Zwei Fremde im Zug - Patricia Highsmith - E-Book

Zwei Fremde im Zug E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Zwei Fremde im Zug New YorkTexas entdecken und planen das perfekte Alibi für zwei Morde. Aus einem Moment der Unachtsamkeit heraus wird Haines zum Komplizen Brunos, der ihn auf eine schiefe Bahn mitnimmt, auf der es kein Festhalten und keine Moral mehr gibt und auch kein Entrinnen. Ein Roman über gefährlich verschwimmende Identitäten und die Unausweichlichkeit der Schuld. Zwei Fremde im Zug ist Patricia Highsmiths erster veröffentlichter Roman, durch den sie dank Alfred Hitchcocks Verfilmung über Nacht weltberühmt wurde.

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Patricia Highsmith

Zwei Fremde im Zug

Roman

Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Zwei Fremde im Zug

Für alle Virginias

1

In störrischem, unregelmäßigem Rhythmus jagte der Zug dahin. Er mußte häufiger an kleineren Bahnhöfen halten, wo er ungeduldig wartete, bevor er sich wieder in die Prärie fraß, aber von einem Vorankommen war kaum etwas zu merken. Die Prärie wellte sich wie eine große, rötlichbraune Decke, die nachlässig geschüttelt wird. Je schneller der Zug fuhr, desto lebhafter und kecker die Wellen.

Guy löste den Blick vom Fenster und schob sich im Sitz zurecht.

Bestenfalls, dachte er, würde Miriam die Scheidung hinauszögern. Vielleicht wollte sie nicht einmal die Scheidung, sondern nur Geld. Würde er die Scheidung von ihr überhaupt je erreichen?

Er merkte, daß der Haß sein Denken trübte und die Wege, die ihm in New York die Logik gewiesen hatte, in Sackgassen verwandelte. Er spürte Miriam, die ihn erwartete – nicht mehr allzu fern, rosig und sommersprossig –, und eine ungesunde Hitze ging von ihr aus wie von der Prärie vor dem Zugfenster: mürrisch und grausam.

Automatisch griff er nach einer Zigarette, erinnerte sich zum x-ten Mal an das Rauchverbot im Pullmanwagen und nahm sie trotzdem. Er klopfte sie zweimal gegen das Zifferblatt seiner Uhr, las die Zeit ab – siebzehn Uhr zwölf, als ob das jetzt wichtig wäre – und schob sich die Zigarette im Mundwinkel zurecht, bevor er sie hinter vorgehaltener Hand anzündete. Dann verbarg er statt des Streichholzes die Zigarette in der gewölbten Hand und rauchte mit langen, gleichmäßigen Zügen. Immer wieder sahen seine braunen Augen zu der schroffen, faszinierenden Landschaft vor dem Fenster hinaus. Ein Kragenzipfel seines Hemds richtete sich auf. Im Spiegelbild, das in der hereinbrechenden Dunkelheit auf der Fensterscheibe sichtbar wurde, sah die weiße Kragenecke vor seinem Kinn wie auch sein schwarzes Haar, das oben lang und hinten kurz geschnitten war, wie aus dem letzten Jahrhundert aus. Die Frisur und seine lange Nase verliehen ihm etwas Zielgerichtetes, Bestimmtes, wenngleich die starke, gerade Linie der Brauen und des Mundes von vorne den Eindruck von Stille und Zurückhaltung weckten. Er trug Flanellhosen, die gebügelt gehörten, ein dunkles Jackett, das locker auf seinem schlanken Oberkörper saß und im Lichtschein schwach purpurn schimmerte, sowie eine tomatenrote Wollkrawatte mit locker gebundenem Knoten.

Daß Miriam schwanger war, konnte er sich nicht vorstellen, es sei denn, sie wollte es. Was hieße, daß ihr Liebhaber sie heiraten wollte. Aber warum wollte sie ihn sehen? Um die Scheidung zu bekommen, brauchte sie ihn nicht. Und warum mühte er sich wieder mit den gleichen fruchtlosen Gedanken ab wie vor vier Tagen, als er ihren Brief erhalten hatte? Die fünf, sechs Zeilen in Miriams Schülerschrift hatten nur besagt, daß sie ein Kind erwartete und ihn sehen wollte. Ihre Schwangerschaft bedeutete die Scheidung, sagte er sich eindringlich, warum also seine Nervosität? Der Verdacht, daß er möglicherweise eifersüchtig war, weil sie das Kind eines anderen austragen würde und das seine abgetrieben hatte, quälte ihn ganz entsetzlich. Nein, sagte er sich, was ihn bedrückte, war nur die Scham, daß er jemanden wie Miriam hatte lieben können. Er drückte seine Zigarette auf dem Gitter der Heizungsverkleidung aus. Der Stummel rollte ihm vor die Füße, und er beförderte ihn mit einem Tritt unter die Heizung.

Es gab so vieles, auf das er sich freuen konnte: seine Scheidung, die Arbeit in Florida – es war so gut wie sicher, daß der Ausschuß seine Entwürfe annehmen würde, und er würde es im Lauf der Woche erfahren – und Anne. Er und Anne konnten nun endlich Pläne schmieden. Über ein Jahr lang hatte er unter Bangen darauf gewartet, daß etwas geschah – daß dies geschah –, was ihn befreite. Ein starkes, herrliches Glücksgefühl durchströmte ihn mit einemmal, und er lehnte sich entspannt in dem Plüschsitz zurück. Er hatte tatsächlich die letzten drei Jahre darauf gewartet, daß so etwas geschah. Gewiß, er hätte sich freikaufen können, aber selbst dazu fehlte ihm das Geld. Als selbständiger junger Architekt zu überleben war nicht einfach gewesen, und es war auch jetzt noch nicht einfach. Miriam hatte ihn nie um regelmäßige Unterhaltszahlungen angegangen, aber sie hatte ihm auf andere Weise das Leben schwergemacht, indem sie in Metcalf über ihn sprach, als hätten sie noch immer das denkbar beste Verhältnis zueinander, als wäre er nur nach New York gegangen, um eine Stelle zu finden und sie später nachzuholen. Bisweilen bat sie ihn um Geld, kleine, aber ärgerliche Beträge, die er immer schickte, weil ihr zuzutrauen war, daß sie sonst in ganz Metcalf schlecht über ihn sprach, und in Metcalf lebte seine Mutter.

Ein großgewachsener, blonder junger Mann in einem rostfarbenen Anzug ließ sich auf den Sitz gegenüber fallen, machte es sich in der Ecke bequem und setzte ein unverbindlich freundliches Lächeln auf. Guy warf einen Blick auf das blasse, unentwickelte Gesicht. Mitten auf der Stirn prangte ein riesiger Pickel. Guy sah wieder aus dem Fenster.

Der junge Mann gegenüber schien unentschlossen, ob er ein Gespräch anfangen oder schlafen sollte. Sein Ellbogen rutschte immer wieder die Fensterbank entlang, und jedesmal wenn die kurzen Wimpern sich öffneten, sahen die grauen, blutunterlaufenen Augen Guy an, und das weiche Lächeln kehrte zurück. Vielleicht war der Mann leicht angetrunken.

Guy schlug sein Buch auf, aber nach einer halben Seite schweiften seine Gedanken ab. Er sah auf, als die weiß leuchtenden Deckenlichter eines nach dem anderen eingeschaltet wurden; sein Blick wanderte zu der unangezündeten Zigarre, mit der eine knochige Hand im Gespräch hinter dem Rücken eines Sitzes heftig gestikulierte, und zu dem Monogramm, das an einem dünnen Goldkettchen auf der Krawatte des jungen Manns im Sitz gegenüber zitterte. Das Monogramm lautete CAB, und die handbemalte Krawatte aus grüner Seide zierten geschmacklos grellorangene Palmen. Der lange rostfarbene Körper war nun ausgestreckt, verletzlich, mit zurückgelehntem Kopf, so daß der große Pickel oder Furunkel auf der Stirn aussah wie der Krater eines Vulkans. Es war ein interessantes Gesicht, ohne daß Guy hätte sagen können, warum, weder jung noch alt, weder intelligent noch gänzlich dümmlich. Zwischen der schmalen, vorgewölbten Stirn und dem breiten Kinn beschrieb es einen degenerierten Bogen nach innen, tief innen, wo der schmale Mund lag, noch tiefer in den bläulichen Höhlen mit den kleinen Augendeckeln. Die Haut war so weich wie die eines Mädchens, wachsklar, als hätten all ihre Unreinheiten nur diesen einen Pickel genährt.

Guy nahm sein Buch wieder auf. Die Worte wurden verständlich und beruhigten ihn. Aber was nützt Platon gegen Miriam, fragte ihn eine innere Stimme. Sie hatte ihn das schon in New York gefragt, aber er hatte das Buch trotzdem mitgenommen, ein altes Lehrbuch aus einem Philosophieseminar, vielleicht zum Ausgleich dafür, daß er die Reise zu Miriam unternehmen mußte. Er sah aus dem Fenster, erblickte darin sein Spiegelbild und zupfte seinen Kragen zurecht. Das tat sonst immer Anne für ihn. Mit einemmal kam er sich ohne sie hilflos vor. Er bewegte sich, stieß dabei versehentlich an den Fuß des schlafenden jungen Mannes und beobachtete fasziniert, wie dessen Lider zuckten und sich öffneten. Die blutunterlaufenen Augen sahen aus, als hätten sie ihn vielleicht schon vorher durch die halbgeschlossenen Lider beäugt.

»Tschuldigung«, murmelte Guy.

»Schon gut«, sagte sein Gegenüber. Er setzte sich auf und schüttelte heftig den Kopf. »Wo sind wir?«

»Bald in Texas.«

Der blonde junge Mann holte einen Flachmann mit goldener Flüssigkeit aus der Innentasche seines Jacketts, schraubte ihn auf und hielt ihn Guy hin.

»Nein, danke«, sagte Guy. Die Frau auf der anderen Seite des Gangs, die seit St. Louis nicht von ihrem Strickzeug aufgeblickt hatte, sah, wie Guy bemerkte, plötzlich zu ihnen herüber, als die Flasche quietschend geöffnet wurde.

»Wohin geht die Reise?« Das Lächeln war jetzt ein schmaler, feuchter Halbmond.

»Metcalf«, sagte Guy.

»Oh, nette Stadt, Metcalf. Geschäftlich unterwegs?« Er blinzelte höflich mit seinen entzündeten Augen.

»Ja.«

»Und in was für Geschäften?«

Guy sah unwillig von seinem Buch auf. »Ich bin Architekt.«

»Oh.« Mit versonnener Neugier. »Häuser und so?«

»Ja.«

»Habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er erhob sich halb vom Sitz. »Bruno. Charles Anthony Bruno.«

Guy reichte ihm kurz die Hand. »Guy Haines.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Leben Sie in New York?« Die heisere Baritonstimme klang falsch, als redete er, um sich wachzurütteln.

»Ja.«

»Ich wohne auf Long Island. Fahre nach Santa Fe, um ein bißchen auszuspannen. Waren Sie schon mal in Santa Fe?«

Guy schüttelte den Kopf.

»Tolle Stadt zum Ausspannen.« Er lächelte und enthüllte dabei schlechte Zähne. »Hauptsächlich Indianerarchitektur, vermute ich.«

Ein Schaffner blieb im Gang stehen und blätterte in den Fahrkarten. »Ist das Ihr Platz?« fragte er Bruno.

Bruno lehnte sich besitzergreifend in seinen Sitz. »Privatabteil im nächsten Wagen.«

»Nummer drei?«

»Vermutlich.«

Der Schaffner ging weiter.

»Idiot!« murmelte Bruno. Er lehnte sich vor und sah belustigt aus dem Fenster.

Guy wandte sich wieder seinem Buch zu, doch die unübersehbare Langeweile seines Reisegefährten, das Gefühl, der andere werde gleich etwas sagen, erschwerte ihm die Konzentration. Guy überlegte, ob er in den Speisewagen gehen sollte, blieb aber aus einem unerklärlichen Grund sitzen. Der Zug drosselte erneut das Tempo. Als Bruno abermals Anstalten machte, ein Gespräch anzufangen, stand Guy auf, ging in den nächsten Wagen und sprang die Stufen zum knirschenden Boden hinab, bevor der Zug richtig zum Stillstand gekommen war.

Die lebendige Luft draußen voller Nachtgerüche senkte sich wie ein erstickendes Kissen auf ihn. Es roch nach staubigem, sonnengewärmtem Kies, nach Öl und heißem Stahl. Er war hungrig und hielt sich in Speisewagennähe, wo er mit den Händen in den Taschen langsam auf- und abging und tief einatmete, obwohl ihm die Luft nicht zusagte. Rote, grüne und weiße Lichter blinkten südlich am Himmel. Gestern, dachte er, hätte Anne auf dem Weg nach Mexiko hier entlangkommen können. Er hätte bei ihr sein können. Sie hätte sich gefreut, wenn er bis Metcalf mitgefahren wäre. Wäre nicht Miriam gewesen oder auch trotz Miriam, wenn er jemand gewesen wäre, der sich über so etwas hinwegsetzen konnte –, dann hätte er sie sogar bitten können, dort zu übernachten und seine Mutter kennenzulernen. Er hatte Anne fast alles von Miriam erzählt, aber der Gedanke, daß sie einander begegneten, war ihm unerträglich. Er hatte allein fahren wollen, um nachzudenken. Und was hatte er bisher gedacht? Was hatten Denken und Logik bisher genützt, wenn es um Miriam ging?

Der Schaffner rief vernehmlich, aber Guy wanderte weiter auf und ab und sprang dann im letzten Moment auf den Wagen hinter dem Speisewagen auf.

Er hatte gerade seine Bestellung aufgegeben, als der junge blonde Mann schwankend im Eingang zum Wagen erschien; mit dem Zigarettenstummel im Mund sah er geradezu verwegen aus. Guy hatte ihn erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängt, und nun mußte die große, rostbraune Gestalt sich wie eine unerfreuliche Erinnerung wieder aufdrängen. Guy sah, daß er lächelte, als er ihn erblickte.

»Dachte schon, Sie hätten den Zug verpaßt«, sagte Bruno fröhlich und zog sich einen Stuhl heran.

»Ich will nicht unhöflich sein, Mr. Bruno, aber ich wäre jetzt gerne allein. Ich muß über verschiedenes nachdenken.«

Bruno drückte die Zigarette aus, die seine Finger ansengte, und starrte Guy ausdruckslos an. Er war noch betrunkener als vorhin. Sein Gesicht war verschmiert und verquollen. »Wir können es uns in meinem Abteil allein gemütlich machen. Wir können uns das Essen dorthin bringen lassen. Was sagen Sie dazu?«

»Vielen Dank. Ich bleibe lieber hier.«

»Kommt nicht in Frage! Ober!« Bruno klatschte in die Hände. »Schicken Sie bitte die Bestellung dieses Herrn in den Salon Nummer drei, und für mich bitte ein Steak, halb durch, mit Pommes frites und Apfelkuchen. Und zwei Scotch mit Soda vorneweg, ja?« Er sah Guy an und lächelte sein sanftes, wehmütiges Lächeln. »Okay?«

Guy saß unschlüssig da; dann stand er auf und ging mit. Was machte es schon aus? Und war er der eigenen Gesellschaft nicht ohnehin unendlich überdrüssig?

Die zwei Scotch wurden nicht gebraucht, verhalfen ihnen aber zu Gläsern und Eis. Die vier Scotchflaschen mit gelbem Etikett, die auf einem Krokodillederkoffer aufgereiht standen, waren das einzig Ordentliche in dem kleinen Abteil. Mit Ausnahme eines zickzackförmigen Wegs war der ganze Raum mit Taschen und Koffern verstellt, von Sportkleidung und Sportutensilien bedeckt – Tennisschläger, eine Tasche mit Golfschlägern, Kameras, ein Weidenkorb mit Wein und Obst, schön mit fuchsienrotem Papier ausgeschlagen. Eine Auswahl neuer Zeitschriften, Comics und Romane war auf dem Sitz am Fenster verstreut, eine Pralinenschachtel mit roter Schleife auf dem Deckel lag herum.

»Sieht ein bißchen sehr sportlich aus hier, fürchte ich«, sagte Bruno fast entschuldigend.

»Mich stört es nicht.« Guy lächelte versonnen. Der Anblick des Raums amüsierte ihn und flößte ihm ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit ein. Als er lächelte, löste sich die Spannung seiner dunklen Brauen, was sein Aussehen völlig veränderte. Seine Augen sahen jetzt wach und interessiert aus. Er bewegte sich gewandt zwischen den Koffern und betrachtete alles wie eine neugierige Katze.

»Nagelneu. Noch nie mit einem Ball in Berührung gekommen«, verkündete Bruno und hielt Guy einen Tennisschläger hin. »Meine Mutter besteht darauf, daß ich den ganzen Krempel mitschleppe, weil sie denkt, das würde mich von der Flasche fernhalten. Na ja, läßt sich wenigstens versetzen, wenn man knapp bei Kasse ist. Beim Reisen trinke ich gerne. Es macht alles intensiver, finden Sie nicht auch?« Die Highballs wurden gebracht, und Bruno verstärkte sie aus einer seiner Flaschen. »Setzen Sie sich. Legen Sie den Mantel ab.«

Aber keiner der beiden setzte sich oder zog seinen Mantel aus. Unbehagliche Minuten traten ein, in denen beide nichts zu sagen wußten. Guy nahm einen Schluck seines Highballs, der wie reiner Whisky schmeckte, und sah auf den Fußboden, der über und über mit Kleidungsstücken bedeckt war. Bruno hatte sonderbare Füße, fiel ihm auf, aber vielleicht lag es auch an den Schuhen: kleine, zierliche hellbraune Schuhe, deren längliche glatte Kappe an Brunos eckiges Kinn erinnerten. Sonderbar altmodische Füße. Und Bruno war keineswegs so schmächtig, wie er gedacht hatte; die langen Beine waren massig, der Körper wirkte eher ungeschlacht.

»Hoffe, es hat Sie nicht gestört«, begann Bruno vorsichtig, »daß ich vorhin in den Speisewagen gekommen bin.«

»Nein, nein.«

»Ich fühlte mich einsam. Sie wissen schon.«

Guy sagte etwas darüber, wie einsam man war, wenn man allein in einem Salonabteil reiste, und wäre dabei fast auf den Riemen einer Rolleiflex getreten. Unten an ihrem Ledergehäuse war ein frischer weißlicher Kratzer zu sehen. Er spürte Brunos schüchternen Blick. Es würde bestimmt langweilig werden. Warum war er bloß gekommen? Er bereute es schon jetzt; am liebsten wäre er in den Speisewagen zurückgegangen. Da erschien der Kellner mit dem Zinntablett und klappte einen Tisch auf. Der Duft des holzkohlengegrillten Fleischs munterte Guy auf. Bruno beharrte so nachdrücklich darauf, ihn einzuladen, daß er schließlich nachgab. Bruno bekam ein großes Steak, mit einem Berg Pilze bedeckt, Guy einen Hamburger.

»Was bauen Sie in Metcalf?«

»Nichts«, sagte Guy. »Meine Mutter wohnt dort.«

»Oh«, sagte Bruno interessiert. »Zu Besuch? Kommen Sie von dort?«

»Ja. Ich bin dort geboren.«

»Sie sehen gar nicht aus wie ein Texaner.« Bruno spritzte Ketchup über das ganze Steak und über die Pommes frites, und dann spießte er die Petersilie elegant auf und hielt sie in der Luft. »Wann waren Sie das letztemal da?«

»Vor etwa zwei Jahren.«

»Lebt Ihr Vater auch dort?«

»Mein Vater ist tot.«

»Oh. Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Mutter?«

Guy bejahte. Obwohl er Scotch nicht besonders mochte, spürte er ihn jetzt gern auf der Zunge, weil er ihn an Anne erinnerte. Wenn sie Alkohol trank, dann trank sie am liebsten Scotch, und er paßte zu ihr – golden, voller Licht, mit Sorgfalt und Kunstfertigkeit hergestellt. »Und wo wohnen Sie auf Long Island?«

»Great Neck.«

Anne wohnte um einiges weiter draußen.

»Ich nenne unser Haus die Hundehütte«, erzählte Bruno weiter. »Drum herum wachsen überall Hundsrosen, und drinnen steckt jeder in einer Art Hundehütte bis hin zum Chauffeur.« Unvermittelt lachte er fröhlich drauflos und beugte sich wieder über seinen Teller.

Guy sah nun nur die schmale, spärlich behaarte Schädeloberfläche und den hervorstehenden Pickel. Er hatte nicht mehr auf den Pickel geachtet, seit er Bruno im Schlaf beobachtet hatte, und als er ihm nun wieder auffiel, erschien er wie etwas Monströses, Schockierendes und absorbierte seine ganze Aufmerksamkeit. »Warum?« fragte Guy.

»Wegen meines Vaters. Dreckskerl. Aber mit meiner Mutter verstehe ich mich gut, so wie Sie. Meine Mutter kommt in ein paar Tagen auch nach Santa Fe.«

»Ach, wie nett.«

»Allerdings«, sagte Bruno, als müsse er ihm widersprechen. »Wir amüsieren uns immer prächtig, wir unterhalten uns und spielen Golf und gehen sogar zusammen aus.« Er lachte, halb stolz, halb verschämt, und wirkte plötzlich unsicher und jung. »Finden Sie das komisch?«

»Nein«, sagte Guy.

»Wenn ich nur endlich eigenes Geld hätte. Verstehen Sie, ab diesem Jahr wäre das eigentlich fällig gewesen, aber mein Vater denkt nicht dran, sondern leitet das Geld in seine eigene Kasse. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe jetzt kein bißchen mehr Geld, als ich in der Schule hatte, wo alles für mich bezahlt wurde. Wenn ich ab und zu einen Hunderter brauche, muß ich meine Mutter drum bitten.« Er lächelte zaghaft.

»Ich hätte für uns zahlen sollen.«

»Auf gar keinen Fall!« protestierte Bruno. »Ich will nur sagen, wie unmöglich das ist, finden Sie nicht auch, wenn der eigene Vater einem die Hand in die Tasche steckt. Es ist nicht einmal sein Geld, meine Mutter hat es geerbt.« Er schwieg und erwartete eine Reaktion von Guy.

»Hat Ihre Mutter nichts mitzureden?«

»Mein Vater hat sich alles überschreiben lassen, als ich noch klein war!« schrie Bruno mit heiserer Stimme.

»Ach so.« Guy fragte sich, wie viele Zufallsbekanntschaften wohl schon von Bruno angesprochen, eingeladen und mit diesen Enthüllungen über seinen Vater konfrontiert worden sein mochten. »Warum hat er das getan?«

Bruno hob hilflos die Hände und vergrub sie dann achselzuckend in den Hosentaschen. »Ich hab doch gesagt, daß er ein Dreckskerl ist, oder? Er legt jeden rein, wenn er kann. Neuestens behauptet er, ich würde das Geld nicht kriegen, weil ich nichts tue, aber das ist gelogen. Er denkt nämlich, meine Mutter und ich hätten es zu gut. Er versucht immer, anderen den Spaß zu verderben.«

Guy konnte sich Bruno mit seiner Mutter vorstellen, einer jugendlichen, zu stark geschminkten Long-Island-Society-Type, ab und zu – wie ihr Sohn – mit einem Faible für Kreise, die nicht die feinsten waren. »Auf welchem College waren Sie?«

»Harvard. Im zweiten Jahr rausgeflogen. Alkohol und Karten.« Er zuckte die schmalen Schultern, als würde er sich winden. »Anders als Sie, was? Ich bin eben ein verkommenes Subjekt – na und?« Er goß beiden Scotch nach.

»Wer behauptet das?«

»Mein Vater. Er hätte so einen netten, braven Sohn wie Sie haben sollen, dann wären alle glücklich und zufrieden.«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich nett und brav bin?«

»Ich meine damit, daß Sie vernünftig sind und einen Beruf haben – Architekt. Ich hab einfach keine Lust zum Arbeiten. Ich hab’s nicht nötig, verstehen Sie? Ich bin kein Schriftsteller und kein Maler oder Musiker, und warum soll man arbeiten, wenn man nicht unbedingt muß? Ich hol mir meine Magengeschwüre lieber auf die gemütliche Tour. Mein Vater hat Magengeschwüre. Haha! Er glaubt noch immer, daß ich irgendwann in seine Haushaltswarenfirma eintrete. Ich sage immer, daß seine Geschäfte wie alle Geschäfte nichts anderes sind als legalisiertes Halsabschneidertum, so wie das Heiraten legalisierte Unzucht ist. Stimmt’s?«

Guy sah ihn mit gerunzelter Stirn an und salzte die Pommes frites auf seiner Gabel. Er aß langsam und genoß das Essen, genoß sogar auf eine merkwürdige Weise Bruno, so wie man eine Darbietung auf der Bühne genießt. In Wirklichkeit dachte er an Anne. Manchmal kam ihm der schwache, ununterbrochene Traum von ihr realer vor als die Außenwelt, die nur in Bruchstücken zu ihm durchdrang, wie der Kratzer auf dem Kameragehäuse, die angerauchte Zigarette, die Bruno in der Butter auf seinem Teller ausgedrückt hatte, der splitternde Glasrahmen des Fotos von Brunos Vater, das Bruno in der Geschichte, die er gerade zum besten gab, auf den Dielenboden geworfen hatte. Guy war gerade eingefallen, daß ihm zwischen der Unterredung mit Miriam und seiner Fahrt nach Florida vielleicht noch genug Zeit blieb, Anne in Mexiko zu besuchen. Wenn er die Sache mit Miriam schnell hinter sich brachte, konnte er nach Mexiko und nach Palm Beach fliegen. Daran hatte er bisher nicht gedacht, weil er es sich nicht leisten konnte, aber wenn er den Auftrag in Palm Beach erhielt, dann konnte er es.

»Können Sie sich eine größere Gemeinheit vorstellen? Die Garage abzuschließen, in der mein Wagen steht?« Brunos Stimme überschlug sich, er kreischte fast.

»Warum?« fragte Guy.

»Nur weil er wußte, daß ich es an besagtem Abend dringend brauchte! Schließlich haben mich dann meine Freunde mitgenommen – was hat es ihm also genützt?«

Guy wußte nicht, was er darauf sagen sollte. »Er hat die Garagenschlüssel?«

»Er hat mir meine Schlüssel weggenommen! Aus meinem Zimmer! Deshalb hatte er Angst vor mir. Er hat sich nicht getraut, zu Hause zu bleiben, solche Angst hatte er!« Bruno hatte sich auf seinem Stuhl halb umgedreht; er atmete schwer und kaute an einem Fingernagel. Einzelne schweißdunkle Haarsträhnen wippten wie Fühler vor seiner Stirn. »Meine Mutter war nicht da, sonst wäre so was nie passiert, nie.«

»Natürlich nicht«, stimmte Guy unwillkürlich zu. Das ganze Gespräch, nahm er an, hatte auf diese Geschichte abgezielt, die er nur halb mitbekommen hatte. Eine der vielen Geschichten von Haß und Ungerechtigkeit, die sich hinter den blutunterlaufenen Augen verbarg, die ihn im Pullmanwagen angeblickt hatten, hinter dem wehmütigen Lächeln. »Und Sie haben sein Foto in der Diele auf den Boden geworfen?« fragte Guy zusammenhanglos.

»Ich habe es rausgeschmissen, aus dem Zimmer meiner Mutter«, sagte Bruno unter besonderer Betonung der letzten zwei Wörter. »Mein Vater hat es in ihrem Zimmer aufgestellt. Sie kann den Captain genausowenig leiden wie ich. Captain! Ich denke nicht dran, ihn so zu nennen, o nein!«

»Aber was hat er gegen Sie?«

»Nicht nur gegen mich, auch gegen meine Mutter! Er ist anders als wir, anders als andere Menschen! Er kann niemanden leiden. Er kann überhaupt nichts leiden außer Geld. Und Geld verdient der alte Halsabschneider genug, natürlich. Sicher, er ist clever, keine Frage! Aber ich wette, daß er längst mächtig Gewissensbisse hat, und deshalb will er, daß ich in seine Firma einsteige und genauso ein Halsabschneider werde wie er, damit es mir dann genauso dreckig geht wie ihm!« Bruno schloß die starr ausgestreckte Hand, dann den Mund, dann die Augen.

Guy dachte, er würde gleich zu weinen beginnen, doch die geschwollenen Lider öffneten sich, und das Lächeln kehrte zaghaft zurück.

»Langweilig, was? Ich wollte nur erklären, warum ich gefahren bin, bevor meine Mutter wiederkam. Sie haben keine Ahnung, was für ein lustiger Kumpan ich in Wirklichkeit bin! Ehrlich!«

»Können Sie nicht zu Hause ausziehen?«

Bruno schien die Frage zuerst nicht zu verstehen; dann antwortete er ruhig: »Doch, natürlich, aber ich bin gerne mit meiner Mutter zusammen.«

Und die Mutter blieb um des Geldes willen, vermutete Guy. »Zigarette?«

Bruno nahm eine und lächelte. »Verstehen Sie, als er damals nicht zu Hause bleiben wollte, war es das erste Mal seit vielleicht zehn Jahren, daß er einen Fuß nach draußen gesetzt hat. Ich frag mich, wohin er überhaupt gegangen sein kann. An dem Abend war ich so wütend, daß ich ihn ohne weiteres umgebracht hätte, und das hat er gewußt. Schon mal Lust gehabt, jemanden umzubringen?«

»Nein.«

»Ich schon. Manchmal hätte ich wirklich Lust, meinen Vater umzubringen.« Mit einem benebelten Lächeln sah er auf seinen Teller. »Wissen Sie, was mein Vater für ein Hobby hat? Raten Sie mal!«

Guy hatte keine Lust zu raten. Das Ganze langweilte ihn plötzlich; er wollte allein sein.

»Er sammelt Keksformen!« Bruno kicherte wiehernd. »Keksformen, ehrlich! Er hat eine ganze Sammlung – Pennsylvania Dutch, bayerische, englische, französische, jede Menge ungarische, wo man hinsieht. Eingerahmte Dinger in Tierform über seinem Schreibtisch – Sie wissen schon, die Kekse, die man Kindern kauft. Er hat die Keksfirma angeschrieben, und sie haben ihm einen ganzen Satz Formen geschickt. Und das im Maschinenzeitalter!« Bruno lachte und zog den Kopf ein.

Guy starrte ihn an. Bruno selbst war komischer als das, was er sagte. »Benutzt er sie auch?«

»Was?«

»Backt er damit Plätzchen?«

Bruno juchzte vor Begeisterung. Er wand sich aus seinem Jackett und warf es auf einen der Koffer. Er wirkte kurze Zeit zu erregt, um sprechen zu können, sagte dann aber unerwartet ruhig: »Meine Mutter sagt immer zu ihm, er soll sich um seine Keksformen kümmern.« Schweiß stand wie ein dünner Ölfilm auf seinem glatten Gesicht. Besorgt tastete sein Lächeln sich über den Tisch. »Sind Sie mit Ihrem Essen zufrieden?«

»O ja, sehr«, sagte Guy aufrichtig.

»Schon mal von der Bruno Transforming Company, Long Island, gehört? Stellt Elektrokleingeräte her.«

»Ich glaube nicht.«

»Warum sollten Sie auch? Aber die Firma macht Geld wie Heu. Sind Sie am Geldverdienen interessiert?«

»Nicht besonders.«

»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

»Neunundzwanzig.«

»Tatsächlich? Ich hätte auf älter getippt. Für wie alt halten Sie mich?«

Guy betrachtete ihn höflich. »Etwa vier- oder fünfundzwanzig«, sagte er im Wunsch, Bruno zu schmeicheln, der jünger aussah.

»Ja, bin ich. Fünfundzwanzig. Wollen Sie sagen, daß ich wie fünfundzwanzig aussehe mit – mit diesem Ding mitten auf dem Kopf?« Bruno nagte mit den Zähnen an seiner Unterlippe. Ein mißtrauisches Glitzern trat in seine Augen, und unvermittelt hielt er die Hand voll schmerzlicher Scham vor die Stirn. Er sprang auf und trat vor den Spiegel. »Ich wollte was drübertun.«

Guy sagte etwas Beruhigendes, aber Bruno betrachtete sich weiter von allen Seiten im Spiegel und litt dabei Folterqualen. »Das kann unmöglich ein Pickel sein«, sagte er näselnd. »Es muß ein Furunkel sein, ein Geschwür. Alles, was ich hasse und was in mir hochkommt! Eine wahre Geißel Gottes!«

»Na, na!« Guy lachte.

»Montag abend nach dem Streit, da fing es an, und es ist immer schlimmer geworden. Ich wette, das gibt eine Narbe.«

»Nein, sicher nicht.«

»Doch, ganz sicher. Schön werde ich damit in Santa Fe aussehen!« Jetzt saß er mit geballten Fäusten auf seinem Stuhl, ein Bein schwerfällig ausgestreckt, in einer Pose finsteren Brütens.

Guy ging im Abteil umher und schlug eines der Bücher auf dem Fenstersitz auf. Es war ein Kriminalroman, wie die anderen Bücher auch. Als er ein paar Zeilen lesen wollte, verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen, und er schloß das Buch. Er mußte ganz schön viel getrunken haben, dachte er. Aber an diesem Abend war ihm das letztlich egal.

»In Santa Fe«, sagte Bruno, »geh ich in die vollen. Wein, Weib und Gesang, hoho!«

»Und was wollen Sie wirklich?«

»Irgendwas.« Brunos Mund verzog sich zu einer häßlichen Grimasse der Sorglosigkeit. »Alles. Ich habe eine Theorie, daß man im Leben alles ausprobieren soll, was möglich ist, und vielleicht sogar den Tod finden sollte, weil man das wirklich Unmögliche versucht.«

Etwas in Guy reagierte ungestüm und zog sich dann vorsichtig zurück. Er fragte behutsam: »Wie was?«

»Zum Beispiel eine Mondfahrt mit einer Rakete. Oder ein Geschwindigkeitsrekord im Autofahren – mit verbundenen Augen. Das hab ich selbst mal gemacht. Keinen Rekord aufgestellt, aber hundertsechzig Sachen bin ich gefahren.«

»Mit verbundenen Augen?«

»Und eingebrochen bin ich einmal.« Bruno stierte Guy unverwandt an. »Wie ein Profi. In ein Apartment.«

Auf Guys Lippen begann sich ein ungläubiges Lächeln abzuzeichnen, obwohl er Bruno glaubte. Bruno konnte gewalttätig sein. Und er konnte unzurechnungsfähig sein. Verzweiflung, dachte Guy, nicht Unzurechnungsfähigkeit. Die aus Langeweile geborene Verzweiflung der Reichen, wie er oft zu Anne sagte, die den Wunsch nach Zerstörung statt nach Erschaffen erzeugte und die so gut wie Mangel zum Verbrechen führen konnte.

»Nicht um irgendwas zu stehlen«, sprach Bruno weiter. »Was ich mitgenommen habe, wollte ich gar nicht. Ich habe extra lauter Sachen genommen, die ich nicht haben wollte.«

»Was haben Sie mitgenommen?«

Bruno zuckte die Achseln. »Ein Tischfeuerzeug. Und eine Statue vom Kaminsims. Farbiges Glas. Und noch was.« Erneutes Achselzucken. »Außer Ihnen weiß niemand davon. Ich bin nicht redselig. Wette, Sie denken das Gegenteil.« Er lächelte.

Guy zog an seiner Zigarette. »Wie haben Sie das gemacht?«

»Das Apartmenthaus in Astoria beobachtet, bis die Luft rein war, und dann bin ich durch das Fenster eingestiegen. Von der Feuerleiter aus. Ganz einfach. Eine Sache, die ich von meiner Liste streichen kann, Gott sei Dank.«

»Warum ›Gott sei Dank‹?«

Bruno grinste schüchtern. »Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe.« Er schenkte erst sich, dann Guy nach.

Guy sah auf die ungelenken, zitternden Hände mit den bis ins Fleisch abgebissenen Nägeln, Hände, die gestohlen hatten. Sie spielten ungeschickt mit einem Streichholzheftchen und ließen es wie die Hände eines Kleinkinds auf das aschebesprenkelte Steak fallen. Wie uninteressant das Verbrechen letztlich war, dachte Guy. Wie motivlos oft genug. Ein bestimmter Typus wurde zum Verbrecher. Und wer hätte aus Brunos Händen oder seinem Abteil oder seinem häßlichen, wehmütigen Gesicht darauf schließen können, daß er gestohlen hatte? Guy ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen.

»Erzählen Sie mir was von sich«, bat Bruno freundlich.

»Da gibt es nichts zu erzählen.« Guy holte eine Pfeife aus seiner Jackettasche, klopfte sie an seinem Absatz aus, bemerkte die Asche auf dem Teppich und vergaß sie. Der Alkohol verbreitete einen wohligen Schauder in seinem ganzen Körper. Er dachte, wenn der Palm-Beach-Auftrag klappte, würden die zwei Wochen bis zum Arbeitsbeginn schnell vergehen. Eine Scheidung würde nicht zuviel Zeit beanspruchen. Die Anordnung der niedrigen weißen Häuser auf dem grünen Rasen seines Entwurfs war seinem Geist in allen Einzelheiten vertraut, ohne daß er es herbeibeschwören mußte. Er fühlte sich undeutlich geschmeichelt, auf unerklärliche Weise sicher und vom Schicksal begünstigt.

»Was für Häuser bauen Sie?« fragte Bruno.

»Ach, was man so modern nennt. Ich habe bis jetzt ein paar Ladengeschäfte und ein kleineres Bürogebäude entworfen.« Guy lächelte; er empfand nichts von der Unlust, dem leisen Groll, die ihn sonst überkamen, wenn man ihn über seine Arbeit befragte.

»Verheiratet?«

»Nein. Das heißt, ja. Getrennt.«

»Oh, warum?«

»Wir passen nicht zueinander«, erwiderte Guy.

»Wie lange sind Sie getrennt?«

»Seit drei Jahren.«

»Wollen Sie sich scheiden lassen?«

Guy zögerte und runzelte die Stirn.

»Lebt sie in Texas?«

»Ja.«

»Besuchen Sie sie jetzt?«

»Ich besuche sie. Wir wollen uns scheiden lassen.« Er biß sich auf die Lippen. Warum hatte er das gesagt?

Bruno feixte. »Was für Mädchen findet man denn in Texas?«

»Sehr hübsche Mädchen«, antwortete Guy. »Manche zumindest.«

»Aber nicht die Hellsten, was?«

»Manche schon.« Er lächelte inwendig. Miriam war die Art von Mädchen, auf die Bruno anzuspielen schien.

»Und zu welcher Sorte gehört Ihre Frau?«

»Sie ist ziemlich hübsch«, sagte Guy bedächtig. »Rothaarig. Etwas füllig.«

»Und wie heißt sie?«

»Miriam. Miriam Joyce.«

»Hm, hm. Clever oder dämlich?«

»Sie ist keine Intellektuelle. Ich wollte keine Intellektuelle heiraten.«

»Und Sie waren wie irre in sie verliebt, was?«

Warum? War ihm das anzumerken? Brunos Augen waren auf ihn geheftet, ließen sich nichts entgehen, ohne zu blinzeln, als hätte ihre Erschöpfung den Punkt überschritten, wo es einen nach Schlaf verlangt. Guy kam es vor, als hätten diese grauen Augen ihn seit unzähligen Stunden studiert. »Warum sagen Sie das?«

»Sie sind ein anständiger Kerl. Sie machen nichts halb. Sie machen sich’s auch mit den Frauen nicht leicht, stimmt’s?«

»Was verstehen Sie darunter?« wehrte er ab, aber er spürte auf der Stelle Zuneigung zu Bruno, weil dieser gesagt hatte, was er von ihm dachte. Guy wußte, daß die meisten nicht sagten, was sie von ihm dachten.

Bruno hob hilflos die Hände und seufzte.

»Was meinen Sie damit?« wiederholte Guy.

»Mit Haut und Haar und den höchsten Erwartungen. Und dann erleben Sie Ihr blaues Wunder. Stimmt’s?«

»Nicht ganz.« Trotzdem saß ihm ein Kloß von Selbstmitleid in der Kehle, und er stand auf und nahm sein Glas. In dem engen Abteil konnte man sich nicht bewegen. Das Schlingern des Zugs machte sogar das Stehen schwierig.

Und Bruno starrte ihn unverwandt an, schaukelte mit einem seiner altmodischen Füße, ein Bein über das andere geschlagen, und klopfte immer wieder gegen die Zigarette, die er über seinen Teller hielt. Das angegessene rosigschwärzliche Steak wurde allmählich unter dem Ascheregen begraben. Guy argwöhnte, daß Bruno weniger freundlich wirkte, seit er erfahren hatte, daß Guy verheiratet war. Und neugieriger.

»Wie war das mit Ihrer Frau? Hat sie sich mit anderen Kerlen eingelassen?«

Brunos Treffsicherheit irritierte ihn obendrein. »Nein. Im übrigen ist das alles längst vorbei.«

»Aber Sie sind immer noch mit ihr verheiratet. War die Scheidung vorher nicht möglich?«

Guy empfand sofort Scham. »Ich habe mich bisher nicht besonders dafür interessiert.«

»Und was ist passiert?«

»Sie ist plötzlich der Ansicht, daß sie sich scheiden lassen will. Ich glaube, sie erwartet ein Kind.«

»Oho. Guter Zeitpunkt, was? Treibt sich seit drei Jahren mit Männern rum und hat es endlich geschafft, einen festzunageln?«

Natürlich war genau das geschehen, und wahrscheinlich wäre es ihr ohne die Schwangerschaft nicht gelungen. Wie kam es, daß Bruno das wußte? Guy hatte den Eindruck, daß Bruno die Haßgefühle, die er jemandem entgegenbrachte, den er kannte, und das, was er von dieser Person wußte, auf Miriam übertrug. Guy sah zum Fenster, das ihm nichts als das eigene Gesicht zeigte. Er spürte, daß sein Herzschlag seinen Körper erschütterte, nachhaltiger als die Vibrationen des Zugs. Vielleicht, dachte er, klopfte sein Herz so, weil er noch nie jemandem so viel von Miriam erzählt hatte. Er hatte Anne nie soviel erzählt, wie Bruno inzwischen wußte. Aber Miriam war einmal anders gewesen – reizend, loyal, einsam, und sie hatte ihn so dringend gebraucht wie die Freiheit von ihrer Familie. Morgen würde er Miriam sehen, sie berühren können, indem er die Hand ausstreckte. Der Gedanke, ihr allzu weiches Fleisch, das er einst geliebt hatte, zu berühren, war ihm unerträglich. Plötzlich überwältigte ihn ein Gefühl des Versagens.

»Was ist mit Ihrer Ehe schiefgegangen?« fragte Brunos Stimme leise. »Es interessiert mich sehr, als Freund. Wie alt war sie?«

»Achtzehn.«

»Hat sie Sie von Anfang an betrogen?«

Guy zuckte zusammen, als hätte er Miriams Schuld auf sich zu nehmen. »Das ist nicht das einzige, was Frauen tun können.«

»Aber sie hat es getan, oder?«

Angewidert und gleichzeitig fasziniert wandte Guy den Blick ab. »Ja.« Wie scheußlich das kleine Wort klang, das in seinen Ohren hallte!

»Ich kenne die Rothaarigen aus dem Süden«, sagte Bruno, der in seinem Apfelkuchen stocherte.

Wieder war Guy sich eines schmerzlichen und völlig sinnlosen Schamgefühls bewußt. Sinnlos, weil nichts, was Miriam getan oder gesagt haben mochte, Bruno überraschen oder in Verlegenheit bringen würde. Bruno schien keine Überraschung zu kennen, nur zunehmendes Interesse.

Bruno sah mit diskreter Belustigung auf seinen Teller. Seine Augen wurden groß und strahlten, so gut sie es trotz der Augenringe und der blutigen Äderchen vermochten. »Die Ehe«, seufzte er.

Auch das Wort »Ehe« hallte Guy in den Ohren. Für ihn war es ein feierliches, ein ernstes Wort, so gewichtig wie die Wörter heilig, Liebe oder Sünde. Ehe, das war Miriams runder, terrakottaroter Mund, der sagte: »Warum soll ich mir deinetwegen das Leben schwermachen?« Und Annes Augen, wenn sie sich die Haare aus dem Gesicht strich und vom Rasen ihres Hauses, wo sie Krokusse pflanzte, zu ihm aufsah. Das war Miriam, die in dem Zimmer in Chicago von dem hohen, schmalen Fenster zurücktrat und ihr herzförmiges, sommersprossiges Gesicht zu seinem Gesicht emporwandte, wie sie es immer tat, wenn sie ihn anlog, und Steves länglicher, dunkelhaariger Kopf mit dem unverschämten Lächeln. Erinnerungen begannen auf ihn einzustürmen, und am liebsten hätte er sie mit erhobenen Händen abgewehrt. Das Zimmer in Chicago, wo alles passiert war … Er konnte den Raum riechen mit Miriams Parfüm und der Hitze der lackierten Heizkörper. Er wehrte sich nicht, reduzierte Miriams Gesicht zum ersten Mal seit Jahren nicht zu einem rosa Flecken. Was würde mit ihm geschehen, wenn er sich von alledem jetzt überschwemmen ließ? Würde es ihn gegen sie wappnen oder ihn kraftlos machen?

»Ich meine es ernst«, sagte Brunos Stimme wie aus der Ferne. »Was ist passiert? Es macht Ihnen doch nichts aus, mir davon zu erzählen? Es interessiert mich wirklich.«

Steve war passiert. Guy nahm sein Glas in die Hand. Er sah den Nachmittag in Chicago, von der Türeinfassung gerahmt, ein Bild, das inzwischen grau und schwarz wie eine Fotografie war. Der Nachmittag, an dem er sie in dem Apartment überrascht hatte, der keinem anderen Nachmittag gleich war, mit seiner eigenen Farbe, seinem eigenen Geschmack und Ton, seiner eigenen Welt, als wäre er ein abscheuliches kleines Kunstwerk. Wie ein historisches Datum mit seinem festen Platz in der Zeit. Oder verhielt es sich genau umgekehrt, und das Geschehene war immer bei ihm? Denn hier war es, so deutlich wie je zuvor. Und was das schlimmste war, er spürte den Wunsch, alles Bruno zu erzählen, dem Fremden im Zug, der zuhören, bedauern und vergessen konnte. Die Vorstellung, es Bruno zu erzählen, begann etwas Tröstliches zu haben. Bruno war keineswegs der normale Fremde im Zug; er war grausam und verderbt genug, um eine Geschichte wie die seiner ersten Liebe schätzen zu können. Und Steve war nur der überraschende Schluß, der alles übrige plausibel machte. Steve war nicht der erste, mit dem sie ihn betrogen hatte. An jenem Nachmittag war ihm nur sein sechsundzwanzigjähriger Stolz um die Ohren geflogen. Tausendmal hatte er sich die Geschichte erzählt, eine klassische Geschichte, eine dramatische Geschichte trotz seiner Dummheit. Seine Dummheit sorgte erst für die Komik.

»Ich habe sie überfordert«, sagte Guy obenhin, »und das war mein Fehler. Sie war eben geltungssüchtig. Vermutlich wird sie bis ins Grab flirten, egal, mit wem.«

»Verstehe, die ewige High-School-Biene.« Bruno wedelte mit der Hand. »Kann nicht einmal auch nur so tun, als könnte sie treu sein.«

Guy sah ihn an. Früher einmal hatte Miriam so getan.

Unvermittelt gab er den Gedanken auf, Bruno alles zu erzählen, und schämte sich, daß er es fast getan hätte. Bruno wirkte inzwischen eher desinteressiert; er hockte zusammengesackt auf seinem Stuhl und malte mit einem Streichholz Muster in die Sauce auf seinem Teller. Die im Profil sichtbare herabgezogene Mundhälfte verkroch sich wie bei einem alten Mann zwischen Nase und Kinn. Der Mund schien zu sagen, daß die Geschichte ihm egal sei, daß er nicht länger Lust habe, sie anzuhören.

»Solche Frauen«, brummte Bruno, »ziehen die Männer an, wie ein Mülleimer Fliegen anzieht.«

2

Brunos Worte bewirkten einen Schock; Guy fühlte sich wie in zwei Hälften gespalten. »Sie haben wohl selbst schon unangenehme Erfahrungen gemacht«, bemerkte er, doch es fiel ihm schwer, sich einen Bruno vorzustellen, der unter Frauengeschichten litt.

»Ach, mein Vater hatte eine von der Sorte. Eine Rothaarige. Hieß Carlotta.« Er blickte auf; der Haß auf seinen Vater durchdrang seine Benebeltheit wie ein Stachel. »Nett, nicht wahr? Männer wie er sind schuld daran, daß es solche Frauen gibt.«

Carlotta. Jetzt, dachte Guy, begriff er, warum Bruno Miriam verabscheute. Dies war der Schlüssel zu Brunos Persönlichkeit, zu seinem Haß auf den Vater und zu seiner verspäteten Entwicklung.

»Es gibt zwei Sorten Männer!« brüllte Bruno und hielt inne.

Guy erblickte sich selbst in einem schmalen Stück Spiegel. Seine Augen sahen erschrocken aus, fand er, und sein Mund war verkniffen; er zwang sich zu einer entspannteren Haltung. Ein Golfschläger drückte sich in seinen Rücken. Er befühlte mit den Fingerspitzen die kühle lackierte Oberfläche. Das Metall im dunklen Holz erinnerte ihn an das Kompaßhäuschen auf Annes Segelboot.

»Aber eigentlich nur eine Sorte Frauen!« fuhr Bruno fort. »Falsche Schlangen. Entweder sie hintergehen einen, oder man hat eine Hure erwischt! Viel Vergnügen!«

»Und was ist mit Frauen wie Ihrer Mutter?«

»Es gibt keine zweite Frau wie meine Mutter«, verkündete Bruno. »Keine andere Frau hat soviel ertragen. Und obendrein sieht sie blendend aus, hat jede Menge Freunde, aber würde sich nie mit einem von denen einlassen.«

Schweigen.

Guy klopfte eine Zigarette gegen seine Uhr und sah dabei, daß es halb elf war. Er mußte gehen.

»Wie sind Sie Ihrer Frau auf die Schliche gekommen?« Bruno schielte zu ihm hoch.

Guy ließ sich beim Anzünden seiner Zigarette Zeit.

»Wie viele andere gab es?«

»Einige. Bevor ich es merkte.« Und gerade als er sich einredete, daß es ihm überhaupt nichts ausmachte, jetzt darüber zu sprechen, begann ihn ein Gefühl wie ein kleiner Strudel zu verstören. Undeutlich, aber wahrer als die Erinnerung, weil er darüber gesprochen hatte. War es Stolz? Haß? Oder nur Ärger über sich selbst, daß er sich Gefühlen hingab, die so sinnlos waren? Er lenkte das Gespräch von sich ab. »Erzählen Sie mir, was Sie noch im Leben vorhaben.«

»Noch im Leben vorhaben? Ich will doch nicht sterben! Ich hab ein paar todsichere Sachen auf Lager. Ich könnte jederzeit in Chicago oder New York ganz groß einsteigen oder einfach meine Ideen verkaufen. Und außerdem habe ich eine Menge Ideen für perfekte Morde.« Bruno blickte wieder mit dem starren Blick auf, der zu Widerspruch herauszufordern schien.

»Ich hoffe, Ihre Einladung an mich ist nicht Bestandteil eines Ihrer Pläne.« Guy setzte sich.

»Menschenskind, Sie mag ich doch, Guy! Ehrlich!«

Das wehmütige Gesicht flehte Guy an zu sagen, auch er möge den anderen. Diese Einsamkeit in den kleinen, gequälten Augen! Guy sah beschämt auf seine Hände. »Denken Sie oft solche Dinge?«

»Wo denken Sie hin! Ich habe nur manchmal Lust, Dinge zu tun wie – nun ja, einfach jemandem tausend Dollar geben, einem Bettler. Wenn ich über mein eigenes Geld verfügen kann, will ich das als erstes tun. Aber hatten Sie noch nie den Wunsch, irgendwas zu stehlen oder jemanden umzubringen? Das kann doch gar nicht sein. Jeder denkt so was irgendwann. Glauben Sie nicht, daß manche Leute es spannend finden, im Krieg andere umzubringen?«

»Nein«, sagte Guy.

Bruno überlegte. »Na ja, zugeben würde das sicher niemand, aber nur aus Angst! Aber Sie haben sicher Leute gekannt, die Sie am liebsten zum Teufel geschickt hätten, oder?«

»Nein.« Steve schon, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte sogar daran gedacht, ihn zu ermorden.

Bruno legte den Kopf schief. »Klar haben Sie das. Kann ich doch sehen. Warum wollen Sie’s abstreiten?«

»Mag sein, daß ich solche Gedanken hatte, aber ich hätte sie nie in die Tat umgesetzt. So einer bin ich nicht.«

»Und genau da täuschen Sie sich! Jeder kann einen Mord begehen. Das hängt nur von den Umständen ab, hat rein gar nichts mit Temperament oder Veranlagung zu tun. Man kommt an einen bestimmten Punkt, und dann braucht es nur den sprichwörtlichen Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Bei jedem. Sogar bei Ihrer eigenen Großmutter. Ich kenn mich da aus.«

»Ich kann Ihre Ansichten leider nicht teilen«, sagte Guy mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich schwöre Ihnen, daß ich schon tausendmal kurz davor war, meinen Vater zu ermorden! Wen hätten Sie am liebsten ermordet? Die Kerle, mit denen Ihre Frau rumzieht?«

»Einen davon«, flüsterte Guy.

»Und wie weit ging das?«

»Überhaupt nicht weit. Es war nur ein Gedanke.« Er erinnerte sich an die schlaflosen Nächte, Hunderte schlafloser Nächte, daran, daß er gedacht hatte, er würde keinen Seelenfrieden finden, bevor er sich nicht gerächt hätte. War er damals kurz davor gewesen, ein Verbrechen zu begehen? Er hörte Brunos Stimme, die flüsterte: »Sie waren viel näher dran, als Sie glauben, das kann ich Ihnen verraten.« Guy sah ihn verblüfft an. Bruno sah so ungesund und übernächtigt aus wie ein Croupier, wie er mit aufgestützten Ellbogen und hängendem Kopf am Tisch lümmelte. »Sie lesen zu viele Kriminalromane«, sagte Guy und fragte sich, wer die Worte gesagt hatte, als er sie hörte.

»Prima Bücher. Beweisen, daß jeder einen Mord begehen kann.«

»Das ist der Grund, weshalb ich diese Bücher schon immer schlecht fand.«

»Völliger Irrtum!« sagte Bruno ungehalten. »Wissen Sie, welcher Prozentsatz aller Morde publik wird?«

»Nein, und es interessiert mich auch nicht.«

»Ein Zwölftel. Ein Zwölftel! Stellen Sie sich das mal vor! Und wer sind die übrigen elf Zwölftel? Lauter kleine Leute, für die sich niemand weiter interessiert. Alle, von denen die Polizei weiß, daß sie sie nie fassen wird.« Er wollte Scotch nachgießen, merkte, daß die Flasche leer war, und richtete sich mühsam auf. Ein goldenes Federmesser an einer fadendünnen Goldkette blitzte, als er es aus der Hosentasche zog. Guy betrachtete es mit dem gleichen ästhetischen Vergnügen, das er einem schönen Schmuckstück entgegengebracht hätte. Und als er zusah, wie Bruno die Kapsel einer Scotchflasche aufschlitzte, dachte er unwillkürlich, daß Bruno eines Tages sehr wohl einen Mord mit dem kleinen Federmesser begehen konnte und sehr wahrscheinlich nicht gefaßt werden würde, weil es ihm egal wäre, ob man ihn faßte oder nicht.

Bruno drehte sich grinsend um, die neue Flasche in der Hand. »Kommen Sie doch mit nach Santa Fe, um ein paar Tage auszuspannen.«

»Vielen Dank, das kann ich nicht.«

»Ich hab genug Kohle dabei. Sie sind mein Gast, einverstanden?« Er verschüttete Scotch auf dem Tisch.

»Danke«, sagte Guy. Er nahm an, daß Bruno aus seiner Kleidung schloß, er habe nicht viel Geld. Die graue Flanellhose war seine Lieblingshose. Er wollte sie in Metcalf tragen und auch in Palm Beach, falls es nicht zu warm war. Er lehnte sich zurück, steckte die Hände in die Hosentaschen und entdeckte in der rechten Tasche ein Loch.

»Warum nicht?« Bruno reichte ihm sein gefülltes Glas. »Ich kann Sie wirklich gut leiden, Guy.«

»Warum?«

»Weil Sie in Ordnung sind. Ich meine, anständig und so. Ich kenne ’ne Menge Knaben, aber keinen wie Sie. Ich bewundere Sie«, entschlüpfte es ihm, und er verbarg den Mund hinter dem Glasrand.

»Ich kann Sie auch gut leiden«, sagte Guy.

»Also kommen Sie mit? Ich habe nichts Besonderes vor, bis meine Mutter kommt, in ein paar Tagen. Wir können tun und lassen, was wir wollen.«

»Suchen Sie sich jemand anders als Begleitung.«

»Mensch, Guy, was denken Sie von mir? Daß ich rumlaufe und mir Reisegefährten suche? Ich mag Sie; deshalb habe ich Sie gefragt, ob Sie Lust haben mitzukommen. Nur für einen Tag. Ich kann von Metcalf gleich rüberfahren, ohne Abstecher nach El Paso. Hab den Auftrag, den Canyon zu besichtigen.«

»Vielen Dank, aber ich habe gleich nach Metcalf tatsächlich einen Auftrag.«

»Oh.« Wieder das wehmütige, bewundernde Lächeln. »Was zu bauen?«

»Ja, einen Country Club.« Es klang noch immer unvertraut und fremd; vor kaum zwei Monaten hätte er ein solches Gebäude am allerletzten mit sich in Verbindung gebracht. »Das neue Palmyra in Palm Beach.«

»Wirklich?«

Selbstverständlich wußte Bruno, was der Palmyra-Club war, der größte Club von Palm Beach. Er wußte sogar, daß ein neues Gebäude geplant war. Im alten Clubhaus war er ein paarmal gewesen.

»Das bauen Sie?« Er blickte wie ein kleiner Junge, der seinem Helden begegnet, zu Guy hinunter. »Können Sie es mir aufmalen?«

Guy kritzelte eine flüchtige Skizze des Gebäudes hinten in Brunos Adreßbuch und signierte sie auf Brunos Bitte. Er erklärte ihm, daß eine Wand entfernt würde, um das Erdgeschoß in einen einzigen Tanzsaal zu verwandeln, der die Terrasse einbezog, erklärte ihm die Fenster mit Luftschlitzen, die er genehmigt zu bekommen hoffte, weil sie eine Klimaanlage überflüssig machen würden. Beim Reden erwärmte er sich, Tränen der Erregung traten ihm in die Augen, obwohl er seine Stimme in der Gewalt hatte. Wie kam es, daß er so vertraut zu Bruno sprach, fragte er sich, und ihm enthüllte, was das Beste an ihm war? Wer war weniger geeignet, so etwas zu verstehen, als Bruno?

»Klingt toll«, sagte Bruno. »Heißt das, daß Sie zu bestimmen haben, wie das Ganze aussieht?«

»Nein. Man muß es einer Menge Leuten recht machen.« Guy legte plötzlich den Kopf in den Nacken und lachte.

»Sie werden sicher mal berühmt, was? Sind wahrscheinlich jetzt schon berühmt.«

Die Zeitschriften würden Fotos bringen; vielleicht würde das Projekt auch in den Wochenschauen erwähnt. Seine Entwürfe waren noch nicht weitergereicht, ermahnte er sich, aber er war davon überzeugt, daß dem nichts im Weg stand. Myers, der Architekt, mit dem er sich in New York das Büro teilte, war davon überzeugt, und Anne war sich ganz sicher. Der gleiche galt für Mr. Brillhart. Es war der größte Auftrag seiner Laufbahn. »Vielleicht werde ich nach dieser Geschichte berühmt. So etwas wird gern an die große Glocke gehängt.«

Bruno begann ihm eine umständliche Geschichte über seine Collegezeit zu erzählen und darüber, daß er Fotograf geworden wäre, wenn nicht irgendwann irgend etwas mit seinem Vater vorgefallen wäre. Guy hörte nicht zu. Er nippte geistesabwesend an seinem Drink und träumte von den Aufträgen, die er nach Palm Beach erhalten würde. Möglicherweise schon bald ein Bürogebäude in New York. Er hatte eine Idee für ein Bürogebäude in New York, die er nur zu gerne verwirklichen würde. Guy Daniel Haines. Kein Niemand mehr. Vorbei das unangenehme und nie ganz gewichene Bewußtsein, daß er weniger Geld hatte als Anne.

»Wäre es das nicht, Guy?« wiederholte Bruno.

»Wäre es was?«

Bruno holte Luft. »Wenn Ihre Frau Ihnen jetzt mächtig Ärger wegen der Scheidung machen würde, beispielsweise wenn sie jetzt mit Ihnen Streit anfangen würde, während Sie in Palm Beach sind, und schuld daran wäre, daß Sie den Job verlieren – wäre das kein richtiges Motiv für einen Mord?«

»An Miriam?«

»Klar.«

»Nein«, sagte Guy. Aber die Frage beunruhigte ihn. Er befürchtete, daß Miriam über seine Mutter von dem Auftrag erfahren haben könnte und versuchen würde, sich einzumischen, weil es ihr Spaß machte, ihn zu verletzen.

»Als sie Sie hintergangen hat, war Ihnen da nicht danach zumute, sie umzubringen?«

»Nein. Können Sie nicht endlich damit aufhören?« Für einen Augenblick sah Guy beide Hälften seines Lebens, seine Ehe und seine Karriere, nebeneinander, wie er sie noch nie gesehen hatte. In seinem Hirn drehte sich alles schwindelerregend beim Versuch zu begreifen, wie er so dumm und hilflos auf dem einen Gebiet sein konnte, während er auf dem anderen so fähig war. Er warf einen Blick auf Bruno, der ihn noch immer anstarrte; ihm war schwindelig; er stellte sein Glas ab und schob es weg.

»Aber den Wunsch müssen Sie gehabt haben«, sagte Bruno mit der sanften Beharrlichkeit des Betrunkenen.

»Nein.« Guy wäre am liebsten ausgestiegen und spazierengegangen, aber der Zug fuhr immer weiter geradeaus, als würde er nie mehr anhalten. Angenommen, Miriam sorgte dafür, daß er den Auftrag verlor. Er mußte einige Monate lang dort wohnen, und man würde erwarten, daß er mit den Hoteldirektoren auch gesellschaftlich verkehrte. Bruno wußte über solche Dinge sehr gut Bescheid. Er fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Das Problem bestand darin, daß er nicht wissen konnte, was in Miriams Kopf vorging, bevor er sie gesehen hatte. Er war müde, und wenn er müde war, hatte Miriam leichtes Spiel mit ihm. Das war oft genug in den zwei Jahren geschehen, die er gebraucht hatte, um von seiner Liebe zu ihr loszukommen, und es geschah jetzt wieder. Er ekelte sich vor Bruno. Bruno lächelte ihm zu.

»Soll ich Ihnen eine meiner Ideen für einen Mord an meinem Vater erzählen?«

»Nein«, sagte Guy. Er legte seine Hand über das Glas, das Bruno nachfüllen wollte.

»Welche ist Ihnen lieber – die mit der Glühbirnenfassung im Bad unter Strom oder die mit der Kohlenmonoxydvergiftung in der Garage?«

»Tun Sie es endlich, und hören Sie auf, darüber zu reden!«

»Ich tu es schon noch, glauben Sie bloß nicht, ich täte es nicht! Wissen Sie, was ich eines Tages noch tun werde? Ich werd mich umbringen, wenn ich mal vom Leben genug habe, und das Ganze so einrichten, daß es aussieht, als hätte mein ärgster Feind mich umgebracht.«

Guy betrachtete ihn angewidert. Bruno schien sich an den Rändern aufzulösen, als würde er zerfließen. Nun war er nur noch eine Stimme und ein Geist, der Geist des Bösen. Alles, was er verachtete, dachte Guy, war in Bruno verkörpert. Alles, was er gewiß nie sein wollte, war Bruno, oder er würde es eines Tages sein.

»Soll ich Ihnen den perfekten Mord an Ihrer Frau austüfteln? Könnten ihn irgendwann mal brauchen, wer weiß.« Unter Guys forschendem Blick wand Bruno sich wie ein Aal.

Guy stand auf. »Ich muß mich bewegen.«

Bruno klatschte schwerfällig in die Hände. »He! Mensch, ich hab’s! Wir morden über Kreuz, verstehen Sie? Ich bringe Ihre Frau um, Sie bringen meinen Vater um! Wir haben uns im Zug kennengelernt, und niemand kann wissen, daß wir uns kennen, verstehen Sie? Zwei perfekte Alibis! Kapiert?«

Die Wand vor seinen Augen bebte rhythmisch, als würde sie gleich zerspringen. Mord. Das Wort verursachte ihm Übelkeit und erschreckte ihn. Er wollte sich von Bruno befreien, das Abteil verlassen, doch er fühlte sich wie gelähmt, so wie in einem Alptraum. Er versuchte sich zu fassen, indem er sich bemühte, die Wand zur Ruhe zu bringen und zu verstehen, was Bruno sagte, da irgendeine Logik hinter dessen Worten verborgen sein mußte, die es wie bei einem Rechenexempel oder bei einem Puzzle herauszufinden galt.

Brunos nikotinverfärbte Hände tanzten und bebten auf seinen Knien. »Wasserdichte Alibis!« kreischte er. »Die genialste Idee, die ich je hatte! Kapieren Sie nicht? Ich kann es für Sie tun, wenn Sie ganz woanders sind, und Sie tun es für mich, während ich nicht da bin.«

Guy begriff. Das konnte wahrscheinlich tatsächlich niemand herausbekommen.

»Es wäre mir wirklich ein Vergnügen, Miriams Karriere zu beenden und Ihre zu fördern.« Bruno kicherte. »Finden Sie nicht auch, daß Schluß sein sollte, bevor sie noch mehr Leute ruiniert? Setzen Sie sich, Guy!«

Sie hat mich nicht ruiniert, wollte Guy einwenden, aber Bruno ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Einfach angenommen, es wäre so. Könnten Sie sich dann vorstellen, es zu tun? Sie würden mir genau erklären, wo sie wohnt, nicht wahr, und ich würde es genauso machen, so daß Sie so gut Bescheid wüßten, als würden Sie selber dort wohnen. Wir könnten überall unsere Fingerabdrücke hinterlassen, und die Polizei könnte rein gar nichts damit anfangen!« Er kicherte ausgelassen. »Natürlich mit mehreren Monaten Abstand und ohne jede Verbindung zwischen uns. Herrgott, es wäre das reine Kinderspiel!« Er stand auf und fiel beinahe um, als er nach seinem Glas griff. Dann sagte er mit erdrückender Vertraulichkeit ganz nah an Guys Gesicht: »Sie könnten es, stimmt’s? Ohne jeden Haken, das schwöre ich. Ich würde alles tipptopp vorbereiten, wirklich, Guy.«

Guy schubste ihn weg, schroffer, als er beabsichtigt hatte. Bruno erhob sich wie ein Stehaufmännchen vom Fensterplatz. Guy rang nach Luft, aber die Wände zeigten ihm keinen Ausweg. Das Abteil war zu einer kleinen Hölle geworden. Was tat er hier? Wie und wann hatte es dazu kommen können, daß er soviel trank?

»Ich bin mir ganz sicher, daß Sie es könnten!« sagte Bruno schmollend.

Verschon mich endlich mit deinen dämlichen Theorien, wollte Guy schreien, doch statt dessen klang seine Stimme wie ein Flüstern: »Ich halte das nicht länger aus.«

Er sah, wie Brunos schmales Gesicht sich merkwürdig verzerrte – zu einem überraschten Schmunzeln, einer Miene, die auf unheimliche Weise allwissend und abstoßend wirkte. Bruno zuckte gutgelaunt die Schultern.

»Ist schon gut. Ich finde die Idee nach wie vor ganz hervorragend. Die Voraussetzungen sind einfach ideal. Das werde ich benutzen, natürlich nicht mit Ihnen. Wohin wollen Sie?«

Guy hatte sich endlich auf die Tür besonnen. Er verließ das Abteil und öffnete die Tür zur Plattform, wo die kühle Nachtluft ihn wie eine Rüge traf und das Fahrgeräusch zu lautem Schelten anschwoll. Er verwünschte sich laut in Wind- und Zuggeräusch hinein und hätte sich am liebsten übergeben.

»Guy?«

Als er sich umdrehte, sah er Bruno unsicher an der schweren Tür vorbeischlüpfen.

»Guy, ich will mich entschuldigen.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Guy schnell, weil der Anblick von Brunos Gesicht ihn schockierte: hündisch vor Ergebenheit.

»Tausend Dank, Guy.« Bruno senkte den Kopf; im gleichen Augenblick begann das Hämmern der Räder nachzulassen, und Guy hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.

Er war unendlich erleichtert, daß der Zug anhielt. Er klopfte Bruno auf die Schulter. »Wollen wir etwas frische Luft schöpfen?«

Sie traten in eine Welt der Stille und völliger Schwärze.

»Was ist das für eine Schnapsidee?« rief Bruno. »Ich seh nichts!«

Guy blickte auf. Nicht einmal der Mond war zu sehen. Die Kälte machte, daß sein Körper sich straffte und wach wurde. Aus der Ferne hörte er das anheimelnde Geräusch einer Holztür, die zugeschlagen wurde. Vor ihnen wurde aus einem Lichtfunken eine Laterne; ein Mann lief mit der Laterne zum Ende des Zugs, wo ein Lichtquadrat aus einem Güterwaggon fiel. Guy ging langsam auf das Licht zu, und Bruno folgte ihm.

In weiter Ferne heulte eine Lokomotive auf der eintönigen dunklen Prärie, wieder und wieder und dann, weiter weg, noch einmal. Diese Töne erinnerte er aus seiner Kindheit in ihrer Schönheit, Reinheit und Einsamkeit. Wie ein wildes Pferd, das sich unter einem weißen Reiter aufbäumte. Mit plötzlichem Kameradschaftsgefühl nahm Guy Brunos Arm.

»Ich will nicht laufen!« schrie Bruno, der sich losriß und stehenblieb. In der frischen Luft ging es ihm wie einem Fisch auf dem Trockenen.

Der Zug fuhr an. Guy schob Brunos großen, schlaffen Körper auf die Plattform.

»Schlummertrunk?« fragte Bruno niedergeschlagen vor seiner Abteiltür, obwohl er aussah, als würde er vor Müdigkeit fast umfallen.

»Danke, auf keinen Fall.«

Grüne Vorhänge schluckten ihre geflüsterten Worte.

»Vergessen Sie nicht, mich morgen früh zu wecken. Ich laß die Tür offen. Wenn ich nicht antworte, kommen Sie rein, ja?«

Guy taumelte auf dem Weg zu seiner Koje in die grünen Vorhänge.

Aus Gewohnheit dachte er an sein Buch, als er sich hinlegte. Er hatte es in Brunos Abteil liegenlassen. Seinen Platon. Die Vorstellung, daß das Buch die Nacht in Brunos Abteil verbrachte, daß Bruno es berühren und öffnen konnte, paßte ihm gar nicht.

3

Er hatte Miriam unverzüglich angerufen, und sie hatte mit ihm ein Treffen vor der High-School vereinbart, die zwischen ihrem und seinem Haus lag.

Jetzt stand er wartend an einer Ecke des asphaltierten Sportplatzes. Natürlich würde sie sich verspäten. Er fragte sich, warum sie die High-School ausgesucht hatte. Weil das ihr Terrain war? Als er sie hier zu erwarten pflegte, hatte er sie geliebt.

Der Himmel über ihm war von ungetrübtem, intensivem Blau. Die Sonne ergoß sich wie geschmolzenes Metall, nicht gelb, sondern farblos, als hätte die Hitze sie der Farbe beraubt. Hinter den Bäumen sah er die Spitze eines schlanken rötlichen Gebäudes, das er nicht kannte, das errichtet worden war, seit er Metcalf vor zwei Jahren zum letztenmal besucht hatte. Er wandte sich ab. Kein Mensch war zu sehen, als hätte die Hitze alle aus dem Schulgebäude und sogar aus den benachbarten Häusern vertrieben. Er betrachtete die breiten grauen Stufen, die aus der dunklen Wölbung der Eingangstür quollen. Er konnte sich an den tintigen, leicht schweißigen Geruch der zerfledderten Kanten von Miriams Algebrabuch erinnern. Er konnte noch immer den Namen MIRIAM sehen, der auf den Schnitt gemalt war, und die Zeichnung von dem Mädchen mit der Wasserwelle auf dem Vorsatzpapier, die ihm als erstes entgegensah, wenn er das Buch aufschlug, um die Aufgaben für sie zu lösen. Wie hatte er glauben können, Miriam würde sich von den anderen unterscheiden?

Er trat durch das breite Tor im Maschendraht und sah erneut die College Avenue entlang, und da erblickte er sie unter den gelbgrünen Bäumen, die den Bürgersteig säumten. Sein Herz begann schneller zu schlagen, aber er blinzelte bewußt gelassen. Sie ging mit ihrem gewohnt gemächlichen Schritt, ohne sich zu beeilen. Jetzt wurde ihr Kopf sichtbar, von einem breiten, hellen Hut eingerahmt. Licht und Schatten sprenkelten ihre Gestalt. Sie winkte ihm lässig zu, und Guy nahm eine Hand aus der Tasche, erwiderte ihr Winken und kehrte auf den Sportplatz zurück; ihm war plötzlich so angespannt und schüchtern zumute wie einem Knaben. Sie weiß über den Palm-Beach-Auftrag Bescheid, dachte er, das ihm fremde Mädchen unter den Bäumen. Vor einer halben Stunde hatte seine Mutter ihm gesagt, daß sie diesen Auftrag beim letzten Telefongespräch mit Miriam erwähnt hatte.

»Hallo, Guy.« Miriam lächelte und schloß schnell die breiten, orangerot angemalten Lippen. Wegen der Lücke zwischen ihren Vorderzähnen, erinnerte er sich.

»Wie geht es dir?« Unabsichtlich blickte er auf ihre Figur, die rundlich war, ohne schwanger zu wirken, und der Gedanke, daß sie gelogen haben könnte, schoß ihm durch den Kopf. Sie trug einen buntgeblümten Rock und eine weiße kurzärmelige Bluse. Ihre große weiße Tasche war aus geflochtenem Lackleder.

Sie setzte sich geziert auf die steinerne Bank, die als