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Zwielicht 14 bietet die gewohnte Mischung aus Kurzgeschichten, Übersetzungen und Artikeln. Zwielicht - das deutsche Horrormagazin Dämmriges Licht, verschwommene Konturen. Die Realität hat einen Riss. Aus ihr heraus treten die unterschiedlichsten Geschichten: Zum Nachdenken anregend, beängstigend, erschreckend. Das Titelbild ist von Björn Ian Craig. Vincent Voss - Die dicksten Kartoffeln Geschichten: Ina Elbracht - Escape Room Julia Annina Jorges - Puppenspiele Michael Siefener - Die Fabrik Karin Reddemann - Weh Mutterherz Christian Weis - Dante Infernalis Holger Vos - Skull City Thomas Kodnar - Lover´s Limb Harald A. Weissen - Wolf…wer? Algernon Blackwood - Skeleton Lake (1906) Vincent Voss - Die dicksten Kartoffeln Michael Tillmann - Dark Tourism - Endstufe Sascha Dinse - Mel Harry Harrison Kroll - Altweibersommer/Fairy Gossamer (1924) Jesse Franklin Bone - Einfuhrverbot für Horgels (1957) (beide übersetzt von Matthias Kaether) Artikel: Achim Hildebrand - Legenden des Kannibalismus: Die Bean-Familie Karin Reddemann - Baby Jane, der große Böse und ein Eispickel im Schädel Vincent Preis 2019 Horror 2019 - Die Auflistung der Werke Horror und unheimliche Phantastik
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Liebe Freunde des gepflegten Grauens,
eine neue Zwielicht-Ausgabe liegt vor euch und das ist nicht selbstverständlich. Bücher mit Kurzgeschichten des Genres Horror und unheimliche Phantastik gibt es häufig, aber mir fällt auf Anhieb keines ein, das es auf 14 Ausgaben gebracht hat, sieht man von Zwielicht Classic ab – die Reihe mit Nachdrucken steht bei 15 Nummern.
Als im April 2009 die erste Ausgabe erschien, eine indirekte Fortführung der Leselupenbücher Die dunkle Seite und Schattenseiten, war unser Ziel, eine regelmäßige Publikationsmöglichkeit für Autoren und entsprechenden Lesestoff für Liebhaber dieser Literaturform zu schaffen. Das ist uns gelungen. Wenn auch seitdem eine Vielzahl an Anthologien erschienen ist, so was wie Zwielicht gibt es kein zweites Mal. Die Autoren sind frei von jeglicher Inhalts- und Längenvorgabe und so bietet Zwielicht vor allem Abwechslung und scheut sich weder vor unterhaltsamen noch anspruchsvollen Geschichten.
Viermal gewann Zwielicht den Vincent Preis als Beste Anthologie, zweimal für die Beste Grafik, und Zwielicht 13 gewann mit Dann singe ich ein Lied für dich von Gard Spirlin zum ersten Mal die Kurzgeschichtenkategorie.
Erfolge sind aber immer das Gestern. Heute bieten wir drei Übersetzungen an. Wie in jeder Ausgabe findet sich eine deutsche Erstübersetzung von Algernon Blackwood, diesmal aus dem Jahr 1906. Jesse Franklin Bone – Einfuhrverbot für Horgels (1957) wurde ebenfalls zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, widmet sich dem Thema Pandemie und ist damit brandaktuell, während Harry Harrison Kroll – Altweibersommer (1924) die Angst vor … Ach lest doch selbst.
Ina Elbracht ist der neue Star im deutschsprachigen Horror und Escape Room beweist das aufs Neue. Julia Annina Jorges zeigt mit Puppenspiele ebenfalls, dass Horror keine Männerdomäne ist, im Gegenteil. Michael Siefener vorzustellen, heißt Eulen nach Athen zu tragen, der Altmeister des deutschen Horrors sollte jedem ein Begriff sein. Auch Karin Reddemann hat sich mit ihrem unverwechselbaren Stil eine wachsende Fangemeinde geschaffen.
Ein besonderes Anliegen ist es uns, Dante Infernalis von Christian Weis posthum zu veröffentlichen. Christian ist leider viel zu früh von uns gegangen und so freuen wir uns, dass wir unseren Beitrag leisten können, die Erinnerung an einen wunderbaren Autor wachzuhalten.
Holger Vos und Thomas Kodnar sind beide noch unverbrauchte Autoren; dass sie aber mit ihrer Prosa anderen in nichts nachstehen, das zeigenSkull CityundLoverʼs Limb.
Vincent Voss, Sascha Dinse und Michael Tillmann sind mittlerweile so was wie Zwielicht-Institutionen, da sprechen die Geschichten für sich.
Bei den Artikeln findet sich eine weitere Folge der Legenden des Kannibalismus von Achim Hildebrand sowie der Beginn einer Artikelreihe von Karin Reddemann. Abgerundet wird dies alles von den Ergebnissen des Vincent Preis 2019 und der Auflistung der Horror-Werke 2019.
Während ihr dieses Buch lest, arbeiten wir schon mit Hochdruck an Zwielicht 15 und hoffen, ihr bleibt uns treu. Sollte euch diese Ausgabe gefallen, dann macht kein Geheimnis daraus. Wir freuen uns über jede Rückmeldung.
Mit dunklen Grüßen
Achtung! 1111 Achtung!
Ainz
Es gibt Dinge, die spontan entstehen. Als ehemals erfolgreiche Youtuberin weiß ich das. Manche Entscheidungen müssen intuitiv und blitzschnell getroffen werden. Wenn man einmal da draußen ist, kann es wie der permanente Ritt auf einer Welle sein. Trotzdem nervte es mich, dass Judy immer so lausig vorbereitet war und statt mit Recherche oder Kenntnis zu glänzen, sich ganz dem Augenblick hingab im unverbrüchlichen Vertrauen auf ihr Improvisationsgeschick, eine überlebensgroße Klappe und ihr einnehmendes Wesen. „Als der liebe Gott den Charme verteilt hat, hab’ ich mich zweimal gemeldet“, pflegte sie anmutig kichernd zu sagen, wenn ihr jemand ein Kompliment machte. Nachdem ich das öfter im exakt gleichen Tonfall zu hören bekommen hatte, fand ich daran rein gar nichts mehr charmant. Na ja, so ergeht es wohl denjenigen, die Sternen zu nahe kommen.
Es ist mir immer leicht gefallen, mir Judy zu ihren Schulzeiten vorzustellen. Bestimmt haben alle über ihre Bemerkungen gelacht, die aus dem Mund etwa der Klassenprimel gnadenlos als unwitzig abgestraft worden wären. Was lässt sich noch weiter über sie sagen? Ich schätze, dass jeder jemanden wie Judy kennt.
Judy und ich waren zur gleichen Zeit gestartet. Als stinknormale kleine Urbexer kannten wir uns aus einem Lost-Places-Kollektiv, in dem Anonymität der wichtigste Teil des gemeinsamen Kodex darstellte. Judy hatte ihren Szene-Namen von Officer Judy Hopps aus Zootopia, deren Halbmaske sie trug, sobald gefilmt wurde. Eine gute Wahl, denn ihr schöner, breiter Mund perfektionierte den Eindruck eines sympathischen Schmunzelhasen. Auch ich habe seit unseren frühen Anfängen nie etwas verändert; mein Markenzeichen war stets eine rote Zorro-Maske. Um ehrlich zu sein, passten meine von mir wenig geliebten schiefen Katzenzähne ganz gut dazu.
Mit der Zeit verschmolzen Judy und ich zu einem perfekt eingespielten Team, das furchtlos in Industrieruinen, verlassene Klinikgebäude, Bunker oder verfallene Villen einstieg und munter alles kommentierte, was wir vorfanden. Nicht selten waren das andere Urbexer und wir wussten, dass wir einen Schritt weitergehen und ein neues Level erreichen wollten. Sich mit lauter traurigen Gestalten auf den Zehen zu stehen und mitunter aushandeln zu müssen, wer wann wo fotografieren oder drehen durfte, entsprach nicht unserem Niveau. Wir professionalisierten uns mit denjenigen im Kollektiv, die es genauso ernst meinten wie wir, und stiegen zu einer Art internen Elite auf, einer eingeschworenen Bande, bis wir zu etwas Eigenständigem wurden. Der Sprung gelang. Wir wurden „fabulous and famous“, wie Judy nie müde wurde unseren Aufstieg zu bezeichnen. Wir ließen uns zu nichts herab und gingen schon lange nicht mehr irgendwo hin. Wenn eine Location nicht exklusives Neuland war, galt sie als verbrannt und interessierte uns nicht. Auf der Fahrt nach Polen gestand sie mir im Wohnmobil, wie sehr sie hoffte, dass wir diesmal einen Volltreffer landen würden. Den konnten wir nach einer längeren Durststrecke gut gebrauchen. Sie wartete, bis wir einen Rastplatz anfuhren und uns der Aufenthalt in der Damentoilette außer Hörweite von Janusz, unserem relativ neuen Kameramann, brachte. Offenbar vertraute sie ihm nicht im gleichen Maße wie mir. Angesichts unserer strikten Anonymitätsregel eigentlich großer Quatsch, aber so ticken manche Leute nun mal.
„Hör mal, Red“, sagte sie und sah mich über den Spiegel des Waschraums an, „was meinst du, wollen wir diesmal zum allerallerersten Mal ohne Masken vor der Kamera auftreten?“ Ich zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
„Soweit ich mich erinnere, verbietet das unser Kodex“, antwortete ich. Sie knuffte mich spielerisch gegen die Schulter.
„Über sowas sind wir doch längst hinausgewachsen. Oder hast du wirklich Angst vor Strafverfolgung? Hausfriedensbruch und der ganze Bullshit? Du doch nicht! Ohne Masken können wir den Sprung zu richtigen Influencern schaffen. Nicht nur diese Pillepalle-Einnahmen, die wir jetzt haben.“ Ich glaube, es überraschte sie sehr, dass sie mich nicht weiter überreden musste und ich sofort einverstanden war.
„Okay, Judy“, sagte ich nur und steckte mir eine Reisezahnbürste in den Mund, „können wir machen.“
„Du bist hammergeil, Red. Die Beste!“, jubelte sie. Ich grinste schief und mir tropfte Zahnpaste aus dem Mundwinkel. „Ich hab da was Fettes in der Pipeline. Werbung für einen Escape Room. Eine Kette. Dich hole ich natürlich mit ins Boot. Wir werden deren Testimonials.“
„Cool“, sagte ich.
Aber wenn ich ehrlich bin, glaubte ich ihr kein Wort. Bei individuellem Profit hört üblicherweise die Youtuber-Freundschaft auf.
Bevor wir gingen, hielt sie mich kurz vor dem Ausgang am Ärmel zurück und sah verlegen aus. Zumindest für ihre Verhältnisse.
„Eine Sache noch.“
Ich sah sie erwartungsvoll an. Was denn noch? Wollte sie, dass wir unsere Reportage im Bikini drehten?
„Wenn wir in dieses Jagdschloss reinkommen und es irgendwo nach Schimmel riecht, musst du das ansprechen.“
„Wieso denn?“, fragte ich knapp. Unsere Art vor der Kamera zu sprechen hatte sich im Laufe der Zeit auf unsere privaten Gespräche übertragen.
„Ich hab’s machen lassen“, sagte sie und kicherte dann wie verrückt, als ob sie sich damit selbst Applaus spendete. „Ich habe keinen Geruchssinn mehr. Futschikato. Ein winziger Eingriff.“
„Crazy Bitch! Hast du echt?“
„Ja, vielleicht klingt das im Moment noch verrückt für dich, aber ich sag dir: Nicht mehr lange, dann ist das so normal wie Botox. Man kann optimal sein Gewicht halten. Ist gesünder als Magersucht oder Bulimie, das ist mal klar. Und es nimmt den Ekel. Das ist in der Unterhaltungsbranche bestimmt in mehrfacher Hinsicht nützlich.“
„Ist ja gut“, stimmte ich zu, hauptsächlich, um das Thema rasch zu beenden und mir nicht wieder einen Vortrag über Geruchssinn und Schokolade einzuhandeln „ich kommentiere den Schimmel, kein Problem.“ Sie küsste mich auf die Wange und wir gingen zum Wohnmobil zurück.
Zwoh
Ohne Janusz’ Polnischkenntnisse und seinen guten Orientierungssinn hätten wir uns gnadenlos verfahren und das Loch im Zaun wohl nie gefunden. Wir befanden uns jetzt im militärischen Sperrgebiet. Oder ehemaligen Sperrgebiet, wenn man unserem geheimen Tippgeber glauben konnte. Es gibt nicht viel, das dem Gefühl gleicht, leise über unbekanntes Terrain zu schleichen bis endlich das Objekt der Begierde sichtbar wird. Die Vorfreude darauf, ein abandoned premise zu betreten, der Kick, wenn es endlich soweit ist. Das Jagdschloss im Wald war zu Zeiten des Kalten Kriegs vom Służba Bezpieczeństwa, dem Polnischen Geheimdienst, genutzt worden. Janusz versuchte, uns das Wort für die Anmoderation phonetisch beizubringen, der reinste Zungenbrecher. Das Gebäude von 1860 lag seit Ende der Achtziger im Dornröschenschlaf und war aufgrund der abgeschiedenen Lage ungestört geblieben. Es dauerte daher ein bisschen, bis wir einen Weg hinein fanden.
„Hey Leute“, sagte Judy und flirtete sofort was das Zeug hielt mit der Kamera. Dieses „Hey Leute“ war ihr nicht auszutreiben. Ich fand immer, dass das klang, als ob wir bei Bibis Beauty Palace wären.
„Wir haben eine supergroße Überraschung für euch. Wir machen es ab heute ohne.“ Kunstpause. „Ohne Masken, ihr kleinen Perverslinge.“ Schwungvoll entledigte sie sich ihrer Hasenmaske. Jetzt war ich dran:
„Na, wenn das Häschen blankzieht, wirft auch der Fuchs die Maske ab.“
„Fuchs?“, fragte sie verdattert.
„Wir machen das hier seit zwei Jahren und du wusstest nicht, dass ‚Zorro‘ das spanische Wort für Fuchs ist?“, fragte ich ungläubig.
„Äh“, machte sie, verhaspelte sich und endete mit „Scheißesorrysorryscheiße“. Die Aufnahme hatte sie komplett geschmissen. Nicht schlimm. Wir wiederholten es, bis sie sich darin gefiel. Im Schloss roch es übrigens nirgends nach Schimmel, alles befand sich in sehr gutem Zustand. Allerdings gab es nicht viel zu entdecken, weil es fast vollständig leer stand. Zum Abschluss gingen wir in einen grünen Spiegelsaal zurück, den Judy für „am meisten instagramable“ hielt. Wie immer zu solchen Gelegenheiten holte sie ihre Spitzentanzschuhe aus dem Rucksack und ließ sich, diesmal wieder mit Maske, in verschiedenen Posen von mir ablichten. Mich erstaunte, dass ihre Follower der ewig gleichen Arabesken, Attitüden, Croisés, Pointés und Tombés des balletttanzenden Karnickels immer noch nicht überdrüssig waren.
Janusz hatte sich derweil nach draußen verdrückt und wartete ungeduldig auf uns.
„Wenn wir die Kapelle noch schaffen wollen und im Tageslicht zurücklaufen, müssen wir uns beeilen“, sagte er mürrisch und zeigte auf einen zugewucherten Pfad.
„Kapelle?“, fragte Judy.
„Stand doch alles in den Unterlagen, die ich dir geschickt habe, Honeybunny“, antwortete ich spöttisch. „Die Sankt-Wilgefortis-Kapelle.“ Wir nahmen die Geheimhaltung ernst und hatten deshalb alle separate Urbexer-Smartphones, die wir nur für unsere Einsätze und deren Planung nutzten. Die Paranoia mittels Handyortung geschnappt zu werden war szenetypisch und auch wir davon befallen.
„Die Kapelle, na sicher, aber klar doch“, murmelte Judy. Ich sah ihr an, dass sie mal wieder keine Ahnung hatte.
Drai
Ich sollte das eigentlich nicht offen eingestehen und könnte den Sachverhalt wohl auch mit blumigen Ausflüchten verschleiern, aber ich gebe zu, dass ich mit großen Schlössern ziemlich gut kann. Ich hatte selten Probleme, sie schnell und ohne Schäden aufzubekommen. Besonders bei Kirchen und Kapellen haben Schlösser oft eher symbolischen Wert. Viele Urbexer denken, man müsse sich bei solchen Bauwerken immer an Seiteneingänge und Fenster halten, aber das stimmt nicht. Durchs große Portal führt oft der leichteste Weg.
Die Wilgefortis-Kapelle war ein schöner Ort, der durch das einfallende eigelbfarbene Licht wie mit uraltem Firnis überzogen wirkte. Der Polnische Geheimdienst hatte offenbar nie Interesse an diesem Gebäude gezeigt und es ungenutzt gelassen. Die Gebetbücher für katholische Christen, die wir fanden, waren alt und in deutscher Sprache. Alles schien noch genauso zu sein, wie zu jenem Zeitpunkt, an dem hier zuletzt göttlicher Beistand gesucht worden war. Wir schnatterten drauflos und gerieten in einen regelrechten Rausch. Vor dem großen Kreuz blieb Judy stehen und stutzte.
„Wieso trägt Jesus goldene Pumps?“, fragte sie und kratzte sich ratlos am Kopf.
„Weil das nicht Jesus sondern Sankt Wilgefortis ist“, antwortete ich und machte mich über sie lustig, weil sie natürlich mal wieder die Infos nicht gelesen hatte.
„Das ist eine Frau? Mit Bart? Das ist ja mal schrill!“ Ich erzählte ihr die Geschichte der Heiligen, die sich geweigert hatte einen ungläubigen Heidenkönig zu heiraten und in ihrer Not Gott angefleht hatte, sie Jesus ähnlich zu machen. Gott ließ ihr daraufhin über Nacht einen Vollbart wachsen und der Heiratskandidat nahm Reißaus. Das erboste den Vater von Wilgefortis, oder auch Sankt Kümmernis, wie sie später genannt wurde, derart, dass er sie auch in anderer Hinsicht Jesu ähnlich machte und sie ans Kreuz schlagen ließ, von wo aus sie über ihren Tod hinaus Wunder wirkte.
„Warum hast du vorher nix gesagt, Red!“, rief sie aus, knuffte mich und hielt mich in etwas, das gleichermaßen als Schwitzkasten wie auch als Umarmung hätte durchgehen können. „Du weißt doch, wie ich bin. Wenn ich das gewusst hätte! Wir hätten uns Bärte ankleben können, um hier zu berichten. Schade. Das ist sowas von im Trend! Conchita Wurst, genderfluid, transgender und so weiter, weißt du?“
Ich wusste genau, was sie meinte. Judy war nämlich eine, die Facebook-Freunde sammelte, die nach außen möglichst interessant erschienen.
Da sich an der Situation nun mal nichts ändern ließ, machten wir bartlos weiter und kommentierten jedes Detail der geschnitzten Heiligenfigur.
Als wir fertig waren – Janusz drängte bereits zum Aufbruch – überlegte ich halblaut, ob diese Kapelle wohl über eine unterirdische Krypta verfügte. Derartiges hatten wir schon in anderen verlassenen Sakralbauten gesehen. Da reinzugehen bedeutete für uns den ultimativen Kick. Sofort begann Judy zu suchen und wir wurden schnell fündig. Den Protest unseres Kameramanns ignorierten wir kurzerhand.
„Lieber bleiben wir die ganze Nacht hier bei der Dame mit Bart, als dass wir uns das entgehen lassen“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu, während wir im Schein unserer Taschenlampen in die Tiefe stiegen.
Vierch
Wir standen vor einer Stahltür, die garantiert nicht aus der Erbauungszeit der Kapelle stammte. Die Kegel der Taschenlampen glitten über Beschriftungen aus Kreide, deren Bedeutung wir uns nicht erschließen konnten. „Achtung! 2222 Achtung!“, las Janusz, der hinter uns auf der Treppe stand. „Ob die das hier mal als Luftschutzbunker genutzt haben?“
„Oder als geheimen Unterschlupf. Hey Leute, wir sind an etwas ganz Besonderem dran!“, freute sich Judy. Janusz hatte unterdessen das Licht an der Kamera angestellt und wir sahen nun deutlich einen Schlüssel, der im Schloss steckte.
„Halt drauf“, wies sie Janusz an und legte los. Sie ruckelte, drehte und drückte und wirklich öffnete sich die Tür unter schauderhaftem Quietschen. Im Inneren der Kammer ließ sich noch nicht viel erkennen, aber was wir als Schemen sahen, deutete an, dass sich dort Steinsarkophage befanden. Judy war nicht mehr zu halten und stürmte hinein.
„Wie es aussieht, haben wir tatsächlich eine Krypta gefunden. Wir gehen jetzt rein und finden für euch raus, wer hier die letzte Ruhe gefunden hat.“ Ich folgte Judy. Doch sobald ich die Schwelle passiert hatte und mit ihr den Raum inspizieren wollte, schloss sich die Tür hinter mir mit lautem Knall und wir hörten, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Judy gab ein Geisterbahnkreischen von sich, während ich ungeduldig gegen die Tür wummerte. Besonders beunruhigt waren wir aber beide nicht. Solche Streiche gab es schon so lange, wie Menschen sich in verlassene Gebäude schlichen.
„Na komm, schauen wir uns um, das wird ihm doch eh bald langweilig“, schlug ich vor und wir machten uns daran, die Namen auf den Sarkophagen zu entziffern, damit wir sie später flüssig vortragen konnten. Doch dann geschah etwas, das uns, obwohl wir uns in einem Raum unter der Erde befanden, der vielleicht sogar einmal zum Schutz gedient hatte, in Deckung gehen ließ. Als wir den ersten Schuss hörten, kauerten wir uns auf den Boden, beim zweiten klammerten wir uns aneinander, nach dem dritten hörte ich Judy an meinem Ohr hyperventilieren. Es dauerte vermutlich über eine Stunde, bis eine von uns zu sprechen wagte.
„Wir kennen Janusz noch nicht lange“, flüsterte ich, „vielleicht treibt er seinen Scherz gerade einfach ein bisschen zu weit. Was, wenn er selbst geschossen hat?“
„Aber warum kommt er dann nicht endlich zurück? Da stimmt etwas nicht. Ich glaube …“ Judys Zähne schlugen aufeinander. „… ich glaube er ist tot!“
Ich versuchte sie zu beruhigen.
„Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist. Vielleicht waren das Schüsse von einem Jäger und es ist reiner Zufall, dass wir sie hier gehört haben.“
„Direkt an einer Kapelle? Auf dem Schlossgelände? Das glaube ich kaum.“ Judy rückte von mir ab und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Dann durchfuhr sie ein Ruck und sie sprach aus, was die ganze Zeit ungesagt in der Luft gehangen hatte: „Wissen die, dass wir hier unten sind? Was haben die vor?“
Danach gab es die und wir.
Irgendwann flackerte meine Taschenlampe und ging aus. Die Angst vor der vollständigen Dunkelheit drückte uns beide, das wussten wir, auch ohne es explizit angesprochen zu haben. Und weil bisher noch nichts geschehen war, rappelten wir uns auf und sahen uns um, solange das noch möglich war. „Kopf hoch, Judy, vielleicht finden wir Kerzen. Kann doch sein, dass jemand mal einen Vorrat angelegt hat.“
„Hey Red“, flüsterte Judy aufgeregt, „siehst du das da? Ist das ein Loch?“ Wir tasteten uns an der Wand entlang und fanden einen schmalen, kaum schulterhohen Durchgang in einen weiteren Raum. Vermutlich war er für nachfolgende zu bestattende Adlige angelegt, aber nie ausgebaut worden. „Kerzen!“, rief Judy, die in der Aufregung das Flüstern vergaß. Ihr Taschenlampenlicht erfasste in einem Metallregal aufgestapelte Kerzen. Dann schwenkte es ruckend in die anderen Fächer. „Wasser in Plastikflaschen“, stammelte sie. Wir wussten nicht, ob wir uns darüber freuen sollten oder nicht, denn nun stand endgültig fest, dass dieser Ort keineswegs so verlassen war, wie wir angenommen hatten. Wir befanden uns im Versteck von jemandem, der garantiert nicht erfreut sein würde, uns hier anzutreffen. „Geheimdienst, Drogen, Menschenschmuggel, was weiß denn ich?“ Judys Stimme überschlug sich und sie mutmaßte stakkatoartig weiter. Ich zündete eine Kerze an. Das Gezappel mit der Taschenlampe machte mich wahnsinnig. Ich sah mich nun auf eigene Faust in der Kammer um und entdeckte etwas äußerst Merkwürdiges. „Komm mal her!“, rief ich Judy zu. Was auch immer es war, das ich gefunden hatte, es würde sie ablenken und ihre immer schriller werdende Stimme zumindest kurzfristig verstummen lassen.
Fünnef
Jemand hatte eine Art Schrein errichtet. Ohne darüber nachzudenken steckte ich die jungfräulichen Kerzen an, die ein gerahmtes Foto in wuchtigen, sakral wirkenden Haltern flankierten. Im Schein der Flammen wurde das Portrait einer dunkelhaarigen jungen Frau sichtbar. Es sah aus, als wäre es einmal zu einem besonderen Anlass bei einem Fotografen gemacht worden. Davor lag eine Todesanzeige: „Alicja Schatten, 1994-2010“, las ich. Judy nahm mir den Zettel aus der Hand. Während sie ihn sich ansah, entdeckte ich einen Brief, der hinter einer Vase mit Kunstblumen klemmte. Ich zog einen handbeschriebenen Bogen aus dem unverschlossenen Umschlag. „Ach du Scheiße“, entfuhr es mir, „das ist ein Abschiedsbrief!“ Wieder versuchte Judy mir das Papier zu entreißen, doch diesmal war ich schneller, drehte ihr den Rücken zu und begann laut vorzulesen. „Gott, wie schrecklich“, sagte ich nachdem ich geendet hatte, „sich wegen Mobbing umzubringen. Armes Mädchen. Und dann noch wegen einer Peinigerin, die ‚Chantal‘ heißt.“ Alicja hatte in ihrem Brief nämlich nur einen Namen genannt, und zwar den der Rädelsführerin. Chantal. Das machte das Tragische unfreiwillig komisch.
„War bestimmt ne ganz fiese Asi-Schlampe, die ihr heutzutage garantiert vollkommen am Arsch vorbei gehen würde.“
Ich drehte mich um und reichte Judy den Brief. Sie nahm ihn ohne hinzugucken. „Muss übel sein, wenn dir jemand die Schuld für seinen Selbstmord gibt“, mutmaßte ich düster.
„Vielleicht wusste diese Chantal es gar nicht“, antwortete Judy und steckte den Abschiedsbrief zurück in den Umschlag.
„Keine Ahnung.“ Ich ging zum Regal und untersuchte das Haltbarkeitsdatum auf den Wasserflaschen. „Sieht gut aus“, sagte ich, „laufen erst nächstes Jahr ab.“
Judy kam mir nach und öffnete eine Flasche. „Durst“, sagte sie entschuldigend.
„Wenn jemand das hier zum Zweck der Trauer oder des Gedenkens eingerichtet hat, kommt er wahrscheinlich regelmäßig her. Das könnte unsere Rettung sein. Vor allem, wenn dieser Raum gar nicht in Zusammenhang mit den Schüssen steht …“ Ich gab mir Mühe möglichst positiv zu klingen.
„Ja, vielleicht“, murmelte Judy. Wir setzten uns auf unsere Jacken, tranken Wasser und teilten meinen letzten Müsliriegel. Alicjas Kerzenleuchter hatten wir in Griffweite neben uns gestellt. Judy checkte zum wohl hundertsten Mal den Netzempfang. Vergebens.
Sächz
„Ich muss dir etwas gestehen, Red.“ Das Kerzenlicht schmeichelte ihr. Sie sah aus wie eine Filmheldin, die auch nach wilden Verfolgungsjagden, Kletterpartien und diversen Stürzen noch immer auf natürlich wirkende Weise hübsch war; oberflächlich zerzaust, in Wahrheit aber makellos. Ich nickte ihr zu. Außer unseren Atemzügen war eine Weile nichts zu hören.
„Ich kannte das Mädchen. Alicja.“ Judy seufzte bleischwer.
„Echt jetzt? Wie ist denn das möglich? Was für ein irrer Zufall!“
„Kein Zufall“, gab sie kleinlaut zu.
„Alicja ging auf meine Schule. Und nachdem, was sie in ihrem Brief schreibt, haben wohl meine Freunde und ich dazu beigetragen, dass sie sich …“
„Jetzt sag mir bitte nicht, dass du diese Chantal bist?“, fuhr ich sie an. Judy nickte und brach in Tränen aus.
„Das kann doch nicht wahr sein! Dann wurde das extra für dich hier inszeniert? Von jemandem, der wusste, dass wir kommen?“ Ich sprang auf und lief wie ein gestresstes Zootier hin und her.
„Der geheime Tippgeber für die Location“, schluchzte Judy auf, „muss das alles von langer Hand geplant haben. Um mich zu bestrafen.“
„Und was hab’ ich bitte mit deiner Bestrafung zu tun?“ Mein Tonfall entglitt mir; ich hörte, wie er sich ätzend einfärbte, ich laut wurde und es mir einzig darum ging, sie rund zu machen. „Was kann ich denn dafür, dass du diese Alicja bis zum Selbstmord gemobbt hast? Darf ich wenigstens wissen, was du ihr angetan hast, Chantal?“ Ich ließ mir Judys richtigen Namen mit aller Bösartigkeit auf der Zunge zergehen.
„Hör schon auf!“, schrie sie mit funkelnden Augen, „wer bringt sich denn um, nur weil ihm unreife Jugendliche ein paar Sprüche reindrücken? Sowas passiert doch jedem mal. Ich bin doch nicht schuld an ... Das ist Bullshit!“
„Offenbar ist da jemand anderer Meinung. Und dem sind wir gründlich in die Falle gegangen. Aber vielleicht will diese Person dir bloß einen Denkzettel verpassen und lässt uns am Ende laufen.“ Ich bezwang den Hass in meiner Stimme und setzte mich wieder zu ihr. „Hör zu, das ist echt wichtig für mich. Ich brauche alle Informationen. Dann überlegen wir uns was. Das schuldest du mir. Wer war Alicja und was ist damals passiert?“
Judy schniefte ein paarmal in ein zerknülltes Taschentuch, bevor sie mit zitternder Stimme zu beichten begann. Ich spürte, dass sie keine Energie mehr zum Schreien oder für Ausflüchte hatte.
„Alicja war ein Mädchen aus ‚den Ostblocks‘. So nannten wir die Gegend, in der hauptsächlich Spätaussiedler wohnten. Ihre Familie kam jedenfalls aus Polen, vielleicht auch nur die Mutter. Ich weiß es nicht genau. Mit Nachnamen hieß sie ‚Schatten‘. Alicja Schatten. Aber das weißt du ja bereits. Sie war eigentlich ziemlich durchschnittlich, aber wir fanden sie damals doof, hässlich und ein bisschen eklig. Sie hatte einen sagenhaft schlechten Klamottengeschmack und war eine echte Spaßbremse.“
„Und das war alles?“ Judy druckste herum.
„Na ja“, sagte sie schließlich, „Alicja litt an ziemlich starker Körperbehaarung und hatte einen deutlich zu sehenden Damenbart.“
„Und damit rückst du jetzt erst raus? Wir sind hier in der Kapelle einer Heiligen mit Vollbart, falls du dich erinnerst!“ Empörung durchbebte meine Stimme.
„Denkst du, das wäre mir nicht aufgefallen?“
„Also, raus damit, womit habt ihr das Mädchen gequält?“, forschte ich, „was habt ihr getan?“
„Manche nannten sie Ali Baba und die 40 Bartstoppeln“, antwortete sie. Ich hörte ihr an, dass sie sich schämte. „Dabei war es doch so offensichtlich. Fast ein Wunder, dass es vor mir keinem anderen auffiel. Ich war jedenfalls schuld, dass sie den Namen ‚Alicja Bartschatten‘ weghatte und ihn nicht wieder los wurde. Dass sie sich irgendwann die Oberlippe rasierte, machte es blöderweise kein Stück besser.“
„Fiese Aktion, Honeybunny“, sagte ich.
„Ich weiß. Es hat sich einfach verselbständigt. Trotzdem. Das war scheiße. Ich war echt ne Bitch.“ Ich nickte. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. „Wenn wir hier heil rauskommen, dann erzählst du doch keinem davon, versprichst du mir das, Red?“
„Ich werde schweigen wie ein Grab“, sagte ich. Es klang aufrichtig, war es aber nicht. Selbst schuld. Man sollte nicht allzu viel auf das Ehrenwort eines Fuchses geben. Vor allem nicht, wenn man ein Kaninchen ist.
Sibben
Im Gegensatz zu Judy roch ich das einströmende Gas und hielt den Atem an. Sobald sie bewusstlos zusammensackte, griff ich in meinem Rucksack nach der Atemmaske und zog sie an. Ab da hatte ich zwanzig Minuten. Zwei Dinge hatten hier zusammenkommen müssen, damit die Operation gelang: Judys freiwillig herbeigeführte Anosmie und der Umstand, dass eine Gasmaske im Rucksack eines Urbexers keinerlei Misstrauen erweckte. Dieser Moment hatte von Anfang an die heikelste Stelle im Plan dargestellt. Doch es lief alles glatt. Als ich das vereinbarte Klopfzeichen gab, öffnete sich die Tür und ich schlüpfte hindurch. Im Freien überwältigten mich Morgensonne und frische Luft. Ihnen gab ich die Schuld für die Tränen auf meinen Wangen, nach denen Janusz mich befragte.
„Hast du ihr Handy?“ Ich reichte es ihm. Wir hockten nebeneinander auf den Stufen zur Kapelle. Er setzte nacheinander Judys, sein und mein Gerät auf Werkseinstellungen zurück. Später würden wir sie in einem Weiher entsorgen. Plopp, plopp, plopp.
„Sie wird traurig sein, dass alle ihre Balletthäschen-Fotos weg sind“, versuchte ich zu scherzen, doch Janusz sah mich nur streng an. „O.k. o.k.“, machte ich und kuschelte mich an seine Seite, „ich weiß Bescheid: Dieser Lost-Place-Einsatz hat niemals stattgefunden.“ Er nickte, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass er richtig zugehört hatte.
„Wie hat sie reagiert?“, fragte er dann mit belegter Stimme. Ich hatte geschworen, ihn über nichts zu belügen, was in der Krypta vorgefallen war.
„Sie hatte kein besonders schlechtes Gewissen. Sie sah es eher als eine Art Kollateralschaden der Teenager-Hölle.“ Ich reichte ihm das Bild von Alicja und ihren Abschiedsbrief. „Doch ab jetzt wird sie deine Schwester garantiert ihr Lebtag lang nicht mehr vergessen.“ Ich stand auf und reichte ihm die Hand. „Lass uns gehen.“ Janusz zögerte.
„Sollen wir nicht lieber warten, bis sie sich befreit hat?“
„Ach was“, lachte ich, „sie will doch die Werbefigur eines Escape-Rooms werden. Das kleine Zahlenrätsel wird sie schon lösen können.“
„In Ordnung.“
Er ließ sich von mir hochziehen. Wir liefen den zugewucherten Pfad von der Kapelle zurück zum Schloss, kletterten über den Zaun, wie wir es bei unserer Ankunft getan hatten, und betraten den Wald. Ich stellte mir vor, wie Judy zu sich kam und merkte, dass sie da unten mit den Toten der Gruft allein war, weil ich sie verlassen hatte. Sobald sie eine Kerze entzündete, fände sie den batteriebetriebenen Kassettenrekorder und wenn sie die Starttaste drückte, würde der Raum von geisterhaft scheppernder Musik erfüllt. Die Melodie einer Spieluhr, vor langem aufgenommen und von einem Zahlensender des Polnischen Geheimdienstes jahrzehntelang als Erkennungsmelodie genutzt. Achtung! 3333 Achtung! Dann das gespenstische Einsetzen der weiblichen Automatenstimme, die Zahlen in Vierergruppen vorträgt. Die eigentümliche Art die Zahlen auszusprechen – ainz, zwoh, drai, vierch, fünnef, sächz, sibben, accht, neuen, nuhl – umhüllt vom atmosphärischen Rauschen der Kurzwelle hatte mir kalte Schauder über den Rücken gejagt, als Janusz mir die Kassette vorgespielt hatte. Mit etwas Geduld und Konzentration würde Judy das darin verborgene Rätsel in wenigen Stunden gelöst haben.
„Selbst wenn sie länger braucht, sie hat Wasser, Licht und Batterien. Den Safe zu finden ist auch kein Kunststück. Code eingeben, Schlüssel rausnehmen, fertig. Judy kriegt das hin. Chantal.“ Wieder nickte Janusz gedankenverloren.
„Wusstest du, dass ‚Lis‘ das polnische Wort für Fuchs ist?“, fragte er und lächelte versonnen. Wir gingen immer so lange Hand in Hand, wie die Beschaffenheit des Wegs es zuließ.
„Ehrlich wahr?“ Ich blieb stehen.
„Lis wie Lisa. Deshalb hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass wir ein gutes Team sein könnten. Als ob das Schicksal es so gewollt hätte.“ Ich hatte nie bereut, ihm meinen richtigen Namen gesagt zu haben. Er beugte sich zu mir und küsste mich. In der Jackentasche umschloss ich mit festem Griff den Schlüssel der Krypta. In zwanzig Minuten kann man eine Menge schaffen. Zwoh, vierch, nuhl, fünnef. Alicjas Geburtstag. Es ist so, wie ich eingangs sagte: Es gibt manchmal Entscheidungen, die intuitiv und blitzschnell getroffen werden müssen. Diese war eine davon.
Ich hasse Puppen, besonders solche, die mehr oder weniger lebensecht aussehen. Außerdem mag ich keine Kleider und trage definitiv lieber Hosen als Röcke. Schon immer. Diese Aversion ist kein Zufall, sie hat ihre Gründe. Und erklärt, warum ich schon sehr bald etwas tun werde, was anderen Menschen unvorstellbar erscheinen muss.
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Um mich herum herrschte Dunkelheit, in meinem Kopf ebenso. Viel mehr als die grobe Vorstellung, ein menschliches Wesen zu sein, besaß ich nicht. Ich war unfähig, auch nur den kleinen Finger zu krümmen, mir fehlte jedes Gefühl für meinen Körper. Immerhin konnte ich sehen, wenn auch verschwommen. Anhand des Blickwinkels stellte ich fest, dass ich auf der Seite lag, allem Anschein nach in einem spärlich beleuchteten Innenraum. In der Nähe machte ich mehrere Fußpaare aus, unbeschuht und weißlich schimmernd; höher und weiter reichte meine Sicht nicht. Ich überlegte, was mir zugestoßen sein könnte, weswegen ich mich offenbar in einer Art Wachkoma befand. Warum aber lag ich auf dem Fußboden statt in einem Krankenhausbett? Wieso halfen mir diese barfüßigen Leute nicht? Und warum geriet ich aufgrund all dessen nicht in Panik, wie es wohl angebracht gewesen wäre? Über diese Fragen dämmerte ich weg.
Mein Blick zielte leicht schräg nach unten. Verwundert stellte ich fest, dass mein rechter, wie zum Schritt vorgesetzter Fuß in einem schmalen Damenschuh steckte. Gleich darauf erkannte ich in dem lang gestreckten hellen Ding auf Bauchhöhe einen Unterarm und eine zierliche Hand. Ich konnte nicht glauben, dass diese Körperteile zu mir gehörten, doch das Spiegelbild in der Scheibe vor mir belehrte mich eines Besseren. Darüber hinaus zeigte es mir, dass ich Gesellschaft hatte, wenngleich eine wenig herzerwärmende, in Form einer blonden Schaufensterpuppe. Abgesehen von meinem Haar, das ich – eine Überraschung mehr – seit Neuestem lang und kastanienfarben trug, sah sie mir so ähnlich, dass sie mein Zwilling hätte sein können. Gemeinsam blickten wir auf die in Regen und Dämmerung vorbeieilenden Menschen hinter der Fensterfront und lauschten den gedämpft zu uns hereinklingenden Verkehrsgeräuschen – neben dem Sehsinn war mir die Fähigkeit zu hören erhalten geblieben. Während es auf der Straße nach und nach ruhiger wurde, mühte ich mich ab zu verstehen, was zur Hölle hier vorging.
Die Innenbeleuchtung erlosch und damit der Spiegeleffekt. Kurz nach zehn, zeigte die Uhr an der Bushaltestelle vor dem Schaufenster. Gegenüber, gerade noch in meinem peripheren Gesichtsfeld, entdeckte ich einen Pizza-Hut. Dort hatte ich schon mal gegessen – es hatte mich also in eins der Werbefenster der C&A-Filiale in der Münzstraße verschlagen … Konnte das Ganze ein Traum sein, während das, was ich zuvor geträumt zu haben glaubte, der Realität entsprach? Keine sehr erfreuliche Alternative. Im Traum nämlich waren die Bremslichter eines vorausfahrenden Lastwagens meiner Windschutzscheibe immer näher gekommen, während ich wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Hecktür des Laderaums starrte, deren eine Seite plötzlich aufschwang. Etwas war zum Vorschein gekommen. Aber was? Ich erinnerte mich lediglich an einen gewaltigen Knall.
Mit jedem Aufwachen fiel es schwerer, zu leugnen, dass ich im Körper einer weiblichen Schaufensterpuppe steckte – nicht, dass das Geschlecht in dem Fall eine Rolle spielte. Demnach war ich gestorben und durchlebte nun … mein ganz persönliches Fegefeuer? Vermutlich konnte ich mich noch glücklich schätzen, als Modepuppe wieder„geboren“ zu sein und nicht als Crashtest-Dummy. Aber was war das für ein Jenseits, in dem man in einem Schaufenster herumstand, um für die neuesten Produkte der Bekleidungsindustrie zu werben? Es gab keine Verbindung zwischen mir und der Modebranche, Klamottentrends hatten mich nie interessiert. Abgesehen von diesem Desinteresse hatte ich nichts verbrochen, was den Aufenthalt in einem Werbefenster als höllische Strafe rechtfertigte. Giselle – so hatte ich meine stumme Gefährtin genannt – schien mich mitfühlend anzulächeln, wann immer es draußen dunkel und ihr Abbild für mich sichtbar wurde. Wie sie da stand, ihre Hände an die Wespentaille gestemmt, in eleganter und gleichzeitig provokanter Haltung, erweckte sie den Anschein, als könnte sie sich mir jeden Moment zuwenden und ein Gespräch beginnen. Ob Giselle ein Bewusstsein besaß? Lebten noch mehr Menschen in Schaufensterpuppen fort? Gesetzt den Fall, es wäre so – bestand eine Möglichkeit, untereinander zu kommunizieren? Wenn ja, wäre es am ehesten an den Augen zu erkennen; ein winziges Funkeln, das in Giselles blauen Augen hätte aufleuchten müssen zum Zeichen, dass sie mich und ihre Umwelt wahrnahm. Meine Position erlaubte mir keinen direkten Blick in ihr Gesicht, aber ich hatte sie gesehen, im Spiegel der Scheibe, hatte Giselles tote Puppenaugen gesehen. Sie war nicht wie ich.
Ich konnte schlafen, sogar träumen, was die Monotonie meines Zustands etwas linderte. Mein Schlaf-Wach-Rhythmus folgte keinem erkennbaren Muster. Mitunter war ich mehrere Tage lang weg – anhand der Sonntage, wenn die Straße sich leerer als sonst zeigte, ließ sich das einigermaßen rekonstruieren –, dann wieder nur wenige Stunden. Die Zeiten, in denen die Schauwerbegestalter die kleine Bühne betraten, die ich mir mit Giselle teilte, bedeuteten eine willkommene Abwechslung. Ihre Gespräche gaben mir einen winzigen Einblick in die Welt da draußen. Begierig sog ich Neuigkeiten aus Politik und Gesellschaft auf. Leider drehten sich die meisten Themen lediglich um den jeweils aktuellen Auftrag und um Mode. Lange Hose, Pullover – aha, die Herbstkollektion. Gedeckte, kräftige Töne, kein Pastell, das – wer? – so gemocht hatte. Wie ein Blitz traf mich die Erinnerung. Nina! Rabenschwarzes lockiges Haar, einen Kopf kleiner als mein früheres Ich und mit ausgesprochen weiblicher Figur, das genaue Gegenteil der spindeldürren Giselle. Nina. Wie es ihr wohl ging? Am Unfalltag hatte sie nicht neben mir im Auto gesessen. Ninas Gesichtszüge wirbelten durcheinander. Hin und her drehten mich die Mitarbeiter des Kaufhauses, auf die ich mit einem Mal eine unbändige Wut empfand, weil sie mich daran hinderten, mich auf das zu konzentrieren, was mein wiedererwecktes Gedächtnis hervorbrachte. Lasst mich in Ruhe!, wollte ich schreien. Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos. Mein Zorn fand kein Ventil, keine körperliche Reaktion milderte ihn. Er brachte meinen Kopf schier zum Platzen, ich glaubte, sterben zu müssen. Aber ich starb nicht. Ich kam zu mir wie stets, posierend neben Giselle. Seltsam froh darüber, weiterexistieren zu dürfen, erzählte ich ihr in Gedanken von Nina. Ninas Figur, Ninas Lachen, der Sex mit Nina, selbst ihre Macken wie die Neigung, jeden zweiten meiner Sätze zu beenden, bevor ich ihn aussprechen konnte.
Eine Saison später gelang es mir, aus den Puzzleteilen, die mir peu à peu aufgedeckt wurden – teils im Wachzustand, teils im Traum –, ein Bild der Vergangenheit zusammenzusetzen. Auf dem Weg zur Arbeit hatte ich einen Umweg genommen, weil ich ein Geburtstagsgeschenk für Nina kaufen wollte. Deswegen wählte ich die Autobahn und deswegen geriet ich beim Einscheren hinter diesen Lastwagen. Dann der Schock, als die linke Seite der zweiflügeligen Hecktür plötzlich aufklappte und den Blick auf eine Frauengestalt freigab, deren nackter Körper sich hell gegen das Wageninnere abhob. Für einen Moment schien sie mich direkt anzusehen, im nächsten flog sie auf mich zu, die Arme ausgebreitet, als wollte sie mich umarmen. War ich sie? Dann hatte die Puppe den Unfall unbeschadet überstanden, während ich starb und mein Bewusstsein in dem Puppenkörper landete, um später in einem Lagerraum für ebenjene Kunstgeschöpfe zu erwachen … Wie so etwas möglich sein konnte und weshalb, darüber zermarterte ich mir von nun an fast unentwegt das Hirn. Das Paradoxon, dass ich ein solches streng genommen nicht besaß, machte es nicht einfacher.
Saison folgte auf Saison. Die aktuelle Frühlingsmode, neue Bademodentrends, Herbstkollektionen und schicke Winter- und Festtagsoutfits wechselten in regelmäßigen Abständen. Ich prägte mir jeden Stil ein, sowohl aus Langeweile als auch um zu ermessen, wie lange mein Aufenthalt – Strafe? – Exil? – schon währte. Ich wurde zum Modeprofi. Giselle und ich unterhielten uns über kalte und warme Farbtöne, Stile und Schnitte; vielmehr plapperte Giselle endlos über diese Dinge, das einzige Thema, das sie interessierte. Soeben ließ sie sich über Kniffe aus, mittels Kleidung figürliche Schwachpunkte zu überdecken. Als ob sie mit solchen zu kämpfen hätte. Höchstens mit einem Mangel an Denk- und Empfindungsvermögen, aber so was dürfte erheblich schwieriger zu kaschieren sein als ein paar Kilos zu viel.
Ich wollte sterben. Mein Zustand machte mich fertig, und Giselles Gleichgültigkeit widerte mich an. Mein Sehvermögen begann nachzulassen, als legte sich ein Schleier über meine Augen, der vielleicht nur auf einer Staubschicht beruhte, vielleicht aber das Symptom von etwas Gravierenderem darstellte. Möglicherweise verlor ich allmählich den Verstand. Es begann damit, dass ich vergaß, wie oft die Weihnachtsdekoration wiedergekehrt war – Holzschlitten, Kunstschnee, Plastik-Tannenzweige, Glitzerkugeln –, die unser intimitätsloses Heim Winter für Winter festlich schmückte. Sechs-, siebenmal? Häufiger? Die Jahreszeiten und Kollektionen zogen vorbei; ich registrierte den Wechsel teilnahmslos, wie mich auch das Kommen und Gehen der Menschen vor dem Fenster unberührt ließ. Mehr und mehr wurde ich zu dem, was ich nach außen hin verkörperte, der Imitation eines menschlichen Wesens. Eine Zeit lang versuchte ich noch, mir die früheren Modetrends ins Gedächtnis zu rufen, zusehends vergeblich, alles zerfloss und verschmolz miteinander. Aus vielen verschiedenen Kollektionen wurde eine einzige, absurd bunt und überladen. Viel mehr Puppen schienen das kleine Fenster zu bevölkern, und sie trugen Bikinis und Wollmützen.
Eines Abends machte ich eine überraschende Beobachtung, die mich aus meiner Lethargie riss und meinen trübe ins Nichts mäandernden Blick schärfte. In dem ungefähren Dreieck, gebildet aus Giselles angewinkeltem Arm und ihrem Körper, hatte eine Spinne im Lauf des Tages ihr schimmerndes Radnetz gewoben. Die Spinne selbst hatte sich irgendwo verkrochen und lauerte wahrscheinlich auf Beute. Als das Licht im Schaufenster ausging, lösten sich die feinen Fäden des Netzes wie alles andere im gewohnten Anblick der nächtlichen Straße auf. An einem der darauffolgenden Abende hing Beute im Netz. Sie musste hineingegangen sein, während ich schlief. Ein längliches Ding vom ungefähren Format meines kleinen Fingers – meines jetzigen kleinen Fingers wohlgemerkt. Um was für ein Insekt es sich auch handelte, die Spinne hatte es sorgfältig eingewickelt. Sie schien nicht hungrig zu sein, denn auch in der Folgezeit bekam ich sie kein einziges Mal zu Gesicht. Bald schon machte das anfangs so gleichmäßige Netz einen vernachlässigten Eindruck, Staub sammelte sich auf den schlaffen und losen Fäden.
Ich rechnete nicht mehr damit, dass sich noch etwas Interessantes ereignen würde, und begann, in meinen vorherigen teilnahmslosen Zustand zurückzusinken, als mit dem eingesponnenen Ding eine Veränderung vorging. Es verfärbte sich dunkler und schien anzuschwellen. Dann, zwei Abende später, begann die obere Hälfte zu zucken, erst sachte, dann immer stärker, als wollte das gefangene Insekt das Gespinst zerreißen. Doch ich hatte mich geirrt. Die Spinnwebfäden waren gar keine; ich sah jetzt, dass das umhüllende Gebilde fast wie aus einem Guss wirkte und scharfe Falten aufwies: ein Kokon. Wenig später wurden die Bemühungen des Wesens belohnt. Die Spitze des Kokons riss ein und daraus hervor schob sich etwas Dunkles – ein erbsengroßer Kopf oder Vorderleib, besetzt mit schwärzlichen, feucht glänzenden Haaren, sofern ich es aus der Distanz beurteilen konnte. Ein vorderes Beinpaar kam zum Vorschein, kurze, dicke Gliedmaßen, überzogen von durchsichtigem, irgendwie ekelerregendem Schleim. Minuten später entfalteten sich die Stummel zu typischen Insektenbeinen, die dünn und borstenbesetzt in Häkchen endeten. Dann war das mittlere Beinpaar an der Reihe und mit ihm ein Großteil des Körpers, ein gedrungenes, pechschwarzes Etwas. Die nur wenig helleren Flügel ruhten zusammengefaltet auf dem Rücken. Ich rätselte, was für ein seltsamer Schmetterling oder Käfer das sein mochte. Ein Nachtfalter? Der Schlüpfvorgang setzte sich fort, gleich würde ich das komplette Tier sehen, dachte ich – da schob sich ein weiteres Beinpaar aus der Hülle. Acht Beine? Spinnen besaßen acht, aber seit wann verpuppten die sich und waren geflügelt?
Um halb zehn hatte sich das Wesen aus seiner Umhüllung befreit. Still saß es da, ruhte sich aus, während ich immer noch zu ergründen suchte, um was für eine Spezies es sich handelte. Schon bald würden die Lichter gelöscht, und ich wäre nicht mehr in der Lage, zu verfolgen, was das Tier weiter tat. Wieso beunruhigte mich der Gedanke? Was könnte ein Insekt meinem Plastikkörper anhaben? Selbst wenn es giftig wäre – um mich zu verwunden, brauchte es mehr als einen Stachel oder ein Paar Mandibeln.
Über Straße und Schaufenster senkte sich die Nacht. Die Lichter vereinzelt vorbeiziehender Fahrzeuge glichen wandernden Sternen, und die Straßenlaterne, deren mattgelbe Korona im nächtlichen Dunst schwebte, dem Mond. Unvermittelt sickerten Laute tropfengleich durch die Düsternis des Schaufensters. Tasten und Klopfen von Insektenbeinen, das Klicken von Beißwerkzeugen, nicht festzustellen, aus welcher Richtung. Dann ein leises Flattern von Flügeln, die sich meinem Gesichtsfeld näherten, ohne darin einzutauchen. Das Geräusch veränderte sich, klang jetzt eher nach einem kleineren Vogel, der, gefangen und in Panik, gegen Wände und Fensterscheiben flog. Aber dafür wirkte es zu zielstrebig, zu bewusst der Entdeckung ausweichend. Diese Kreatur war nicht in Panik, im Gegenteil, sie schien mich durch ihr mal näheres, mal entfernteres Flattern zermürben zu wollen. Dazwischen immer wieder diese anderen ominösen Laute. Plötzlich brachen sie ab. Ich lauschte. Widerwillig gestand ich mir meine Angst ein und dass ich den Morgen herbeisehnte.
Die Minuten zogen vorüber wie eine stumme Prozession, wie ein Leichenzug. Die Vorstellung stieg vor meinem inneren Auge auf, ohne dass ich es verhindern konnte, und mich erfüllte die absurde Ahnung, das so zelebrierte Begräbnis sei das meine. Müsste es nicht endlich dämmern? Es gelang mir nicht, den Zeigerstand der Uhr vor dem Fenster abzulesen. Als die Geräusche erneut einsetzten, so abrupt, wie sie aufgehört hatten, und ganz nah an meinem linken Ohr, hätte mich der Schreck zusammenzucken lassen, wäre ich dazu imstande gewesen. Jetzt befand es sich hinter mir, gleich darauf hörte ich seine Flügel über meinem Kopf, dann nichts mehr. War es gelandet, wühlte es sich ins Kunsthaar? Flattern, dasselbe Spielchen begann erneut. Da, ein Schatten! Kein taumelnder Falterflug, das Ding bewegte sich schnell wie eine Schmeißfliege im Zickzackflug. Auf der Innenseite der Scheibe ließ es sich nieder, und zwar direkt in meinem Blickfeld. Das Laternenlicht reichte jedoch lediglich aus, seinen plumpen Körper grob zu umreißen. Ich starrte es an – ich konnte ja nicht anders – und bei Gott, ich glaubte, es würde zurückstarren.
Das tiefe Dröhnen eines Motors näherte sich, starke Scheinwerfer entrissen die Straße der Dunkelheit. An der Haltestelle stoppte der erste Bus des heraufdämmernden Tages. Die Beleuchtung im Inneren schaltete sich ein, als die Türen sich öffneten, und enthüllte Einzelheiten des Spinnen-Fliegen-Geschöpfes. Es besaß nur zwei Körpersegmente, beide dicht behaart: ein gedunsenes Abdomen, groß wie eine reife Kirsche, sowie einen schmaleren Vorderleib, von dem die acht Beine der Monstrosität ausgingen. Die Greif- oder Tastwerkzeuge vorn erweckten den Eindruck eines kurzen zusätzlichen Beinpaars. Ihre durchscheinenden, fein geäderten Flügel, eben noch zusammengefaltet, breitete sie nun seitlich aus, wie um sie mir zu präsentieren. Ich fühlte – ja, in diesem Moment fühlte ich tatsächlich –, wie ich innerlich zu Eis erstarrte. Dieses Wesen durfte es nicht geben, eine widerwärtige Chimäre aus Spinne, Fliege und wer weiß was noch, deren vordere Hälfte tatsächlich so etwas wie einen Scheitel inmitten der dunkelbraunen Behaarung aufwies. Diesen Teil seines Körpers drehte es, um mir seine Unterseite zuzuwenden, die, wie ich erkennen musste, viel eher eine Vorderseite war. Es zeigte mir sein Gesicht. Ein winziges menschliches Antlitz.
An Größe gewinnend kam es auf mich zu, während mein Verstand sich im gleichen Maße vor dem unerträglichen Anblick zurückziehen wollte. Halt, das Gesicht … Es gehörte … gehörte gar nicht zu dem Spinnenwesen, sondern tatsächlich zu einem Menschen! Hinter der trennenden Glaswand, in der morgendlichen Düsternis, stand ein Mann und betrachtete mich. Nicht mein Outfit, nein, mich; er blickte mir in die Augen, mir, der Schaufensterpuppe, und – er lächelte. Nichts Unheimliches, Spinnenartiges war an seinem Gesicht, an den hellen Augen. Nichts Widernatürliches an seinen dunklen, akkurat gescheitelten Haaren. Dennoch, nichts anderes als diese Begegnung stürzte mich letzten Endes in eine Bewusstlosigkeit, die dem Tode nahe kam. Der Mann vor dem Fenster, das war ich.
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Rötliches Schummerlicht. Gedämpfte Laute von ferne und nahebei ein stetes Dröhnen und Rauschen. Nie gespürte Geborgenheit, Wärme und Enge. Eingeschlossensein. Gefangenschaft. Ausbruchgedanken.