Zwielicht 13 - Achim Hildebrand - E-Book

Zwielicht 13 E-Book

Achim Hildebrand

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Beschreibung

Zwielicht 13 bietet die gewohnte Mischung aus Kurzgeschichten, Übersetzungen und Artikeln. Das Titelbild ist von Björn Ian Craig. Erhältlich als Taschenbuch und E-Books (Amazon) und E-Books (andere Plattformen). Geschichten: Albert Richard Wetjen - Schiff des Schweigens (1932) Carl Denning - Elsa Lea Reiff - Der Mönch und die Pest Nina Teller - Das Monsterritual Tomas Schauermann - Du musst Werner Hermann - Der Pentagondodekaeder von Gramatneusiedl Waldemar Klauser - Dark Waters Johanna Landes - Flüsternde Schatten Ansgar Sadeghi - Das perfekte Riff Gard Spirlin - Dann singe ich ein Lied für dich Jana Grüger - Mann beißt Hund Jens-Philipp Gründler - Luzide Träume Stefan E. Pfister - Der Fettwächter David Wright O'Brien - Das Alp-Traumhaus (1943) Catharina Bombardi - Rote Blumen im Schnee Thomas Kodnar - Die Hand Ralf Kor - Das Sterben der Unartigen Karin Reddemann - Nette Kerle Algernon Blackwood - Egyptian Sorcery (1921) Artikel: Achim Hildebrand – Die Bean Family Karin Reddemann - Völlig unmöglich, damit aufzuhören, Leute zu vergiften Ralf Steinberg - Jenseits sonnendurchfluteter Sommertage

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Zwielicht 13

Titel SeiteGeschichtenArtikel

Titel Seite

Hrsg. Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Zwielicht 13

Horrormagazin

Horrormagazin Zwielicht

Band 13

Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Kontakt:[email protected]

Das Copyright der einzelnen Texte liegt bei den jeweiligen AutorInnen

Titelbild: Björn Ian Craig

Lektorat: Marianne Labisch, Julia Annina Jorges

August 2019

Inhalt

Vorwort

Liebe Freunde des gepflegten Grauens,

zu Beginn dieses Jahres sollte die 12. Fassung des Sozialgesetzbuches durch die 13. Fassung aktualisiert werden. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil kündigte jedoch an, diese zu überspringen und gleich mit der Nummer 14 weiterzumachen. Wie er sagte, um Rücksicht auf jene zu nehmen, die bei der Zahl 13 ein ungutes Gefühl hätten. Er selbst sei kein abergläubischer Mensch und habe auch keinerlei Angst vor Unglückszahlen. Nun ja, Hubertus …

Wie auch immer, wir bei Zwielicht leiden keinesfalls unter Triskaidekaphobie, wie man die Angst vor der 13 medizinisch nennt. Im Gegenteil, wir haben uns schon lange auf diese Ausgabe gefreut und wünschen uns nichts mehr, als dass den Helden und Heldinnen in den Geschichten genug Unheil zustößt, um unsere Leser bestens zu unterhalten.

Was könnte etwa unangenehmer sein, als sich plötzlich im Körper eines Hundes wiederzufinden und nicht zu wissen, ob und wie man wieder hinausgelangt? Oder in einer alten Schleuse ein totes Monster zu entdecken, das vielleicht nicht so ganz tot ist? Oder zu erkennen, was es mit dem „Leberhasen“ und dem „Nierengockel“ auf sich hat? Ganz zu schweigen von einer alten Bettlerin, die in Reimen bettelt.

Damit möchte ich es bei den Ausblicken auch schon belassen – selber stöbern und entdecken ist schließlich nicht der geringste Teil des Spaßes.

Natürlich kommen auch die Klassiker nicht zu kurz. Algernon Blackwood ist mit einer neuen Übersetzung dabei, und mit Albert WetjensSchiff des Schweigenshat Matthias Käther eine echte Rarität ausgegraben, zu der er überdies interessante Hintergrundinformationen liefert.

Im Artikelbereich bringen wir einen Bericht über das Wirken der Giftmörderin Gesche Gottfried, ausführliche Rezensionen zu lesenswerten Werken der phantastischen Literatur sowie eine kurze Geschichte des „Leberfressers“ John Johnston.

Wie immer geht unser Dank an alle Autoren, die mit ihren Texten zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Ganz besonders auch an Marianne Labisch und Julia Annina Jorges für ihre sorgfältige Lektoratsarbeit sowie an Björn Craig, der dem Zwielicht-Magazin mit seinen Covern mittlerweile ein unverwechselbares Gesicht gegeben hat.

Herzlichen Dank auch an alle, die uns beim Vincent Preis 2018 mit ihrer Stimme unterstützt haben. Zwielicht hat es diesmal auf sage und schreibe drei erste Plätze gebracht.

Zwielicht 12 für die Kategorie „Beste Anthologie/Magazin/Sekundärwerk“

Zwielicht 12 für die beste Horrorgrafik

Der Blackwood-Sammelband

Aileen

für das beste internationale Literaturwerk

Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass wir darauf ziemlich stolz sind.

Damit genug der Vorbemerkungen. Wir wünschen unseren Lesern eine spannende Lektüre und tausend aufgestellte Nackenhärchen.

Mit dunklen Grüßen

Geschichten

Albert Richard Wetjen - Schiff des Schweigens

Vorbemerkung des Übersetzers

Lissabon zählt zu den schönsten Städten der Welt. Vielleicht auch deswegen, weil sie, zumindest in der Feriensaison, eine atemberaubend hohe Anzahl von Sonnentagen hat. Wenig kommt für mich dem Genuss gleich, imJardim Botto Machadozu sitzen und auf den Tejo zu schauen, der an dieser Stelle kurz vor dem Atlantik die Breite des Mississippi hat. Und dort zu lesen.

Doch das Lissabon an dunklen Tagen ist gespenstisch. Wenn es regnet, erinnert die Stadt an das Lovecraftsche Innsmouth – die gewundenen engen Gassen derAlfamawirken bedrohlich, und die sonst so freundlichen fetten Katzen blicken feindselig und raubtierhaft aus finsteren Flureingängen. Ein Brodem von Fisch, Verwesung und ranzigem Benzin liegt in der Luft.

So ein Tag war es, als ich beim vorjährigen BesuchShip of Silencevon Wetjen las. Es war meine Gruselgeschichte des Jahres 2018, und ich gebe zu: möglich, dass der düstere Tag zum Schauder beigetragen hat. Doch als ich sie dann in Berlin übersetzte, war der Eindruck noch genauso stark.

Dabei ist sie nur indirekt eine Entdeckung von mir, weil sie aus einer neuen Anthologie stammt, die Mike Ashley für den verdienstvollen Verlag der British Library herausgegeben hat.

Mit ihrer neuen SerieTales of the Weirdist der British Library ein kleiner Sensationserfolg gelungen. 2016 kam man dort auf die Idee, die Schätze britischer phantastischer Literatur zu heben und in Taschenbuchform herauszugeben.Lost in a Pyramidwar ein Volltreffer – 12 Horror-Storys um Mumien, Gräber und Flüche zwischen 1869 und 1910, darunter Klassiker wie Conan DoylesLot No. 249, aber auch viele Raritäten wieThe Dead Handvon Hester White. Bald sollten weitere Bände folgen, und inzwischen ist das Programm der Horror-Klassiker-Reihe für 2019 beachtlich aufgestockt worden – fast im Monatsrhythmus erscheinen neue Bände.

Herausragend sind darunter die thematischen Anthologien von Mike Ashley, u. a. eine mit alten See-Horror-Geschichten (From the Depths, 2018) und eine mit schaurigen Eisenbahn-Storys (The Platform Edge, 2019).

The Ship of Silencehabe ich ausFrom the Depths(Aus der Tiefe)entnommen. Die Geschichte, offensichtlich angeregt durch den authentischen Fall des GeisterschiffsMarie Celeste, stand ursprünglich imBlue Book Magazinevon 1932, einem außergewöhnlichen All-Story-Pulp (was heißt, dass es hier keine Festlegung auf Genres gab).Blue Bookwar überreich, ja fast schon comichaft illustriert, oft mehrfarbig, und damit etwas ganz Besonderes. Fast auf jeder Seite fand sich ein Bild. Leider besitze ich die Ausgabe weder als Scan noch haptisch; es wäre zu schön gewesen, zu dieser Story stimmungsreiche Illustrationen beisteuern zu können.

Das Heft ist extrem selten – Ashley wird sich des leichter zugänglichen Nachdrucks bedient haben, der imAvon Fantasy ReaderNr. 13 von 1950 erschien. Entdeckt und herausgegeben hat die Erzählung dort David A. Wollheim, also der Verleger mit der Fantasy-Supernase, der Tolkien populär machte.

Auch in anderer Hinsicht ist die Story bemerkenswert. Lange weigerten sich die Pulp-Magazine, unheimliche Literatur in ihre Blätter mit aufzunehmen, obwohl das Publikum danach hungerte. Erst mit der Gründung vonWeird Tales(1923) undAmazing Stories(1926) gab es spezielle Pulps dafür. Zunächst wurden diese Magazine von der Konkurrenz ignoriert, weil sie als Zeitungen für Freaks galten. Erst mit der zunehmenden Anerkennung vonWeird TalesundAmazingum 1930 und dem Massenerfolg desDime Mystery Magazine(1933) hielten Grusel- und Horrorgeschichten auch Einzug in die anderen Blätter.

Albert R. Wetjen (1900-1947) war kein eigentlicher Horror-Autor, sondern spezialisiert auf Seefahrt-Geschichten, die in vielen Magazinen der 20er- und 30er-Jahre erschienen und bei Redakteuren wie Lesern viel Anerkennung fanden. Kein Wunder, denn er berichtete aus eigener Erfahrung. Er war lange zur See gefahren, und anders als dem Horror-Genie William Hope Hodgson hat ihm das wohl auch Spaß gemacht. Er war Brite deutscher Abstammung, emigrierte in den 20ern in die USA und erhielt dort 1925 die Staatsbürgerschaft. Ein Jahr später bekam er denO.-Henry-Preisfür die beste Kurzgeschichte des Jahres (Command). Hier inZwielichterscheint die deutsche Erstübersetzung vonShip of Silence.

Weil diese Geschichte wahr ist, hat sie kein Ende …

Es war spätabends und sehr heiß, die klebrige tropische Luft erdrückte uns fast und schien auch die Lichter der Küstenstadt zu dämpfen. Das Wasser des Hafens wirkte wie weicher Samt, der die Ankerkette umschmeichelte und sich am Rumpf des kleinen Kaffeefrachters dahinzog, der mich nach Santos, Brasilien, gebracht hatte. Wir tranken Tonics, eiskalte Gin-Longdrinks, und plauderten über das Meer im Allgemeinen und über Schiffe, die in seiner mysteriösen Unendlichkeit verschwunden waren, im Besonderen. Old Billings, das muss vorausgeschickt werden, war alles andere als ein Romantiker. Der würdevolle Greis, rotgesichtig mit weißem Haar, stand im achtzigsten Jahr und arbeitete immer noch als Seekartograf bei einer Firma in Santos. Er war dem Ruf der See 40 Jahre lang gefolgt, bevor er sich in seiner gegenwärtigen Position hier niedergelassen hatte, und wenn er sprach, dann war er mit allen Fasern ein erfahrener Seebär.

Das alles ist (so begann er) vielleicht nicht ganz so mysteriös, wie es scheint, wenn man die Möglichkeit einrechnet, dass die meisten verschwundenen Schiffe aus sehr profanen Gründen gesunken sind. Sie geraten in schweres Wetter, ihre Ladeluken werden eingedrückt oder die Ladung wurde falsch gestapelt, und sie kentern. Das kommt gar nicht mal so selten vor. Nicht so einfach zu klären ist die Frage, wie Schiffe einfach von der Bildfläche verschwinden können, ohne jede Spur, besonders in diesen Tagen, wo es den Schiffsfunk gibt und alle großen Seelinien massiv befahren werden. Doch solche Dinge passieren. Wir wissen, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Schiff sinkt, ohne dass Dinge an die Oberfläche treiben – ein Beiboot, Rettungsringe, Ladeklappen, Ruder, was auch immer. Natürlich, die See ist riesig, und man kann sich leicht vorstellen, dass Rettungsschiffe kleine Gegenstände übersehen. Sie haben bei bestem Wetter von einem Schiffsdeck eine Sichtweite von maximal 15-20 Kilometern. Ladeluken, Rettungsringe, Leichen sind auf einer Ebene mit dem Wasser und können vom Seegang leicht verborgen werden.

Doch selbst das eingerechnet ist es merkwürdig, dass manchmal eben gar nichts ans Licht kommt.

Nehmen Sie die WATARAH. Vielleicht erinnern Sie sich – für die damalige Zeit ein moderner Liner von über 15.000 Tonnen, ganz neu aus der Werft gekommen und auf seiner zweiten Fahrt. An Bord über 200 Menschen, Passagiere und Besatzung zusammengezählt, unterwegs auf einer regulären Route, die Küste runter von Durban nach Kapstadt in Südafrika. Natürlich kein Funk an Bord. Das war noch vor der Zeit, als es Pflicht für alle Passagierschiffe wurde, Funk an Bord zu haben. Er war noch nicht im allgemeinen Gebrauch. 

Doch zumindest war die WATARAH auf einer extrem befahrenen Strecke unterwegs. Kurz nach dem Auslaufen in Durban begegnet sie noch dem Frachter CLAN MCINTYRE, flaggt Signale und gerät bald außer Sichtweite des schnelleren Schiffs. Und dann – verschwindet sie einfach! Natürlich, später wurde ein schwerer Sturm gemeldet, und es war nur logisch anzunehmen, dass sie in ihm gesunken ist. Aber – spurlos? Absolut verschwunden? Klar, sie haben Rettungsschiffe ausgesandt, als sie überfällig war. Monatelang sind Regierungs- und Privatboote an der Küste entlangpatrouilliert. Ein Schiff suchte über 90 Tage lang das Wasser ab und legte in dieser Zeit 20.000 Seemeilen zurück, und es gab ein anderes, das sogar der natürlichen Meeresströmung bis weit in den Süden folgte. Aber nichts wurde je gefunden. Keine Leiche, keine Luke, nicht eine Planke!

Dann war da das amerikanische Transportschiff CYCLOPS, das einfach verschwand, und die hatten Funk! Aber Sie brauchen gar nicht so weit zurückgehen – dies Jahr hat es die KOPENHAVEN erwischt, ein dänisches Trainingsschiff, unterwegs von Buenos Aires nach Australien. War seit Monaten überfällig. Nichts wurde gefunden; sie muss gesunken sein, und mit ihr die Blüte der dänischen Jugend, Söhne aus den besten Familien. Meine persönliche Meinung ist, dass sie zu weit nach Süden geraten ist, ins antarktische Eis. Sie wissen schon, Eisberge, und zack – zerquetscht wie eine Eierschale.

Aber das war es eigentlich nicht, was ich Ihnen erzählen wollte. Man kann immer eine Menge guter Gründe anhäufen, wenn es darum geht, das Verschwinden versunkener Schiffe zu erklären. Das wahre Geheimnis sind die anderen Schiffe – die Schiffe, die eben nicht verschwinden. Die Geisterschiffe. Schiffe, die völlig in Ordnung sind, über und unter dem Wasser, mit keiner Seele an Bord. 1823 oder ʼ24, ich weiß nicht mehr genau, gabʼs einen Schoner, den man nördlich am Kap Hatteras gesichtet hat. Segel gesetzt, Rettungsboote alle da, nicht das winzigste Leck im Bug. Aber kein menschliches Lebenszeichen. Niemand an Bord. Warum? Waren sie geflohen? Hatten sie Angst vorm Sinken? Unwahrscheinlich – da schwimmt das Schiff doch, unversehrt!

Irgendwo in den Akten gibt’s auch diese bemerkenswerte Geschichte von dem japanischen Dampfer, den sie im Südatlantik treibend gefunden haben. Registriert waren ein paarundvierzig Besatzungsmitglieder, und alles, was sie fanden, waren acht tote Männer auf dem Hauptdeck – und kein Hinweis drauf, wie sie gestorben sind. Auch da alle Beiboote an Ort und Stelle. Kein Anzeichen von schwerem Wetter. Kein Anzeichen für Feuer oder eine Epidemie … Schon sonderbar, nicht? Und dann, natürlich, die MARIE CELESTE in den 1870ern, ich denke mal, das ist der Klassiker, die Essenz des Geisterschiffs schlechthin.

Sie wurde im Mittelatlantik entdeckt bei ruhigem Wetter, wie Sie sich erinnern werden, mit all den üblichen Ingredienzien eines großen Rätsels. Alles in Ordnung. Rumpf und Masten unversehrt. Die Schönwetter-Segel gesetzt, nicht ein Rettungsboot fehlte. Alles so, wie es sein sollte, ausgenommen, dass es keine Besatzung gab. Was sie aber zum Klassiker macht, ist die große Anzahl merkwürdiger Begleitumstände, die man an Bord fand. 

Die Kleidungsstücke der Männer hingen an der Leine zum Trocknen. Das Frühstück, halb gegessen, stand auf den Tischen der Hauptkabinen auf dem Vorderdeck, das Essen war unverdorben, ein sicherer Beweis dafür, dass die Mannschaft noch nicht lange fort sein konnte. Unter der Nadel der Nähmaschine in der Kapitänskajüte lag ein Kinderkleidchen, halbfertig, so wie es die Kapitänsfrau anscheinend in großer Hast zurückgelassen hatte. Dann fanden sie ein Entermesser, in der Scheide steckend, mit Flecken frischen Bluts an der Klinge, und an der Reling der Steuerbord-Bug-Seite war ein tiefer Einschnitt im Holz, ebenfalls blutverkrustet. Am Bug selbst, etwas über der Wasserlinie, entdeckte man zwei tiefe Furchen, wie ausgemeißelt, ganz frisch. Aber wissen Sie, was das Kurioseste war? Nichts fehlte an Bord, ausgenommen der Schiffschronometer. Warum? Weshalb?

Wo waren sie alle hin? Es gab kein Zeichen von Meuterei oder Spuren eines Überfalls von, sagen wir mal, Piraten oder so. Wie haben die Männer das Schiff verlassen – und warum haben sie es verlassen, offensichtlich in größter Hast, während sie frühstückten? Wir wissen es nicht. Ja, es gab einen Haufen wilder Theorien, aber aus dem einen oder dem anderen Grund können fast alle ausgeschlossen werden. Und wenn es nur die MARIE CELESTE wäre, ginge das ja noch an, seltsamer Einzelfall, vergessen wir’s. Aber da sind all die anderen Schiffe, nicht nur die, die spurlos verschwinden, sondern die, die gefunden werden; verlassen aus keinem erdenklichen Grund. Solche Fälle gibt es bis heute, jede Dekade hat ihre Klassiker – tja, was denken Sie? Machen Sie was draus …

Ich denke, ich bin ein ziemlich hartgesottener Typ. Ich hab ´ne Menge Erfahrung hier und da gesammelt, ich mach mir nicht viel aus Geistergeschichten und ich glaube, alles hat eine vernünftige Erklärung, wenn wir nur rauskriegen würden, was es ist. Und doch … manchmal … tja, ich weiß nicht. Die See ist verdammt riesig und wir wissen immer noch ziemlich wenig über sie und über das, was drin ist. Vergessen Sie nicht, das Land bedeckt nur ein Fünftel der Erde – oder war’s ein Viertel? –, und wir haben noch nicht mal alles Land erforscht. Und was die See angeht, wir sind ein paar Hundert Fuß weit runtergekommen, ein paar Hundert Fuß bei fünf Seemeilen Tiefe! Und dann bedenken Sie auch, dass Schiffe in der Regel sehr eng auf ihren Routen fahren. Es gibt da gewaltige Gebiete, in die sich Schiffe nur alle paar 50 Jahre mal hineinverirren. Vielleicht existieren sogar Regionen, in denen noch nie ein Schiff war und wo auch nie eins hinkommen wird.

Ist da etwas in der See, das herauskommt und diese Schiffe und ihre Besatzungen – plündert? Sie wissen und ich weiß, es hausen wirklich seltsame Wesen im Meer. Es gibt gigantische Tintenfische, die von den Pottwalen gefressen werden; ich habe gehört, sie sollen manchmal eine Spanne von 30 Metern haben – vom Ende eines Tentakels zum anderen. Dann wäre da noch die Seeschlange. Jaja, ich weiß, Landratten lachen darüber, dass wir an so was glauben. Aber warum sollten wir’s nicht glauben? Die Dinger sind seit der Antike immer wieder gesehen worden. Und gar nicht mal so selten. Selbst wenn wir die Seetang-Knäuel, muschelbewachsenen Hölzer und Tümmler-Schwärme abziehen, die manchmal für Seeschlangen gehalten werden, bleiben noch eine Menge Berichte übrig, die einen nachdenklich stimmen können.

Wie zum Beispiel können Sie den Bericht der DEADALUS ernsthaft anzweifeln?

Sie war ein britisches Kriegsschiff, sicher unter dem Kommando eines verlässlichen Kapitäns und genauso sicher besetzt mit guten Offizieren, deren Integrität man kaum infrage stellen kann. Sie sichteten ein langes, schlangenähnliches Tier, und das über eine geraume Zeit; sie waren sogar in der Lage, es zu zeichnen. Die Wissenschaft und die Öffentlichkeit mögen darüber lachen, aber sie können sich nicht über das Zeugnis einer ganzen Schiffscrew hinwegsetzen.

Und es ist nicht nur das Zeugnis der DEADALUS, mit dem Sie rechnen müssen! Kapitän Hope von einem anderen britischen Kriegsschiff, der FLY, sah ein großes Lebewesen mit dem Körper eines Krokodils, einem langen Hals und vier schaufelähnlichen Gliedmaßen im Golf von Kalifornien. Ein Leutnant Hayne, Kommandant der Jacht OSBORNE, sichtete etwas ähnlich Schauerliches, ich hab vergessen, wo. Dann gab’s da diese beiden Männer, die einen Bericht über ein Seeungeheuer verfassten und die Mitglieder einer wissenschaftlichen zoologischen Gesellschaft waren und die in einer Jacht vor der Küste Brasiliens kreuzten. Sie sahen eine Kreatur, deren Hals allein drei oder vier Meter lang war – und so dick wie ein Menschenrumpf. Ich sag Ihnen, Sie können das nicht alles weglachen, und mit ein bisschen Recherche können Sie all diese Berichte selbst nachlesen, falls Sie an meinem Wort zweifeln. 

Ich habe dieses ganze Thema jetzt so gründlich beackert, weil … aber Sie werden bald wissen, warum.

Verstehen Sie mich nicht falsch – ich sage nicht, dass Viecher wie die Seeschlange und der Riesenkrake für alle verwaisten Schiffe verantwortlich sind, geschweige denn für alle versunkenen. Ich weiß nicht, warum sie verwaist sind oder sanken. Niemand weiß das, und wir können nur Mutmaßungen anstellen. Ich habe gehört, dass manche Wissenschaftler glauben, dass einige der Giganten, die vor Jahrmillionen die Erde bevölkerten, in den unendlich tiefen Abgründen der See überlebt haben könnten. Keine ganz unwahrscheinliche Theorie, wenn Sie mich fragen.

Aber vergessen Sie’s. Was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte, habe ich selbst erlebt. Ich werd’s nie vergessen. Niemand würde das. Es ist eins dieser alptraumhaften Dinge, die einen Menschen sein ganzes Leben lang begleiten. Und ich glaube, jede Wasserratte durchlebt zumindest einmal etwas wirklich Grauenhaftes auf See, bevor sie stirbt. Ja, danke, ich nehme noch so einen Drink.

Das, was ich Ihnen nun erzählen werde, ist lange her. Ich war damals noch ein junger Dritter Maat, so um die 20, auf meiner ersten Seereise als Schiffsoffizier auf dem Dreimaster DOYON, unterwegs von Sydney nach Callao. Ich erinnere mich, dass wir prächtiges Segelwetter hatten, und wir näherten uns der südamerikanischen Küste nach einigen Wochen auf offener See, als wir plötzlich eins dieser Schiffe sichteten, von denen wir gerade gesprochen haben.

Ich will die Ereignisse nach all diesen Jahren nicht übertreiben oder ausschmücken, aber ich schwöre Ihnen, da war schon etwas Unheimliches an diesem Kahn, als wir ihn zum ersten Mal erblickten. Ich weiß noch, es war ganz früh am Morgen, und ich kam nach dem Frühstück gerade an Deck, um den diensthabenden Maat abzulösen – sehr anständiger Kerl namens Mathews, groß und gut gebaut, nicht viel älter als ich selbst, aber ein bisschen übernervös, wie ich bald merken sollte.

„Da ist ein Ding, sieht komisch aus – dort drüben“, meinte er, als ich mich zu ihm gesellte. Er starrte durchs Fernglas und reichte es mir nach einer Weile. „Scheint so, als wär es nicht unter Kontrolle“, sagte er.

Ich starrte selbst durch die Gläser und sah eine kleine Barkentine in einiger Entfernung vor uns, die unseren Kurs offensichtlich bald nahe am Bug kreuzen würde. Sie war unter vollen Segeln und die hinteren Ausleger schlenkerten abenteuerlich hin und her, augenscheinlich gierte das Schiff im Zickzack durch die See. Ich konnte kein Lebenszeichen an Bord bemerken, auch am Steuer war niemand zu sehen. Ich riet Mathews, besser den Käpt’n zu rufen.

„Hab ihn schon benachrichtigen lassen“, meinte er, und so fuhren wir beide fort, das seltsame Schiff zu beobachten, bis der Kapitän an Deck kam. Die morgendliche See war ruhig, mit leichtem Wind von Süden her. Kein Seegang, nur ölige, flache Wellen von fast flaschengrüner Farbe, der Himmel klar und blau mit ein paar Wolken am Horizont. Außerdem war’s warm, aber ich erinnere mich, dass ich mich unwohl fühlte, leicht fröstelte, fast so, als hätte ich eine Vorahnung von dem, was kommen sollte. Der Käpt’n kam an Deck, sich seine Augen reibend, denn er hatte lange geschlafen, und er riss dem Maat das Fernglas mit barscher Ungeduld aus der Hand.

„Was gibt’s jetzt wieder?“, schnaubte er schlecht gelaunt und starrte eine geraume Zeit lang durch die Gläser. Dann meinte er: „Dunnerlittchen, sieht aus, als wär es verlassen …!“, und ich erkannte am Klang seiner Stimme, dass er ziemlich begeistert war in Erwartung des fetten Bergungsgeldes.

Naja, um es kurz zu machen, wir drehten bei und der Käpt’n sandte den Maat und mich im Boot aus, zusammen mit vier unserer Männer. Wir ruderten unter dem Heck des Schiffs entlang und lasen dessen Namen, gemalt in weißen Lettern: ROBERT SUTTER – SAN FRANCISCO. Und es brauchte keinen zweiten Blick, um zu sehen, dass es wirklich und wahrhaftig verlassen war. 

Einer unserer Männer kletterte mittschiffs über die Reling, als sie in unsere Richtung gierte, und warf uns eine Leine zu, damit der Rest von uns sich hochziehen konnte. Wir ließen zwei Mann im Boot und fingen an, unseren Fang zu inspizieren. Die restlichen vier von uns teilten sich auf: Zwei sollten das Vorderdeck durchsuchen, während Mathews und ich uns den hinteren Teil vornahmen.

Das war ziemlich merkwürdig; ich schwöre, ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, und zwar vom ersten Moment an, als ich einen Fuß auf das Deck der ROBERT SUTTER setzte. Da war etwas so … Einsames um sie, so etwas – wie soll ich’s nur beschreiben? – Unheimliches …

Wir konnten es an ihren Bewegungen spüren: Sie hatte keinen Wasserschaden. Die erste oberflächliche Untersuchung lieferte kein Anzeichen für ein Feuer. Sie war blitzsauber und anscheinend erst vor kurzem neu gestrichen worden. Jedes Tau, jedes Seil war an seinem Platz und ihre zwei Beiboote lagen sicher verkeilt vor dem Kombüsenhaus. Wir durchsuchten das Schiff von oben bis unten und entdeckten nicht das kleinste Anzeichen von Leben, außer, in einem Eisenkäfig, der außen an der Kombüse hing, einem Papagei.

Der Vogel war in einem elenden Zustand. Er kauerte auf dem Käfigboden, halb auf der Seite liegend und heftig zitternd, seine Augen verschleiert und fast geschlossen. Bei näherem Hinsehen schien es ein sehr altes Tier zu sein – es war fast kahl. Er reagierte nicht auf uns, als wir uns näherten. „Der braucht Wasser“, meinte Mathews, und er hatte Recht. Denn nachdem wir ihm welches gebracht hatten, schlürfte er es gierig auf und wir setzten unsere Suche fort.

Nahe der Brücke, an der Steuerbordseite, entdeckten wir einen Kadaver, der einmal eine Katze gewesen sein musste. Das Vieh war plattgequetscht – platt wie ein Pfannkuchen, sage ich Ihnen! Es waren nur noch eine dünne Schicht Fell und getrocknetes Fleisch übrig und all das klebte buchstäblich an den Planken. Aber nichts deutete darauf hin, wie das Biest getötet worden war, und zu diesem Zeitpunkt hielten wir uns auch nicht weiter damit auf, es herauszufinden. Wir hatten ja den Auftrag, rasch alles abzusuchen und dann zur DOYON zurückzukehren, um unseren Bericht abzustatten, Sie erinnern sich.

Tja – im Speigatt rechts gegenüber der Backbord-Kombüsentür fanden wir noch einen Revolver, ein glänzendes Nickel-Ding, etwas angerostet, alle Patronen abgefeuert. Und das war alles, ausgenommen der Gestank, der über dem ganzen Schiff hing. Eine sonderbare Art Gestank – irgendwie … vertrocknet. Sie kennen das vielleicht, diesen fischigen Seegrasgeruch am Ufer, der vom Schlamm aufsteigt, wenn die Flut zurückgeht. Aber selbst das nahmen wir in diesem Moment nur oberflächlich wahr.

Na, jedenfalls, das war’s auch schon, wie gesagt. Die Schiffsladung bestand aus geschnittenem Bauholz, wie wir beim Öffnen der Luken feststellten, und als wir nach Lecks suchten, fanden wir nur das übliche wenige Brackwasser, das bei jedem normalen Schiff durch die Fugen sickert. Das war alles ziemlich mysteriös, und wenn Sie sich ausmalen, wie wir da über das schwankende Deck stapften mit den über uns knarrenden Masten, den donnernden und knatternden Segeln, Steuer und Ruder leise knirschend, jedes Einzelteil, jedes Seil ächzend auf eigene Weise, nicht eine Seele an Bord … dann verstehen Sie vielleicht, wie uns zumute war.

Mathews wurde ziemlich hibbelig, bevor wir mit unserer Inspektion fertig waren, und ich bemerkte, dass er sich öfter den Schweiß vom Gesicht wischte.

Schließlich ruderten wir wieder rüber zur DOYON und machten unseren Bericht, aber der Käpt’n nahm uns nicht besonders für voll.

„Es muss ein drittes Beiboot gegeben haben“, meinte er sorglos. „Sie dachten wahrscheinlich, sie sinken oder sowas in der Art und sind runter vom Kahn. Ich hab schon ganze Schiffscrews in Panik erlebt. Kein Zeichen für Krankheit, keine Leichen? Na, seht ihr, da ist nichts, wovor man sich fürchten muss!“

Ja, er gab zu, es war komisch, dass wir alles in bester Ordnung vorgefunden hatten und dass noch alle Navigationsinstrumente an Bord waren. Selbst bei einer Panik vergessen erfahrene Kapitäne und Schiffsoffiziere für gewöhnlich ihr wichtigstes Werkzeug nicht. Und dann war da auch noch das Logbuch, das wir mitgebracht hatten. Keine Andeutung von irgendwas Sonderbarem. Der letzte Eintrag lag vier Tage zurück und berichtete nur von gutem Wetter. Ich erinnere mich, dem Käpt’n vorgehalten zu haben, vermutlich würde keine Crew bei ruhigem Wetter das Schiff verlassen, ohne das Logbuch und die Schiffspapiere mitzunehmen, aber er fegte alle diese Bedenken beiseite. Er war ein Mann ohne jegliche Vorstellungskraft und dachte nur an sein Bergungsgeld.

„Ich geb dir sechs Mann“, sagte er zu Mathews, „und du kannst den Dritten Maat mitnehmen. Bring sie nach Callao, und da können wir dann den ganzen Papierkram mit den Hafenbehörden erledigen.“

Mathews war kein bisschen begeistert von diesem Befehl, obwohl die meisten Maate vor Freude aus dem Häuschen gewesen wären bei der Aussicht, sich’s selbst auf einem anderen Schiff bequem zu machen und da den Kapitän zu spielen, wenn auch nur für kurze Zeit.

„Das Ganze gefällt mir nicht, Sir“, murrte er. „Da ist etwas faul an der Sache!“

Der Käpten winkte ab.

„Schwachsinn!“, rief er. „Du solltest dem lieben Gott für diese Chance danken!“

Kann sein, dass er Recht hatte, bloß, wissen Sie, er war eben nicht drüben an Bord der ROBERT SUTTER gewesen. Und, naja, zurück auf der DOYON, umringt von der neugierigen Mannschaft, kam uns das Ganze ja auch selbst ein bisschen albern vor. Kurz und gut, wir suchten uns unsere Leute aus, oder, genauer gesagt, der Käpt’n wies uns die sechs nutzlosesten Typen zu, die wir an Bord hatten, und dann ruderten wir zurück zur verlassenen Barkentine, zusammen mit vier anderen, die das Beiboot zurückbringen sollten. Die DOYON nahm wieder ihren alten Kurs auf, und ich weiß noch genau, wie Mathews und ich an Deck der ROBERT SUTTER standen und ihr mit einer sonderbaren Empfindung nachsahen – so als ob sie uns ganz unserem einsamen Schicksal überlassen würde.

Aber es hatte schließlich keinen Zweck, sich irgendwelche Sorgen zu machen. Wir befanden uns auf einem völlig intakten und gut gebauten Schiff, reichlich ausgestattet mit Wasser und Proviant, und flogen ohne Fehl und Tadel auf der flaschengrünen See mit gutem Wind dahin. Mathews riss sich zusammen und wir brachten das Fahrzeug auf Kurs, verglichen die Uhren, zogen die abgelaufenen Chronometer auf, synchronisierten sie mit einem, das wir von der DOYON mitgebracht hatten, und richteten uns für die Fahrt ein.

Es war schon unheimlich, zwei der Kabinen unter Deck für unsere Zwecke zurechtzumachen, da die Sachen der vorherigen Besitzer überall verstreut herumlagen. In der, die ich mir ausgesucht hatte – sie gehörte dem Ersten Maat –, war sogar noch der Abdruck seines Kopfes auf dem Kopfkissen zu sehen, und ein abgeschabtes Stück seines Kautabaks lag auf der Decke, zusammen mit einem offenen Klappmesser. 

Aber ich schüttelte meine unguten Gefühle bald ab. Ich war jung, gesund, hatte ein fröhliches Naturell, und es dauerte nicht lange, da pfiff ich vor mich hin. Mathews kam und stand im Türrahmen, während ich meine Koje zurechtmachte, und sein Gesicht wirkte sehr ernst, ernster als ich es je gesehen hatte. Ich glaube, ich habe erwähnt, dass er ein ziemlich nervöser Typ war.

„Ich verstehe nicht, wie zum Teufel du pfeifen kannst!“, brach es wütend aus ihm heraus. „Großer Gott, Mann, macht es dir gar nichts aus? Die Crew – vierzehn Mann, wenn die Papiere stimmen –, alle weg!“

Ich hörte auf zu pfeifen und sah ihn an. „Ja, schon komisch“, gab ich zu. „Aber es bringt doch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“

Mathews schauderte und blickte über seine Schulter. „Bloß – wo sind sie hin?“, raunte er, seine Stimme dämpfend.

„Wohin sind sie und warum? Ist ja schön und gut vom Käpt’n, von einem dritten Boot zu schwafeln, aber hier gab es kein drittes Boot. Ich hab noch mal alles gecheckt. Kein Anzeichen, dass es je eins gegeben hat.“

Er ließ mich stehen, ich konnte ihn mit sich selbst brummeln hören, als er sich die Kabine einrichtete, die dem Kapitän gehört hatte.

Eine verrückte Angelegenheit, oder? Naja, wir hätten die Sache einfach durchziehen und die Dinge so akzeptieren können, wie sie nun mal waren, wäre Mathews nicht gewesen – und noch etwas anderes. Als ich wieder an Deck kam, fand ich Mathews, wie er auf den schwarzen Fleck Fell und trockenes Fleisch hinunterstarrte, der einst eine Katze gewesen sein musste.

„Man kann es sich eigentlich gut vorstellen“, teilte er mir seine Überlegungen mit angespannter Stimme mit. „Das arme kleine Vieh rannte vor etwas weg wie der Teufel – und dann wurde es gekillt. Stell dir vor, wie schnell das Ding gewesen sein muss, das die Mieze erwischt hat. Du weißt ja, wie schnell die Biester rennen können, wenn sie in Panik sind.“

„Wie kommst du darauf, dass sie panisch war?“, fragte ich ihn. Doch er schüttelte nur seinen Kopf. Ich hab mal gesehen, wie eine Python einen rennenden Hund plattgemacht hat. Ganz wörtlich platt! Mit einem Kopf-Hieb. Das war schnelle Arbeit! Aber Hunde sind nicht so behände wie Katzen, und dieser Hund war nur am Rücken platt, da, wo die Schlange ihn erwischt hatte. Dieses Ding, was da an den Planken klebte, war überall flach, Kopf, Körper, Schwanz. Und es gab einen leichten, aber gut wahrnehmbaren Eindruck im Teakholz rundherum, eine Art Kreis von schätzungsweise anderthalb Metern Durchmesser.

„Dann wär da noch die Kanone“, fuhr Mathews etwas später fort, als er wieder auf das Thema zu sprechen kam. Er hielt den nickelbeschichteten Revolver in seiner Hand, den wir im Speigatt gefunden hatten. „Jeder Schuss abgefeuert. Auf was? Warum?“

Ich versuchte, ihn aus seiner düsteren Stimmung herauszureißen, doch jedes Mal schüttelte er nur seinen Kopf und stellte weitere Fragen, bis er – ich schwörʼs – die gesamte Crew angesteckt hatte mit seiner Nervosität. Sonst hätten wir die ganze Sache vielleicht vergessen oder doch irgendwo in unserem Hinterkopf verstaut. Jedenfalls so lange, bis die nächste Sache passierte.

Das war spät am selben Nachmittag, eigentlich schon früh am Abend. Die Männer waren unter Deck, außer dem Steuermann natürlich und uns beiden. Mathews und ich spazierten auf und ab und warteten, bis der Seemann, den wir zum Koch ab delegiert hatten, das Abendessen servierte. Das Wetter war immer noch prächtig, die See ruhig und glatt. Wir fuhren mit vollen Segeln und machten etwa sechs Knoten, bis der Wind mit Herannahen der Nacht etwas auffrischte. Und dann, wie aus dem Nichts, kam ein entsetzlicher Schrei. Deutlich hörbar kreischte jemand:

„Mein Gott! Collins!“

Ich kann kaum beschreiben, wie elektrisierend das war. Dieser Schrei kühlte unser Rückenmark auf Minusgrade herunter, fror das Blut in unseren Adern ein. Und was für eine Stimme! In ihr schwang etwas mit, das von absolutem Grauen zeugte. Mehr noch – es war eine seltsam unmenschliche Stimme … Sie gehörte keinem von uns.

Mathews und ich waren wie an die Planken festgenagelt stehen geblieben. „Himmel!“, krächzte Mathews endlich mit brüchiger Stimme.

„Wer … was war das?“ 

Bevor ich auch nur daran denken konnte, zu antworten, kam eine ganze Serie von Schreien, schier unsere Trommelfelle zerreißend. Und dann hörten wir eine andere Stimme, völlig verschieden von der ersten: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“ Und wenn es je einen jämmerlichen und verzweifelten Tonfall in einer menschlichen Stimme gegeben hat – dann diesen.

Die Crew kam aus dem Unterdeck geschossen, der Koch stolperte aus der Kombüse mit offenem Mund, sah verwirrt in die Gegend, mit einer Hand eine Schürze umklammernd, mit der anderen ein Hackbeil.

Mathews fluchte und stolperte die Treppe runter zum Hauptdeck. Er war völlig fertig und rannte mittschiffs in die Männer. Ich war dicht hinter ihm.

„Wer zum Teufel macht diesen Spektakel?“, schrie er hysterisch.

Niemand antwortete ihm. Die Männer waren stehen geblieben und sahen sich unbehaglich um. Und wieder kamen diese grässlichen Schreie, gellten über das gesamte Schiff, eine seltsame Stimme, heiser und voller Todesangst: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“

Mathews wirbelte herum und schaute hinter sich.

„Mein Gott“, flüsterte er mir zu, „werd ich verrückt?“

Und dann sahen wir beide die Männer auf etwas zeigen, und plötzlich rief der Koch erleichtert aus: „Mensch, das ist nur der Papagei, Sir!“

Ich kann mich noch gut an die Welle der Erleichterung erinnern, die mich daraufhin überrollte. Ich hörte auf zu bibbern, seufzte tief auf und sah, dass sich auch Mathews deutlich entspannte.

„Ich hab den Papagei total vergessen!“, rief er mit schrill auflachender Stimme, und wir wanderten alle zum Vorderteil des Kombüsenhäuschens, wo der Vogelkäfig hing. Auch die Männer fingen sich wieder, einige lachten sogar, obwohl nichts wirklich Fröhliches in diesem Lachen war und keine Spur von Beruhigung. Mathews linste in den Käfig und ich spähte über seine Schulter. Seit wir das arme Vieh am Morgen mit Wasser versorgt hatten, hatte es sich offensichtlich etwas erholt, denn nun saß es auf seiner Schaukelstange – allerdings seltsam geduckt. Und ich sage Ihnen, es benahm sich so, wie ich es noch bei keinem anderen Papagei auf der Welt gesehen habe.

Jede einzelne seiner noch übrig gebliebenen Federn stand vom Körper ab. Seine Augen blickten starr vor sich hin, ohne zu blinzeln. Ein Schauder ging in regelmäßigen Abständen durch seinen gesamten Körper, und er reagierte nicht, als Mathews vorsichtig einen Finger durch die Stäbe schob und beruhigend auf ihn einredete. Und als wir da so standen und gafften, duckte sich der Vogel noch tiefer auf seiner Stange und gab einen dieser grauenhaften Schreie von sich. Diesmal gellte die Stimme eines Mannes mit schrecklichen Qualen auf, Welle auf Welle, um dann abrupt abzureißen. Dann, für Sekunden, eine fast schmerzende Stille. Und dann krächzte das Vieh deutlich, mit bebendem Diskant: „Du kannst es nicht erschießen! So ein Ding kannst du nicht erschießen!“

Das war wieder eine andere Stimme, deutlich unterscheidbar von den vorigen, die wir gehört hatten. Die Stimmen von drei verschiedenen Männern!

Ich kann mich erinnern, dass mindestens eine Minute lang ein angespanntes und eisiges Schweigen herrschte. Ich konnte mein Herz klopfen hören, und der kalte Schweiß lief mir den Hals hinunter. Mathews hatte seinen Finger hastig aus dem Käfig zurückgezogen, so als hätte er sich verbrannt. Er sprach als Erster wieder. „Hab nie drüber nachgedacht“, sagte er, und seine Worte klangen matt und seltsam, ohne jeden Ausdruck. „Hab nie drüber nachgedacht, dabei ist es sonnenklar! Er weiß Bescheid! Er weiß, was hier passiert ist! Er hat es – gesehen!“ Er sprach wie ein Mann im Schlaf, mit aufgerissenen Augen den geduckten, zitternden Papagei anstarrend. Die Crewmitglieder begannen sich unbehaglich zu regen, einige sahen verstohlen über ihre Schultern. 

Ich stupste Mathews in den Rücken.

„Reiß dich zusammen!“, flüsterte ich. „Oder willst du, dass die ganze Mannschaft durchdreht?“

Aber ich konnte ihn dort nicht wegbewegen.

Ich konnte keinen der Leute dort wegbewegen, sie schienen am Boden festgenagelt zu sein und starrten den armen Teufel von Papagei an. Der murmelte fast die ganze Zeit leise vor sich hin. Aber auch die Fetzen, die etwas lauter gekrächzt wurden, konnten wir nicht verstehen – es war kein Englisch. Mathews konnte ein bisschen Spanisch und schwor, dass das Tier oft in dieser Sprache redete. Ich bin sicher, das eine oder andere deutsche Wort aufgeschnappt zu haben – und gewisse Phrasen in Polynesisch, die mir untergekommen waren, als ich dort auf einem Handelsschiff zwischen den Inseln umhersegelte.

Sie müssen wissen, dieser Papagei war alt. Unvorstellbar alt, würde ich behaupten. Das Vieh war fast federlos und musste viele Herrchen gekannt haben. Sie haben bestimmt davon gehört, dass diese Biester über hundert Jahre und älter werden. Und Gott weiß, wo dieser Vogel überall gewesen war und was er alles gesehen hatte. Die Dinge, die er murmelte, mussten aus den Tiefen seines Gedächtnisses heraufgekommen sein – abgelauscht unzähligen Besitzern verschiedenster Nationalitäten. Und zwischen dem Gemurmel ließ er immer wieder diese entsetzlichen Schreie hören, unverkennbar unterschiedliche Schreie, Schreie verschiedener Männer in Agonie und Schrecken. Und unmittelbar nach jedem Schrei würgte er irgendeine Phrase heraus, nicht immer in Englisch, wie gesagt, sondern auch in anderen Sprachen.

Ich weiß nicht genau, ob ein Vogel wahnsinnig werden kann, aber wenn ja – dieser Papagei war verdammt nahe dran. Es gab eigentlich nur eine Sache, die wir mit Sicherheit aus seinem Verhalten schließen konnten. Er war so sehr erschreckt worden, dass er fast daran krepiert wäre, und die Schreie hatten sich in sein kleines Vogelhirn eingebrannt. Die gemurmelten Sachen stammten aus längst vergangenen Tagen, die gekreischten Dinge aus seinem Kurzzeitgedächtnis.

Es war grauenhaft. Er schien zu versuchen, uns etwas mitzuteilen. Vor seinen starren, niemals blinzelnden Augen schien ein düsterer Schatten zu schweben. In ihnen funkelte ein unheimlich flehender Ausdruck. Er wollte, dass wir verstanden, dass er etwas erblickt hatte, das noch kein lebendes Wesen je vorher erblickt hatte, etwas so Monströses und Abscheuliches, dass es sogar sein zynisches und kaltblütiges Hirn im Handumdrehen und für immer zerfressen hatte.

Wie lange wir alle vor dem Käfig herumlungerten, still und schaudernd, weiß ich nicht mehr. Aber es war wohl der kalte Nachtwind, der uns aufscheuchte – das und der Geruch des Abendessens, das auf dem Herd verbrannte. Wir hatten uns alle unbewusst zusammengedrängt, so als ob jeder von uns fürchtete, allein zu sein. Der Mann am Steuer fing an, mit furchtsamer Stimme nach uns zu rufen. Er wollte wissen, was los war, und abgelöst werden. Ich befahl einem aus der Gruppe rüberzugehen, doch er gehorchte nur mit größtem Widerwillen, eine Hand am Knauf seines Dolches und sein Kopf ständig in Bewegung, um über seine Schultern zu sehen und in die dunkle See zu spähen. Und die ganze Zeit über, in unregelmäßigen Abständen, kreischte dieser verrückte Papagei und schrie uns blindlings zu: „Mein Gott! Collins!“, oder dieses heisere, verzweifelte: „Du kannst es nicht erschießen! So ein Ding kannst du nicht erschießen!“

Ich schüttelte Mathews schließlich und sagte ihm, dass wir wieder zur Tagesordnung übergehen sollten. Wir hatten noch nichts gegessen und es wurde immer finsterer.

„Essen?“, hauchte er, und er wankte wirklich und wahrhaftig wie ein Betrunkener hin und her, als er mir folgte. „Wie kannst du jetzt bloß ans Essen denken?“

Er stolperte aufs Achterdeck, lehnte sich gegen das Hauptkabinenfenster und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was war das, was da achtern kam?“, flüsterte er unstet, schauderte und versuchte, sich aufzuraffen. „Der Maat dieses Schiffes hieß Collins. Das steht in den Papieren, die wir gefunden haben“, krächzte er. „Und wahrscheinlich würde nur der Kapitän den Maat ‚Collins‘ nennen. Also war es der Kapitän, der gerufen hat: ‚Mein Gott, Collins!‘ Und was war das, was da achtern kam?“

„Du benimmst dich wie ein verdammter Idiot!“, fuhr ich ihn an, aber ich war selbst ziemlich fertig, das können Sie mir glauben. Das wären Sie wahrscheinlich auch, wenn Ihnen auf dem gesamten Schiff ungefähr jede Minute dieses Gekreisch in den Ohren gegellt hätte – stellen Sie sich vor, die seltsamen Stimmen dieser verschollenen Männer, die immer wieder ihre angstgepeinigten Ausrufe wiederholten! Aber ich hatte immer noch genug Verstand, um zu realisieren, dass da nur ein Papagei vor sich hin quakte und wir die ROBERT SUTTER heil in den Hafen zu bringen hatten.

Ich brachte Mathews unter Deck, und da genehmigten wir uns erst mal zusammen einen steifen Drink; danach aßen wir ein bisschen Dosenfleisch und Schiffszwieback, denn das Essen, das in der Kombüse vorbereitet worden war, konnten Sie komplett vergessen.

Wir wussten nun ganz sicher, dass es kein drittes Boot gegeben hatte.

Tja, in dieser Nacht mussten wir einem weiteren Problem ins Auge sehen: Keiner der Männer wollte in den Kabinen unter Deck schlafen, sie bestanden darauf, ihre Matratzen hochzubringen und sich auf Deck zusammenzudrängeln. Der Steuermann weigerte sich, alleine gelassen zu werden, und wir mussten während der Nachtstunden das Steuer doppelt besetzen. Weder Mathews noch ich konnten schlafen – nicht mit diesen Schreien, die durch das Schiff hallten –, wir liefen die ganze Nacht den beleuchteten Teil des Decks auf und ab. Es war unheimlich an Deck. Wir hatten das Gefühl, dass drüben in der See etwas auf uns lauerte, um sich auf uns zu stürzen.

Wenn Sie denken, dass das Papageienviech irgendwann müde wurde oder heiser, dann haben Sie sich geschnitten. Es hörte nie auf mit dem Krakeelen. Stunde um Stunde fuhr es fort, uns einzuhämmern, welche Qualen die Crew der ROBERT SUTTER in ihren letzten Stunden oder Minuten durchlebt hatte. Und zwischen den Schreien durchflüsterte das Gemurmel längst verstorbener Papageienbesitzer die Stille und vermischte sich auf unheimliche Weise mit den ächzenden Geräuschen des dahinfliegenden Schiffs. Können Sie’s uns verdenken, dass wir Angst hatten – die Angst, die Kinder im Dunkeln empfinden, einer Dunkelheit, die bevölkert ist von Drachen und Monstern mit glühenden Augen? Ich hatte mich bis dahin immer für einen einigermaßen mutigen Kerl gehalten, aber ich sage Ihnen, damals, auf der ROBERT SUTTER, lernte ich, was echte Furcht ist, die Sorte Todesfurcht, die dich bei der Gurgel packt und dir den Magen umdreht und deine Knie zu Wasser schmilzt.

Was Mathews angeht – der war halb wahnsinnig; er ging dauernd runter, um zu saufen, und schließlich brachte er die Flasche einfach mit rauf. „Wir sollten dem verdammten Vieh den Hals zudrücken!“, sagte er wieder und wieder. „Wir sollten ihm den Garaus machen!“ Aber keiner wollte rübergehen und es tun. Ich selbst wäre in dieser Nacht um keinen Preis der Welt durch die Finsternis zum Käfig gelaufen. Als die Morgendämmerung heraufzog, legte sich die Panik von Mathews wieder ein wenig und er kam einigermaßen zur Vernunft; vielleicht lag’s auch am Whisky, den er konsumiert hatte, auf jeden Fall hatte er wieder die Kontrolle über sich, als die Tropensonne den Horizont rotgolden färbte. Und immer noch, vergessen Sie das nicht, ließ das Vogelvieh sein Kreischen und Schreien auf uns los, ohne eine einzige Pause! Ich hätte nie gedacht, dass irgendeine Kreatur so etwas überlebt – die schiere Erschöpfung hätte das Tier doch eigentlich komplett auszehren müssen.

„Du hast recht, wir können das verdammte Ding nicht umbringen“, stimmte Mathews mir zu, nachdem wir die Sache ausgiebig diskutiert hatten. „Der Papagei ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Wir müssen ihn den Behörden übergeben, und die sollen zusehen, was sie aus der Sache machen.“

Er fluchte furchtbar vor sich hin.

„Aber ich werd verrückt, wenn er nicht aufhört!“

Er probierte etwas mit Werg herum, das er in seine Ohren stopfte, doch anscheinend konnte er die Schreie damit kaum dämpfen. Er wirkte sehr erschöpft und ausgelaugt im frühen Dämmerlicht. Schätze, wir sahen alle ausgelaugt aus. Ich verteilte eine Portion Whisky an alle Männer und schickte sie unter Deck.

Glauben Sie mir, wir haben alles Erdenkliche versucht, um den verfluchten Papagei zum Schweigen zu bringen. Wir hängten ein Tuch über den Käfig, was ihn erst recht in Raserei versetzte, und wir versuchten, ihn in den Frachtraum zu sperren, aber von dort aus klangen die hohlen Schreie noch schauriger. Er wollte nichts fressen und nahm nur gelegentlich einen Schnabel voll Wasser. Und die ganze Zeit, verstehen Sie, die ganze Zeit schwoll das Gekreisch an und wieder ab, an und wieder ab, und marterte das Schiff mit dem Gewimmer toter Männer. Mathews ging schließlich unter Deck, halb besoffen und mit angetrunkenem Mut, die Ohren bis zum Rand mit Werg verpfropft, und fand tatsächlich etwas Schlaf. Mit dem Fortschreiten des Morgens gewöhnte ich mich so recht und schlecht an den Lärm, und auch meine Nerven beruhigten sich etwas. 

Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass wir inzwischen volle hundert Seemeilen weit von der Stelle entfernt waren, an der wir die ROBERT SUTTER aufgegabelt hatten, und was immer die Crew außer Rand und Band gebracht hatte, musste inzwischen weit weg sein.

Ich ging schaudernd mittschiffs, um dem Papagei mit derselben Morbidität zuzuhören, die einen Mörder umtreibt, wenn er zum Ort seines Verbrechens zurückkehrt, und versuchte, etwas Neues aus seinen Schreien herauszuhören. Nur drei davon waren in Englisch, wie gesagt, aber es gab mehrere in Spanisch, und ein Seemann, der jahrelang auf deutschen Schiffen gefahren war, versicherte mir, dass der Vogel mindestens ein Dutzend Worte in dieser Sprache schrie. Ich dachte, ich hätte auch ein paar Fetzen Französisch gehört, aber ich bin mir nicht sicher. Ich rede jetzt nur über die deutlich erkennbaren Phrasen, die sich das Tier im Augenblick tödlicher Angst gemerkt hatte.

Ich warf einen Blick auf das Mannschaftsregister und stellte fest, dass, den Namen der Leute nach zu urteilen, eine national gemischte Truppe an Bord gewesen war – wie auf den meisten Schiffen üblich. Es gab einen Koch namens José Alvarez, offensichtlich ein Spanier. Dann waren da zwei Männer mit teutonisch klingenden Namen, und einer hörte sich französisch an. Ich vermute, dass die Offiziere Amerikaner gewesen waren, doch es scheint mir plausibel, dass die Crewmitglieder im Moment größter Panik zu ihrer jeweiligen Muttersprache Zuflucht genommen hatten.

Je länger ich im tröstenden Licht der hellen Sonne über die Sache nachdachte, desto klarer begann ich die Möglichkeiten zu sehen, die in dem Papagei steckten. Irgendwo in all dem seltsamen Jargon, den das verrückte Vieh von sich gab, musste ein Hinweis stecken, musste ein Wort verborgen sein, das uns verraten könnte, was da genau „achtern kam“. Es war nicht unvernünftig anzunehmen, dass, während die Männer panisch über das Schiff rannten, ein paar von ihnen etwas gerufen hatten – einen Satz oder ein Satzfragment –, das einen Anhaltspunkt dafür geben könnte, was auf Deck erschienen war. Und wenn es solch einen Satz oder Satzfragment gab, hätte das verquere Vogelhirn es aufschnappen können, um es schließlich nachzuplappern. Ich dachte mir, wenn wir es schafften, den gottverdammten Papagei lebend nach Callao zu bringen, könnten Linguisten alles aufschreiben, was er herausschrie. Und dann … wären wir im Bilde.

Denn wissen Sie, es war ja auch faszinierend, das Ganze, mal abgesehen von all dem Schrecken und Entsetzen, das diese Schreie auslösten, die quasi aus dem Nichts kamen. Wir waren auf der Spur eines echten Geheimnisses! Wir könnten vielleicht einen Zipfel davon lüften, und das würde eventuell erklären, was mit all den anderen Schiffen passiert war, die in ähnlichem Zustand gefunden worden waren wie die ROBERT SUTTER. Wir könnten vielleicht sogar enthüllen, warum manche Schiffe einfach verschwunden waren, ohne Spur. Wir könnten so einen flüchtigen Blick werfen auf ein Ding, das hätte verrecken sollen, als die Welt noch jung war.

Der Papagei wusste es! Warum waren diese Männer verschwunden? Was war das, das da der ruhigen See entstieg und sie in abgrundtiefen Schrecken versetzte? Was brachte einen von ihnen dazu – höchstwahrscheinlich den Kapitän –, einen vernickelten Revolver auf ES zu entleeren, ein Ding, das, wie jemand anderes erklärte, sich überhaupt nicht erschießen ließ?

Der Papagei wusste es – und er versuchte, es uns zu sagen.

Mathews kam am späten Mittag an Deck, total besoffen, sein ganzer Körper schwankend, seine Augen brennend wie Kohlen. Der Vogel hatte sich natürlich nicht beruhigt und krähte immer noch weiter seine entsetzlichen Dinge heraus – schon den ganzen Tag lang. Ich konnte Mathews mit den Zähnen knirschen hören, als er auf und ab tigerte, mit zuckenden Fingern, und er fuhr fort, mit sich selbst zu sprechen: „Wenn er bloß still sein würde, bis wir im Hafen sind! Wenn er bloß seinen Schnabel halten würde!“

Bloß, er hielt seinen Schnabel nicht, und ich begann mittlerweile selbst, nervöse Tics zu entwickeln – fing auch an, mit den Zähnen zu knirschen und an den Fingern zu zupfen und so. Und ich wusste, dass Mathews nicht mehr lange durchhalten würde. 

Am späten Nachmittag hielt er im Marschieren inne und stieß einen furchtbaren Fluch aus. „Ich halt das nicht mehr aus!“, brüllte er plötzlich, sprang die Gangway hinunter zum Hauptdeck und raste zum Kombüsenhaus.

„Es kommt achtern! Es kommt achtern!“, schrie der Papagei, und ich sah, wie Mathews eine der Feueräxte aus der Metallhalterung riss, die an der Kombüsenwand hing. Er verschwand um die Ecke des Häuschens, und dann ertönte das infernalische Geräusch von Metall, das heftig auf Metall trifft. Die Schreie hielten an: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“ Und dann plötzlich neue Worte, Worte in Englisch, die wir bisher noch nicht gehört hatten, guttural, würgend und übelkeitserregend real: „Collins! Collins! Es hat mich erwischt!“

Falls sonst noch etwas Neues dazukam, wurde es ausgelöscht von Mathews hysterischen Flüchen in hohem Diskant und den aggressiven Schlägen der geschwungenen Axt. Und dann – Stille, plötzlich, fast bedrohlich. Mathews wankte zurück ins Blickfeld, torkelnd, so als ob er kaum noch auf den Beinen stehen konnte, und suchte an der Reling Halt, an die er sich schwer atmend lehnte, die Feueraxt immer noch schlaff in der zitternden Hand. 

„Schmeißt das verdammte Ding über Bord!“, keuchte er, und ich sah, wie einer der Männer zögernd hinüberging, sehr langsam, um den völlig verbogenen Vogelkäfig ans Licht zu ziehen, in dem nur noch ein blutiger Matsch von dem zeugte, was einst ein Papagei gewesen war.

Wir alle verfolgten in grimmigem Schweigen, wie der Käfig durch die Luft segelte und dann ins Meer fiel. Und es schien uns, als wäre mit dem Platschen auch die bedrückende Atmosphäre auf dem Schiff wie eine Seifenblase zerplatzt. Es schien direkt aufzuleben und fröhlicher voranzufliegen.

Vermutlich war ich der Einzige an Bord der ROBERT SUTTER, der so etwas wie einen Anflug von Bedauern empfand, ein morbider Zug von mir, ich gebe es zu. Doch ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass wir vielleicht die einmalige Chance vertan hatten, einen echten Hinweis zu ergattern, einen Hinweis, der uns eines der vielen Mysterien der See enthüllt hätte – wenn es uns gelungen wäre, den Papagei nach Callao zu bringen und ihn Sprachexperten zu übergeben. Tja, aber was soll man machen – der Vogel war futsch.

Wir brachten die Barkentine sicher in den Hafen, ohne weitere Zwischenfälle.

Ich erinnere mich, dass ich die Geschichte dem Konsul dort erzählte und auch erwähnte, was ich mir erträumt und erhofft hatte – aber er lachte mich einfach aus. Mathews erwähnte die Angelegenheit nie wieder. Er war, vermute ich, einfach beschämt. Er wollte nur noch vergessen. Und so bleibt das, was auch immer die ROBERT SUTTER heimgesucht hat, ein Geheimnis bis zum heutigen Tag. Was genau ist da passiert? Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich habe es aufgegeben, mir darüber das Hirn zu zermartern … Niemand wird es je erfahren. Aber der Papagei wusste es. Und es gibt Zeiten, da wache ich auf, mitten in der Nacht, in kalten Schweiß gebadet, und kann ihn hören, und dann sehe ich wieder seinen geduckten, zitternden Körper. Und ich höre seine wilden, verrückten Worte in meinen Ohren gellen. Worte von Männern, die seit Tagen tot waren. Männer, die schrien, als ES achtern kam, und die versuchten, etwas zu erschießen, das man nicht erschießen konnte.

Orignaltitel: Ship of Silence

The Blue Book Magazine 1932/7

Übersetzung Mattthias Käther (c) 2019

Carl Denning – Elsa

Friedhofswetter. Dunkelgraue Wolken, ein eisiger Wind und dann das Prasseln des Regens auf den nussbraunen Holzsarg. Ich hörte den Worten des Pfarrers überhaupt nicht zu und achtete auch nicht auf die übrigen Trauergäste. Mein Blick richtete sich auf eine dunkle Gestalt, die ein paar Meter entfernt von dem offenen Grab stand. Ichnahm sie nur als einen Schatten wahr. Als einen Schatten, der unter dem knorpeligen Kastanienbaum stand. Eine kräftige Böe bewegte ihr langes Haar. Und obwohl ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, wusste ich, dasssiees war.

Kalter Schweiß trat aus meinen Poren. Ein Zittern suchte meine Hände heim, sodass ich die Finger fest ineinander krallte. Doch sollte dies erst der Anfang sein. Der Anfang eines noch viel schlimmeren Grauens.

Ich hatte gehofft, dass mit ihrem Tod alles vorbei wäre. Aber das war es nicht. Es warentsetzlich. Als wäre ich weiterhin in einem Albtraum gefangen. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich es gewesen bin, der Elsa getötet hat. Elsa, meine Frau, die ich über alles liebte. Um ehrlich zu sein, hatten wir uns nicht lange gekannt, als wir heirateten. Und dann war es bereits zu spät gewesen.

Es fing an mit toten Ratten, die vor dem Wohnhaus lagen. Tot gebissen. Zunächst hatten die Bewohner eine streunende Katze in Verdacht. Doch schon bald sollte ich wissen, wer – oder soll ich eher sagenwas? – für die toten Ratten wirklich verantwortlich war. Elsa. So unglaublich es klingt, doch war sie es, die nachts auf Rattenjagd ging und diese Biester mit ihren Zähnen zerfleischte.

Wenn man Elsa so sah, glaubte man, sie könne keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie sah unglaublich gut aus, hatte langes, blondes Haar und tiefblaue Augen. War es Zufall, dass ich sie damals traf? Das frage ich mich bis heute. Ichlernte sie bei einer Autorenlesung kennen. Nur wenige Leute fanden sichin dem Buchladen ein, und, um ehrlich zu sein, das, was der Autor vortrug, gehörte nicht gerade zum Besten der hiesigen Literaturszene. Aber da saß Elsa. Zwei Reihen vor mir auf einem der orangefarbenen Plastikstühle. Nach der Veranstaltung stöberte sie noch ein wenig in den Regalen herum. Ich tat so, als würde mich das Buch interessieren, das sie gerade in der Hand hielt, und so kamen wir schnell ins Gespräch. Der Rest ist kurz erzählt: regelmäßige Treffen, Kino, gemeinsame Ausflüge. Heirat.

Erst danach wurde mir das Grauen offenbar, das mich durch Elsa heimsuchte. Denn eines Nachts kam ich früher nach Hause, als geplant. Das Treffen mit ehemaligen Klassenkameraden waröde gewesen, etwas mehr als die Hälfte hatte sich seit dem Abschluss zu neureichen Spießern verwandelt, der Rest …

Nun ja, der Rest bestand aus Leuten wie mir: angestellt bei einer kreativlosen Firma und damit gefangen in einer trostlosen Alltagsroutine. Wie gesagt, kam ich in jener Nacht früher als geplant nach Hause.

Ich hörte sonderbare Laute aus dem Badezimmer. So etwas wie eine Mischung aus Röcheln und Krächzen. Ich dachte, Elsa sei schlecht. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich riss sie auf. Und schreckte mit einem lauten Aufschrei zurück.

Eine knöcherne, hässliche Frau mit langen, weißen Haaren stand vor dem Spiegel, ihre Augen gelb mit jeweils einem winzigen schwarzen Punkt in der Mitte. Ihr Mund und ihre dürren Klauenfinger voller Blut. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen sprang sie mich an. Reflexartig stieß ich sie zurück. Sie stolperte und knallte mit dem Kopf gegen die Kante des Waschbeckens. Blieb reglos liegen, während sich ein See aus dunkelrotem Blut um ihre widerliche Fratze ausbreitete.

Bis heute wundert es mich, dass weder der Notarzt noch der Bestatter Elsas Hässlichkeit wahrgenommen hatten. Sie sahen anscheinend Elsa, so wie ich sie bis dahin gesehen hatte: als eine überaus attraktive Frau.

Wer oder was war Elsa gewesen? Ich habe keine Ahnung. Einmal sagte sie mir, dass ihre Eltern seit langem tot seien. Mehr erfuhr ich nie über ihre Vergangenheit. Ihre Schönheit ließ mich schlicht und ergreifend alles andere vergessen.

Und nun die Beerdigung.