Zwänge und Zwangsgedanken loswerden - Klaus Bernhardt - E-Book
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Zwänge und Zwangsgedanken loswerden E-Book

Klaus Bernhardt

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  • Herausgeber: Ariston
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an einer Zwangsstörung, und täglich werden es mehr. Doch wo beginnt eine Zwangserkrankung? Wann sind Wasch-, Kontroll-, Ordnungs- oder Wiederholzwänge mehr als nur ein harmloser Tic? Und ab wann sind Gedanken, die sich wieder und wieder aufdrängen, behandlungsbedürftig? Klaus Bernhardt erklärt, was hinter Zwängen steckt, wie sie entstehen und wann Betroffene sich Hilfe holen sollten. Auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und anhand konkreter Beispiele gibt er Betroffenen alltagstaugliche Werkzeuge zur Selbsthilfe an die Hand. Zudem beschreibt er viele hilfreiche Therapieansätze, die leider noch viel zu selten zum Einsatz kommen. Mit ihnen ist es möglich, Zwangsstörungen deutlich schneller in den Griff zu bekommen und häufig sogar dauerhaft zu überwinden.

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Seitenzahl: 364

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Zwänge endlich verstehen und auflösen

Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an einer Zwangsstörung, und täglich werden es mehr. Doch wo beginnt eine Zwangserkrankung? Wann sind Wasch-, Kontroll-, Ordnungs- oder Wiederholzwänge mehr als nur ein harmloser Tic? Und ab wann sind Gedanken, die sich wieder und wieder aufdrängen, behandlungsbedürftig? Klaus Bernhardt erklärt, was hinter Zwängen steckt, wie sie entstehen und wann Betroffene sich Hilfe holen sollten. Auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und anhand konkreter Beispiele gibt er Betroffenen alltagstaugliche Werkzeuge zur Selbsthilfe an die Hand. Zudem beschreibt er viele hilfreiche Therapieansätze, die leider noch viel zu selten zum Einsatz kommen. Mit ihnen ist es möglich, Zwangsstörungen deutlich schneller in den Griff zu bekommen und häufig sogar dauerhaft zu überwinden.

Klaus Bernhardt

Zwängeund Zwangsgedankenloswerden

Zwangsstörungen ohne Medikamente und Konfrontation schnell und dauerhaft überwinden

Haftungsausschluss

Die Ratschläge im Buch sind sorgfältig erwogen und geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Autors und des Verlags. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Herbert Scheubner

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, unter Verwendung von Shutterstock.com/decade3d – anatomy online

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26220-4V001

Inhalt

Vorwort

Und täglich grüßt das Murmeltier 

Kapitel 1 

Rituale, Tics und merkwürdige Gewohnheiten – liebenswerte Marotte oder schon krankhafter Zwang?

1.1 Ein bisschen zwanghaft ist völlig normal

1.2 Zwangsgedanken: Was steckt wirklich dahinter?

1.3 Verstörende Gedanken hat jeder mal

1.4 Unser Gehirn liebt das Absurde

1.5 Zwangsgedanken sind schrecklich normal

1.6 Zwangshandlungen: gut gedacht, schlecht gemacht

Kapitel 2 

Erste Hilfe bei Zwangsgedanken

2.1  Zwangsgedanken mit den eigenen Waffen schlagen

2.2  Vom Mut, sich lächerlich zu machen

2.3 Humor schlägt Gefahr

2.4 Psychotherapie mit ABS

2.5 Zwänge und Ängste: zwei Seiten derselben Medaille

2.6 Zwang und Sucht

Kapitel 3 

Konkrete Anwendungsbeispiele für unterschiedliche Zwangshandlungen

3.1 Ein anderer Blick auf Zwänge und ihre Entstehung

3.2 Zählzwänge

3.3 Wasch- und Reinigungszwänge

3.4  Kontrollzwänge

3.5  Ordnungszwänge

3.6  Wiederholzwänge

3.7  Berührzwänge

3.8 Sammelzwänge

3.9 Grübelzwänge

Kapitel 4 

Zwänge bei Kindern und Jugendlichen

4.1  PANS und PANDAS: zwei oft übersehene Auslöser von Ess- und Zwangsstörungen

4.2 Zwänge durch Alkohol und Drogen

4.3 Krank durch Social Media

4.4 Zwänge durch Videospiele

Kapitel 5 

Ursachen und Verstärker: Was steckt wirklich hinter

einem Zwang und wodurch wird er verstärkt?

5.1  Angststörungen

5.2 Stress und außergewöhnliche Belastungen

5.3 Schlafmangel

5.4 Genetische Disposition

5.5 Perfektionismus und mangelnde Selbstakzeptanz

Kapitel 6

Weitere Behandlungsmöglichkeiten

6.1  Medikamentöse Behandlung von Zwangsstörungen

6.2 Tiefe Hirnstimulation bei Zwangsstörungen

6.3 Transkranielle Magnetstimulation

6.4 Die körpereigene Dopamin-Produktion steigern

Kapitel 7

Alle Techniken zur Selbsttherapie im Schnellüberblick

7.1  Der auditiv-visuelle Platztausch

7.2 Die 10-Satz-Methode

7.3 Rückschulung umgelernter Linkshänder

7.4 Die Slow-Motion-Technik

7.5 Innere Ordnung durch das Werte-Ziele-Ranking

7.6 Negative Glaubenssätze mit »the work« bearbeiten

7.7 Magisches Denken umwidmen

7.8 Negative Anker selbst überschreiben

7.9 Achtsamkeitstraining

Kapitel 8 

Tipps für Angehörige von Zwangspatienten

8.1 Zwangspatienten benötigen eine andere Ansprache

8.2 Formulierungsbeispiele für Zwangspatienten

Nachwort

Mehr vom Institut für moderne Psychotherapie

Weiterbildungen für Ärzte und Therapeuten

Quellenverzeichnis

VorwortUnd täglich grüßt das Murmeltier

Kennen Sie den Filmklassiker »Und täglich grüßt das Murmeltier«? Die 1993 erschienene Komödie zählt zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Darin spielt Bill Murray den egozentrischen TV-Wetteransager Phil Connors, der in einer Zeitschleife festsitzt und denselben Tag wieder und wieder durchleben muss. Egal, was er auch unternimmt, um sich aus dieser Zwangssituation zu befreien, es gelingt ihm einfach nicht. Erst als sich seine Sicht auf die Welt grundlegend ändert, schafft er es, der permanenten Wiederholung zu entfliehen. Am Ende führt er nicht nur ein besseres und glücklicheres Leben, er erobert sogar das Herz seiner bezaubernden Kollegin Rita, die von Andie MacDowell gespielt wird.

Auch Zwangspatienten erleben ihren persönlichen Murmeltiertag. Anders als im Film handelt es sich hier aber nicht um einen bestimmten Tag, der zwanghaft wiederholt werden muss, sondern um bestimmte Handlungen und Gedanken. Doch auch hier kann eine veränderte Sicht auf die Dinge oft erstaunlich hilfreich sein und nicht selten zum Happy End führen. Im Fall von Zwangsstörungen bedeutet das: ein ganz normales Leben ohne Zwangshandlungen und ohne wiederkehrende Zwangsgedanken.

Mal einen anderen Blick auf Zwänge und deren Behandlung zu werfen, ist ohnehin längst überfällig. Denn nicht erst seit der Corona-Pandemie ist die Lage mehr als angespannt. Laut Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)1 litten bereits 2015 rund 2,3 Mio. Deutsche an einer Zwangserkrankung. Nach dem Auftauchen von COVID-19 ist diese Zahl nochmals dramatisch angestiegen und hat sich laut einer Studie2 der privaten Hochschule Göttingen (PFH) inzwischen verfünffacht.

Erschwerend kommt hinzu, dass Ärzte und Therapeuten nun teilweise gegen geltende Hygienevorschriften argumentieren müssen, um Zwangspatienten effektiv helfen zu können. Galten vor wenigen Jahren übertriebene Kontaktvermeidung und häufiges Desinfizieren der Hände noch als deutliche Hinweise für einen Reinlichkeitszwang oder eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung, so gehört dieses Verhalten heute schon beinahe zum guten Ton. An jeder öffentlichen Eingangstür hängen jetzt große Hinweisschilder, die uns eindringlich dazu auffordern, genau dies zu tun.

Doch wo endet verantwortungsvolle Hygiene und wo beginnt eine ernst zu nehmende Zwangsstörung? Ab wann sind Wasch-, Kontroll-, Berühr-, Ordnungs- oder Wiederholungszwänge mehr als nur ein harmloser Tic? Und ab wann sind Gedanken, die sich wieder und wieder aufdrängen, behandlungsbedürftig? Sicher, diese Grenze war noch nie leicht zu ziehen, doch aktuell scheint eine sinnvolle Abgrenzung schwerer denn je. Eine Faustregel gilt jedoch nach wie vor:

Sobald Sie Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen als unangenehm oder gar beängstigend empfinden, sollten Sie nicht länger warten und sich Hilfe suchen.

Das Gleiche gilt übrigens auch, wenn Sie von Ängsten geplagt werden, sobald Sie keine Zwangshandlungen durchführen. Wenn also das Ausüben eines Zwangs das Einzige ist, was Ihnen zumindest kurzfristig Sicherheit und Ruhe verschafft.

Generell kann man sagen: Je eher man etwas gegen eine Zwangsstörung unternimmt, desto besser stehen die Chancen, diese wieder vollständig loszuwerden. So banal dieser Hinweis scheinen mag, so wichtig ist er dennoch. Denn meist warten Betroffene viel zu lange, bis sie sich Hilfe suchen. Durchschnittlich vergehen 7,5 Jahre, bevor diesbezüglich Kontakt zu einem Arzt oder Therapeuten aufgenommen wird. Viel Zeit, in der Zwangspatienten unnötig lange leiden, sei es aus Scham, aus Unwissenheit oder schlicht aufgrund eines fehlenden Therapieangebots. Dabei sind Zwangsstörungen prinzipiell gut und oft auch schnell behandelbar. Erst die zu späte Beanspruchung professioneller Hilfe führt zu längerfristigen Problemen. Denn je länger Zwänge und Zwangsgedanken unbehandelt bleiben, desto tiefer verankern sie sich neuronal im Gehirn und desto länger dauert es anschließend, bis das unerwünschte Verhalten wieder verlernt wurde.

Dieses Buch möchte Sie dabei unterstützen, dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Es weist Ihnen den Weg durch das aktuelle Therapieangebot und berichtet von neuen, überaus vielversprechenden Forschungsergebnissen rund um das Thema Zwangsstörungen. Außerdem zeigt es Ihnen eine ganze Reihe von erprobten und überaus wirksamen Methoden, mit denen man auch selbst etwas gegen Zwänge und Zwangsgedanken unternehmen kann.

Ich wünsche Ihnen nun viel Freude beim Lesen und hoffentlich auch das ein oder andere Aha-Erlebnis. Denn der Weg in ein zwangloses und besseres Leben kann mit einer etwas anderen Sichtweise manchmal wesentlich kürzer und einfacher sein, als viele vermuten.

Herzlichst

Ihr

Klaus Bernhardt

Kapitel 1Rituale, Tics und merkwürdige Gewohnheiten – liebenswerte Marotte oder schon krankhafter Zwang?

Jeder hat seine ganz persönlichen Rituale und Gewohnheiten, die anderen mitunter merkwürdig erscheinen. Ich brauche für meinen morgendlichen Kaffee zum Beispiel immer eine ganz bestimmte Tasse. Und wenn ich mich mal über etwas so richtig ärgere, was zum Glück äußerst selten vorkommt, dann muss ich anschließend mindestens eine Stunde mit unserem Hund im Wald spazieren gehen. Anders komme ich einfach nicht zur Ruhe. Nun sind meine diversen Macken noch nichts, was mich oder meine Umwelt groß belasten würde. Im Gegenteil: Unser pelziger Mitbewohner freut sich über jede Extrarunde, und wenn es nach ihm ginge, sollte ich mich vermutlich viel häufiger ärgern.

Doch wie unterscheidet man, ob es sich bei einem bestimmten Verhalten nur um eine liebenswerte Marotte, einen harmlosen Tic oder vielleicht doch schon um einen krankhaften Zwang handelt? Fest steht: Hin und wieder sind wir alle ein wenig zwanghaft. Das ist völlig normal und noch lange kein Grund zur Sorge. Erst wenn Ängste und Sorgen zu ständigen Begleitern des zwanghaften Verhaltens werden, besteht Handlungsbedarf. Dasselbe gilt, wenn die Frequenz sich deutlich erhöht, mit der negative Gedanken sich aufdrängen oder mit der bestimme Handlungen wieder und wieder ausgeführt werden müssen.

Falls bei Ihnen bereits eine Zwangsstörung diagnostiziert wurde, möchte ich Ihnen Mut machen. Denn mit den Methoden, die in diesem Buch auf Sie warten, haben es schon viele Ihrer Leidensgenossen geschafft, selbst hartnäckige Zwänge zu überwinden. Dieses Buch richtet sich aber auch an all jene, bei denen das Zwanghafte erst im Entstehen ist. Es gibt nämlich wesentlich mehr Menschen, die sich erst in der Vorphase einer Zwangsstörung befinden, als solche, bei denen die nachfolgenden drei Kriterien bereits zutreffen.

Kriterien zur Diagnose einer Zwangsstörung:

Das zwanghafte Verhalten muss im Zeitraum von 14 Tagen an fast allen Tagen auftreten.Die Gedanken, die einen zu Zwangshandlungen verleiten, müssen als die eigenen erkannt werden. Die Durchführung von Zwangshandlungen wird als extrem unangenehm empfunden, dennoch gelingt es kaum, diese zu unterlassen.

Auf wen diese drei Punkte bereits zutreffen, der hat meist schon einen jahrelangen, verzweifelten Kampf hinter sich. Der Alltag ist dann oft so von Ritualen und Zwängen durchzogen, dass diese enorm viel Zeit beanspruchen. Zu Terminen oder Verabredungen kommen Betroffene deshalb auch regelmäßig zu spät. Sie können einfach nicht eher losgehen, bevor ein bestimmter Zwang erneut befriedigt wurde.

In der Vorphase einer Zwangsstörung wird man hingegen meist nur von Zwangsgedanken geplagt. Diese verstörenden Fantasien kreisen dann in der Regel um eines oder mehrere der folgenden Themen:

Schmutz und VerseuchungOrdnung und ChaosReligion und MagieSexualität Aggression und Gewalt

Extrem belastend und überaus häufig ist zum Beispiel der Gedanke, man könne sich oder jemand anderem etwas antun. Da ist es tröstlich zu wissen, dass diese Hirngespinste faktisch nie in die Tat umgesetzt werden. Zwangshandlungen sind nämlich keineswegs der verlängerte Arm von Zwangsgedanken. Im Gegenteil: Es handelt sich dabei eher um eine unterbewusste Strategie, um wieder mehr Kontrolle über den eigenen Kopf zu erlangen. So nervig Wiederhol-, Zähl-, Ordnungs- oder Waschzwänge auch sein mögen, so sehr helfen sie Betroffenen auch, sich wieder besser zu fühlen und zur Ruhe zu kommen. Denn sie unterstützen den Abbau von Adrenalin, jenem Neurotransmitter, der bei angstbesetzten Gedanken automatisch ausgeschüttet wird und den Körper binnen Sekunden in den Kampf- oder Fluchtmodus versetzt. Doch leider hat diese Form der Selbsttherapie auch einen gewaltigen Nachtteil. Die Dosis muss permanent erhöht werden, damit der beruhigende Effekt weiter erhalten bleibt. Irgendwann nehmen die Zwangshandlungen dann so viel Zeit in Anspruch, dass nicht nur das alltägliche Leben, sondern auch die Gesundheit massiv darunter leidet. Rissige und blutende Hände durch zu viel Waschen und Desinfizieren sind da nur ein Beispiel von vielen.

Dass Zuviel von etwas vermeintlich Gutem auch ins Gegenteil umschlagen kann, kennt man übrigens auch in der Medizin, und zwar unter dem Begriff Polypharmazie. Nur dass man hier sein Heil nicht in Zwangshandlungen sucht, sondern in Form von Tabletten und Tropfen. Greift man nur ab und an zu Medikamenten, kommen sowohl Körper als auch Geist in der Regel gut damit zurecht. Je umfangreicher eine Dauermedikation jedoch wird, desto häufiger treten unerwünschte Nebeneffekte auf und desto eher besteht auch die Gefahr, dass der mögliche Schaden den Nutzen überwiegt. Zu diesem Ergebnis kam 2020 eine Studie3 des Fachmagazins »Nature«, das hierfür die Gesundheitsdaten von über drei Millionen Patienten ausgewertet hat. Vor allem ältere Menschen, die dauerhaft mehr als fünf verschiedene Medikamente einnehmen, sollten ihre vollständige Arznei-Liste einmal von einem Arzt überprüfen lassen. Nicht selten stellt sich dabei heraus, dass das Sammelsurium an Präparaten, das im Laufe der Zeit zusammengekommen ist, auch zu Wechselwirkungen führt, die besser vermieden werden sollten. Mein Tipp: Gehen Sie für diesen Medikamenten-Check ausnahmsweise mal nicht zum Hausarzt Ihres Vertrauens. Ein neuer Arzt muss im Zweifel nicht einräumen, dass er vielleicht etwas übersehen hat, und kann Ihnen stattdessen neue Medikamente verordnen, die besser aufeinander abgestimmt sind.

Der richtige Zeitpunkt zu handeln

Je länger man bereits unter einer Zwangsstörung leidet, desto mehr weiten sich auch Zwangshandlungen aus, bis der Schaden größer ist als der vermeintliche Nutzen. Deshalb halte ich es für essenziell, möglichst noch gegenzusteuern, bevor die Diagnose Zwangsstörung überhaupt gerechtfertigt ist. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt? Woran erkennt man, ob alles noch im grünen Bereich ist oder ob man sich schon auf dem besten Weg in eine Zwangserkrankung befindet?

1.1 Ein bisschen zwanghaft ist völlig normal  

Wer hat sich nicht schon mal dabei ertappt, ein zweites oder gar drittes Mal zu überprüfen, ob die Haustür oder das Auto wirklich abgesperrt sind? Und auch der wiederholte Blick zum Wecker oder zum Bügeleisen ist vermutlich den meisten vertraut. Ist der eine wirklich gestellt und das andere auch sicher nicht mehr an? Vor allem sehr gestresste Menschen überprüfen längst ritualisierte Handgriffe öfter als nötig. Meist liegt das daran, dass sie gedanklich schon beim nächsten Thema sind, obwohl die aktuelle Aufgabe noch gar nicht zu Ende gebracht wurde. Zwar vollendet unser Körper, gesteuert durch unser Unterbewusstsein, diese Arbeit in der Regel mit Bravour, doch der bewusste Verstand konnte noch kein »Erledigt«-Häkchen dahinter setzen. Der hat vom erfolgreichen Abschluss nämlich noch gar nichts mitbekommen, weil er ja bereits anderweitig eingebunden war. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum sich so viele Menschen überfordert und unglücklich fühlen. Wer mit dem Kopf ständig schon einen oder gar mehrere Schritte weiter ist, verhält sich wie jemand, der krampfhaft versucht, einen Preis zu gewinnen, und dann vergisst, diesen auch in Empfang zu nehmen, wenn er endlich gewonnen hat.

Der Preis, von dem hier die Rede ist, heißt Dopamin. Haben wir eine Aufgabe erledigt, für die Planung oder zumindest etwas Überwindung notwendig war, wird dieses Glückshormon ausgeschüttet und belohnt uns mit guten Gefühlen. Das funktioniert allerdings nur, wenn wir auch bewusst mitbekommen und abgespeichert haben, dass wir unser Ziel erreicht haben. Hierzu ein kleines Beispiel:

Wer mich näher kennt, weiß, dass ich gerne frisch gebügelte Hemden trage. Ab und an vergesse ich jedoch, meine getragenen rechtzeitig in die Reinigung zu bringen. Also ab damit in die Waschmaschine und anschließend den inneren Schweinehund überwinden, um mit Bügeleisen und Sprühstärke bewaffnet selbst für die nötige Glätte zu sorgen. Womöglich denken Sie jetzt: »Okay Gott, Sprühstärke, wie altmodisch und spießig ist das denn!« Doch glauben Sie mir, das riecht nicht nur richtig lecker, es erleichtert das Bügeln auch ungemein. Und das ist auch bitter nötig, denn ich bin wirklich ein lausiger Bügler, und auf meine Frau will ich diese blöde Aufgabe nicht abwälzen. Immerhin bin ich es ja, der mal wieder vergessen hat, seine Hemden rechtzeitig wegzubringen. Also Augen zu und durch.

Meist schaffe ich es dann binnen 30 Minuten, wenigstens drei oder vier Hemden in einen so akzeptablen Zustand zu versetzen, dass ich anschließend zufrieden und sogar ein bisschen stolz bin. Nachdem ich das Bügeleisen samt Brett weggeräumt habe, belohne ich mich grundsätzlich mit einer schönen Tasse Kaffee. Ich sitze dann in meinem Lieblingssessel, in meinen Händen die Lieblingstasse mit dem köstlich schwarzen Inhalt, und ich genieße jeden einzelnen Schluck. Diese bewusste Belohnung nach getaner Arbeit hat sogar noch einen praktischen Nebeneffekt: Ich weiß dann mit absoluter Sicherheit, dass das Bügeleisen aus ist. Warum das so ist, erkläre ich Ihnen gleich. Doch vorher möchte ich, dass Sie folgende Frage für sich beantworten: Können auch Sie nach etwas so Banalem wie Hemdenbügeln derartige Glücksmomente genießen? Oder sind Sie mental schon wieder bei der nächsten Aufgabe, bevor die eine überhaupt zu Ende gebracht wurde? Glauben Sie mir, auch ich musste mir diese Fähigkeit erst mühevoll antrainieren, doch es lohnt sich.

Erledigte Aufgaben mit guten Gefühlen besser abspeichern

Falls Sie aus alltäglicher Arbeit, für die ein wenig Planung oder gar Überwindung nötig war, nicht mal ein kleines Glücksgefühl generieren können, dann gibt es dafür einen einfachen Grund: In diesem Fall haben Sie Ihrem Gehirn nicht die Erlaubnis erteilt, den Dopamin-Hahn aufzudrehen. So eine »Erlaubnis zum Glücklichsein« hat nämlich viel mit Achtsamkeit zu tun und sieht in meinem Fall wie folgt aus: Sobald ich das letzte Hemd fertig gebügelt habe, hänge ich es sehr bewusst, ja fast schon feierlich, in den Schrank. Dann nehme ich mir einen Moment Zeit und lasse den Blick zufrieden über die drei oder vier frisch gebügelten Hemden wandern. Und, ebenfalls ganz wichtig, ich erlaube mir ein zufriedenes Lächeln. Nur zur Erinnerung: Lächeln war dieses komische Gefühl, wenn die Mundwinkel sich bei geschlossenem Mund nach oben bewegen und da auch bleiben. Und auch die Augenfältchen werden etwas ausgeprägter, andernfalls ist es kein echtes Lächeln. Meine Gesichtsmuskulatur signalisiert meinem Gehirn damit, dass ich zufrieden bin und bereit für meine Dopamin-Belohnung. Echte Glücksprofis würden jetzt zusätzlich noch ein Bild vor ihrem inneren Auge entstehen lassen, wie sie in den kommenden Tagen den Schrank öffnen und voller Freude und Dankbarkeit feststellen, dass noch ein oder zwei gebügelte Hemden da sind. Achtung: Als Glücksprofi planen Sie NICHT, dass Sie gerade enttäuscht das letzte glatte Hemd aus dem Schrank nehmen und nun wieder bügeln müssen. Überlassen Sie so etwas lieber denen, die unbedingt depressiv werden wollen. Falls Sie es jetzt noch hinbekommen, mit einem tiefen Atemzug den angenehmen Duft der frisch gestärkten Wäsche bewusst in sich aufzunehmen und zu genießen, bevor Sie sich Ihrem wohlverdienten Heißgetränk widmen, dann passiert in Ihrem Kopf etwas ganz Erstaunliches: Noch während Sie zufrieden das Bügeleisen ausstecken und zusammen mit dem Bügelbrett wegräumen, schüttet Ihr Körper so viel Dopamin aus, dass die Information »Bügeln erfolgreich erledigt, Bügeleisen ausgesteckt, bereit für die Belohnung« besonders stabil im Gehirn verankert wird. Statt Unzufriedenheit und Unsicherheit ernten Sie nach getaner Arbeit Zufriedenheit, Stolz, etwas Leckeres zu trinken und natürlich auch die Gewissheit, dass das Bügeleisen aus ist. Und das alles nur, weil ein kleines Achtsamkeitsritual dafür gesorgt hat, dass genügend Dopamin ausgeschüttet wurde, um bestimmte Informationen zusammen mit guten Gefühlen so abzuspeichern, dass Sie sich jederzeit daran erinnern können.

Doch es geht auch andersherum. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass jede Information, die zusammen mit starken Emotionen mental abgespeichert wird, besonders stabile neuronale Verbindungen ausbildet. Das gilt für positive Gefühle ebenso wie für negative. Das ist auch einer der Gründe, warum sich Zwangsgedanken so schnell verselbstständigen können.

Gute und schlechte Dopamin-Quellen

Die einfachste Möglichkeit, unser Gehirn dazu zu bringen, mehr Dopamin zu produzieren, ist das Empfinden von Vorfreude. Der Glücksbotenstoff wird aber auch ausgeschüttet, wenn wir eine Aufgabe erledigen, für die Planung oder Überwinden notwendig war, oder wenn wir einem inneren Drang oder gar Zwang nachgeben. In all diesen Fällen sorgt Dopamin für bessere Gefühle. Die ersten beiden Möglichkeiten bezeichne ich gerne als gute Dopamin-Quellen, die letzten beiden hingegen als schlechte. Denn hier muss der Preis für die guten Gefühle nachträglich entrichtet werden und ist dann umso teurer. Dopamin, das ohne Vorfreude oder vorherige Leistung ausgeschüttet wird, macht nämlich nicht nur süchtig, es verankert auch neuronal andere Gefühle. Statt der anfänglichen Entspannung werden vor allem die nachfolgenden Gefühle wie Anspannung und Unzufriedenheit abgespeichert. Nicht nur Zwangspatienten sind mit dieser unguten Dynamik bestens vertraut, sondern auch Handy- oder Pornosüchtige wissen jetzt genau, wovon ich spreche. Eigentlich wollte man nur ganz kurz ins Handy oder auf eine bestimmte Webseite schauen. Mal eben ein bisschen Zerstreuung und gute Gefühle, bevor man sich wieder seinen Pflichten widmet. Doch ehe man sich’s versieht, sind 30 oder gar 60 Minuten weg, während der Berg an Arbeit keineswegs kleiner geworden ist. Der Frust, der nun aufkommt, ist nichts anderes als ein kleiner Dopamin-Entzug.

Damit Zwänge und Süchte sich nicht unkontrolliert ausweiten, ist es wichtig zu lernen, wie man Dopamin wieder auf anderem Weg generieren kann. Die beste Methode dafür ist eine Kombination aus einer Tätigkeit, die Planung und Überwindung benötigt, und dem BEWUSSTEN Genießen der nachfolgenden Belohnung. Zudem ist es wichtig, dass Sie das Ergebnis Ihrer Arbeit wertschätzen und auch entsprechend achtsam wahrnehmen. Nur so kann es neuronal positiv abgespeichert werden und Ihnen dann dabei helfen, Ihre Zwänge zu überwinden. Doch Achtung: Die Belohnung danach sollte natürlich weder das Ausführen einer Zwangshandlung noch der Besuch einer Pornoseite oder Handydaddeln sein. Erstellen Sie lieber schon vorher eine Liste mit Tätigkeiten, die Ihnen wirklich guttun und für die Sie sich meist viel zu wenig Zeit nehmen. Nur so ist es möglich, die Ausschüttung von Dopamin neuronal wieder mit gesünderen Tätigkeiten zu verknüpfen und sowohl Zwänge als auch Süchte hinter sich zu lassen. Wer noch ein wenig Hilfe benötigt, wie diese besseren Belohnungen aussehen könnten, der findet diese in Kapitel 6.4.

1.2 Zwangsgedanken: Was steckt wirklich dahinter?

Menschen, die unter Zwangsgedanken leiden, sind nicht verrückt. Ganz im Gegenteil: Ihr Verstand arbeitet einwandfrei und erkennt sofort, wie absurd und verstörend einige der Gedanken sind, die da ungefragt in ihrem Kopf auftauchen. Anfangs kommen Zwangsgedanken meist nur vereinzelt. Doch je mehr sich Betroffene beim Wahrnehmen ihrer eigenen, seltsamen Gedanken erschrecken oder gar ekeln, desto häufiger und intensiver kehren diese zurück. Warum ist das so?

Das menschliche Gehirn kann nicht in Negationen denken

Negationen sind Worte wie NICHT, KEINE, OHNE oder FREI VON. Wer NICHT über etwas nachdenken möchte, zum Beispiel ob er tatsächlich in der Lage wäre, einem geliebten Menschen Leid anzutun, der muss sich so eine Gräueltat zuerst kurz vorstellen, damit das Gehirn diese Information überhaupt verarbeiten kann. Erst dann kann man zu sich selbst sagen: So etwas mache ich auf gar keinen Fall! Doch damit ist die Katze schon aus dem Sack bzw. das gruslige Bild verstärkt im Kopf.

Wir wissen heute, dass jeder Gedanke, der starke Gefühle auslöst, im Gehirn bevorzugt behandelt wird. Emotionen wie Freude, Liebe, Angst, Scham, Ekel oder Hass wirken wie ein Verstärker und sorgen dafür, dass die damit verbundenen Erfahrungen und Gedanken besonders tief in unseren grauen Zellen verankert werden. Auf diese Weise können wir schneller auf bestimmte Informationen zurückgreifen, und das macht auch durchaus Sinn. Während der Evolution hat unser Gehirn nämlich gelernt, dass starke Emotionen in der Regel bedeuten, dass die damit verbundenen Gedanken und Erfahrungen für uns oft lebenswichtig sind. Leider ist diese Arbeitsweise des menschlichen Gehirns im Fall von Zwangsgedanken eher unpraktisch. Denn auch ungewolltes Gedankengut kann extrem stabil abgespeichert werden. Das geschieht allerdings nur, wenn man sich nach einem angsteinflößenden Gedanken möglichst große Sorgen macht. Nur wenn starke Emotionen im Spiel sind, können aus vereinzelten Grusel-Gedanken wiederkehrende Zwangsgedanken werden.

1.3 Verstörende Gedanken hat jeder mal

Wussten Sie, dass jeder Mensch hin und wieder von verstörenden Gedanken heimgesucht wird? Vor dem inneren Auge entstehen dann Szenen, wie man zum Beispiel absichtlich wertvolles Geschirr auf dem Boden zertrümmert oder mit dem Auto einfach gegen einen Baum fährt. Auch die Vorstellung, man könne andere lebensgefährlich verletzen oder gar töten, ist weitverbreitet, obwohl nichts davon auch nur ansatzweise mit den eigenen Moralvorstellungen vereinbar wäre. Jeder kennt solche Gedanken, doch kaum jemand spricht darüber. Die spannende Frage lautet nun: Wenn doch alle Menschen hin und wieder solche zwanghaften Gedanken haben, warum entwickeln dann nur 2−3 % eine Zwangsstörung? Noch spannender wird die Frage allerdings, wenn man sie etwas umformuliert:

Was haben 97 % aller Menschen, die immer wieder mal zutiefst verstörende Gedanken haben, anders gemacht, dass sich daraus keine Zwangsstörung entwickelt hat?

Es gibt eine ganze Reihe von Antworten auf diese Frage, die wohl offensichtlichste lautet jedoch: Diese 97 % wischen solche Hirngespinste einfach beiseite und denken nicht weiter darüber nach. Während die restlichen 2−3 % um jeden Preis verhindern wollen, dass sich solche Gedanken wiederholen. Da Sie jetzt aber bereits wissen, dass Ihr Gehirn mit Negationen nichts anfangen kann, dürfte auch klar sein, wohin diese Bemühungen zwangsläufig führen müssen.

Doch inwiefern hilft einem diese Erkenntnis, wenn man bereits im Teufelskreis wiederkehrender Zwangsgedanken gefangen ist? Lassen Sie sich überraschen. Ob Sie es glauben oder nicht, selbst dann haben Sie noch wesentlich mehr Einfluss auf die automatisiert ablaufenden Prozesse Ihres Gehirns, als Ihnen aktuell bewusst ist.

1.4 Unser Gehirn liebt das Absurde

Haben Sie sich jemals gefragt, wie genau unser Gehirn lernt? Warum müssen wir Vokabeln und Matheformeln Dutzende Male wiederholen und vergessen sie am Ende doch, während andere Informationen scheinbar mühelos im Gedächtnis hängen bleiben? Ganz einfach, unser Gehirn liebt das Absurde. Je schräger etwas ist, das wir erleben, desto tiefer wird es neuronal verankert. Deswegen funktionieren auch Eselsbrücken und Mnemotechniken so gut. Kaum werden langweilige Fakten mit möglichst lustigen oder schrägen Geschichten verknüpft, spendiert unser Gehirn uns besonders viele neuronale Verbindungen, um die Informationen sicher abzuspeichern. Leider greift es auf diesen coolen Trick auch bei Zwangsgedanken zurück. Denn auch die sind in der Regel ziemlich schräg − und schwupp, schon fällt es uns besonders leicht, denselben Blödsinn wieder und wieder zu denken.

Fallbeispiel, Teil 1

Ein weitverbreiteter Zwangsgedanke, von dem auch schon viele unserer Patienten berichtet haben, ist der, dass man seinen eigenen Kindern etwas Schreckliches antun könnte. Eine junge Mutter berichtete mir einmal von einer Situation, in der sie in der Küche stand und gerade Gemüse mit einem großen Messer schnitt. Ihr dreijähriger Sohn spielte friedlich neben ihr auf dem Boden mit Bauklötzen. Plötzlich tauchte für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild vor ihrem inneren Auge auf, wie sie mit dem Messer auf das Kind losgehen könnte. Schockiert legte sie das Messer beiseite, setzte sich zu dem Kleinen auf den Boden und hielt ihn erst mal lange im Arm, bevor sie sich endlich beruhigen konnte.

Vielleicht kommt Ihnen jetzt spontan die eine oder andere Schlagzeile in den Sinn. Man liest doch immer mal wieder, dass ein Elternteil zuerst die Kinder und dann sich selbst tötet. Meist versehen mit dem Zusatz, dass er oder sie eigentlich ganz harmlos wirkte. Keiner im Umfeld habe geahnt, dass so etwas geschehen könne. Was Sie in solchen Meldungen jedoch vermutlich nie lesen werden, ist der Hinweis, dass die Betroffenen unter Zwangsgedanken oder Zwangsimpulsen litten. Und dafür gibt es auch einen guten Grund. Zwangsstörungen scheinen nämlich ein regelrechter Schutz davor zu sein, verstörende Fantasien wirklich in die Tat umzusetzen.

1.5 Zwangsgedanken sind schrecklich normal

Warum liefert unser Gehirn uns immer wieder mal Gedanken, die zutiefst erschreckend sind und nicht mehr das Geringste mit unserem Werte-Kanon zu tun haben? Die banale Antwort lautet: Weil es das kann und manchmal schlicht auch braucht. So wie es kein Licht ohne Schatten geben kann, existieren auch Werte wie Moral, gutes Benehmen oder zivilisierte Umgangsformen nur, weil auch das Gegenteil dessen vorhanden ist. Zwar entscheiden sich die meisten bewusst dafür, diese Schattenseiten möglichst aus ihrem Leben fernzuhalten, doch diese Entscheidung hat natürlich auch Konsequenzen. Sie gibt dem Gehirn die Richtung vor, definiert, was richtig oder falsch ist, und warnt uns vor möglichen Gefahren. Diese Gefahren sind jedoch keineswegs allgemeingütig. Ein leidenschaftlicher Sportschütze wird beim Anblick eines großkalibrigen Revolvers vermutlich verzückt sein, während die Mutter aus unserem Beispiel wohl eher mit Angst oder Panik reagieren dürfte.

Da es zu den Aufgaben unseres Gehirns gehört, uns möglichst gut vor allem zu schützen, was wir als bedrohlich einstufen, muss es entsprechende Gefahren schnell und zuverlässig erkennen. Wie jeder gute Bodyguard benötigt es dafür ab und zu ein wenig Training. Das bedeutet zum Glück nicht, dass es uns dafür absichtlich in gefährliche Situationen führen muss. Unserem Gehirn genügt es völlig, sich die entsprechenden Situationen kurz vorzustellen. Vor allem wenn wir mental unterfordert sind, zum Beispiel bei langweiligen Hausarbeiten, nutzt es die Gelegenheit und simuliert die eine oder andere Extremsituation. Doch auch auf eingebildete Gefahren reagiert unser Körper sofort. Durch die Ausschüttung von Adrenalin schaltet er innerhalb von Millisekunden in den Kampf- oder Fluchtmodus. Normalerweise heißt es dann: Systemcheck erfolgreich bestanden, zurück zur Hausarbeit. Es sei denn, man misst dieser kleinen Trainingseinheit mehr Bedeutung bei, als ihr zusteht.

Wer jetzt an seiner moralischen Unversehrtheit zweifelt und sich das Gehirn zermartert, wie derartig verstörende Gedanken überhaupt entstehen konnten, der riskiert, dass eine ungute Eigendynamik in Gang gesetzt wird. Aus vereinzelten Testläufen des Gehirns können dann nämlich wiederkehrende Zwangsgedanken werden. Und um denen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, flüchten sich viele Betroffene früher oder später in Zwangshandlungen. Damit hoffen sie so beschäftigt zu sein, dass die Gedanken ihre seltsame Eigendynamik wieder reduzieren.

1.6 Zwangshandlungen: gut gedacht, schlecht gemacht

Zwangspatienten haben Angst vor ihren eigenen Gedanken. Sie befürchten, die Kontrolle zu verlieren und im schlimmsten Fall das, was ihnen durch den Kopf geistert, in die Tat umzusetzen. Die gute Nachricht lautet jedoch: Das passiert nicht. In all den Jahren, die wir im Institut für moderne Psychotherapie bereits mit Zwangspatienten arbeiten, ist uns noch kein einziger Fall untergekommen, in dem das so gewesen wäre. Gerade der Umstand, dass Zwangspatienten so große Angst vor ihren verstörenden Gedanken haben, beweist ja, dass ihr moralischer Kompass völlig in Ordnung ist. Sie sind weder verrückt noch gemeingefährlich. Vielmehr tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um andere zu schützen. Und genau hier kommen die Zwangshandlungen ins Spiel. Um wieder Kontrolle über die eigenen Gedanken zu erlangen, lenken sich viele Betroffene instinktiv mit zwanghaften Handlungen ab. Das unausgesprochene Motto lautet:

Ein Gehirn, das mit harmlosen Dingen ausgelastet ist, macht keinen Blödsinn.

Und tatsächlich nimmt die Beschäftigung mit Zähl-, Ordnungs-, Wasch-, Wiederhol- oder Sammelzwängen die grauen Zellen so sehr in Anspruch, dass es eine Zeit lang spürbar weniger Zwangsgedanken entwickelt. Doch leider setzt auch schnell eine Art Gewöhnungseffekt ein. Um die beruhigende Wirkung weiterhin aufrechtzuerhalten, muss immer mehr gezählt, geordnet oder gewaschen werden. Frei nach dem Motto »Gut gedacht, schlecht gemacht« werden Zwangsgedanken nur noch dadurch im Zaum gehalten, dass andere Zwänge immer mehr Raum einnehmen.

Diese instinktive Form der Selbsttherapie ist somit ein gutes Beispiel für »den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben«. Doch es gibt auch gute Nachrichten. Falls Sie erst seit Kurzem mit Zwangsgedanken zu kämpfen haben und Zwangshandlungen noch nicht zum täglichen Repertoire gehören, gibt es ein paar Techniken, mit denen Sie Ihre zwanghaften Gedanken oft erstaunlich schnell loswerden können. Eine dieser Techniken erwartet Sie bereits im nächsten Kapitel.

Doch auch für all die, deren Alltag schon länger durch Zwänge und Zwangsgedanken bestimmt wird, gibt es Hoffnung. Denn auch hier gibt es Wege, wie man Schritt für Schritt wieder in ein zwangloses Leben zurückfinden kann. Allerdings sollten Sie hierfür wenigstens ein paar Monate einplanen, in denen Sie mithilfe eines speziellen Mentaltrainings Ihr Gehirn wieder auf Vordermann bringen. Zwänge sind, ähnlich wie die meisten Ängste, ein unbewusst erlerntes Verhalten. Doch zum Glück lässt sich alles, was man erlernt hat, auch wieder verlernen, vorausgesetzt, man kennt die richtigen Methoden. Welche das im Einzelnen sind, davon handelt dieses Buch. Also bleiben Sie weiter dran, ich verspreche Ihnen, es lohnt sich!

Kapitel 2 Erste Hilfe bei Zwangsgedanken

Glücklicherweise suchte sich die junge Mutter, die Angst hatte, sie könne ihrem Kind etwas mit dem Messer antun, sehr früh professionelle Hilfe. Die Zwangsgedanken diesbezüglich kamen zwar bereits mehrmals pro Woche, doch noch hatte sie nicht versucht, diese mit Zwangshandlungen zu neutralisieren.

»Neutralisieren« ist übrigens der Fachbegriff dafür, wenn Betroffene mithilfe von Zwangshandlungen versuchen, ihre Zwangsgedanken in den Griff zu bekommen. Geschieht dieses Neutralisieren nicht durch Handlungen, sondern nur im Kopf, also indem man sich bemüht, bewusst etwas anderes zu denken, dann spricht man stattdessen von »verdeckten Zwangshandlungen«. Diesen Fachbegriff finde ich jedoch ziemlich unglücklich gewählt. Denn er impliziert, dass »bessere« Gedanken, die man Zwangsgedanken entgegensetzt, ebenfalls immer etwas Zwanghaftes hätten. Das stimmt jedoch nur zum Teil. Es gibt sehr wohl auch »Gegengedanken«, die nichts Zwanghaftes haben und die durchaus das Potenzial besitzen, Zwangsgedanken schnell und, mit etwas Übung, sogar dauerhaft zu stoppen.

Fallbeispiel, Teil 2

Ich werde nie vergessen, wie erleichtert die junge Mutter war, als wir uns zum zweiten Termin trafen. Sie berichtete mir, wie gut sie mit der Stopp-Technik gegen Zwangsgedanken zurechtgekommen war, die ich zusammen mit ihr trainiert hatte. Sie gestand aber auch, wie skeptisch sie vor der ersten Anwendung zu Hause war. Immerhin hatte sie von einer so »schrägen« Therapiemethode noch nie zuvor gehört. Was war geschehen? Ich hatte der jungen Frau erklärt, dass unser Gehirn nicht in Negationen denken kann und dass es zudem absurde Situationen liebt. Wenn schräge Gewaltfantasien uns in Angst und Schrecken versetzen, dann lassen sich diese am schnellsten stoppen, wenn wir mit noch schrägeren Fantasien dagegenhalten. Doch keine Sorgen, schräg ist nicht gleichbedeutend mit beängstigend. Unser mächtigster Helfer im Kampf gegen Zwangsstörungen ist nämlich nicht die Angst, sondern der Humor. Und der kann ja bekanntlich ebenfalls ziemlich schräg sein. Und so sagte ich zu der jungen Frau:

»Wenn Ihr Gehirn in der Lage ist, sich vorzustellen, dass Sie mit einem Messer auf Ihren Sohn losgehen könnten, dann ist es auch in der Lage sich vorzustellen, dass jemand einen riesigen Elektromagneten in Ihrer Küchendecke eingebaut hat. So einen, der spielend ein ganzes Auto anheben kann. Sobald der bedrohliche Zwangsgedanke das nächste Mal aufblitzt, springt vollautomatisch dieser Magnet an, und alle verfügbaren Messer schweben zuerst ganz langsam einen guten Meter nach oben. Kurz unterhalb der Decke werden sie dann zunehmend schneller, bis die Klingen sich − ZACK − bis zum Anschlag in der Zimmerdecke versenken. Dort sitzen sie nun so fest, dass man schon eine riesige Zange und ziemlich viel Kraft bräuchte, um sie da noch mal rauszubekommen. Das heißt, Sie müssen sich wohl oder übel ein paar neue Messer kaufen, und das am besten schon auf Vorrat. Denn jedes Mal, wenn der Zwangsgedanke erneut auftaucht, sind − SCHWUPP − alle Messer erneut weg. Vermutlich kann man an Ihrer Küchendecke schon nach wenigen Tagen Hunderte von Messern sehen, die bis zum Anschlag im Putz stecken. Ich bin schon gespannt, wie Sie dieses Meer von Messergriffen Ihrem nächsten Besucher erklären wollen. Kleiner Tipp: Sagen Sie, es sei eine Kunstinstallation.«

2.1 Zwangsgedanken mit den eigenen Waffen schlagen

Manche denken jetzt womöglich: »Wie soll man denn mit so einem Blödsinn Zwangsgedanken loswerden?« Erlauben Sie mir deshalb folgende Frage: Ist nicht auch der Gedanke, dass eine liebende Mutter mit dem Messer auf ihr Kind losgehen könnte, im Grunde nichts weiter als Blödsinn? Natürlich ist er das, denn Zwangsgedanken wie dieser werden nie in die Tat umgesetzt. Trotzdem lösen sie starke Emotionen wie Angst und Verzweiflung aus. Und das führt leider dazu, dass sich das Gedachte neuronal so gut im Gehirn verankert, dass es früher oder später zu einer unschönen Eigendynamik kommt, an deren Ende Betroffene nur noch mithilfe von Zwangshandlungen halbwegs zur Ruhe kommen.

Warum sollte man diese gehirnspezifischen Speicherprozesse dann nicht auch positiv nutzen und so Zwangsgedanken mit ihren eigenen Waffen schlagen? Aus der Hirnforschung wissen wir ja, dass ALLES schnell und stabil in unserem Erinnerungsspeicher abgelegt wird, solange es nur absurd oder emotionsgeladen genug ist. Es geht darum, gezielt bessere Fantasien zu nutzen, die zwar einerseits so schräg sind, dass sie sich sofort einprägen, aber andererseits so irreal anmuten, dass das Gehirn darin keine reale Bedrohung erkennt. Grundsätzlich kann man sagen, je schräger und lustiger eine »Gegenfantasie« ist, desto mehr Potenzial hat sie, die ursprünglichen Zwangsgedanken regelrecht zu überschreiben.

Womit, glauben Sie, lässt es sich leichter leben? Mit dem permanenten Gedanken, man könnte einen Menschen verletzen oder gar töten, oder mit dem Gedanken, dass eine abgefahrene Kunstinstallation an der Küchendecke hängt? Und welche der beiden Visionen kann das Gehirn wohl nach ein paar Tagen oder längstens Wochen leichter wieder loslassen und zum »Normalzustand« zurückkehren? Die existenziell bedrohliche oder die amüsante?

Die junge Mutter aus unserem Fallbeispiel kennt die Antwort auf all diese Fragen bereits. Noch am Tag unserer ersten Sitzung fand ihre ganz persönliche Generalprobe statt. Sie war in der Küche und bereitete gerade das Abendessen zu, als ihr Blick auf den hölzernen Messerblock viel. Sofort drängte sich das bedrohliche Bild mit ihrem Sohn in der Hauptrolle wieder auf. Doch diesmal nur für den Bruchteil einer Sekunde. Anschließend aktivierte sich der ebenfalls nur eingebildete Magnet und ließ in ihrer Fantasie alle Messer aus dem Messerblock langsam nach oben schweben, bis sie schließlich ebenfalls bis zum Schaft in der Zimmerdecke verschwanden. Als sie realisierte, dass sie dieses absurde Bild auch ohne mein Zutun vor ihrem geistigen Auge entstehen lassen konnte, musste sie spontan lachen, zumal ihr Gehirn die Geschichte sofort weiter ausschmückte. Sie sah nämlich nicht nur die ersten sechs Messer bombenfest in der Decke stecken, sondern auch ihren Sohn, der verwundert nach oben blickte und ebenfalls schallend anfing zu lachen: »Noch mal Mama, mach das noch mal, das ist lustig!«

Binnen weniger Tage verschwanden die Zwangsgedanken völlig, und auch die Gegenfantasie tauchte immer seltener auf, bis auch diese nach etwa vier Wochen ganz ausblieb. Da die junge Frau die »Neuprogrammierung« ihres Gehirns zusätzlich noch aktiv mit der 10-Satz-Methode unterstützte, auf die wir später noch näher eingehen, benötigte sie insgesamt nur drei Sitzungen, bis ihre Zwangsstörung vollständig verschwunden war und seither auch nicht wieder aufgetreten ist.

2.2 Vom Mut, sich lächerlich zu machen

Vielleicht klingt das etwas merkwürdig, doch Ärzte und Therapeuten könnten Menschen mit Zwangsstörungen oft wesentlich schneller helfen, wenn sie den Mut hätten, sich hin und wieder mal lächerlich zu machen. Denn natürlich hatte ich während unserer ersten Sitzung die Messer nicht nur einmal mental Richtung Decke katapultiert, sondern gleich ein Dutzend Mal. Runde für Runde dachte ich mir weitere schräge Details aus, und so lachen wir fast die ganze Sitzung lang. Auf diese Weise stellte ich sicher, dass sich die neue, gesündere Szene tief im Gehirn meiner Patientin verankert hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie anschließend dachte: »Der Typ hat doch nicht alle Tassen im Schrank.« Aber das war mir egal, denn ich wusste ja dank meiner Erfahrung mit vielen Zwangspatienten bereits, was die junge Frau zu Hause erwarten würde, sobald der nächste Zwangsgedanke auftauchte.

Auch bei Zwängen befolgt das Gehirn bestimmte Regeln

Erinnern Sie sich noch, wie ich sagte, man könne nicht in Negationen denken? Spätestens jetzt haben Sie den Beweis dafür. Wenn Sie die letzten paar Seiten konzentriert gelesen haben, mussten nämlich auch Sie vor Ihrem geistigen Auge all die Messer in der Zimmerdecke sehen, egal ob Sie das wollten oder nicht. Anders hätten Sie das Gelesene gar nicht verarbeiten können. Und vielleicht mussten Sie genauso grinsen wie die junge Mutter, als ich ihr das erste Mal von dieser »Gegenfantasie« erzählte. Zugegeben, die Szene war schräg, aber genau das musste sie sein, um sich bei meiner Patientin schnellstmöglich neuronal verankern zu können. Und je besser das gelingt, desto leichter fällt es Betroffenen später, auch ohne therapeutische Hilfe bedrohliche Szenen durch absurde zu ersetzen. Übrigens: Wem es auf diese Weise rechtzeitig gelingt, seine Gedanken positiv zu beeinflussen, dem bleibt meist auch der Weg in die Zwangshandlungen erspart.

2.3 Humor schlägt Gefahr

Einem Gehirn, das sich, aus welchen Gründen auch immer, angewöhnt hat, Zwangsgedanken zu entwickeln, ist es letztlich egal, wie es seine überbordende Fantasie abarbeitet. Entscheidend ist, dass die Bilder starke Emotionen auslösen. Ob das Angst oder Humor ist, können Sie hingegen mit etwas Übung selbst entscheiden. Besonders kritische Zeitgenossen könnten jetzt natürlich einwenden, dass man seine Krankheit bei so einer Vorgehensweise ja gar nicht ernst nehmen würde. Stimmt, warum sollten Sie auch? Zwangsstörungen sind mittlerweile gut erforscht, und man weiß heute mit Sicherheit, dass Betroffene ihren bedrohlichen Zwangsgedanken in der Regel keine entsprechenden Taten folgen lassen. Das Einzige, was man also erreicht, wenn man solche Gedanken ernst nimmt, ist eine Ausweitung der Krankheit. Gibt man dem Gehirn hingegen etwas Besseres, woran es sich abarbeiten kann, ist es möglich, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Zum einen ist es viel leichter, bedrohliche Zwangsgedanken durch absurde, aber harmlose Fantasien zu ersetzen, als neutral zu denken. Zum anderen besteht deutlich weniger Gefahr, dass sich die neuen, schrägen Gedanken dauerhaft im Gehirn einnisten. Denn je abstruser eine Fantasie ist, desto leichter fällt es einem Zwangspatienten, diese als unrealistisch und somit auch als ungefährlich einzustufen. Ein weiterer Vorteil dieser Methode besteht darin, dass schräger Humor zwar ein genauso starker Impuls fürs Gehirn ist wie Gefahr, Letztere aber viel länger unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Eine Bedrohung beschäftigt uns nämlich so lange, bis wir wissen, dass sie vorüber ist. Das humorvoll Absurde hingegen bindet nur kurz unsere Aufmerksamkeit, da es ja offensichtlich keine reale Gefahr darstellt. Den nötigen Impuls, um Zwangsgedanken immer mehr zu verdrängen, hat das Gehirn aber trotzdem bekommen, und genau darauf kommt es an.

2.4 Psychotherapie mit ABS

Die Methode, die Sie soeben kennengelernt haben, habe ich ABS genannt. Das steht jedoch nicht für Anti-Blockier-System, sondern für »Absurd Brain-based Storytelling«, also für das absurde, gehirngerechte Erzählen therapeutischer Geschichten. Es geht darum, mit möglichst paradoxen, aber dennoch zum Thema passsenden Geschichten tief ins Unterbewusstsein von Patienten vorzudringen, um dort die Zwangsgedanken regelrecht zu vertreiben.

Die Grundidee hinter ABS ist übrigens gar nicht so neu. Mit der »paradoxen Intervention« haben schon berühmte Wegbereiter der modernen Psychotherapie, wie der Psychiater Viktor Frankl oder der Psychotherapeut Paul Watzlawick, enorme Behandlungserfolge erzielt.

Insofern verwundert es schon fast, dass diese Methode bei krankhaften Zwängen und Ängsten nicht viel häufiger zum Einsatz kommt. Zumal die paradoxe Intervention in zwei wesentlichen Punkten anderen Behandlungsmethoden überlegen ist. Zum einen wirkt sie bei schweren Fällen deutlich besser, und zum anderen halten die Behandlungserfolge auch länger an. Das konnte in einer Metaanalyse4 von insgesamt zwölf Studien über paradoxe Intervention zweifelsfrei festgestellt werden.

2.5 Zwänge und Ängste: zwei Seiten derselben Medaille

Zwangspatienten und Angstpatienten haben etwas gemeinsam. Beide schütten unter Stress Unmengen von Adrenalin aus, jenem Neurotransmitter, der uns sofort in den Flucht- oder Kampfmodus versetzt. Doch wo die Ängstlichen in der Regel die Flucht wählen, stellen sich die Zwanghaften fast immer dem Kampf. Während Erstere mehr und mehr in ein Vermeidungsverhalten ausweichen, versuchen Letztere buchstäblich alles, um irgendwie wieder die Kontrolle über ihre Zwangsgedanken zu erlangen.

Dennoch ist Angst auch bei Zwangspatienten die treibende Kraft. Die Furcht vor Krankheit, Tod, Kontrollverlust, Unordnung oder unmoralischem Verhalten treibt sie dazu, zumindest irgendetwas gegen die empfundene Bedrohung zu unternehmen, egal wie widersinnig dieses Verhalten letztendlich auch sein mag. Und genau das unterscheidet sie auch von den Menschen, bei denen die Angststörung überwiegt. Während diese tendenziell immer passiver werden, sind Zwangspatienten häufig so aktiv, dass sie sogar versuchen, ihre Zwangsgedanken mithilfe von Zwangshandlungen zu unterdrücken. Passend dazu unterscheiden sich auch die Gedanken, also die inneren Dialoge, die Betroffene in Stress-Situationen führen:

Gedanken von Angstpatienten:

Ich kann nichts tun. Egal, was ich mache, es wird ganz schlimm. Egal, was ich mache, ich kann es nicht aufhalten.

Gedanken von Zwangspatienten:

Ich muss was tun. Wenn ich jetzt nichts mache, wird es ganz schlimm. Nur ich kann und muss es aufhalten.

Doch es gibt auch eine Gemeinsamkeit. Sowohl den Zwanghaften als auch den Ängstlichen unterlaufen massive Denkfehler. Diese während eines therapeutischen Gesprächs so aufzulösen, dass buchstäblich ein Schalter im Kopf umgelegt wird, ist sowohl eine große Herausforderung als auch ein Riesenspaß, wenn man das Ganze mit ABS macht.

Fallbeispiel einer Angstpatientin

Ich hatte einmal eine Patientin, die nach einem unangenehmen Vorfall panische Angst vor dem Aufzugfahren hatte. In dem Hochhaus, in dem sie arbeitete, blieb eines Tages der Aufzug stecken. Ganze 90 Minuten war sie in der kleinen Kabine zusammen mit einer Kollegin gefangen, bis ein Servicetechniker den Aufzug endlich wieder in Betrieb setzen konnte. Während unserer ersten Sitzung erzählte sie mir, dass sie vermutlich viel gelassener gewesen wäre, wenn sie nicht ausgerechnet mit Frau W. eingesperrt gewesen wäre. Die war nämlich im ganzen Betrieb bekannt dafür, auch noch den unwichtigsten Klatsch und Tratsch weiterzutragen, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Bislang konnte sich meine Patientin diesen Wortergüssen immer halbwegs entziehen, doch diesmal saß sie buchstäblich in der Falle. Je mehr sie versuchte wegzuhören, desto lauter fing das Blut in ihren Ohren an zu rauschen, bis sie sich schließlich in die erste Panikattacke ihres Lebens hineinsteigerte. Der Umstand, dass ausgerechnet Frau W. Zeugin des Geschehens war, machte die Sache keineswegs leichter. Denn natürlich gab auch dieser Vorfall später reichlich Futter für weiteren Tratsch.