzem rotem Haar und Sommersprossen – »soll hier umerzogen werden, weil sie eine Lesbe ist, und unsere Bebe hier trägt den Nuttenstempel – man hat sie dabei erwischt, wie sie es mit dem Poolboy getrieben hat.«

»Das ist nicht ganz korrekt, meine liebe Virginia«, erwiderte Bebe und schüttelte ihre lange Mähne. »Ich wurde erwischt, wie ich es mit dem mexikanischen Poolboy getrieben habe. Das war mein eigentliches Vergehen. Eine unverzeihliche Übertretung der Klassengrenzen.«

»Vielen Dank für die Klarstellung, Karl Marx. Und nenn mich nicht Virginia. Ich heiße V.«

»V ist kein Name, Schätzchen, das ist ein Konsonant.«

»Und BB