Zwei einsame Kinder - Gert Rothberg - E-Book

Zwei einsame Kinder E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Warum habe ich eigentlich keinen Vati wie die anderen Kinder?« Der sechsjährige Jo sah seine Mutti erwartungsvoll an. Marlies Winterberg bekam einen Schreck, obwohl sie schon lange auf diese Frage ihres kleinen Sohnes gewartet hatte. Im Moment kam die Frage jedoch vollkommen unvorbereitet auf sie zu. »Alle Kinder, die ich kenne, haben einen Vati, nur ich nicht. Warum habe ich keinen Vati?« Jo biss nach dieser Frage herzhaft in seine Honigsemmel und nahm danach einen großen Schluck aus seiner Tasse. »Es ist nicht wahr, dass alle Kinder einen Vati haben. Denke an Frieder«, begann Marlies etwas umständlich, um Zeit zu gewinnen. »Frieders Vati ist tot. Ist mein Vati auch tot?« »Nein, dein Vati ist nicht tot. Weißt du, Jo, dein Vati und ich, wir waren nicht verheiratet.« Jo sah seine Mutter erstaunt an. Für einen Augenblick verlor die Honigsemmel sein Interesse. Es war förmlich zu sehen, wie die Gedanken hinter seiner Stirn arbeiteten, dass er mit dem eben Gehörten nichts anzufangen wusste. »Mochte er dich nicht? Hatte er dich nicht lieb?« Marlies' schönes zartes Gesicht überzog sich für einen flüchtigen Augenblick mit einer feinen Röte.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust Extra – 142 –Zwei einsame Kinder

Unveröffentlichter Roman

Gert Rothberg

»Warum habe ich eigentlich keinen Vati wie die anderen Kinder?« Der sechsjährige Jo sah seine Mutti erwartungsvoll an.

Marlies Winterberg bekam einen Schreck, obwohl sie schon lange auf diese Frage ihres kleinen Sohnes gewartet hatte. Im Moment kam die Frage jedoch vollkommen unvorbereitet auf sie zu.

»Alle Kinder, die ich kenne, haben einen Vati, nur ich nicht. Warum habe ich keinen Vati?« Jo biss nach dieser Frage herzhaft in seine Honigsemmel und nahm danach einen großen Schluck aus seiner Tasse.

»Es ist nicht wahr, dass alle Kinder einen Vati haben. Denke an Frieder«, begann Marlies etwas umständlich, um Zeit zu gewinnen.

»Frieders Vati ist tot. Ist mein Vati auch tot?«

»Nein, dein Vati ist nicht tot. Weißt du, Jo, dein Vati und ich, wir waren nicht verheiratet.«

Jo sah seine Mutter erstaunt an. Für einen Augenblick verlor die Honigsemmel sein Interesse. Es war förmlich zu sehen, wie die Gedanken hinter seiner Stirn arbeiteten, dass er mit dem eben Gehörten nichts anzufangen wusste. »Mochte er dich nicht? Hatte er dich nicht lieb?«

Marlies’ schönes zartes Gesicht überzog sich für einen flüchtigen Augenblick mit einer feinen Röte. »Doch, ich glaube, er mochte mich«, sagte sie leise. Ihr Blick verlor sich in dem Gewirr der grünen Laubbäume. »Weißt du, Jo, wenn zwei Menschen heiraten, dann müssen sie den Wunsch haben, für immer, bis an ihr Lebensende, zusammenbleiben zu wollen. Und natürlich müssen sie einander auch sehr lieben.«

»Hm«, machte Jo und warf seiner Mutter über den Tassenrand hinweg einen prüfenden Blick zu. »Du wolltest also mit meinem Vati nicht bis an dein Lebensende zusammenbleiben?«

Um Marlies’ Mund zuckte es ein bisschen, als hätte sie Schmerzen. Das Lächeln, das sie ihrem kleinen Sohn schenkte, wirkte wehmütig. »Weißt du, Liebling, es ist besser, wenn wir später einmal darüber reden. Wenn du etwas größer und verständiger bist, wirst du das alles viel besser verstehen.«

»Hm«, machte Jo wieder. Es war ihm anzusehen, dass ihn die Worte seiner Mutter nicht recht befriedigten. »Ich meine nur, dass es einfach prima wäre, wenn ich auch einen Vati hätte und wir ein richtiges Zuhause hätten«, fuhr er dann fort.

Jetzt erschrak Marlies. Fast etwas verstört sah sie Jo an. »Bis jetzt dachte ich immer, dass wir beide sehr glücklich wären, Jo. Mir ist nie der Gedanke gekommen, dass du etwas vermissen würdest, dass ich dir nicht genügen würde.«

Jo, der seine Mutter sehr liebte, sah sie bestürzt an. Er sprang auf und lief um den Tisch herum auf sie zu. Stürmisch schlang er seine Arme um ihren Hals. »Du bist die allerbeste Mutti der Welt und die schönste und klügste. Und überhaupt, ich möchte gar keinen Vati. Und ein richtiges Zuhause möchte ich auch nicht. Ich finde es ganz prima so, wie es ist. Mein Freund Dieter beneidet mich auch mächtig. Er möchte auch so gern eine Mutter haben, die Tänzerin ist wie du. Er stellt es sich schrecklich aufregend vor, immer in der Welt herumzureisen und in Hotels und Pensionen zu wohnen. Er findet ein richtiges Zuhause langweilig, und vielleicht hat er recht. Meinst du nicht auch, Mutti?«

Marlies strich ihrem kleinen Sohn liebevoll eine Locke aus der Stirn. Noch nie war ihr so stark zu Bewusstsein gekommen, wie sehr er doch seinem Vater ähnelte. Da waren das gleiche lockige blonde Haar, die leuchtend blauen Augen und das energische Kinn.

»Die Menschen wollen immer das, was sie nicht besitzen«, sagte Marlies lächelnd. »Aber du weißt doch, Jo, dass wir auch bald ein richtiges Zuhause haben werden. Es dauert nicht mehr sehr lange, dann habe ich genug Geld. Dann kann ich mir eine nette kleine Boutique kaufen. Dann werden wir richtig sesshaft werden. Wir mieten uns dann eine gemütliche Wohnung und werden wie alle anderen Menschen leben.«

»Gehst du dann mit mir auch öfter zu einem Fußballspiel? Dieters Vati geht jeden Sonntag mit Dieter auf den Fußballplatz.«

»Dann gehe ich mit dir ganz bestimmt öfter zu einem Fußballspiel. Das verspreche ich dir. Und wenn ich keine Zeit oder Lust habe, dann wird Onkel Werner mit dir gehen. Du weißt doch, dass ich zusammen mit Tante Elsa die Boutique eröffnen werde. Wenn es so weit ist, werden Tante Elsa und Onkel Werner heiraten. Sie werden sich eine Wohnung in unserer Nähe nehmen.«

»Prima!« Jo küsste seine Mutter liebevoll, was einige recht klebrige Spuren auf Marlies Wange hinterließ. Er war jetzt wieder mit sich und der Welt zufrieden, und als unten im Garten ein kurzer Pfiff ertönte, strahlte sein kleines Gesicht vor Freude. »Das ist Dieter, Mutti. Darf ich mit ihm spielen? Er ist jetzt mein richtiger Freund. Hoffentlich bleiben wir noch eine Weile hier.«

»Lauf nur, Jo, aber mach bitte auf der Treppe nicht so viel Krach. Es sind bestimmt noch nicht alle Leute aufgestanden.«

»Klar, Mutti. Du kannst dich auf mich verlassen.« Damit stürmte Jo davon. Die Tür fiel mit lautem Krach hinter ihm zu, sodass Marlies nervös zusammenzuckte. Es war gut, dass die Pensionsinhaberin, Frau Gertrud Monkemeier, von ihren Pensionsgästen liebevoll Tante Trudchen genannt, sehr großzügig war und den kleinen Jo in ihr Herz geschlossen hatte. Es war wirklich nicht immer leicht, mit dem lebhaften kleinen Buben in einem Hotel oder in einer Pension zu leben. Marlies konnte deshalb den Augenblick, da sie für Jo und sich selbst ein eigenes kleines Heim schaffen konnte, kaum noch erwarten. Doch zunächst hatte sie noch die Amerikatournee vor sich. Bis jetzt hatte Marlies es nicht übers Herz gebracht, mit Jo darüber zu sprechen. Er war bisher gewohnt, seine Mutter stets zu begleiten. Aber jetzt kam er in das Alter, da er eine Schule besuchen musste. Deshalb würde sie ihn zum ersten Mal nicht mitnehmen können. Wie schwer ihr das wurde, konnte kein Mensch ermessen.

Als Jo zur Welt gekommen war, hatte Marlies vor der bangen Frage gestanden, was aus ihr und dem Kind werden sollte. Sie war damals noch nicht einmal zwanzig Jahre alt gewesen und hatte gerade ihr Abitur gemacht. Wie dankbar war sie ihrer Freundin Elsa Baumann gewesen, dass sie durch deren Fürbitte in die Ballettgruppe aufgenommen worden war, in der Elsa schon zwei Jahre lang tanzte.

Marlies hatte das hübsche dunkelhaarige Mädchen mit fünf Jahren in einer Kinderballettgruppe kennengelernt. Ihre Eltern hatten es jedoch nicht gern gesehen, dass sie mit Elsa freundschaftlich verkehrte, denn Elsas Eltern waren einfache Arbeiter, und ihr Vater war Oberregierungsrat. Einige Jahre lang hatte Marlies dann die Freundin aus den Augen verloren. Erst durch einen Zufall war sie wieder mit ihr zusammengetroffen. Schon oft hatte sie sich die Frage gestellt, was wohl aus ihr und Jo geworden wäre, wenn das nicht der Fall gewesen wäre.

Bei diesem Gedanken lächelte Marlies etwas bitter vor sich hin. Bei ihren Eltern hatte sie keine Hilfe und kein Verständnis gefunden. Sie hatten keine Tochter mehr, nachdem sie ihnen gesagt hatte, dass sie ein Kind erwartete. Sie war für ihre Eltern eine Tochter, die die Schande über die ehrenwerte Familie gebracht hatte.

Mechanisch goss sich Marlies noch eine Tasse Kaffee ein. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Freundin erst bemerkte, als diese vor ihr auf dem kleinen Balkon stand.

»Guten Morgen, Marlies. Ist das heute nicht ein herrlicher Tag? Und dabei machst du ein Gesicht, als wären dir sämtliche Felle davongeschwommen. Ist was los?« Elsa Baumann setzte sich und schob Jos Frühstücksgedeck beiseite. »Stört es dich, wenn ich rauche?«

»Natürlich nicht. Ich bin mit dem Frühstück schon fertig.«

»Also, was ist los? Etwas mit Jo?« »Er hat heute zum ersten Mal nach seinem Vater gefragt.«

Elsa Baumann zog die schmalen dunklen Augenbrauen etwas in die Stirn. »Damit musstest du rechnen. Er kommt jetzt in das Alter, in dem er nachzudenken beginnt. Hast du ihm etwas gesagt?«

»Natürlich nicht. Du weißt, dass niemand außer dir weiß, wer Jos Vater ist. Auch sein Vater weiß nichts von der Existenz des Jungen. Ich will das nicht.« Marlies sagte das ungewohnt energisch. In ihren dunklen Augen, die in einem so eigenartigen Kontrast zu ihrem hellen Haar standen, blitzte es dabei auf. »Ich möchte es nicht«, wiederholte sie noch einmal.

Elsa stützte den Kopf in ihre offene Hand und sah die Freundin nachdenklich an. »Du musst ihn wirklich sehr geliebt haben. Aber warum sage ich, geliebt haben? Ich weiß, du liebst ihn noch immer.«

Marlies errötete ein bisschen, was sie noch viel jünger erscheinen ließ. »Ich werde ihn immer lieben«, erwiderte sie leise. »Mein Gott, ich war so jung, als ich ihn kennenlernte. Ich hatte gerade die Schule beendet, und als mir meine Eltern die Reise nach Paris schenkten, glaubte ich, dass mir die ganze Welt und das Leben offen stünden. Und dann lernte ich ihn kennen. Ich war so glücklich und möchte auch keine Minute der Zeit mit ihm missen, keine Sekunde. Du musst nicht glauben, dass ich unglücklich war, als ich wusste, dass ich ein Kind von ihm haben würde. O nein, ich war unsagbar glücklich und voller Dankbarkeit. Aber das konnten meine Eltern nicht verstehen und nicht begreifen. Es war für sie unfassbar, dass ich mich auf das Kind freute, dass ich es um nichts in der Welt hergeben wollte. Diese Dankbarkeit empfinde ich auch heute noch. Ich habe ein Kind von ihm, ein Kind, von dem er nichts weiß.«

»Vielleicht wäre es aber besser, wenn er es wüsste. Wie du mir sagtest, ist er durchaus in der Lage, euch beiden ein sorgenfreies Leben zu sichern.«

»Ich bin auch so recht gut zurechtgekommen, und bald habe ich es geschafft. Dank deiner Hilfe, Elsa. Was ich ohne dich gemacht hätte, das frage ich mich immer wieder. Mein Gott, war ich damals verzweifelt. Ich hatte ja nichts gelernt, hatte keinen Beruf – und meine Eltern hatten mich vor die Tür gesetzt. Von ihnen konnte ich keine Hilfe erwarten. Ich erinnere mich noch genau, wie du dann eines Tages unerwartet auf der Straße vor mir standest. Als ich dir meine Lage schilderte, wusstest du auch sofort Rat. Niemals hatte ich für möglich gehalten, dass mir meine Ballettstunden einmal so zugutekommen würden. Ich bin dir zu ewigem Dank verpflichtet, Elsa.«

»Davon möchte ich nichts hören«, wehrte Elsa etwas verlegen ab. »Wir hatten einfach Glück. Das Ensemble suchte damals Tänzerinnen. Und du kannst nicht nur etwas, du bist auch tadellos gewachsen und dazu auch noch eine Schönheit.«

Jetzt war es Marlies, die verlegen abwehrte.

»Du übertreibst wie immer grenzenlos. Es gibt viele gute Tänzerinnen, die gut gewachsen sind und hübsch aussehen. Du hast ein Wort für mich eingelegt, und deshalb habe ich damals so schnell den Job bekommen. Die letzten Jahre waren auch recht schön für mich. Wir hatten oft großen Spaß, aber die Hauptsache war für mich, dass ich Jo immer bei mir haben konnte. Du hast mir so wunderbar geholfen in den letzten Jahren. Eigentlich hatte Jo zwei Muttis. Aber auch sonst fand ich viele liebe hilfsbereite Menschen. Ob es nun Kollegen waren oder Pensionswirtinnen.«

Die beiden jungen Frauen lachten, und Elsa sagte dann: »Du hast recht, Marlies, es war eine schöne Zeit. Wenn wir beide einmal alt und weise geworden sein werden, dann werden wir ganz bestimmt mit ein bisschen Wehmut an diese Jahre denken. Aber erst einmal wollen wir an die Zukunft denken. Nach der Amerikatournee wird es endlich so weit sein, dass wir beide Inhaberinnen einer Boutique werden. Dann wird das Herumreisen aufhören, obwohl ich sagen muss, dass unser Zigeunerleben auch sein Gutes hatte. Hier in der Pension, bei Tante Trudchen, sind wir wieder einmal bestens untergebracht. Ich muss sagen, mir wird der Abschied aus diesem gastlichen Haus nicht leicht werden.«

»Mir geht es genau wie dir. Auch mir wird der Abschied schwerfallen. Fast ein Vierteljahr lang haben wir hier gewohnt. So lange läuft nun auch unser Musical in Stuttgart. Auch Jo hat sich hier sehr wohlgefühlt. Er hat hier Freunde gefunden, von denen er sich nun wieder trennen muss. Das ist gewiss nicht leicht für ihn. Außerdem weiß er noch immer nicht, dass ich ihn diesmal nicht mitnehmen kann. Ich muss mich jetzt ernsthaft darum bemühen, für ihn ein geeignetes Internat oder Heim zu finden.« Marlies seufzte. Ihre schönen dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wünschte, ich könnte ihn mitnehmen.«

»Das geht auf gar keinen Fall, Marlies. Für das Kind würde diese Tournee viel zu anstrengend werden. Bedenke, wir fahren quer durch die Staaten, treten fast jeden Tag in einer anderen Stadt auf. Das ist nichts für ein Kind. Es ist schon für einen Erwachsenen eine große Strapaze, auch wenn die Omnibusse, mit denen wir fahren werden, mit allem Komfort ausgerüstet sein sollen.«

»Ich weiß, dass ich Jo nicht mitnehmen kann. Es wäre schön, wenn ich gute Bekannte hatte, bei denen er bleiben könnte, aber leider habe ich niemanden außer dir.«

»Und deine Eltern?« Elsa fragte das sehr leise und etwas ängstlich.

»Nie würde ich Jo bei ihnen lassen, abgesehen davon, dass sie das Kind auch gar nicht nehmen würden. In den ersten Jahren habe ich ihnen noch geschrieben, habe ihnen auch Jos Geburt mitgeteilt, aber sie haben nie etwas von sich hören lassen. Nein, selbst wenn sie Jo zu sich nehmen wollten, würde ich ihn nicht bei ihnen lassen.«

Elsa nickte. »Das kann ich verstehen. Du wirst dich also nach einem guten Heim für Jo umsehen müssen. Vielleicht sprichst du einmal mit Tante Trudchen. Als ich neulich mit ihr über deine Probleme sprach, erzählte sie mir, dass sie ein Heim kenne, das sie sehr empfehlen könnte. Ich glaube, ihre jüngste Tochter hat dort einmal als Praktikantin gearbeitet.«

Maries sah die Freundin überrascht an. »Das wäre ja wunderbar. Wo liegt dieses Kinderheim?«

»Ich weiß es, nicht genau, aber ich glaube, irgendwo im württembergischen Raum. Das Heim heißt Sophienlust. Es soll sehr hübsch liegen und früher einmal ein großes Gut gewesen sein.«

»Ich werde gleich mit Tante Trudchen reden.« Marlies stand auf und räumte das Frühstücksgeschirr zusammen, um es in die Küche zu tragen. Es gab wenig Personal in der Pension, aber jeder fasste gern mit an.

Elsa war der Freundin behilflich. »Du nimmst immer alles viel zu schwer«, sagte sie dabei zu der Freundin. »Pass auf, es wird Jo in dem Kinderheim sicher gut gefallen. Er ist dann ständig mit Kindern beisammen, kann mit ihnen zusammen zur Schule gehen und mit ihnen spielen. Und die Zeit, in der ihr voneinander getrennt seid, wird ganz bestimmt schnell vergehen. Du wirst auch nicht viel zum Grübeln kommen. Es wird zwar eine harte Zeit werden, aber auch eine sehr interessante. Wir werden viel Neues sehen und erleben.«

Marlies seufzte. »Du hast recht. Ich sage mir das alles auch ständig selbst, aber ich habe eben ein ungutes Gefühl. Vielleicht kommt es davon, dass ich weiß, dass jetzt etwas für uns alle anders wird. Etwas, was nie wiederkehren wird, ist vorbei. Und vielleicht kommt es auch daher, dass ich mich hier bei Tante Trudchen wie zu Hause gefühlt habe. Unser Zimmer mit dem hübschen Balkon wird mir fehlen.«

Marlies ergriff das Tablett, und Elsa ging, um ihr die Tür zu öffnen.

*

Gertrud Monkemeier, oder Tante Trudchen, war in ihrer großen, aber gemütlichen Küche damit beschäftigt, das Frühstücksgeschirr ihrer Pensionsgaste in die Geschirrspülmaschine einzuräumen.

Als Marlies eintrat, unterbrach sie ihre Tätigkeit und kam der jungen Frau lachend entgegen, um ihr das Tablett abzunehmen.

»Ich habe meine Gäste wirklich gut erzogen. Vielen Dank für die Hilfe, Frau Winterberg.«

»Wir haben Ihnen zu danken. Nämlich dafür, dass Sie so mütterlich für uns sorgen, dass wir fast das Gefühl haben, einmal zu Hause zu sein. Auch Jo fühlt sich hier sehr wohl. Sie bringen viel Verständnis für ihn auf.«

»Aber ich bitte Sie! Schließlich habe ich selbst drei Kinder großgezogen. Mir wird der Abschied von dem kleinen Jo richtig schwerfallen. Am liebsten würde ich ihn bei mir behalten, wenn Sie nach Amerika müssen, aber leider werde ich im Augenblick mit meiner Arbeit kaum fertig. Wie mir Ihre Freundin sagte, haben Sie die Absicht, den Kleinen in ein Heim zu geben?«

»Das werde ich wohltun müssen. Könnten Sie mir ein Kinderheim empfehlen, in dem Jo bestens aufgehoben wäre?«

»Das könnte ich wirklich«, sagte Tante Trudchen und nahm ihre Arbeit wieder auf. »Meine jüngste Tochter hat in dem Kinderheim als Praktikantin gearbeitet. Sophienlust, so heißt das Heim, war herrschaftlicher Besitz und gehörte der Familie von Wellentin. Die alte Frau von Wellentin vererbte den Besitz ihrem Urenkel unter der Bedingung, dass aus dem Herrenhaus ein Heim für elternlose Kinder, oder solche die Geborgenheit suchen, gemacht wird. Dominik, der Erbe, ist aber noch immer zu jung für diese Aufgabe. So verwaltet seine Mutter den Besitz bis zu seiner Volljährigkeit.«

Marlies sah die Pensionsinhaberin etwas zweifelnd von der Seite an. »Und Sie glauben, dass Jo dort Aufnahme finden wird? Schließlich ist er nicht elternlos, und eine direkte Notlage liegt auch nicht vor.«

»Ich gebe Ihnen den Rat, einfach einmal nach Sophienlust zu fahren und mit Frau von Schoenecker zu sprechen. Sie ist die Mutter von Dominik oder Nick, wie man ihn nennt. Sie müssen wissen, dass sie zum zweiten Mal verheiratet ist, und zwar mit dem Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker. Ihr erster Mann ist schon lange tot. Ich könnte mir vorstellen, dass sie für Ihr Problem Verständnis hat. Wie mir meine Tochter erzählte, war sie selbst einmal Tänzerin. Ich glaube, die Familie von Wellentin wollte sie nicht in ihren Kreis aufnehmen, eben weil sie Tänzerin war. Erst nach dem Tod ihres ersten Mannes, Dietmar von Wellentin, wurde sie von der Familie anerkannt.«

Marlies hatte interessiert zugehört. Jetzt sagte sie lebhaft: »Nach allem, was Sie mir erzählt haben, beginnt mich das Kinderheim zu interessieren. Wenn ich es ermöglichen kann, fahre ich morgen hin. Jo sage ich am besten noch gar nichts davon. Erst einmal möchte ich mir das Kinderheim ansehen.«

»Es wird Ihnen ganz bestimmt gefallen. Die Kinder fühlen sich dort sehr wohl. Das Heim wird das Haus der glücklichen Kinder genannt.«

»Es wäre wunderbar, wenn Jo sich dort wohlfühlen würde. Mir wurde damit ein Stein vom Herzen fallen. Sie können sich gar nicht vorstellen, Tante Trudchen, wie ungern ich diesmal auf Tournee gehe. Am liebsten würde ich zurücktreten, aber das geht natürlich nicht. Ich stehe noch unter Vertrag, und das Geld brauche ich auch.« Marlies’ schönes zartes Gesicht bekam einen schwermütigen Ausdruck, als sie fortfuhr: »Die Trennung von Jo liegt mir wie eine Zentnerlast auf dem Herzen. Schließlich habe ich ja nur ihn, und er ist auch auf mich angewiesen. Nachts schrecke ich mitunter aus dem Schlaf auf. Darin mache ich Licht und überzeuge mich, dass Jo auch wirklich in seinem Bett liegt.«

Tante Trudchen hielt mit ihrer Arbeit inne und sah Marlies besorgt an. »Sie sind überarbeitet und für das anstrengende Leben, das Sie führen, viel zu zart und zu sensibel. Es ist gut, dass Sie bald mit der Tanzerei aufhören.«

»Jo, das ist gut. Ich kann es auch kaum noch erwarten.« Marlies ließ die Hände sinken und sah aus dem Fenster hinaus auf den kleinen Gemüsegarten, der Tante Trudchens ganzer Stolz war. »Glauben Sie an Vorahnungen?«, fragte sie so leise, dass sie kaum zu verstehen war.

»Vorahnungen? Wie meinen Sie das?«, fragte Tante Trudchen zögernd.

»Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber ich habe einfach ein ungutes Gefühl. Mir ist immer, als dürfte ich unter gar keinen Umständen abreisen und Jo allein lassen.«

»Aber das ist doch Unsinn! Sie müssen versuchen, diesen Gefühlen Herr zu werden. Amerika ist heute auch nicht mehr aus der Welt. In ein paar Stunden ist man drüben und umgekehrt.«

Marlies lächelte schwach. »Das sagt meine Freundin auch immer. Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit meinen Sorgen belastet habe. Vielleicht ist Jo sogar froh, einmal in einem Kinderkreis leben zu können. Ich werde auf jeden Fall morgen nach Sophienlust fahren. Irgendeine Kollegin wird mir wohl ihren Wagen für ein paar Stunden borgen.«