Zwei Menschenkinder - Gert Rothberg - E-Book

Zwei Menschenkinder E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Das kleine Mädchen am Zaun trug ein weiß-rotes Kleidchen und hatte lange goldblonde Haare. Seine großen Augen waren sehnsüchtig auf die Gebäude des Tierheims Waldi & Co. gerichtet. Wie herrlich wäre es, dachte Silke, wenn sie sich alle Tiere, die hier wie in einem Zoo gehalten wurden, anschauen dürfte! Aber sie war, als ihre Omi und ihre Uromi sich zum Mittagsschlaf zurückgezogen hatten, rasch weggelaufen. Nun musste sie zusehen, dass sie wieder rechtzeitig zurück war. Denn immer, wenn ihre Mutter fortging, um halbtags bei einem Rechtsanwalt zu arbeiten, sagte sie: »Silke, sei folgsam, damit wir keinen Ärger bekommen!« Silke war jedoch der Ansicht, dass es sich nicht lohnte, folgsam zu sein. Es gab immer Ärger. Auch dann, wenn sie folgsam war. Seitdem ihr Vater eine andere Frau geheiratet hatte, wohnte sie mit ihrer Mutter in Bachenau im Hause der Uromi. Omi und Uromi nörgelten aber ständig an irgendetwas herum. Ihre Mutter weinte deshalb oft. Doch wenn Silke fragte, »können wir nicht wieder weggehen, Mutti?«, dann schüttelte ihre Mutter traurig den Kopf. Silke schreckte aus ihren trüben Gedanken auf, denn hinter dem Zaun sagte jemand plötzlich: »Hallo!« Rasch weg dachte Silke, aber dann sah sie in ein sehr hübsches junges Gesicht und machte rasch einen Knicks. »Möchtest du die Tiere sehen?«, fragte die junge Frau fröhlich. Silke überlegte und steckte den Finger in den Mund.

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Sophienlust Extra – 17 –Zwei Menschenkinder

Barbara und Tina haben es nicht leicht …

Gert Rothberg

Das kleine Mädchen am Zaun trug ein weiß-rotes Kleidchen und hatte lange goldblonde Haare. Seine großen Augen waren sehnsüchtig auf die Gebäude des Tierheims Waldi & Co. gerichtet.

Wie herrlich wäre es, dachte Silke, wenn sie sich alle Tiere, die hier wie in einem Zoo gehalten wurden, anschauen dürfte! Aber sie war, als ihre Omi und ihre Uromi sich zum Mittagsschlaf zurückgezogen hatten, rasch weggelaufen. Nun musste sie zusehen, dass sie wieder rechtzeitig zurück war. Denn immer, wenn ihre Mutter fortging, um halbtags bei einem Rechtsanwalt zu arbeiten, sagte sie: »Silke, sei folgsam, damit wir keinen Ärger bekommen!«

Silke war jedoch der Ansicht, dass es sich nicht lohnte, folgsam zu sein. Es gab immer Ärger. Auch dann, wenn sie folgsam war. Seitdem ihr Vater eine andere Frau geheiratet hatte, wohnte sie mit ihrer Mutter in Bachenau im Hause der Uromi. Omi und Uromi nörgelten aber ständig an irgendetwas herum. Ihre Mutter weinte deshalb oft. Doch wenn Silke fragte, »können wir nicht wieder weggehen, Mutti?«, dann schüttelte ihre Mutter traurig den Kopf.

Silke schreckte aus ihren trüben Gedanken auf, denn hinter dem Zaun sagte jemand plötzlich: »Hallo!«

Rasch weg dachte Silke, aber dann sah sie in ein sehr hübsches junges Gesicht und machte rasch einen Knicks.

»Möchtest du die Tiere sehen?«, fragte die junge Frau fröhlich.

Silke überlegte und steckte den Finger in den Mund.

»Komm zum Tor!«, sagte Andrea von Lehn munter. »Ich mache dir auf.«

Da konnte Silke nicht länger widerstehen. Scheu betrat sie das Tierheim, an das sich die Koppel anschloss, auf der ein Esel und ein Liliput-Pferdchen weideten.

»Ich bin Tante Andrea«, sagte die junge Frau. »Wie heißt du?«

»Silke.«

»Bist du aus Bachenau?«

Silke nickte schüchtern.

Andrea von Lehn nahm die Hand des kleinen Mädchens in die ihre. »Ich habe dich noch nie gesehen.«

»Meine Mutti und ich sind noch nicht lange hier.« Silke zuckte zusammen, meinte jedoch sofort tapfer: »Der große Hund tut wohl nichts?«

»Nein. Severin ist brav und mag Kinder sehr gern.«

»Er ist sehr groß!«

»Severin ist eine Dogge. Schau, da kommt auch unser Waldi.«

Der Dackel, von dem das Tierheim seinen Namen erhalten hatte, hob schnuppernd die Schnauze.

»Der ist aber süß!«, rief Silke entzückt, hatte aber gleich darauf noch mehr Grund, entzückt zu sein. Da gab es die Braunbärin Isabell und deren Junge Taps und Tölpl, dann die Schimpansen Luja und Batu, die Füchse Pitt und Patt und Spezi, den Igel Mumps, das Reh Bambi und eine ganze Reihe von anderen Tieren. Silke vergaß vollständig, dass sie weggelaufen war und dass ihre Mutter inzwischen von der Arbeit nach Hause kommen könnte.

So lebhaft war Silke zu Hause nie. Aber dort musste sie auch immer auf Uromi Rücksicht nehmen oder wegen Omis Migräne ganz leise sein. Doch jetzt lachte sie hellauf und hatte viele Fragen.

Da Silke sich von den Bären kaum losreißen konnte, erzählte Andrea ihr auch, dass die Braunbärin Isabell früher mit einer Bärentreiberfamilie durch die Lande gezogen war. Damals hatte man ihr einen Ring durch die Nase gezogen und sie zum Rhythmus einer Trommel, die das Mädchen Manuela geschlagen hatte, tanzen lassen. Aber eines Tages hatte sich die Bärin so schwer an der Pfote verletzt, dass sie nicht mehr hatte tanzen können. Der Bärentreiber, der keinen unnützen Fresser hatte gebrauchen können, hatte deshalb beschlossen, Isabell töten zu lassen. Doch Manuela hatte das kranke Tier heimlich ins Tierheim gebracht. Dr. von Lehn hatte die Pfote behandelt und die Bärin gekauft. Nachdem Andreas Mann den Ring aus Isabells Nase entfernt hatte und die Pfote verheilt war, hatte die Bärin ihre beiden Kinder Taps und Tölpl zur Welt gebracht.

»Du kannst dir denken«, sagte Andrea zu dem atemlos lauschenden Kind, »was das für eine große Freude für uns war. Schau nur, wie hübsch die kleinen Bären sind! Ihr Fell ist schokoladenbraun, doch beide haben eine weiße Halskrause.«

Silke betrachtete die Bärenkinder hingerissen. »Und ein Bärenkind hat eine weiße Pfote.«

»Das ist Taps«, entgegnete Andrea lächelnd. »So können wir die putzigen Kerle gut auseinanderhalten.«

Silke lauschte plötzlich mit ängstlicher Miene zur Straße hin. Dort hatte ein Auto angehalten. »Vielleicht ist das meine Omi!«, murmelte sie. »Ich bin nämlich weggelaufen.«

Andrea antwortete ruhig: »Nein, nein, das ist unser Tierpfleger, Herr Koster. Warum bist du denn weggelaufen?«

Silke schob verlegen die Schultern vor. »Meine Mutti fährt manchmal mit mir am Tierheim vorbei. Sie hat gesagt, dass hier viele Tiere sind.«

»Warum ist deine Mutti nicht mit dir hereingekommen?«

»Weil …« Das Kind senkte den Kopf. Der Glanz in den großen Augen erlosch. »Wir dürfen nur das tun, was Omi und Uromi erlauben. Sie wollten nicht, dass wir das Tierheim anschauen.« Alle Freude schwand aus dem süßen Kindergesicht, als Silke fortfuhr: »Ich muss jetzt gehen. Hoffentlich schlafen Omi und Uromi noch. Ich bin schon mal weggelaufen und habe mit anderen Kindern gespielt. Da hab’ ich tüchtig Haue gekriegt. Meine Mutti hat deshalb geweint.«

Andrea musterte das kleine Mädchen entsetzt. »Weißt du was?«, schlug sie vor. »Ich fahre dich nach Hause.«

Silke lächelte dankbar. »O ja, so schnell könnte ich gar nicht laufen, wie du fahren kannst.« Für einen Moment wurde sie wieder lebhafter. Doch als sie dann im Auto saß, schien sie die Furcht vor der Strafe wieder zu überwältigen.

»Dort wohnen wir!«, sagte sie schließlich bedrückt, um dann ganz erschrocken hinzuzufügen: »Meine Mutti ist schon zurück. Dort steht ihr Wagen.«

»Ich werde mit deiner Mutter sprechen«, versuchte Andrea das Kind zu beruhigen.

Silke flüsterte: »Meine Mutti ist nie böse mit mir. Aber sie kriegt oft Schelte meinetwegen.«

Andrea stoppte den Wagen. Ihr Blick huschte über das behäbige Haus, das ihr nicht unbekannt war. Hier wohnte die alte Frau Nußdorf, deren verstorbener Mann einst Landwirtschaftsrat gewesen war. Frau Nußdorf war also Silkes Uromi.

Jetzt tauchte bei der Gartenpforte eine junge Frau auf, deren Gesicht blass und ernst war. »Mutti!«, rief Silke, und Andrea öffnete rasch die Wagentür.

Barbara von der Mühlen schloss ihr Töchterchen erleichtert in die Arme. »Wo warst du denn?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Gerade wollte ich dich suchen.«

Silkes Lippen bebten vor Erregung. »Ich bin im Tierheim gewesen. Tante Andrea hat mir alles gezeigt und mich heimgefahren.«

Andrea kam lächelnd auf die junge Mutter zu. »Silke hat großes Interesse für die Tiere gezeigt. Sie sollten öfters mit ihr vorbeikommen.«

Die beiden Frauen reichten einander die Hände. Andrea dachte dabei: Sie ist bestimmt nicht älter als fünfundzwanzig. Schade, dass sie so resigniert wirkt. Sie ist sehr hübsch.

»Mutti«, begann Silke ganz begeistert, »du musst dir unbedingt die Bärenfrau Isabell und ihre beiden Kinder Taps und Tölpl ansehen …« Dann aber erstarb ihr das Wort im Munde, denn in der Haustür tauchte ihre Großmutter auf.

Auch Barbara von der Mühlen wirkte noch bedrückter als zuvor, als ihre Mutter mit schneidender Stimme rief: »Wo bleibt ihr? Kommt sofort herein!«

»Entschuldigen Sie, bitte!«, murmelte Barbara von der Mühlen. »Herzlichen Dank, dass Sie Silke zurückgebracht haben. Wir werden Sie gern besuchen, wenn es sich einrichten lässt.«

*

Als Barbara von der Mühlen mit Silke das Haus betrat, standen die beiden alten Frauen mit düsteren Mienen in der Diele. Sophie Nußdorf stützte sich schwer auf ihren Stock, während Barbaras Mutter, Henny Klasen, die Hände vor der Brust gefaltet hielt.

Als Barbara an den beiden vorüberging, sagte sie gepresst: »Ich bringe Silke zu Bett.«

»Sonst hast du nichts zu sagen?«, fragte Henny Klasen empört.

Silke duckte ängstlich den Kopf.

»Doch!«, antwortete Barbara ruhig. »Aber zuerst bringe ich Silke zu Bett.«

Als die junge Frau zurückkehrte, fand sie die beiden alten Damen im Wohnzimmer. »So kann es nicht weitergehen!«, stellte Sophie Nußdorf fest. »Du unterstützt ja Silkes Unarten noch!«

Barbara hatte sich ebenfalls gesetzt. Sie war sehr bleich und innerlich verzweifelt, weil sie keinen Ausweg aus ihrer Lage wusste.

»Ja«, erwiderte sie ruhig, »so kann es nicht weitergehen. Silke muss in den Kindergarten. Ich kann verstehen, dass sie wegläuft. Es ist unmöglich, dass sie nie mit anderen Kindern spielen darf und dass sie ständig eingesperrt ist, wenn ich nicht zu Hause bin.«

Henny Klasen griff sich nervös an die Schläfen. »Du vergisst, in welcher Situation wir uns durch deine gescheiterte Ehe befinden. Was nützen gerichtliche Entscheidungen, wenn dein geschiedener Mann weder für dich noch für das Kind einen Cent bezahlt und im Ausland nicht greifbar ist? Hättest du vor sieben Jahren Herrn Olsen geheiratet …«

»Aber Mama!« Barbara schüttelte leicht belustigt den Kopf. »Immer wieder fängst du von Herrn Olsen an.«

»Und mit Recht!«, meldete sich jetzt Barbaras Großmutter zu Wort. »Du hast geheiratet, ohne einen Schulabschluss zu haben. Jetzt hast du überhaupt keine abgeschlossene Ausbildung, keinen Beruf, nichts. Die untergeordnete Arbeit bei dem Rechtsanwalt bringt dich keinen Schritt weiter, und wenn du den Stenokurs hinter dir hast, bist du noch lange nicht perfekt. Herr Olsen würde dich und uns aus einer unliebsamen Situation befreien. Ich finde es wunderbar, dass er dich auch jetzt noch heiraten würde. Jetzt, nachdem du geschieden bist und ein Kind hast. Das zeugt von seiner wahren Liebe zu dir.«

Henny Klasen sah ihre Tochter beschwörend an: »Du solltest nicht mehr zögern, Barbara! Herr Olsen bietet dir ein sorgloses Leben und bringt Silke viel Verständnis entgegen. Das Kind braucht die feste Hand eines Vaters. Du wirst mit Silke nicht fertig. Wenn wir aber zu strengen Maßnahmen greifen, fällst du uns stets in den Arm. Silke wird immer schwieriger.«

Barbara presste nervös die Hände zusammen. Es hatte keinen Sinn, ihrer Mutter zu widersprechen, die sich einbildete, mit ihren beiden Töchtern Barbara und Tina bisher nur Pech gehabt zu haben. Da sie glaubte, bei ihren Töchtern Erziehungsfehler gemacht zu haben, versuchte sie nun, sich ihrer Enkelin gegenüber ganz besonders streng zu verhalten. Silke sollte anders erzogen werden als ihre Mutter und auch besser als ihre Tante Tina, die mit siebzehn verzweifelt darum kämpfte, einen Mann heiraten zu dürfen, der der Familie nicht genehm war.

»Wie peinlich«, sagte Sophie Nußdorf betont, »dass ausgerechnet Frau von Lehn Silke zurückgebracht hat. Ihre Mutter ist Frau von Schoenecker. Sie besitzt das Kinderheim Sophienlust und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder aufzunehmen, die vom Schicksal besonders hart geprüft sind. Wer weiß, was Silke bei Frau von Lehn alles ausgeplaudert hat. Ich möchte nicht, dass man den Eindruck gewinnt, Silke läuft weg, weil sie sich hier unverstanden fühlt.«

*

Mit dieser Annahme traf Silkes Ur­omi allerdings den Nagel auf den Kopf. Andrea machte sich wirklich Gedanken über das kleine Mädchen, das nicht einmal mit anderen Kindern spielen durfte. Schließlich war sie selbst noch immer mit ihrem Elternhaus eng verbunden. Denise von Schoenecker, ihre zweite Mutter, war in erster Ehe mit Dietmar von Wellentin verheiratet gewesen, der tödlich verunglückt war. Seine Großmutter, Sophie von Wellentin, hatte Denises Sohn Dominik, der aus der Ehe mit Dietmar stammte, kurz vor ihrem Tod als Alleinerben eingesetzt. Da Dominik zu dieser Zeit noch sehr klein gewesen war, hatte Sophie von Wellentin Nicks Mutter als Verwalterin des sehr beachtlichen Vermögens bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr eingesetzt. Gleichzeitig hatte sie das Vermächtnis hinterlassen, das Gut Sophienlust in ein Heim für unglückliche und vom Schicksal schwer geprüfte Kinder umzuwandeln.

Denise hatte dieses Vermächtnis von Anfang an mit viel Liebe und Freude erfüllt. Später hatte sie dann ihren Gutsnachbarn Alexander von Schoenecker geheiratet, der – wie sie selbst – verwitwet gewesen war und Andrea und deren älteren Bruder Sascha mit in die Ehe gebracht hatte. Mit Dominik, der jetzt bereits fünf Jahre alt war, hatte Andrea und Sascha bald die gleiche geschwisterliche Liebe verbunden wie später mit dem kleinen Henrik, der aus der Ehe von Denise und Alexander von Schoenecker hervorgegangen war.

Seit ihrer zweiten Eheschließung lebte Denise auf Gut Schoeneich. Frau Rennert hatte seitdem in Sophienlust die Heimleitung übernommen, doch Denise war trotzdem stets für die Kinder von Sophienlust da.

Andreas gutes Herz war nun auch durch Silkes Beruf alarmiert. Sie berichtete ihrer Stiefmutter, die sie sich stets zum Vorbild nahm, ausführlich über die Begegnung mit dem kleinen Mädchen. Wenn jemand Rat wusste, so war sie es. Ihre Stiefmutter hatte noch immer einen Weg gefunden, einem Kind zu helfen.

Aber diesmal blieb Denise von Schoenecker zunächst sehr zurückhaltend, sodass Andrea leicht befremdet meinte: »Aber Mutti, ich habe doch genau gesehen, wie unglücklich die kleine Silke ist. Sie hat sich so sehr gefreut, die Tiere endlich sehen zu können. Trotzdem hat sie jeden Augenblick ängstlich zur Straße gelauscht, denn sie war ja weggelaufen und befürchtete, dass ihre Uromi oder ihre Omi kommen und schrecklich böse sein könnten.«

Denise warf nachdenklich ein: »Silke wusste genau, dass sie etwas getan hatte, was ihr verboten worden war. Es war also eine ganz natürliche Reaktion.«

»Aber warum darf sie nicht mit anderen Kindern spielen? Warum hat ihr die Mutter nicht das Tierheim gezeigt, obwohl Silke sie darum gebeten hat? Warum darf Frau von der Mühlen nur das tun, was die beiden alten Frauen erlauben?« Andrea musterte Denise forschend. Dann fuhr sie fort: »Da stimmt doch etwas nicht! Silkes Mutter wäre sehr hübsch, wenn sie nicht so verhärmt aussehen würde. Kennst du die alte Frau Nußdorf eigentlich?«

Denise nickte: »Natürlich. Sie hat zu Lebzeiten ihres Mannes eine Rolle gespielt, war caritativ tätig und hat mir in früheren Jahren sogar einige Male geholfen, neue Eltern für meine Waisenkinder zu finden. Ihre Tochter, Henny Klasen, wohnt bei ihr, seitdem sie Witwe geworden ist. Sie hat zwei Töchter. Von der jüngeren, die, glaube ich, Tina heißt, hört und sieht man nichts. Barbara von der Mühlen ist erst seit kurzer Zeit hier. Sie scheint geldlich von den beiden Frauen abhängig zu sein. Vielleicht liegt hier des Rätsels Lösung. Die junge Frau ist geschieden, und das mag für die überaus korrekte Frau Nußdorf eine entsetzliche Tatsache sein.«

»Wenn du Frau Nußdorf so gut kennst«, schlug Andrea hartnäckig vor, »so könntest du sie doch mal besuchen. Dein Einfluss auf andere Menschen ist doch sagenhaft, Mutti! Vielleicht kannst du erreichen, dass Silke nach Sophienlust kommen darf, um dort mit unseren Kleinen zu spielen.«

»Ja«, erwiderte Denise schließlich mit ihrer melodisch schwingenden Stimme, »ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Frau Nußdorf ist in letzter Zeit sehr verbittert geworden. Ihre Tochter, Henny Klasen, erhält nur eine kleine Pension, und Frau von der Mühlen soll ganz mittellos sein. Mit Silke sind es also drei Personen, die Frau Nußdorf mehr oder weniger in ihrem Hause ernährt. Man muss das Problem sehr vorsichtig angehen. Aber es wird mir schon etwas einfallen.«

*

»Hallo!«, sagte Barbara leise, denn alle Hausbewohner hielten im Augenblick Mittagsschlaf. Sie hatte gerade das Haus betreten, als das Telefon sich gemeldet hatte. »Du, Tina?«, sagte sie dann langgedehnt, denn die Schwester hatte sich längere Zeit in Schweigen gehüllt. Sie lebte, seit sie sich mit Mutter und Großmutter wegen ihrer Liebe zu Alwin Steinhausen völlig entzweit hatte, bei Tante Maria in Frankfurt.

Die Steinhausens waren einst ihre Nachbarn gewesen, damals, als sie mit ihren Eltern noch in Bad Homburg gewohnt hatten. Die beiden Familien waren damals in einen unliebsamen Prozess verwickelt gewesen, dessen Anlass eine Buche gewesen war, die das meiste Laub in des Nachbarn Garten abgeworfen hatte. Daraus hatten sich ungute Worte über den Zaun ergeben, die schließlich ihre Fortsetzung vor Gericht gefunden hatten.

Doch vor einem Jahr hatte sich Alwin, der älteste Sohn der Steinhausens, in Tina verliebt. Er lebte jetzt wie sie in Frankfurt und finanzierte sein Studium mit Hilfe eines Stipendiums und einigen Gelegenheitsarbeiten, da sein Vater gestorben war. Tinas Mutter und Großmutter aber waren entsetzt gewesen, als sie erfahren hatten, an wen Tina ihr Herz verloren hatte.

Schon vor drei Monaten hatte Tina ihre Mutter um die Erlaubnis gebeten, Alwin heiraten zu dürfen. Doch sie hatte eine glatte Ablehnung erhalten.

»Es ist mir ein Rätsel«, hatte Henny Klasen vor einem Vierteljahr zu Barbara gesagt, »dass Tina in dir nicht ein abschreckendes Beispiel sieht. Du hast mit achtzehn diesen von der Mühlen geheiratet, nachdem du mir die Genehmigung dazu abgerungen hattest. Ich dachte, Tina würde gescheiter sein!

Was ist nur in euch gefahren, dass ihr noch als die reinsten Kinder auf den nächstbesten Mann hereinfallt?«

»Ist etwas passiert?«, fragte Barbara jetzt, denn die Stimme ihrer Schwester kam ihr so merkwürdig gepresst vor.

Tina erwiderte: »Ich wollte dir nur rasch sagen, dass ich dir postlagernd geschrieben habe. Vernichte bitte den Brief, sobald du ihn gelesen hast.«

»Du machst es aber spannend!« Barbara lauschte ins Treppenhaus, aber es war noch alles still. »So sag doch ein Wort! Worum handelt es sich denn?«

»Der Brief muss schon da sein. Hole ihn dir, dann weißt du Bescheid. Ich muss jetzt einhängen. Schreibe mir bitte gleich eine Antwort. Also, auf Wiedersehen! Ich höre die Tante.«

Barbara sah auf ihre Uhr und beschloss, rasch zur Post zu fahren. Sie konnte es kaum erwarten, Tinas Mitteilung in Händen zu halten.

Voller Unruhe öffnete sie den Brief dann im Auto, und als sie die Zeilen überflogen hatte, entschlüpfte ihr ein Schrei des Entsetzens. Tina schrieb ganz sachlich, dass sie von Alwin ein Kind erwarte und dies nun bald nicht mehr verheimlichen könne. Alwin und sie würden sofort heiraten, wenn Mama die Genehmigung dazu gäbe. Es könne ihr doch wohl nicht daran liegen, dass ihr Enkelkind unehelich geboren werde. Deshalb bitte Tina Barbara herzlich, mit Mama zu sprechen, sobald Tante Maria mit ihr telefoniert habe. Alwin habe vor, am Sonntag ganz offen mit der Tante zu sprechen, die danach wohl nichts Eiligeres zu tun haben werde, als mit Mama zu telefonieren.

»Du kannst dir denken«, schrieb Tina abschließend, »dass Alwin und ich jetzt vor großen Problemen stehen. Trotzdem freuen wir uns auf das Baby. Irgendwie werden wir es geldlich schon schaffen. Bitte, rede Mama zu, damit sie endlich ihre sture Haltung aufgibt.«

Das war leichter gesagt als getan. Barbara trat ganz verstört die Rückfahrt an. Die Stimmung im Haus war schon trist genug. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Tante anrief, um von Tinas Zustand zu berichten!

Barbara verbrachte den Sonntag in nervöser Unruhe. Sie erwartete jeden Augenblick den Anruf der Tante. Dieses sich im Anmarsch befindliche Tief ließ sie noch schweigsamer als sonst sein. Silke wollte unbedingt ins Tierheim, aber ihre Uromi war strikt dagegen. Stattdessen machten alle einen Spaziergang in die nahe gelegene Waldschenke, um dort Kaffee zu trinken. In einem kleinen Gehege konnte man einige Rehe bewundern.

»Sieh doch«, sagte Henny Klasen munter, »wie entzückend die Tiere sind!«

Silke legte den Kopf schief und erwiderte trotzig: »Im Tierheim gibt es auch ein Reh. Es heißt Bambi. Es gibt dort aber noch viele andere Tiere. Sogar eine Schlange, die aber gar nicht böse ist.«

Silke unterbrach ihr Geplauder und sah interessiert auf einen Jungen, der an den Zaun getreten war und ebenfalls die Rehe betrachtete.

Sophie Nußdorf nahm den Arm ihrer Tochter und nickte ihr zu: »Komm jetzt, ich kann nach dem Spaziergang nicht mehr so lange stehen. Wir wollen uns einen Platz im Schatten suchen.«

»Ich bleib’ noch ein bisschen!« Silke wich geschickt der Hand ihrer Uromi aus und hüpfte den Zaun entlang. Neben dem Jungen blieb sie stehen und sagte wichtigtuerisch: »Die Rehe sind sehr hübsch. Aber im Tierheim gibt es noch viel schönere Tiere. Warst du mal dort?«