9,99 €
Staubige Straßen, starke Frauen, attraktive Männer - Alissa Callen füllt das Outback mit Leben und Liebe
Für Außenstehende ist Bundara eine heruntergekommene Farm am Ende einer staubigen Straße. Für Dr. Fliss Knight ist sie der dringend benötigte Rückzugsort, ein Paradies im Outback. Sie ist hierher zurückgekehrt, um über den Tod einer Patientin hinwegzukommen und Ruhe zu finden. Nirgendwo könnte es ihr besser gelingen als hier, in der Abgeschiedenheit - wäre da nicht der attraktive Rodeo-Sportler Hewitt, den Fliss’ Schwester engagiert hat, damit er ihr bei der Farmarbeit hilft ...
Ein luftig-leichter Liebesroman aus dem Sehnsuchtsland Australien
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2020
Staubige Straßen, starke Frauen, attraktive Männer – Alissa Callen füllt das Outback mit Leben und Liebe
Für Außenstehende ist Bundara eine heruntergekommene Farm am Ende einer staubigen Straße. Für Dr. Fliss Knight ist sie der dringend benötigte Rückzugsort, ein Paradies im Outback. Sie ist hierher zurückgekehrt, um über den Tod einer Patientin hinwegzukommen und Ruhe zu finden. Nirgendwo könnte es ihr besser gelingen als hier, in der Abgeschiedenheit – wäre da nicht der attraktive Rodeo-Sportler Hewitt, den Fliss’ Schwester engagiert hat, damit er ihr bei der Farmarbeit hilft …
Ein luftig-leichter Liebesroman aus dem Sehnsuchtsland Australien
Alissa Callen lebt in einem kleinen Streifen ländlichen Australiens im Westen von New South Wales. Als ehemalige Lehrerin und Rechtsberaterin interessiert sie sich noch immer für die Lebensgeschichten von Menschen. Daneben hat sie eine Schwäche für historische Häuser und Gärten, für die sie auch stundenlang über ihren Kontinent fährt. Für ihre Romane lässt sie sich von der ländlichen Umgebung um sich herum inspirieren. Wenn sie nicht gerade schreibt, kümmert sie sich um ihre vier Kinder, drei Hunde, zwei Pferde und eine ständig weglaufende Kuh, die denkt, das Gras sei auf der anderen Seite des Zauns tatsächlich grüner.
ALISSA CALLEN
ZWEI HERZEN IM OUTBACK
ROMAN
Aus dem australischen Englisch von Angela Koonen
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Alissa Callen
Titel der australischen Originalausgabe: »Red Dirt Road«
Originalverlag: Harlequin Enterprises (Australia)
First published by Harlequin Enterprises (Australia)
Pty Ltd, Sydney, Australia, in English in 2018.
This German edition published by arrangement with
Harlequin Enterprises (Australia) Pty Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung von Illustrationen von© shutterstock: Jen Watson | Taras Vyshnya | Charcompix | Celli07 | Nella
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8621-9
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Luke
Innerhalb eines Augenblicks kann sich das Leben vollkommen ändern. Für Dr. Felicity Knight geschah das zwischen dem ersten Schrei eines neugeborenen Babys und dem letzten Atemzug von dessen junger Mutter.
Fliss, wie Felicity von ihren Freunden genannt wurde, ging durch den staubigen Flur des Farmhauses, das mittlerweile zu ihrem Zuhause geworden war. Ihre dicken Socken hinterließen verwischte Fußspuren auf dem abgenutzten Boden. Egal, wie oft sie fegte, der feine Sandstaub des Outback wehte durch die undichten Fensterrahmen immer wieder herein. Sie unterdrückte ein Schaudern. Was sich sonst noch durch die Risse und Spalten des alten Gemäuers einen Weg nach drinnen bahnte, wollte sie lieber nicht wissen.
Ihre Schwester Cressy hatte sie immer wieder wegen des Spalts unter der Hintertür gewarnt. Eine Maus und sogar ein Tannenzapfenskink konnten sich dort hindurchzwängen. Und Fliss wollte mit Sicherheit auch keine Bekanntschaft mit einer der braunen Schlangen machen, die sich in ihrem wuchernden Garten heimisch fühlten. Auch wenn sie bisher noch keine von ihnen gesehen hatte, die trockene Schlangenhaut am Tor bewies, dass hier nicht nur die kleinen Prachtstaffelschwänze die Frühlingssonne genossen.
An der Vordertür schlüpfte sie in ihre Arbeitsstiefel. Wegen der dicken Socken musste sie sich regelrecht hineinzwängen. Cressy hatte ihr die dunkelblauen Wollsocken voriges Weihnachten geschenkt. Damals hatte Fliss sich nicht vorstellen können, sie jemals zu tragen, denn da wohnte sie noch in Sydney. In ihrem neuen Leben hatte sie sie sofort hervorgekramt, nachdem sie sich die ersten Blasen gelaufen hatte. Jetzt waren die Socken ihr bevorzugtes Modeaccessoire. Bei ihrem letzten Ausflug nach Woodlea hatte sie sich dann sechs solche Paare gekauft.
Sie stieß die Fliegengittertür auf und trat nach draußen. Die Welt hier war ihr so vertraut, und doch hätte sie vor Kurzem nie gedacht, dass sie noch einmal im Outback leben würde. Hier schrillten keine Sirenen durch eine Landschaft aus Beton. Hier hingen keine Abgase in der Luft. Stattdessen umwehte sie ein frischer warmer Wind, der den süßen Glyzinienduft und die Stille des Buschlands mitbrachte. In den vergangenen zehn Minuten war nur das fröhliche Zwitschern der zwei Nymphensittiche zu hören gewesen, die tief über den Blausteinstall hinweggeflogen waren.
Fliss blieb an der Verandatreppe stehen und blickte hinauf in den granitgrauen Himmel. Die Wolken kündigten noch mehr Regen an. Es war ein nasser Winter gewesen, und jetzt folgte ein nasser Frühling. An den Straßenrändern wuchs üppiges grünes Gras, die Weideböden waren durchweicht und die Bäche vom Regenwasser angeschwollen. Es kam ihr vor, als weinte Mutter Natur die Tränen, die sie selbst nicht fließen lassen konnte.
Bei dem Gedanken wurde sie wieder von Trauer und Angst überschwemmt. Mit weichen Knien ließ sie sich auf die oberste Verandastufe sinken. Sosehr sie auch versuchte, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten, sie kamen immer wieder hoch, wie ein Korken, der unablässig an die Wasseroberfläche drängte. Langsam atmete sie tief ein und aus und ließ die Heiterkeit ihrer Umgebung auf sich wirken.
Sie durfte sich nicht länger in Selbstmitleid ergehen und jede der Entscheidungen anzweifeln, die sie während der Behandlung getroffen hatte. Die Tragödie jener Nacht durfte nicht noch ein Leben zerstören. Das war sie der Familie ihrer Patientin schuldig. Der betrunkene Autofahrer hatte ihnen schon genug genommen. Karl schickte ihr regelmäßig Fotos von der kleinen Jemma, damit sie sah, wie wunderbar das Mädchen sich entwickelte, und um ihr das Gefühl zu nehmen, sie sei für den Tod seiner Frau verantwortlich. Um zu bekräftigen, dass sie alles Menschenmögliche getan hatte.
Es war trotzdem ihre Schuld. Sie hätte mehr tun müssen. Sie hatte das Leben der jungen Mutter nicht gerettet.
Das heisere Tuckern eines Dieselfahrzeugs störte die Stille und durchbrach Fliss’ quälende Erinnerungen. Auf dieses Geräusch hatte sie gewartet. Sie stemmte sich von der Stufe hoch und wischte sich den Hosenboden ab. Großstadtgewohnheiten waren nun einmal schwer abzulegen. Sie hätte die Veranda fegen können, aber der Staub saß tief in den Holzrillen und ließ sich nie endgültig verbannen.
Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken, und Fliss schirmte die Augen mit einer Hand ab, während sie die Zufahrt zu ihrem Hof hinunterspähte. Der Regen der vergangenen Nacht hatte die pulverige rote Erde in zähen dunklen Schlamm verwandelt. Heute Morgen hatte sie törichterweise gedacht, sie könnte zu der Milchkanne am vorderen Tor laufen, um die Post zu holen. Schon nach vier Schritten war sie ausgerutscht und wäre fast aufs Gesicht gefallen.
Das Motorbrummen wurde lauter, als der ehemals weiße Land Cruiser in die Straßensenke steuerte, durch die das Regenwasser strömte. Die Scheibenwischer arbeiteten beständig gegen den Dreck an, der bei der Fahrt auf die Frontscheibe spritzte. Fliss bewunderte, wie geschickt und mühelos ihre jüngere Schwester bei Nässe fuhr. Hätte sie selbst am Steuer gesessen, wäre sie mit Sicherheit in den Straßengraben oder gegen einen Baum gerutscht. Sie wollte nicht enden wie die Unfallopfer, die sie bisher behandelt hatte.
Cressy behielt ihr Tempo bei und steuerte zielstrebig auf den Hof zu. Nur an der Biegung beim Gartentor, wo der Boden aufgeweicht und schlammig war, entschleunigte sie den Wagen, bis die Reifen wieder Halt fanden. Fliss trat von der Veranda herunter und lief auf dem festen Schotterweg. Der Anblick ihres vernachlässigten Rasens erinnerte sie daran, dass sie unbedingt den Machtkampf mit dem launischen Rasenmäher gewinnen musste. Wenn der bei Denham anspringen konnte, dann gefälligst auch bei ihr.
Ihre Schwester hatte den Land Cruiser mittlerweile geparkt und stieg aus. Als Fliss sie sah, breitete sich ein warmes Gefühl in ihrer Brust aus. Anders als Cressy hatte sie keine Farmergene geerbt, aber so verschieden sie waren, hatten sie schon immer eine enge Bindung zueinander gehabt. Cressy war mehr als eine Schwester, sie war Fliss’ beste Freundin, und sie liebte und unterstützte sie bedingungslos.
Der Wind frischte auf und zerrte an Cressys schwarzem Woodlea-Rodeo-Hut, und sie drückte ihn sich fester auf den Kopf. Heute trug sie ihre üblichen Stiefel, ein violettes Arbeitshemd und ausgebleichte Jeans. Ausnahmsweise hatte sie Tippy, ihren betagten Kelpierüden, und die junge Juno nicht bei sich.
»Na du?« Fliss trat durch das Gartentörchen und umarmte ihre Schwester. Cressy roch immer nach Orangenblüten. »Heute ohne Hunde?«
»Ja. Juno hat sich im Schlamm gewälzt. Sie kommt definitiv nicht nach ihrer Schaupudel-Mutter. Tut mir leid, bin spät dran.«
»Macht nichts. Ich war mir nicht sicher, ob du es überhaupt schaffst. Nach dem Regen von heute Nacht stehen die Straßen bestimmt unter Wasser.«
»So ist es.« Cressys hellbraune Augen, die ihren so ähnlich waren, leuchteten auf. »Und es sollte unser kleines Geheimnis bleiben, dass Denhams Land Cruiser auf dem Weg hierher mit dem Heck ein bisschen gerutscht ist.«
»Meine Lippen sind versiegelt. Ich weiß, wie sehr er an dem Wagen hängt.« Als Cressy die Beifahrertür öffnete, entdeckte Fliss mehrere Taschen mit Lebensmitteln auf dem Beifahrersitz. »Aber an dir hängt er mehr.«
Cressy lächelte ihr über die Schulter zufrieden zu, und Fliss versuchte, das brennende Gefühl von Einsamkeit, das in ihr aufstieg, zu ignorieren. Lange Zeit hatte sie sich nur für ihre Karriere als Ärztin interessiert, aber das war nicht der einzige Grund, warum keine ihrer Beziehungen gehalten hatte. Kein Mann hatte sie je so angesehen wie Denham seine Cressy. Und wenn sie ehrlich war, verdiente sie eine so tiefe Liebe auch nicht. Sie hatte immer eine gewisse Zurückhaltung gewahrt. Ihr war noch kein Mann begegnet, den sie atemberaubend fand und für den sie alles aufgeben wollte, um mit ihm zusammen zu sein.
Cressy überreichte ihr ein großes Vorratsglas mit Marmeladenplätzchen. »Liebe Grüße von Meredith.«
»Danke.« Die Plätzchen von Denhams Tante aß sie am liebsten, und sie konnte sich nie mit nur einem begnügen. »Ich brauche dringend eine Zuckerdröhnung.«
Cressy schaute zu der dichten Wolkendecke auf, die jetzt keinen Sonnenstrahl mehr durchließ. »Besser, wir bringen alles schnell ins Haus.«
Nachdem sie die dritte Fuhre in der Küche abgeladen hatten, blickte Fliss auf den großen Sack Nudeln, den sie gerade auf der Sitzbank abgestellt hatte. »Möglich, dass ich wieder vom Wasser eingeschlossen werde, aber das sind genug Vorräte, um ganz Woodlea zu ernähren.«
Ihre Schwester stellte ein paar Tüten auf den Tisch und sah sie ernst an. »Wir haben doch neulich erst darüber gesprochen, wie sehr ich mir Sorgen um dich mache, weil du ganz allein hier draußen bist.«
»Ja. Und wie ich da bereits sagte, ist das kein Problem für mich, wirklich. Ich kann auf mich aufpassen. Ich bin nicht die Risikofreudige von uns beiden, wenn du dich erinnerst.«
»Stimmt.« Schmunzelnd griff Cressy in eine der Einkaufstüten. »Normalerweise machst du dir um mich Sorgen.«
Sie holte eine Dose Kaffee heraus, und Fliss runzelte die Stirn. Sie trank keinen Kaffee.
»Wann genau kommt Denhams alter Rodeofreund? Nächste Woche, oder?«
Cressy stellte die Dose auf den Tisch, bevor sie antwortete. »Es gab eine kleine Planänderung. Er … kommt heute schon.« Sie legte ihre Hand auf Fliss’. »Ich habe dir nicht Bescheid gesagt, weil du dann einen Vorwand gefunden hättest, um nicht hier sein zu müssen.«
Fliss seufzte. Cressy kannte sie zu gut. Die vergangenen Monate waren schlimm gewesen, besonders wenn sie sich auf Leute einlassen und reden musste. Ihre Angst machte sie stumm und raubte ihr das Selbstvertrauen, wenn sie es am wenigsten erwartete. »Ich hatte gehofft, du vergisst vielleicht, Hewitt zu fragen, ob er herkommt.«
»Da hast du Pech. Du brauchst hier jemanden, der dir hilft. Das Haus war jahrelang unbewohnt, und dein Garten ist ein Schlangenparadies.«
Fliss schwieg. Das war alles wahr. Als sie das heruntergekommene Farmhaus, das sie letzten Herbst gekauft hatte, zum ersten Mal betreten hatte, hing im Wohnzimmer eine tote Schlange verheddert in der Spitzengardine.
Cressy stellte eine große Schachtel Tee neben die Kaffeebüchse. »Es geht nicht nur darum, deinen Garten in den Griff zu bekommen, da wäre auch noch die reale Gefahr der Überschwemmung, mit der du allein wärst.«
»Zufällig bin ich gern allein. Ich brauche das Alleinsein.«
Fliss konnte den Schmerz hinter ihren Worten nicht verstecken, und die Gesichtszüge ihrer Schwester wurden weicher.
»Keine Sorge, dir bleibt genügend Raum für dich. Hewitt wird dich nicht stören, und da er drüben im Stall wohnt, wirst du ihn kaum bemerken.«
»Können wir nicht zu Plan B übergehen? Ich möchte lieber Reggie hier haben. Ich füttere ihn mit Möhren, und er leistet mir Gesellschaft.«
»Die Bodenbretter der Veranda können einen Brahman-Bullen nicht tragen. Und er wird jeden Morgen vor deiner Tür auf sein Frühstück warten«, entgegnete ihre Schwester. Dann wurde Cressys Ton wieder ernst. »Wenn Hewitt hier wohnt, ist das für alle von Vorteil.«
Fliss nickte bedächtig. Cressy hatte ihr bereits erklärt, dass Hewitt ebenfalls Freiraum für sich brauchte. Sie hatte gar nicht genauer wissen wollen, warum der Cowboy vorübergehend auf eine einsame Farm ziehen wollte. Es war besser, wenn jeder seine persönlichen Dämonen verborgen hielt.
In Sydney wusste auch niemand, wie sehr sie der Tod der jungen Caitlyn erschüttert hatte, nicht einmal Lewis, ihr Mentor an der Uni. Es gab keine Treppe oder Flurecke in der Klinik, wo sie nicht Zuflucht gesucht hatte. Und schließlich hatte sie nicht mehr die Kraft gehabt, in ihrem Zustand weiterzuarbeiten. Hilflos und verunsichert hatte sie die stressige Notaufnahme verlassen, um wieder in den Westen zu ziehen, wo die Sonne das Laub der Eukalyptusbäume versilberte und die langsame Rötung des Himmels bei Sonnenaufgang ein Gefühl von Frieden brachte.
Cressy deutete mit dem Kinn nach draußen. »Hewitt wird deinen Rasenmäher zum Laufen bringen. Er wird den Garten in den Griff kriegen, die Zäune reparieren, damit meine Kühe nicht mehr herumstreunen können, und er wird achtgeben, wenn sie kalben. Er wird da sein, wenn irgendwas … passiert.«
Fliss seufzte. Cressy überzeugen zu wollen, dass sie Hewitt nicht brauchte, war genauso aussichtslos, wie mit ihrem unpraktischen Stadtauto über schlammige Nebenstraßen zu fahren. »Gar nichts wird passieren. Aber gut. Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen.«
»Danke. Ich hoffe nur, du verstehst darunter dasselbe wie ich. Oder muss ich dich daran erinnern, dass du den Rekord für das kürzeste Date hältst?«
»Wenn mein sogenanntes Date aufs Luftholen verzichtet hätte, während er auflistete, wie sehr ich ihn an seine Ex erinnere, hätte es eine Minute anstatt fünf gedauert. Aber diese fünf Minuten lang habe ich mich wirklich benommen.«
Cressys Mundwinkel zuckten, während sie die übrigen Lebensmittel auf den Tisch legte. »Ich bin überzeugt, du hast das zwei Sekunden lang geschafft.« Sie ging zur Tür. »Jetzt müssen wir nur noch die Pflanzen ausladen, die Sue für dich eingetopft hat. Die pinkfarbenen Geranien stammen von Ablegern, die Mum ihr vor Jahren geschenkt hat. Danach sollten wir Wasser aufsetzen. Die Jungs werden bald hier sein.«
Fliss folgte ihr voller Unbehagen. Schon bald würde jemand in ihren Zufluchtsort eindringen und ihren zerbrechlichen Frieden stören. Lautes Quaken ertönte aus dem rostigen Wassertank an der Seite des Hauses. Es würde bald regnen. Kurz darauf mischte sich Motorbrummen in den fröhlichen Chor der Frösche, und ihr wurde mulmig. Angespannt stieß sie den Atem aus. Wer immer dieser Hewitt war, wenn er bereit war, so weit außerhalb der Stadt zu wohnen, wollte er sicherlich keine Gesellschaft. Das wenigstens sprach für ihn.
Ein ihr unbekannter schwarzer Pick-up fuhr die Zufahrt zum Hof entlang. Auf der Ladefläche war ein Quad festgeschnallt. Denham saß auf dem Beifahrersitz des Wagens und hob grüßend die Hand, als Fliss und Cressy durchs Gartentor traten. Fliss erwiderte die Geste, ihre Aufmerksamkeit galt jedoch dem Mann am Steuer. Durch die Windschutzscheibe erkannte sie sein maskulines Gesicht, nach dem sich garantiert jede Frau umdrehte.
Der schwarze Pick-up nahm geschmeidig die Biegung und hielt neben Cressys weißem Land Cruiser. Denham stieg aus, während Hewitt um die Wagenfront herum auf sie zuschritt. Ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Groß, breite Schultern, schmale Hüften. Ihr Gast sah umwerfend aus. Er hatte dunkle Haare, trug ein blaues Hemd, Jeans und Stiefel. Und Fliss war sich sicher, dass seine attraktive Erscheinung die Gerüchteküche von Woodlea ordentlich anheizen würde.
Sie musterte sein gebräuntes, markantes Gesicht. Er verzog keine Miene, und obwohl er lässig auf sie zuging, wirkte er verschlossen. Das erleichterte sie enorm, und sie war schon nicht mehr halb so nervös wie gerade noch. Er würde genauso wenig mit ihr zu tun haben wollen wie sie mit ihm. Nichts würde sich ändern, nur weil auf der anderen Seite ihres Gartens ein Cowboy wohnte.
Dann lächelte er. Obwohl seine Aufmerksamkeit Cressy galt, kam es Fliss vor, als schaute er ihr direkt in die Augen. Seine harten Gesichtszüge entspannten sich und wurden weicher. Es war ihr unmöglich, den Blick abzuwenden, und sie musste den Impuls verdrängen, die Stirn zu runzeln. Seit wann ließ das Lächeln eines Mannes Wärme durch ihren Körper strömen, die sich anfühlte wie ein Zuckerrausch nach einer langen Nachtschicht? Normalerweise fand sie nur langsam an jemandem Gefallen. Und an so etwas wie überspringende Funken glaubte sie nicht.
Eine weitere ihrer Angewohnheiten aus der Großstadt war es, Leute gründlich einzuschätzen. Wenn ein Patient die Ersteinschätzung der Notaufnahme durchlaufen hatte, achtete Fliss permanent auf Anzeichen für alles, was der Patient verschwiegen haben mochte. Hatte er wirklich Schmerzen? Kam er zurecht? Wo lag seine Schmerzgrenze? Und als Hewitt nun seine grauen Augen auf sie richtete, konnte sie nicht umhin, ihn eingehend zu betrachten.
Er mochte ruhig und aufrecht dastehen, hielt die Arme locker an den Seiten, doch in seinem Blick lag etwas Dunkles, Freudloses, das von unausgesprochenem Leid erzählte. Seine leicht hochgezogene linke Schulter und die Falten neben seinem Mund bestätigten, dass er auch körperliche Schmerzen hatte – und nicht gerade wenige. Ein anderer hätte schon längst die Schultern gebeugt.
Fliss verspannte sich innerlich. Cressy hatte ihr versichert, dass Hewitt sie nicht stören und sie ihn kaum bemerken würde. Aber weit gefehlt. Er störte sie jetzt schon, und sie würde auch nicht vergessen können, dass er da war.
Denn dieser starke, stoische Cowboy mit den Lachfältchen in den Augenwinkeln war anders als alle Männer, denen sie bisher begegnet war.
Hewitt Sinclair starrte die Frau an, die seine neue Nachbarin werden sollte, und begriff, dass er einen schweren Fehler begangen hatte.
Er hätte Denhams und Cressys Vorschlag, sich nach Bundara zurückzuziehen, ablehnen sollen.
Cressys Schwester war schön. Als Denham sie ihm beschrieb und meinte, sie sehe aus wie Cressy, sei nur ein bisschen größer, hatte Hewitt sich auf eine Hübsche mit langen dunklen Haaren und hellbraunen Augen eingestellt. Doch ihr intensiver, wacher Blick überraschte ihn.
Er unterdrückte den Impuls, die Schultern zu rollen. Das würde seine Anspannung verraten und die Schmerzen in seiner gebrochenen Schulter steigern. Fliss sah ihn weiterhin an. Die scharfe Intelligenz in ihren Augen ließ keinen Zweifel, dass sie ihn mit der Genauigkeit eines Lügendetektors analysierte. Laut Cressy konnte sie Dummköpfe nicht gut ertragen. Er war also gewarnt. Im Lauf der Jahre hatte er schon viele Geschichten über ihre scharfsinnige, willensstarke Schwester gehört.
Ein Regentropfen traf ihn an der Wange und erinnerte ihn daran, dass er etwas sagen sollte. Aber da Fliss ein wenig die Augenbrauen zusammenzog, schwieg er. Er konnte ihr wegen ihrer Skepsis keinen Vorwurf machen. Er sah aus, als käme er gerade von der Weizenernte, war unrasiert und länger nicht beim Friseur gewesen. Cressy hatte kurz angedeutet, dass Fliss eine schwere Zeit durchmachte, und die Schatten unter ihren Augen bestätigten das. Sie sah verletzlich aus. Da durfte er zu zusätzlichen Sorgen keinen Anlass geben.
»Hi, Felicity, ich bin Hewitt.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Danke, dass du mich aufnimmst.«
Er war sich sicher, dass sie kurz zögerte, bevor sie ihm die Hand gab. »Gern geschehen. Bitte … nenn mich Fliss.«
Als er ihre zierlichen Finger umfasste, spürte er, wie angespannt sie war, und mäßigte den Händedruck, um ihr zu zeigen, dass er ihr keinerlei Unannehmlichkeiten bereiten würde. Für einen Moment erschlafften ihre Finger, und er sah etwas in ihren Augen aufleuchten, dann kniff sie die Lippen zusammen und zog die Hand weg.
Ihm wurde wieder bewusst, dass Denham neben ihm stand. Sein Freund beugte sich vor, um Fliss einen Kuss auf die Wange zu geben. »Bin froh, dass du noch nicht weggeschwemmt wurdest.«
»Ich auch. Ich wüsste nicht, wann mal so viel Regen gefallen ist.« Sie tippte an sein smaragdgrünes Hemd. »Also, Mr Bullenreiter, hast du mir etwas zu beichten?«
Denham stöhnte und wandte den Kopf zu Cressy.
Die hob die Hände. »Sieh nicht mich an, Denham Rigby. Ich habe kein Wort gesagt.«
Fliss verkniff sich sichtlich das Lachen, aber ihr Ton blieb ernst. »Ich dachte, deine Rodeozeit wäre vorbei. Du meintest, deine Gelenke knacken wie bei einem Hundertjährigen.«
Hewitt kannte Denham seit über zehn Jahren. Einmal hatte er versucht, ihn wegen seiner gebrochenen Hand vom Reiten abzuhalten, und es war ihm nicht gelungen. Sie musste eine starke Frau sein, wenn sie ihn ins Gebet nahm, weil seine Rodeokarriere ihn körperlich zu viel kostete.
Ein Schmerz durchfuhr ihn, der ausnahmsweise nichts mit seiner gebrochenen Schulter zu tun hatte. Diese Frau sah nicht nur atemberaubend aus, sie hatte auch Charakter. Sie würde immer neben einem Mann stehen, nie hinter ihm. Doch er hatte kein Recht, eine Frau verlockend oder schön zu finden, und durfte sich durch seine Einsamkeit oder Sehnsüchte nicht vom Kurs abbringen lassen. An dem Tag, als sein Bruder Brody umgekommen war, hatte er sich der Pflicht verschrieben, für dessen Familie zu sorgen.
Denham trat verlegen auf das andere Bein, als er Fliss wieder ansah. »Das tun sie, aber … es war nur ein einziger Ritt.«
Sie zog eine ihrer schönen Augenbrauen hoch. »Ein Ritt auf einem Bullen, auf den sich in dieser Saison noch keiner gesetzt hat.«
»Ich habe Helm und Schutzweste getragen. Wenn ich den Nachwuchs des Bullen kaufen soll, muss ich wissen, wozu er fähig ist. Cressy war auch da.«
Fliss wechselte einen Blick mit ihrer Schwester. »Und deshalb lese ich dir nicht die Leviten.«
Denham schaute verlegen. »Woher weißt du es denn?«
»Das Internet ist eine wunderbare Sache, obwohl meine Verbindung hier draußen langsamer ist als die Schildkröte in meinem Garten.«
Denham warf Hewitt einen ironischen Blick zu. »Dann ist es ja gut, dass ich oben geblieben bin und mich nicht lächerlich gemacht habe. Ich bin ein wenig eingerostet auf meine alten Tage.«
Cressy ging zu ihrer Schwester und hakte sich bei ihr unter. »Du weißt, ich hätte angerufen, wenn etwas passiert wäre. Du bist die einzige Ärztin, auf die Denham hört.«
Über Fliss’ Gesicht huschte eine schmerzliche Regung.
In dem Moment klatschte ein großer Regentropfen auf Hewitts Unterarm, ein anderer traf seine linke Stiefelspitze. Ohne ein weiteres Wort wandten sich alle dem Pick-up zu. Während Denham den Werkzeugkasten, der neben dem Quad verstaut war, von der Ladefläche hob, griff Hewitt nach der Kühlbox. Als er die Hand um den Griff schloss, ermahnte ihn das Ziehen im Oberarm, dass er nichts Schweres heben sollte.
Er wechselte die Hand, hob die volle Kühlbox über die Seitenwand und stellte sie auf dem Boden ab, bevor er nach dem dunkelblauen Seesack griff. Als er sich damit umdrehte, stand Fliss hinter ihm und musterte seine verletzte Schulter. Er verkniff sich ein Seufzen. Aus irgendeinem Grund nahm sie schon wieder sein körperliches Handicap aufs Korn. Selbst Denham kannte das wahre Ausmaß seiner Unfallverletzung nicht.
Kurz hielt sie seinen Blick fest, dann nahm sie ihm den Seesack aus der Hand. »Ich bringe den in den Stall. Trägst du die Kühlbox schon mal in die Küche?«
Er nickte wortlos. Seine Schulter schmerzte höllisch, und Fliss kam ihm zu nah. Viel zu nah. Ihm war aufgefallen, wie glatt und weich ihre Lippen waren, und der Duft von Gardenien umwehte sie. Seine Anspannung war ihm offenbar anzusehen, denn sie presste die Lippen aufeinander und drehte sich weg.
Ihr erster Eindruck von ihm konnte nicht gut sein. Und seine angespannten Kiefermuskeln erinnerten ihn daran, dass ihm ein harter Gesichtsausdruck im vergangenen Jahr zur Gewohnheit geworden war. Er wirkte also nicht nur grob, sondern auch finster und keinesfalls beruhigend.
Ohne den Regentropfen Beachtung zu schenken, die jetzt auf die Kühlbox trommelten, lief er gemächlich auf das Haupthaus zu. Nach den von Dürre und Trockenheit geprägten Jahren auf der Farm seiner Familie, die weiter im Westen lag, genoss er den erdigen Geruch von Regen und das Gefühl, nass zu werden. Wasser rann ihm in den Hemdkragen und kühlte seine erhitzte Haut.
Denham und Cressy trugen den Werkzeugkasten und eine Harke zu dem Blechschuppen, der linker Hand unter einer alten Zeder stand. Hewitt betrachtete den Hof durch den dünnen Regenschleier. Wo er auch hinsah, gab es Arbeit zu erledigen.
Der Rasen musste gemäht, in den Beeten das Unkraut gejätet, die Zaunpfosten begradigt und der Draht gespannt werden. Und das war nur die To-do-Liste für den Garten. Er ließ seinen Blick über die Front des Hauses gleiten, ein Blausteinbau im Föderationsstil. Es hatte liebevolle Zuwendung dringend nötig. Die Fenster brauchten neue Scheiben, das Holz musste gestrichen und die Regenrinnen mussten erneuert werden. Durch ein Loch in der verrosteten Regenrinne strömte ein Wasserfall in einen Eimer.
Irgendwo brüllte eine Kuh, und er schaute am Haus vorbei zu dem hügeligen Grünland, auf dem Cressys schwarze Angusrinder standen. Denham hatte erwähnt, dass Bundaras Wiesen an Glenmore grenzten, was Cressy leichten Zugang zu den Grasweiden für ihre Zuchtherde verschaffte.
Hewitt erreichte die Veranda und stellte die Kühlbox ab. Hinter ihm polterten Cressy und Denham die Stufen herauf. Regen glitzerte auf ihrer Haut und hing in ihren Haaren, aber sie lächelten freudig. Hewitt wandte den Blick ab, als Denham seine Verlobte an sich zog und liebevoll küsste. Schon vor Jahren war die Verbindung zwischen den beiden besonders gewesen. Eine Zeit lang hatte Denham als Bullenreiter in Amerika verbracht. Es freute Hewitt, zu sehen, dass sein Freund endlich seinen Frieden mit dem Verlust von Vater und Bruder gemacht hatte und Cressy nun wieder in seinen Armen hielt. Einsamkeit breitete sich in ihm aus, doch er ignorierte das Gefühl, so gut er konnte.
Fliss rannte die kleine Treppe herauf, um ins Trockne zu gelangen. Sie war ernst und blass, und als sie sich durch die Haare strich, wirkte sie seelisch erschöpft.
»Hewitt, deine Blechkiste wäre jetzt vielleicht geeigneter für die Fahrten zu den Weiden als dein Quad.« Denham hob die Stimme, denn der Regen trommelte mittlerweile ohrenbetäubend auf das Dach.
Nachdenklich betrachtete Hewitt die Bäche, die sich bereits in den Furchen des Gartenweges sammelten. »Stimmt. Ich wusste, ich hätte mein Angelzeug mitnehmen sollen.«
Fliss lachte kurz mit ihnen, bevor sie die Fliegengittertür aufzog. »Möchte jemand Kaffee?«
»Ja, bitte«, meldete sich Cressy. »Ich hätte auch gern einen von Meredith’ Brownies. Die waren noch nicht fertig, als ich losgefahren bin, deshalb hat sie versprochen, den Jungs welche mitzugeben.«
Die beiden Frauen verschwanden zusammen im Haus, und Denham bückte sich nach der schweren Kühlbox. »Sie hat uns nicht nur Brownies mitgegeben.« Als er sich aufrichtete, rieb er sich schwelgerisch den Bauch. »Von dem Sixpack kannst du dich verabschieden.«
Hewitt lächelte noch, als Denham ins Haus ging. Sie witzelten seit Jahren, dass sie in ihre Gürtel neue Löcher stanzen müssten, wenn sie die Rodeos zugunsten eines leichteren Lebens aufgäben. Aber bisher hatten sie den Gürtel ein Loch enger schnallen müssen. Er sah zu Fliss, und seine Heiterkeit verebbte.
Durch ihre nassen Haare kamen ihre Wangenknochen und die Symmetrie ihrer Züge noch mehr zur Geltung. Aber es war nicht ihre Schönheit, die ihn innehalten ließ. Vorsicht und tiefer Ernst lagen in ihren Augen. Es kam ihm vor, als könnte sie direkt durch seine Fassade auf den Schmerz blicken, der seine körperlichen Beschwerden bei Weitem überstieg.
»Kommst du rein?«, fragte sie leise.
Er antwortete nicht sofort. Das Prasseln des Regens auf dem Vordach war so laut wie sein Herzklopfen. Wenn er auch nur ein Quäntchen Vernunft besaß, würde er dem Impuls seines Selbsterhaltungstriebs folgen. So nah neben einer starken, schönen und scharfsinnigen Frau wie Dr. Felicity Knight zu wohnen war eine schlechte Idee.
Er blickte zu seinem Pick-up, dann machte er einen Schritt auf die Tür zu. »Ja.«
Jetzt konnte er nicht mehr kneifen. Er mochte vieles sein, aber feige war er nicht.
Fliss brauchte Hilfe und er eine Bleibe jenseits der Familienfarm, an einem Ort, an dem die schönen Erinnerungen ihn nicht jeden Morgen verhöhnten, wo er untertauchen konnte, während sein Körper heilte. Ihm wurde eng um die Brust. Er brauchte einen Platz, wo er mit der Trauer und der Schuld ringen konnte, die er bisher verdrängt hatte, so als könnte er sie dadurch einfach abschütteln.
Welchen Unterschied drei Tage und ein funktionierender Rasenmäher doch ausmachten.
Fliss stellte ihre saubere Tasse ins Trockengestell und schaute durchs Küchenfenster. Die Kontrollsüchtige in ihr jubelte. Der überwucherte Garten war gestutzt worden.
Ein kurzer, samtiger Rasen erstreckte sich jetzt zwischen dem Haus und dem Stall. Wenn eine Schlange versuchen sollte, den Spalt unter der Hintertür anzusteuern, würde sie sie sehen. Lilafarbene, gelbe und weiße Blumen wiegten die Köpfe in den vom Unkraut befreiten Beeten. Wer hätte gedacht, dass zwischen dem wuchernden Grün etwas blühte? Ein Schwarm weißer Schmetterlinge schwebte flatternd über dem Blumenmeer. Es sah beinahe aus, als ob der Garten funkelte.
Sie zögerte, dann beugte sie sich nach rechts. Aus diesem Winkel hatte sie einen ungehinderten Blick über den Hof … und auf Hewitt. Ihr Interesse war nicht persönlicher Art. Sie wollte nur wissen, wie sich das Mähen und Jäten auf seine Schulter auswirkte. Suchend blickte sie zum Garten, bis sie ihn drüben beim Schuppen entdeckte. Der Kontakt zwischen ihnen musste sich aufs Nötigste beschränken. Er brauchte das Alleinsein genauso sehr wie sie. Als sie ihm nach seiner Ankunft die Tür aufgehalten hatte, wäre er beinahe auf dem Absatz umgekehrt und weggefahren. Das hatte sie ihm angemerkt.
Gerade kümmerte er sich um den Wasserhahn, an dem sich zwei vierbeinige Besucher in der Nacht das Fell gerieben hatten, wodurch das Rohr an der Basis abgeknickt war. Am Morgen hatte Fliss ein lautes Muhen unter ihrem Fenster geweckt, und kurz darauf hatte sie die Fontäne aufsteigen sehen. Nachdem sie die beiden Kühe vom Hof gejagt und die Pumpe zugedreht hatte, recherchierte sie am Computer, wie man so etwas reparierte. Denn mithilfe einer Internetanleitung hatte sie mal eine zerbrochene Fensterscheibe ersetzt. Aber als sie schließlich wieder nach draußen gegangen war, hatte Hewitt sich der Sache bereits angenommen.
Das verblasste rote Baumwollhemd spannte über seinem Rücken, wenn er sich mit der Schaufel bückte, um das Wasserrohr im Boden freizulegen. Sie griff nach einem schmutzigen Teller und tauchte ihn ins Spülwasser. Oh nein, das kam überhaupt nicht infrage. Hewitt mochte schöne Muskeln haben, aber was sie jetzt am wenigsten brauchte, war ein ausgeprägtes Interesse daran, wie gut er bei körperlicher Arbeit aussah. Auch wenn sie bei seinem warmen, beruhigenden Händedruck für einen Moment das Gefühl gehabt hatte, die Welt stünde still.
Wieder blickte sie nach draußen. Aber diesmal achtete sie nur auf die Verletzung, die er so entschieden verbarg. Während der Arbeit belastete er die linke Seite so wenig wie möglich, und wenn er sich bückte, um in das Loch zu schauen, massierte er sich kurz die Schulter. Wegen seiner kleinräumigen Bewegungen tippte sie auf ein Problem der Rotatorenmanschette oder des Acromioclaviculargelenks.
Der Löffel, den sie in den Besteckkorb fallen ließ, blinkte in der Sonne. Sie schien durch das große Fenster herein und tauchte die Küche in warme Helligkeit. Die wenigen Federwolken am Himmel würden nicht so bald für Regen sorgen. Also konnte Fliss problemlos in die Stadt fahren und sich mit ihrer alten Schulfreundin treffen. Kellie wollte mit ihrer Tochter Zoe auf dem Heimweg von Sydney in der örtlichen Klinik vorbeischauen.
Sie trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab, und es überraschte sie nicht, dass ihre Finger zitterten. Aber auch wenn sie für ihre Angst gute Gründe hatte, würde sie doch wohl etwas so Einfaches tun können, ohne zu beben wie ein Nervenbündel? Eine Fahrt auf den roten staubigen Straßen in die Stadt ihrer Kindheit sollte nicht weiter schwer sein. Je eher ihre Nerven von der höchsten Warnstufe runterschalteten, desto besser.
Tief in Gedanken versunken, hörte sie nicht, wie Hewitt die Veranda betrat. Erst als er an die Tür klopfte, schreckte sie auf. Schnell strich sie sich über die Haare, bevor ihr einfiel, dass sie ihren eleganten Look längst aufgegeben hatte, zusammen mit ihrer gut geschnittenen Kleidung, den Klinikkitteln und dem Stethoskop. Sie ließ die Arme sinken und zog das weite dunkelblaue T-Shirt zurecht, das sie zu ihren Jeansshorts trug.
Anstatt noch einmal zu klopfen, rief er nach ihr. »Fliss?«
Der Klang seiner tiefen Stimme ging ihr durch und durch. Seufzend verließ sie die Küche. Sie war schon so lange allein, da war es nur natürlich, wenn eine attraktive männliche Stimme sie daran erinnerte, dass sie eine Frau war.
»Ja.« Im Flur verlangsamte sie ihr Tempo. Sie wollte nicht atemlos erscheinen. »Morgen.« Sie drückte die Fliegengittertür auf. »Die Kühe haben ganze Arbeit geleistet, nicht wahr?«
Hewitt nickte reserviert. »Der Wasserhahn ist hinüber. Ich brauche ein neues T-Stück.«
Sie trat zu ihm auf die Veranda. Seit er kurz nach seiner Ankunft auf einen Kaffee in der Küche gewesen war, hatte er ihre höflichen Einladungen, doch hereinzukommen, immer abgelehnt. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie wichtig gute Manieren waren. Zu ihrer Erleichterung war Hewitt für sich geblieben, und ihr Kontakt hatte sich auf beiläufige Unterhaltungen über den Garten beschränkt. »Ich werde heute in die Stadt fahren. Da kann ich eins besorgen, wenn es dir recht ist.«
Hewitt drehte sich nach ihrem bronzefarbenen Pkw um, der neben dem Carport Staub ansetzte. Sie registrierte den Schlammspritzer unterhalb seiner Kehlgrube, wo das Hemd offen stand, gab sich aber alle Mühe, nicht länger hinzusehen.
»Nimm meinen Pick-up. Mit dem fährt es sich hier besser.«
Sie schüttelte schon den Kopf, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Es wäre vernünftig, mit seinem Wagen zu fahren, wegen des Allradantriebs. Doch sie hätte während der ganzen Fahrt Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Nach Caitlyns Tod verfolgte Fliss diese Befürchtung ständig, und sie wusste nur zu gut, dass ein Wagen in einem Sekundenbruchteil ins Schleudern geraten konnte.
»Danke, aber auf unbefestigten Straßen zu fahren ist zugegebenermaßen nicht mein Ding. Wenn dein Pick-up hier stehen bleibt, ist das für ihn das Beste.«
Hewitt sagte zunächst nichts, sondern rieb sich das Kinn, und Fliss hörte das Kratzen seiner Bartstoppeln. »Ich … könnte fahren.«
Sie blickte ihn prüfend an. An seinem ernsten Gesichtsausdruck hatte sich nichts geändert, nur sein Ton war tiefer, leiser. »Nochmals danke, aber es ist nicht nötig, dass wir beide in die Stadt fahren.« Sie hielt inne, um sich ihre Wortwahl gut zu überlegen. »Besonders, da wir sie vielleicht beide am liebsten meiden würden.«
»Stimmt. Aber ich benötige ein paar Dinge, und wenn die Brücke überschwemmt wird, könnte es eine Weile dauern, bis wir wieder hinfahren können. Ich fahre gern, wenn du willst.«
Ein leises Lächeln versicherte ihr, dass er wirklich damit einverstanden war, den Chauffeur zu spielen. Ihre Erleichterung, sich nicht selbst hinters Steuer setzen zu müssen, war ihr wohl anzusehen, denn in seinen Augen flackerte eine kurze Regung auf, die sie aber nicht genauer deuten konnte.
»Ich möchte mich nur schnell umziehen.« Sie griff nach der Türklinke. »Ich will keinen Unfall auslösen, wenn ich die Hauptstraße entlanglaufe. Woodlea ist noch nicht darauf vorbereitet, mich in Farmklamotten zu sehen.«
»Lass dir Zeit!«, rief er ihr nach, als sie zu ihrem Schlafzimmer eilte. »Ich will vorher noch duschen.«
Trotzdem beeilte sie sich, und kurz darauf verließ sie das Zimmer in engen Jeans, einer ärmellosen schwarzen Bluse und schwarzen Keilsandaletten. Mit ein wenig Glück würde ihr französischer Haarknoten halten. Und sie hatte es geschafft, sich das Lipgloss auf die Lippen und nicht übers Kinn zu schmieren.
In der Küche angekommen, ging sie zum Küchentresen und nahm ihr Handy, die Sonnenbrille, das eingepackte Geschenk und ihre buttergelbe Handtasche, die sie am liebsten trug. Sie schloss die Vordertür ab und spürte die Sonnenstrahlen auf den nackten Armen, als sie zu Hewitts Pick-up ging, der neben dem Stall stand. Einen Moment lang blieb sie stehen, weil sich links zwischen den Bäumen, die bis in den Bachgraben hinunter standen, etwas Schwarz-Weißes bewegte. Angestrengt spähte sie dorthin. Sie hätte schwören können, einen Hund gesehen zu haben. Doch dann hörte sie die Stalltür aufgehen und drehte den Kopf. Der Hund war vergessen, und sie konnte nur noch Hewitt anstarren. Sonnenlicht fing sich in seinen noch feuchten Haaren und umspielte seine Schultern. Er hatte sich ein frisches blau-weiß kariertes Hemd angezogen, und beim Näherkommen fiel ihr die glatte, feste Kontur seines Kinns auf. Er hatte sich rasiert. Hastig konzentrierte sie sich darauf, die Beifahrertür zu öffnen. Diese übertriebene Reaktion musste ihren angegriffenen Nerven geschuldet sein. Der Anblick eines gut aussehenden, gründlich rasierten Mannes führte gewöhnlich nicht dazu, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Hewitt setzte sich hinters Steuer, und in der Fahrerkabine verbreitete sich der Zedernduft seines Rasierwassers. Wie in Zeitlupe legte Fliss den Anschnallgurt an. In dem engen Raum ließ sich nicht ignorieren, wie gut er roch und aussah. Das Schwelgen ihrer Sinne zeigte nur, wie wenig sie sich im Griff hatte und wie weit sie noch davon entfernt war, vernünftige Entscheidungen für ihr weiteres Leben zu treffen.
Als Hewitt sie kurz von der Seite ansah, hatte sie das Gefühl, sein Blick würde auf ihrem Mund verweilen, doch sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen. »Das ist also die Dr. Felicity Knight, an die Woodlea gewöhnt ist?«
»Ja.« Sie musste sich anstrengen, um locker zu klingen. »Nicht ganz die, die meine Kollegen in Sydney tagtäglich zu Gesicht bekamen, aber die, die ich jetzt bin.«
Hewitt nickte, dann ließ er den Motor an und tippte auf das Display am Armaturenbrett. Leise Country-Musik hüllte sie ein und entband sie von der Notwendigkeit, zu plaudern. Fliss faltete die verschränkten Hände auseinander und lehnte sich ein wenig tiefer in den Sitz.
Der Pick-up ratterte über das Viehgitter, dann folgte Hewitt der roten Fahrspur, die sich zwischen den hellen Stämmen der Zitroneneukalyptusbäume hindurch zum Bach wand. Als sie die einspurige Brücke erreichten, bremste er ab und schaute, ob ihnen jemand entgegenkam. Normalerweise floss der Bach träge unter der weißen Holzkonstruktion dahin. Heute zog eine reißende Strömung an den Zweigen der Weiden, die bis ins Wasser hingen.
Während der Wagen über die knarrenden Bohlen rollte, sprach Hewitt aus, was sie dachte: »Ist ganz gut, dass wir jetzt in die Stadt fahren. Wenn das Wasser noch ein bisschen steigt, können wir den Hof nicht mehr verlassen.«
»Dann werde ich einige Packungen H-Milch kaufen. Auf die Gefahr hin, unbescheiden zu erscheinen, muss ich gestehen, dass ich kakaosüchtig bin, ein tragischer Fall. Ich habe extra meinen Milchaufschäumer aus Sydney mitgebracht.«
Hewitts Mundwinkel zuckten, aber er sagte nichts dazu und wich stattdessen einer kleinen runden Gestalt aus, die den Fahrweg kreuzte.
Fliss drehte sich nach der Schlangenhalsschildkröte um. »Wenigstens einer freut sich über das nasse Wetter. Ich dachte neulich, ich hätte eine braune Schlange im Garten gesehen, bis mir auffiel, dass die unter einem Panzer hervorlugte.«
Hewitt lachte. »Da dein Garten jetzt ordentlich ist, sollte es keine Verwechslungen mehr geben.«
»Hoffentlich. Mehr verkraftet mein Blutdruck nicht.«
»Die Geranien, die du in das Beet neben der Veranda gepflanzt hast, werden auch etwas nützen. Meine Mum schwört, dass sie Schlangen fernhalten.«
»Das hat meine Mutter früher auch getan.«
Der Fahrweg wurde zu einer asphaltierten Straße, und gelegentlich kam ihnen ein Auto entgegen. Jedes Mal hob Hewitt grüßend die Finger vom Lenkrad. Im Outback grüßte man jeden, auch Fremde.
Ein grüner Weidenteppich überzog die hügeligen Ausläufer des Höhenzugs am Rand des fruchtbaren Tals. Die erste Windmühle kam in Sicht, dann die zweite und die dritte. Woodlea wurde aus gutem Grund die Stadt der Windmühlen genannt.
Sie passierten den verrosteten Tank, der auf neun Holzpfählen ruhte. Seit einer Überschwemmung vor Jahrzehnten war das Gestell stark zur Seite geneigt und sah aus, als würde es beim nächsten Windhauch umkippen. Irgendwie trotzte der Tank aber der Schwerkraft, und immer wieder hielten Touristen am Straßenrand an, um ihn zu fotografieren.
Als der Pick-up über die kurz vor dem Stadtrand gelegene Anhöhe fuhr, brach Fliss das Schweigen.
»Wollen wir vielleicht unsere Handynummern tauschen?«
»Gute Idee.«
Nachdem sie das getan hatten, schob sie das Handy in die Tasche und lehnte sich wieder zurück, aber nicht so entspannt wie vorher. Sie verschränkte die Hände im Schoß, als das Willkommensschild an ihnen vorbeizog.
Hewitts Freundlichkeit hatte ihr nur ein bisschen Aufschub verschafft. Der Stress, den sie üblicherweise bei einer Fahrt auf nassen Straßen verspürte, war ihr erspart geblieben, aber gleich würde sie wieder unter Leuten sein. Obwohl jeder wusste, dass sie nicht wieder hierher gezogen war, um als Ärztin zu praktizieren, brachte es doch jeder Stadtbesuch mit sich, dass sie der eine oder andere um ärztlichen Rat bat. Und jedes Mal überschwemmten sie dann Unsicherheit und Selbstzweifel.
Die Angst zog ihr den Magen zusammen. Niemand außer Cressy und ihren Freundinnen Ella und Taylor konnte ahnen, dass ihre Gelassenheit nur eine fragile Fassade war.
Hewitt ließ den Motor im Leerlauf tuckern und schaute Fliss hinterher, die die Hauptstraße entlangging. Mit ihren dunklen Haaren, dem hübschen Gesicht und der weiblichen Figur würde sie selbst in ihrer Farmkleidung einen Verkehrsstau auslösen. Sie winkte dem Fahrer eines schlammüberzogenen Hilux zu, der im Vorbeifahren hupte. Wer ihr ruhiges heiteres Gesicht sah, würde es nicht für aufgesetzt halten.
Aber er wusste, dass es nur eine Fassade war. Sowie sie die Ortsgrenze von Woodlea überquerten, hatte sie die Lippen aufeinandergepresst und die Hände im Schoß verkrampft. Welche Hölle sie auch durchmachte, sie ließ sich davon nicht übermannen. Deshalb wäre sie auch mit ihrem Stadtauto gefahren, obwohl sie offensichtlich allein die Vorstellung stresste. Ihr schönes erleichtertes Lächeln, mit dem sie sein Angebot annahm, hatte ihn vollkommen überwältigt.
Hewitt sah sie ins Postamt verschwinden. Der Gardenienduft hing noch in der Fahrerkabine, die ihm jetzt sonderbar leer vorkam. Entschlossen trat er aufs Gas und lenkte den Wagen auf die Straße. Er durfte nicht aus den Augen verlieren, weshalb er nach Bundara gezogen war.
Fliss sah zu viel mit ihren großen hellbraunen Augen und verstand mehr, als gut war für sie selbst und für ihn. Seine Schuldgefühle und Trauer gingen nur ihn etwas an. Nach dem Tod seines Bruders Brody, als sein Vater stille Tränen weinte, seine Mutter das Bett nicht mehr verlassen wollte und die verwitwete Ava nicht mehr wusste, welcher Tag gerade war, hatte er ihrer aller Schmerz auf sich genommen. Er hatte gekocht und Vorräte eingekauft, die Zwillinge zu den Spielstunden gebracht, wenn die mobile Vorschule in die Stadt kam, hatte das Vieh getränkt und den Farmbetrieb aufrechterhalten.
Er bremste und ließ einen Mann mit einem braunen Kelpie die Straße überqueren. Um alles hatte er sich gekümmert bis zu dem Tag, als er auf der Koppel, über die er schon Hunderte Male gefahren war, in seiner seelischen und körperlichen Erschöpfung den großen Stein übersah. Anstatt die Kuh einzuholen, die durch das Gatter abhauen wollte, stürzte er vom Quad.
Denham besuchte ihn daraufhin im Krankenhaus und erwähnte dabei, dass Fliss einen Helfer gebrauchen könnte. Falls Hewitt ein ruhiges Plätzchen zum Genesen suchte, würde sich das anbieten. Er sah ein, dass er für niemanden von Nutzen sein würde, solange er den Verlust seines Bruders nicht irgendwie verarbeitete. Der nächste Unfall wartete praktisch schon auf ihn. Daher bat er einen Nachbarn, Mayfields Winterhafer einzuholen, arrangierte es, dass Ava für die sechs Wochen, die seine gebrochene Schulter zum Heilen benötigen würde, Besuch von ihrer Mutter bekäme, und packte seinen Seesack. Und so war er jetzt in Woodlea.
Vor dem historischen Pub setzte er den Blinker und bog rechts ab. Die weißen schmiedeeisernen Verzierungen leuchteten in der Morgensonne. Ein Pub durfte anscheinend nirgendwo fehlen. Selbst in Dörfern, die nur aus einer Handvoll Häusern bestanden, gab es einen.
Er parkte neben einem alten Pick-up vor dem Laden für Farmbedarf. Auf seinem Einkaufszettel standen außer dem T-Stück auch Holz und Nägel, mit denen er den Spalt unter der Hintertür des Haupthauses schließen wollte. Außerdem würde er Vorhängeschlösser und Zutritt-verboten-Schilder kaufen. Denham hatte erzählt, dass die hiesigen Farmer zurzeit Ärger mit Diebstählen und mutwilliger Zerstörung hatten. Durch die einsame Lage war auch Bundara für Diebe attraktiv.
Er fand alles, was er benötigte, und als er das Geschäft wieder verließ, fühlte er sich entspannt.
Genau das brauchte er: Anonymität und einen normalen Alltag. Niemand kannte ihn hier als den Pick-up-Reiter, der zu langsam gewesen war, als der Rodeobulle seinen Bruder abwarf. Er legte die Einkäufe in den Wagen und überquerte die Straße, um in eine Seitengasse einzubiegen. Ein Regenbogenschal mit gehäkelten Lutschern, Gummibärchen und Bonbons schmückte den Zaun vor einem Süßigkeitenladen – ein Werk der Handarbeits-Guerilla, die Woodlea mit bunten Kreationen verschönerte und dem Städtchen damit die Aufmerksamkeit der Touristen sicherte.
Die Türglocke klingelte, als Hewitt den Laden betrat. Ein Farbenmeer leuchtete ihm aus großen, ordentlich aufgereihten Glasdosen entgegen. Er wählte einige Lutscher für Lizzie und Quinn aus, außerdem Schokoladenmandeln für Ava und eine Tüte Lakritz für seinen Vater. Seine Mutter war keine Naschkatze wie die anderen Sinclairs, daher würde er anderswo nach einer Kleinigkeit für sie suchen.
Zurück auf der Hauptstraße, fand er einen Geschenkeladen und entschied sich für ein besticktes Taschentuch mit ihrem Anfangsbuchstaben. Als er das nach Lavendel duftende Geschäft verließ, schaute er auf sein Handy. Noch keine Nachricht von Fliss, dass sie zur Rückfahrt bereit wäre.
Als er aufsah, bemerkte er eine Frau mit kurzen, modisch frisierten grauen Haaren auf dem Bürgersteig gegenüber stehen, die ihn anstarrte. Sie war gut gekleidet und trug eine schwere Perlenkette um den Hals. Er nickte ihr höflich zu, bevor er den Weg zur Post einschlug. Dort hatten die Guerilla-Stricker ebenfalls zugeschlagen. Der Briefkasten war mit leuchtenden Häkel- und Strickquadraten überzogen. Er machte davon ein Foto für seine Mutter, dann ging er hinein.
Er legte seine Geschenke und den Karton, den er in dem Ständer an der Seitenwand ausgesucht hatte, auf den Packtisch und hielt inne, denn die grauhaarige Frau von der anderen Straßenseite kam herein. Der Farmer neben ihm deckte schnell die Adresse auf dem großen Umschlag zu, den er beschriftet hatte, während die Teenagerin gegenüber hastig in ihrer Tasche verschwinden ließ, was sie eigentlich verschicken wollte. Wer immer die Frau war, sie würde wohl seine Angelegenheiten bald zu ihren machen.
Breit lächelnd kam sie in einer Parfümwolke angesegelt. Ihr scharfer, spekulierender Blick erinnerte ihn daran, dass es nicht nur in jedem Dorf einen Pub gab, sondern auch eine Frau, die gern überall die Hand im Spiel hatte. Die zwei anderen Kunden gingen zum Schalter.
»Hallo.«
Ihre überschwängliche Stimme verströmte Interesse und freudige Erregung. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich seinen Hut tief in die Stirn gezogen, aber den hatte er mit Absicht auf Bundara gelassen. Schließlich sollte er sich der Welt wieder zuwenden und sich nicht verstecken.
Er lächelte sie unverbindlich an und wandte sich wieder dem leeren Karton zu. Doch die Frau ignorierte seine nonverbale Botschaft.
Sie streckte ihm die Hand hin. »Edna Galloway. Sie müssen Hewitt sein. Willkommen in Woodlea.«
Er schüttelte ihr die Hand, und ihr fester Händedruck überraschte ihn nicht. »Danke.«
»Ist mir ein Vergnügen. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie kommen. Für Cressy ist es eine Erleichterung, dass jemand bei Felicity wohnt. Die beiden Mädchen stehen sich so nahe, wissen Sie.«
Hewitt nickte. Ihm fiel auf, dass sie Fliss’ ungekürzten Vornamen mit einer gewissen Schärfe aussprach.
Da sie ihn nicht aus der Reserve gelockt hatte, redete sie weiter. »Sie kennen Denham also noch aus seiner Rodeozeit?«
»Ja.«
»Und so haben Sie auch Cressy kennengelernt?«
»Ja.«
Da er sich noch immer nicht weiter dazu äußerte, zog Edna ihre fein gezupften Augenbrauen hoch und blickte auf die Lutscher, die Hewitt gekauft hatte. »Da wird sich aber jemand sehr freuen, wenn er das Päckchen öffnet.«
»Ja.«
Wohlüberlegt packte er die Geschenke in den Karton. Er machte sich keine Illusionen, was Ednas Schweigen anging, und ihm entging auch nicht, dass sie auf seinen linken Ringfinger schaute. Sie würde ihm nicht von der Seite weichen, bis sie ihre Neugier befriedigt hatte. Er legte das bestickte Stofftaschentuch auf die Lakritztüte und schloss den Kartondeckel. Ihre Unterhaltung war beendet, ob ihr das gefiel oder nicht.
Ein großer Mann mit sonnengebräunter Haut und dunkelblonden Haaren betrat das Postamt. Seine Wrangler-Jeans und die Stiefel wiesen ihn als Viehtreiber aus. Seine blauen Augen begegneten Hewitts Blick, und da der Mann ihn angrinste, hatte Hewitt keinen Zweifel mehr, wer er war. Das musste Tanner sein, Denhams Cousin und Meredith’ Sohn. Hewitt nickte ihm zu.
»Hallo, Edna«, grüßte Tanner und kam näher. »Da sehen wir uns schon wieder.«
Hewitt war sich sicher, dass Edna betörend mit den Lidern flatterte. »In der Tat. Schon dreimal in drei Wochen kreuzen sich unsere Wege in der Stadt. Wie schade, dass Bethany heute nicht mitgekommen ist. Erst heute Morgen sagte sie noch, dass sie dich eine Weile nicht gesehen hat.«
»Ja, es ist einen Monat her, seit ich ihr mit dem Fohlen geholfen habe.«
Tanner warf Hewitt einen vielsagenden Blick zu, der darauf drang, hier möglichst schnell zu verschwinden. Den Ausdruck kannte Hewitt. Man sah ihn gewöhnlich bei Viehtreibern, wenn eine Frau auf sie zusteuerte, um sie auf die Tanzfläche zu schleppen. Wenn er auf Wetten stünde, würde er sein Geld darauf setzen, dass Bethany Ednas Tochter war und Tanner Ednas Erwartungen an einen künftigen Schwiegersohn von A bis Z erfüllte.
Edna lächelte noch breiter. »Ein prächtiges Tier, aber ich glaube, es gibt noch ein paar Probleme damit. Komm doch am Sonntag zum Essen, dann kann sie dir davon erzählen, ja?«
»Ich bin am Wochenende weg, aber Bethany kann mich jederzeit anrufen.«
»Das ist sehr liebenswürdig. Ich werde ihr ausrichten, dass du ihren Anruf erwartest.«
»Das … kannst du gerne tun.« Tanner zog an seinem Hemdkragen. »Tut mir leid, dass ich Hewitt entführen muss, aber ich habe Fliss versprochen, ihm die Stadt zu zeigen, und eine Führung durch Woodlea ist ohne einen Imbiss im Royal Arms ihren Namen nicht wert.«
»Das ist wahr. Mein Rodger hatte schon immer eine Vorliebe für das Hähnchenschnitzel, obwohl er sagt, dass er meins am liebsten isst.« Edna blickte Hewitt entschlossen in die Augen. »Wir werden uns ganz bestimmt wiedersehen.« Sie schaute auf sein Päckchen. »Dann können wir unsere Unterhaltung zu Ende führen.«
»Oder eine andere anfangen.«
Edna kniff ihre rosa geschminkten Lippen aufeinander. Die Entschlossenheit in seinem ruhigen Ton war ihr also nicht entgangen. Doch als sie an ihre Perlenkette griff und damit spielte, sah er keinen Verdruss in ihren Augen, sondern Respekt.
»Tun wir es doch gleich. Als Mitglied des Spendenkomitees möchte ich Sie gern persönlich zu unserem diesjährigen Wanderritt einladen.« Ihr Blick wechselte zu Tanner. »Wenn die Ridley-Jungen kommen, wirst du eine starke Hand brauchen, damit sie keinen Unsinn anstellen. Seit Denham mit Cressy zusammen ist, ist er weich geworden.«
Tanner lachte. »Das erzähle ich Denham besser nicht.«
Hewitt verkniff sich ein Grinsen. »Edna, ich würde gern aushelfen, aber ich fürchte, ich werde nicht lange hier sein.«
Ehe sie den Mund öffnen konnte, um ihm das Gegenteil zu empfehlen, schritt er zum Schalter. Als er sich umdrehte, stand Tanner bereits an der Tür, Edna neben ihm.
Erst als sie einen halben Block vom Postamt entfernt waren, verabschiedete sich Edna fröhlich winkend, aber nicht ohne Tanner zu erinnern, dass er mit Bethanys Anruf rechnen müsse.
Nach ein paar Schritten warf Tanner einen Blick über die Schulter und ging langsamer. Er atmete erleichtert auf. »Okay. Jetzt sind wir in Sicherheit.«
Er blieb stehen und streckte Hewitt die Hand hin. »Danke, dass du mitgespielt hast. Ich konnte nicht schnell genug da raus.«
Hewitt schüttelte ihm die Hand. Er fand ihn sympathisch, unabhängig davon, dass Tanner mit Denham verwandt war. »Kein Problem. Danke, dass du vorbeigekommen bist.«
Sie gingen weiter. »Jederzeit gern. Ich bin Fliss über den Weg gelaufen, und sie hat mich gebeten, schleunigst einzugreifen, falls Edna dich aufspürt. Ich habe Edna noch nie so schnell laufen sehen wie eben, als sie die Straße überquert hat, um dir in die Post zu folgen.«
»Ist Bethany ihre Tochter?«
»Ja, und laut Edna ist sie Single. Aber laut Bethany geht sie mit einem Kerl aus Sydney, den sie an der Uni kennengelernt hat und den ihre Mutter nicht billigt.«
»Autsch.«
»Ich weiß.« Tanner hielt ihm die Pubtür auf, und ein intensiver Biergeruch wehte ihnen entgegen. »Eines ist sicher: Mir gefällt es jetzt schon, dass du hier bist. Es kommt nicht oft vor, dass Edna persönliche Einladungen ausspricht.«
Hewitt nickte nur und betrat den Pub. Er zog sein Handy hervor, aber Fliss hatte noch immer nicht geschrieben. Seine Freude darüber, dass sie ihm Tanner zur Verstärkung geschickt hatte, verdrängte er hastig. Er musste seine emotionale Distanz aufrechterhalten. Als er an dem großen Fenster vorbeiging, schaute er suchend die Hauptstraße entlang. Wo immer sie gerade war, hoffentlich lief sie nicht Edna in die Arme, und hoffentlich hatten sich ihre Befürchtungen, die sie vorhin so nervös gemacht hatten, inzwischen zerstreut.
Am Ende der Main Street blieb Fliss stehen und schaute zurück zu den alten Platanen, die im frischen Frühlingsgrün leuchteten. Im Schatten ihrer ausladenden Zweige dösten Hunde auf den Ladeflächen einiger Pick-ups.
Woodlea hatte sich im Lauf der Jahre sehr wenig verändert. Früher hatte sie das gestört, aber jetzt empfand sie bei jedem vertrauten Anblick eine Zugehörigkeit, die sie überraschte. Als Teenager hatte sie es nicht erwarten können, eines Tages wegzuziehen und die Lichter der Großstadt zu sehen. Doch seit ihrer Rückkehr überkam sie immer mehr das beunruhigende Gefühl, vielleicht doch hierher zu gehören. Sie hatte Bundara gekauft und zu ihrem Zuhause gemacht, aber in Wirklichkeit wusste sie nicht, wo ihre Zukunft lag.
Sie seufzte und wickelte sich die Schnüre der pink leuchtenden Heliumballons, die für Zoe bestimmt waren, um die Hand. Ednas weißer Allrad-Truck stand noch an derselben Stelle zwischen dem Friseursalon und dem Second-Hand-Laden. Dank einer Nachricht von Taylor, Woodleas Friseurin, die kürzlich erst aus London zurückgekehrt war, hatte sie der berüchtigten Klatschtante ausweichen können. Es war kein Geheimnis, dass Edna sie nicht besonders gut leiden konnte.