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Als charismatischer Prediger veränderte Zwingli die Kirche und Gesellschaft in Zürich und inspirierte Anhänger in ganz Europa. Er legte das Fundament der reformierten Tradition, die Johannes Calvin später weiterentwickelte und zu einer weltweit einflussreichen Konfession formte. Doch Zwingli blieb umstritten: Viele Zeitgenossen sahen in ihm einen Aufwiegler und Ketzer, dessen kompromisslose Haltung und kriegerische Rhetorik den Frieden gefährdeten. Seine Vision führte ihn ins persönliche Verderben – er verlor die Kontrolle über seine Bewegung und fiel auf dem Schlachtfeld im Kampf gegen seine katholischen Gegner. Die deutsche Übersetzung von Bruce Gordons 2021 erschienener Biografie bietet neue Perspektiven auf die frühe Reformation in der Schweiz und auf die Schlüsselrolle, die Zwingli darin spielte.
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Seitenzahl: 725
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Titelei
Chronologie
Vorwort und Dank des Übersetzers
Vorwort zur deutschen Übersetzung
Danksagung
Widmung
Einleitung
1 Gebirgstal
Frühe Reisen
Schwerter und Schwüre
Formung eines Patrioten
2 Humanistischer Priester
Priester und Krieg
Angehender Gelehrter
Erasmus
Mentor und Freund
Einsiedeln und Bekehrung
Sünden des Fleisches
Zürich
3 Spaltungen, 1519–1522
Leutpriester
Ruf meine Herde
Der Tod steht vor der Tür
Weizen und Unkraut
Die Speisung der Armen
Frankreich und Rom
Inszenierte Provokation
Geduldsprobe
Ehe
«Es wird uns töten»
Freundschaften
Das Wort
Priester zu Prediger
4 Abweichende Visionen, 1519–1522
Disputation
Einstige Freunde
Gerechtigkeit
Bildung
Die Messe
Götzenbilder
Der Hirt
Musik
Die Wege trennen sich: Erasmus
5 Reformation
Den Tempel reinigen
Brandschatzung
Der wilde Bock
Getauft im Geist
«Dieb, Ketzer und Ehebrecher»
Der Leib Christi
Aufstand
Endgültiger Bruch
Kirchenmusik
Propheten des Wortes
6 «Wir wollen aus seinem eigenen Mund erfahren, wer Gott ist». Wahre und falsche Religion
Der allerchristlichste König
Glaubensgenossen
Wahre Religion
Gott
Glaube
Das befreite Gewissen
7 Zerbrochener Leib: Zwingli und Luther
Vom Helden zum Feind
Martin Luther in Zwinglis Augen
Das Fleisch vermag nichts
Debatte über das Sakrament
Begegnung
Ein Gott der Vorsehung
8 Expansion und Konflikt
Quelle historischen Wissens
Feldherren und Propheten
«Dies ist nie erfüllt worden»
Herrscher, Propheten und Pfarrer
Ratgeber
Rache
Sieg
Abbildungen
9 Allianzen und Konfrontationen
Jenseits des Rheins
Der Landgraf
Der Erste Kappelerkrieg, 1529
Fragiler Frieden
Glaubensbekenntnis (1530)
10 Ende
Prediger und Politiker
Das letzte Geständnis
Eine neue Bibel
Krieg
Unheil und Tod
Demütigung
11 «Es ist gewiss, dass Zwingli in grosser Sünde und Gotteslästerung gestorben ist». In Erinnerung und Vergessen
Die erste Biografie
Besorgte Freunde
Wittenberg
Der Nachfolger
Die Verteidigung der Rechtgläubigkeit
Ausgeschlagene Bitte
Eine letzte Erinnerung
Genf
«Der grosse Rabbi von Zürich»
12 Vermächtnisse
«Er lebt»
Historische Visionen
Der Wind dreht sich
Zwingli in der internationalen Wahrnehmung
Unbekannte Figur
«Nicht mehr Zwinglis Zürich»
Nachwort
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Index
Druckmarke deutsch
Über das Buch
Cover
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Inhaltsbeginn
Bruce Gordon
Zwingli
Gottes bewaffneter Prophet
aus dem Englischen übersetzt von Andreas Berger
Schwabe Verlag
Mit freundlicher Unterstützung von:
Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte, Zürich
Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Schaffhausens
Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich
Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
Schweizerische Reformationsstiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 by Bruce Gordon. Originally published by Yale University Press.
© 2025 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche
Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt,
zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Die Verwendung des Inhalts zum Zwecke der Entwicklung
oder des Trainings von KI-Systemen ist ohne Zustimmung des Verlags untersagt.
Abbildung Umschlag: Mutmassliches Zwingli-Porträt von Albrecht Dürer: Bildnis eines Geistlichen
(1516), National Gallery of Art, Washington D.C.
Korrektorat: Thomas Lüttenberg, München
Cover &Layout: icona basel gmbh, Basel
Satz: 3w+p, Rimpar
Druck: Finidr, Tschechische Republik
Printed in the EU
Herstellerinformation: Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG,
St. Alban-Vorstadt 76, CH-4052 Basel, [email protected]
Verantwortliche Person gem. Art. 16 GPSR: Schwabe Verlag GmbH,
Marienstraße 28, D-10117 Berlin, [email protected]
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5382-0
ISBN eBook 978-3-7965-5383-7
www.schwabe.ch
1484
1. Januar
Zwingli wird in Wildhaus geboren
1494
Beginn des Studiums in Basel
1496/1497
Studium in Bern
1498
Immatrikulation an der Universität Wien
1502
Studium an der Universität Basel
1504
Erwerb des Bakkalaureats
1506
Frühling
erlangt den Mastertitel an der Universität Basel
September
wird in Glarus zum Priester geweiht
1510
Drucklegung Das Fabelgedicht vom Ochsen
1513–1514
begleitet als Feldprediger die Glarner Truppen nach Italien (Schlacht von Novara)
1515
13. September
Schlacht von Marignano
1516
Drucklegung Das Labyrinthbesucht Erasmus von Rotterdam in Basel
14. April
wechselt von Glarus an die Benediktinerabtei in Einsiedeln
1518
wird zum Leutpriester am Grossmünster in Zürich ernannt
1519
1. Januar
beginnt Predigttätigkeit am Grossmünster
September
erkrankt an der Pest
1521
April
wird ins Kanonikat des Grossmünsters gewählt
1522
Frühjahr
heiratet heimlich Anna Reinhart
9. März
Wurstessen im Haus des Buchdruckers Froschauer
7.–9. April
Disputation mit den Gesandten des Bischofs Hugo von Hohenlandenberg
16. April
Predigt über das Recht des Christen, Speise frei zu wählen
21. Juli
Disputation mit Mönchen
22.–23. August
Drucklegung Apologeticus Archeteles
6. September
Drucklegung Von Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes
November
tritt als Priester zurück und wird Prediger am Grossmünster
1523
29. Januar
erste Disputation in Zürich
14. Juli
Drucklegung Auslegen und Gründe der Schlussreden
30. Juli
Drucklegung Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit
29. September
Reorganisation des Grossmünsters
26.–28. Oktober
zweite Disputation in Zürich
17. November
Drucklegung Eine kurze christliche Einleitung
1524
2. April
gibt Ehe mit Anna Reinhart öffentlich bekannt
Juni
Entfernung der Bilder aus den Zürcher Kirchen
November
Drucklegung Brief an Matthäus Alber (Ad Matthaeum Alberum de coena dominica epistola)
1525
17. Januar
Disputation über die Taufe mit den Täufern
21. Januar
erste Erwachsenentaufe in Zürich
März
Drucklegung Kommentar über die wahre und falsche Religion (De vera et falsa religione commentarius)Drucklegung Der Hirt
März–April
Ausarbeitung einer neuen Liturgie für das Abendmahl
13. April
erstes reformiertes Abendmahl in Zürich
27. Mai
Drucklegung Von der Taufe, von der Wiedertaufe und von der Kindertaufe
19. Juni
Eröffnung der Prophezei am Grossmünster
1526
7. März
Zürcher Rat erlässt Todesstrafe für Täufer
19. Mai–9. Juni
Disputation von Baden
1527
Januar
Gründung des Christlichen Burgrechts (Allianz zwischen Bern und Konstanz)
5. Januar
Hinrichtung von Felix Manz
Februar
Schleitheimer Artikel
31. Juli
Drucklegung Widerlegung der Ränke der Wiedertäufer (In catabaptistarum strophas elenchus)
1528
6.–26. Januar
Berner Disputation
7. Februar
Reformationsgesetze in Bern
21. April
erste Synode in Zürich
1529
April
Einführung der Reformation in BaselProtest am Reichstag zu Speyer
22. April
Gründung der Christlichen Vereinigung (Allianz zwischen katholischen Orten und Habsburg)
Juni
Erster Kappelerkrieg
26. Juni
Erster Kappeler Landfrieden
1.–4. Oktober
Marburger Religionsgespräch
1530
Juli
Reichstag zu Augsburg
3. Juli
Drucklegung Rechenschaft über den Glauben (Fidei ratio)
August
Predigt über die göttliche Vorsehung
November
Allianz zwischen Zürich und Landgraf Philipp von Hessen
1531
Mai
Blockade gegen die Fünf OrteDrucklegung der Folio-Ausgabe der Zürcher Bibel
August
Abfassung Erklärung des christlichen Glaubens (Christianae fidei brevis et clara expositio ad regem Christianum)
11. Oktober
Zwingli stirbt auf dem Schlachtfeld bei Kappel
20. November
Zweiter Kappeler Landfrieden
13. Dezember
Heinrich Bullinger tritt Zwinglis Nachfolge an
Ein zentrales Anliegen der Reformation war die Übersetzung: der Bibel, der Liturgie, der Theologie. Huldrych Zwingli war überzeugt, dass der Glaube durch Sprache zugänglich werden müsse. Die Übersetzung der vorliegenden Biografie über Zwingli – die 2021 unter dem englischen Originaltitel Zwingli: God’s Armed Prophet erschien – mag nicht denselben historischen Rang beanspruchen wie die Zürcher Bibel. Und doch teilt sie mit ihr einige der Herausforderungen, die mit der Übertragung von Sinn, Stil und Geist in eine andere Sprache verbunden sind.
So habe ich mich darum bemüht, möglichst nah am Originaltext von Bruce Gordon zu bleiben. Gleichzeitig war es mir ein Anliegen, den Text in gut lesbares, ansprechendes und idiomatisches Deutsch zu bringen. Wo es stilistisch sinnvoll erschien, habe ich daher sprachliche Eingriffe vorgenommen und mich an einer freien Übersetzung orientiert, stets in der Hoffnung, Gordons präzise und elegante englische Prosa auch im Deutschen zum Klingen zu bringen. Das entsprach nicht nur meinem eigenen Anspruch, sondern auch dem ausdrücklichen Wunsch des Autors selbst.
Besondere Sorgfalt erforderte der Umgang mit deutschsprachigen Zitaten, die Bruce Gordon aus historischen Quellen und aus der Sekundärliteratur ins Englische übertragen hat. Anstatt hier einfach auf die ursprünglichen deutschen Formulierungen zurückzugreifen, habe ich diese Passagen bewusst aus Gordons englischen Übersetzung ins Deutsche rückübertragen. So lässt sich besser erkennen und nachvollziehen, wie Gordon diese Quellen und Passagen interpretiert, gewichtet und in sein Narrativ eingebunden hat. Gerade in diesen Fällen habe ich mich bei der Übersetzung besonders eng an seine Wortwahl gehalten. Eine Ausnahme bilden hingegen Bibelzitate: Alle biblischen Passagen folgen der aktuellen Ausgabe der Zürcher Bibel. Die Fussnoten habe ich – mit ganz wenigen Ausnahmen – unverändert übernommen, den Index hingegen aus pragmatischen Gründen dem deutschsprachigen Standard angepasst.
So wie die Zürcher Bibel in gemeinsamer Arbeit entstand, so ist auch diese Übersetzung das Produkt eines gemeinschaftlichen Unterfangens. Ohne die Unterstützung von Freunden und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen sowie zahlreichen Personen, die im Hintergrund (fast unsichtbar) wichtige Fäden spinnen, wäre diese Übersetzung nicht möglich gewesen.
Mein aufrichtiger Dank gilt Bruce Gordon für sein grosses Vertrauen in meine Arbeit. Für ihre fachliche, sprachliche, redaktionelle – und nicht zuletzt zwischenmenschliche – Unterstützung danke ich herzlich Volker Leppin, Irene Senti und Seraina Berger. Ein ebenso besonderer Dank geht an Ueli Zahnd, der die Idee zu diesem Projekt hatte, sowie an Fabrice Flückiger und Makbule Rüschendorf vom Schwabe Verlag, die mich durch alle Phasen der Umsetzung begleitet haben. Aber auch ohne den Einsatz von Tobias Jammerthal, der sich besonders um die Finanzierung verdient gemacht hat, und die Unterstützung Jan Friedrich Missfelders, wäre diese Übersetzung nicht realisierbar gewesen. Schliesslich gilt mein Dank den anonymen Spenderinnen und Spendern sowie den beteiligten Stiftungen und Institutionen, die das Projekt finanziert haben: das Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte (Zürich), die Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Schaffhausen, die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, die Reformierte Kirche Bern-Jura-Solothurn und die Schweizerische Reformationsstiftung.
Andreas Berger,
Sissach im August 2025
Die Jahre 2019 bis 2031 markieren die fünfhundertsten Jahrestage der entscheidenden Ereignisse der Zürcher Reformation. Keines dieser Jubiläen lässt sich mit einer einfachen oder eindeutigen Erzählung begehen. In der kurzen Zeitspanne der 1520er Jahre vollzog sich innerhalb der Eidgenossenschaft ein radikaler Bruch mit der mittelalterlichen Kirche. Eine Bewegung entstand, deren Wirkung bis heute tief in der weltweiten Christenheit spürbar ist.
Um die bemerkenswerte Entwicklung in Zürich und darüber hinaus zu verstehen, hilft es wenig, an den traditionellen konfessionellen Gegensätzen zwischen Protestanten, Katholiken und Täufern festzuhalten. Diese Kämpfe gehören einer anderen Epoche an und dienen heute nur noch dazu, überkommene Vorurteile zu verfestigen. Auch triumphalistische protestantische Reformationsnarrative sind hier fehl am Platz. Die Geschichte Huldrych Zwinglis ist eine Geschichte von Mut und ausserordentlicher Leistung – aber auch von Zwang und Gewalt. Eine Gedenktafel an der Limmat erinnert daran, dass weniger als zwei Jahre nach Einführung der Reformation in Zürich Andersgläubige unter der neuen Ordnung hingerichtet wurden.
Diese Biografie verfolgt nicht das Ziel, Zwingli zu verehren oder zu verurteilen. Sie versucht vielmehr, einen bemerkenswerten Menschen in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche und Turbulenzen zu verstehen. Ich folge dem Leben und Nachwirken eines Mannes von aussergewöhnlicher Begabung – und von offensichtlichen Schwächen. Wir sollten von Zwingli nicht mehr Konsequenz erwarten, als wir selbst bereit sind zu leben. Ohne seine Stimme und Vision hätte es vermutlich keine Reformation auf eidgenössischem Boden gegeben – und damit wohl auch keine reformierte Tradition im Protestantismus. Zwingli setzte aber auch Kräfte frei, die die Bewegung, die er selbst ins Leben rief, zu zerstören drohten.
Zwingli ist kein moderner Denker und sollte auch nicht zu einem solchen gemacht werden. Er und seine Zeitgenossen kannten keine religiöse Toleranz im heutigen Sinn – sofern es diese überhaupt gibt. Für Zwingli und seine Gegner war Wahrheit nicht teilbar. Sie war absolut, eine Linie, die keine Abweichungen zuliess. Sie war nicht verhandelbar oder relativ, sondern von dem einen wahren Gott geboten, dem alle zu gehorchen suchten. Zwingli und seine Anhänger, Martin Luther, die Katholiken und die Täufer waren alle bereit, für ihre Überzeugungen zu argumentieren, zu drängen, zu leiden – und zu töten. Himmel und Hölle waren für sie keine Abstraktion, sondern ewige Wirklichkeiten. Entscheidungen über den Glauben waren keine privaten Vorlieben, sondern sie durchdrangen alle Bereiche des Lebens, in dieser Welt wie im Jenseits.
Dieses Buch richtet sich an Fachleute und Studierende, an ein breites Publikum sowie an Gläubige und Nichtgläubige. Die fünfhundertsten Jahrestage fallen in mehrheitlich säkular geprägte Gesellschaften, in denen die Reformation fern erscheint. Doch Zwinglis Geschichte bloss als etwas Vergangenes abzutun, hiesse, ihre bleibende Bedeutung zu verkennen. Zwinglis Leben wirft bleibende Fragen auf – über Glauben und Handeln, über die Kosten, die es mit sich bringt, nach seinen Überzeugungen zu leben. Zwinglis Geschichte fordert uns dazu auf, die Entscheidungen, die wir treffen oder meiden, sowie den Abstand zwischen dem, was wir bekennen, und dem, wie wir leben, zu überdenken. Es ist leicht, über Ereignisse zu urteilen, die fünfhundert Jahre zurückliegen, in einer Welt, die wir für weniger aufgeklärt halten. Aber die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist es, die Vergangenheit zur Gegenwart sprechen zu lassen und unsere Gewissen zu befragen. Wenn Zwinglis Leben schon in seiner Zeit Bewunderung und Unbehagen zugleich hervorrief, sollte es das auch heute noch tun.
Ich bin meinem Freund Andreas Berger für seine sorgfältige Übersetzung des englischen Originals überaus dankbar. Mein Freund und Kollege Volker Leppin hat das Manuskript in seiner Endfassung freundlicherweise durchgesehen, wofür ich auch ihm sehr verbunden bin. Tobias Jammerthal, Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte in Zürich, hat das Projekt grosszügig unterstützt – ihm gilt mein besonderer Dank. Ebenso danke ich Christian Walti, Pfarrer im Zürcher Grossmünster, der dem Projekt mit grosser Hilfsbereitschaft zur Seite stand. Schliesslich möchte ich Fabrice Flückiger vom Schwabe Verlag danken, dessen Unterstützung dieses Projekt möglich gemacht hat.
Zwingli konnte sich stets auf seine Freunde verlassen. Ich habe das besondere Glück, in der Schweiz und in Deutschland solche Freunde zu haben. Ihnen ist diese Übersetzung gewidmet.
Bruce Gordon,
Vermont im Juli 2025
Die Wurzeln dieses Buches reichen tief. Als zerstreuter Student in Halifax, Kanada, griff ich eines Tages zufällig zu einem Buch, das in der Nähe meines Schreibtisches stand. Es war George Potters Biografie von Huldrych Zwingli. Weder Autor noch Thema waren mir bekannt, doch beim Durchblättern erfuhr ich, dass dieser Reformator des 16. Jahrhunderts ein Schweizer war, der auf dem Schlachtfeld starb. Das versprach eine gute Geschichte zu werden, ging mir durch den Kopf. Einige Jahre später, an einem kalten Februarmorgen, traf ich mit sehr brüchigem Deutsch – und ohne jede Kenntnis des Schweizerdeutschen – am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte in Zürich ein. Hier wurde ich herzlich in Empfang genommen: von der Sekretärin Alexandra Seger und vom Oberassistenten Heinzpeter Stucki, der sich meine holprigen Erklärungen zu meinem Interesse an Zwingli geduldig anhörte. Heinzpeter nahm mich mit ins Staatsarchiv nach Irchel, brachte mit das Lesen von frühneuzeitlichem Deutsch und Handschriften bei, und brachte mich auf den Weg zu einem Projekt, aus dem schliesslich meine Dissertation entstehen sollte.
Am Institut an der Kirchgasse 9 erhielt ich einen Arbeitsplatz und endlose Ermutigung. Bald lernte ich die Herausgeber der Bullinger-Korrespondenz kennen: Hans Uli Bächtold und Kurt Rüetschi, die mich zum Mittagessen ins Bauschänzli einluden, mir viel beibrachten und nie ihren Humor verloren. Bald begegnete ich auch dem Institutsleiter Fritz Büsser, einem Vertreter der alten Schweizer Schule, der zu meinem Mentor, Prüfer in St. Andrews und schliesslich zu meinem Freund wurde. Das Mittagessen im Le Dézaley, bei dem er von mir den grossen, verstorbenen Gelehrten der Schweizer Reformation erzählte, werde ich nie vergessen.
Während meines ersten Aufenthalts in Zürich mietete ich naiverweise ein Zimmer im Niederdorf, das damals noch als Rotlichtviertel galt. Die dortige Bevölkerung zeigte entsprechend wenig Interesse an der Reformation. Bald darauf zog ich ins freundlichere Studentenheim an der Steinwiesstrasse. Dort fand ich Freunde, die mich durch meine Schweizer Zeit begleiteten. Besonders dankbar bin ich Daniel Hubacher, heute Pfarrer in Bern, der mich zu sich nach Hause einlud und mit mir in der Aare schwamm.
Eine der grössen Höhepunkte war die Bekanntschaft mit dem bedeutenden Gelehrten Gottfried W. Locher – zunächst in Schottland, dann in seiner Wohnung bei Bern. Dort bat er mich, seine Hausschuhe anzuziehen, sodass ich quasi für einen Moment in seinen Fussstapfen gehen durfte. Seine geduldigen Erklärungen zu Zwingli und zur Schweizer Reformation begleiten mich bis heute. Ich hoffe, dass etwas von seiner Weisheit in dieses Buch eingeflossen ist.
Im Laufe der Jahre wurde das Zürcher Institut zu einem intellektuellen Zuhause und einer Quelle der Freude. Rainer Henrich lud mich zum Mittagessen ein und begann damit eine über dreissigjährige Freundschaft – er wurde der Pate beziehungsweise Götti unserer Tochter. Die Institutsleiter Alfred Schindler, Emidio Campi und Peter Opitz unterstützten mich in jeder Hinsicht. Emidio und Peter wurden enge Freunde, teilten ihre Arbeit mit mir und luden mich in ihre Häuser ein. Ich denke mit grosser Zuneigung an Brigitta Stoll, Daniel Bolliger, Roland Diethelm, Luca Baschera, Michael Baumann, Alexandra Kress und jüngst Reinhard Bodenmann. Ich danke Francisca Loetz in Zürich und Kaspar von Greyerz in Basel/Bern für ihre Freundschaft und Unterstützung. In besonderer Zuneigung danke ich meinem Freund Christian Moser, der mir zeigte, dass grosse Gelehrsamkeit mit grossem Humor einhergehen kann. Seine WhatsApp-Nachrichten haben so manchen Tag erhellt. Ich widmete ein Buch seinem Sohn Sebi, meinem Patenkind, der mir sehr am Herzen liegt.
Ein Höhepunkt all dieser Jahre war die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Zürich im Jahr 2012 – einer der grössten Momente meines Lebens. Die Reise von jenem Montagmorgen 1988 bis zur Zeremonie am Irchel hat in mir eine tiefe Liebe zur Stadt Zürich und zur Schweiz hinterlassen, die nicht nur in Büchern und Artikeln sichtbar wird, sondern auch in Freunden und Familie.
Die Wurzeln reichen zurück nach Kanada und Schottland. Mein Studium am King’s College, Dalhousie in Nova Scotia, hat mein Leben verändert. Dort traf ich Lehrer, die mir Sprachen, Philosophie (nie meine Stärke) und Geschichte nahebrachten. Viele sind inzwischen verstorben, doch ich konnte kürzlich meinen Freund Neil Robertson und meine weisen Lehrer Henry Roper und Tom Curran wieder kontaktieren. 2019 verlieh mir das College die Ehrendoktorwürde im kanonischen Recht (was für einen Presbyterianer doch sehr bemerkenswert ist). Die Rückkehr ans College nach vierzig Jahren war unglaublich bewegend.
Die fünfzehn Jahre an der University of St. Andrews in Schottland waren eine einmalige Erfahrung. Das dort gemeinsam mit meinem Freund (und Trauzeugen) Andrew Pettegree gegründete Reformation Studies Institute begann mit nichts weiter als einem Aktenschrank, etablierte sich seither aber als internationales Forschungszentrum. Mein Dank an Andrew kann nicht in Worte gefasst werden. Bald kam Bridget Heal hinzu, die bis heute Freundin und Inspiration ist. Tom Scott brachte mir viel über deutsche und Schweizer Geschichte bei. Manchmal höre ich noch von ehemaligen Studierenden – sie gehören zu den schönsten Erinnerungen an einige der besten Jahre meines Lebens.
Dieses Jahr, 2020, war von grossen Veränderungen geprägt. Während ich das Manuskript zu diesem Buch abschloss, wütete eine Pandemie, und alle akademische Arbeit wurde von Leid und dem Verlust von geliebten Menschen überschattet, aber auch von dem unglaublichen Mut der Pflegenden. Zu den geliebten Menschen, die wir verloren haben, zählt auch Peter Stephens, dessen Werk zu Zwingli zu einem Pfeiler der anglophonen Forschung wurde. Seine lakonische Art und Exzentrik werden mir fehlen. Ebenso Irena Backus, die mir in vielerlei Hinsicht Mentorin war. Ihre Güte, die etwa durch Einladungen zum Essen in Genf zum Ausdruck kam, werden mir in ewiger Erinnerung bleiben. Auch denke ich mit grosser Zuneigung an meinen Doktorvater zurück, James K. Cameron, sowie an Hans Guggisberg, der mich in Basel betreute. Während ich dies schreibe, erfahre ich vom Tod von Frau Seger, die mich 1988 in Zürich willkommen geheissen hatte. Möge sie in Frieden ruhen.
Als ich Calvin schrieb, standen Rona, Charlotte und ich vor unserem Abenteuer in Yale. Zwölf Jahre später hat sich vieles angesammelt – an Wissen und Freundschaft. Wieder einmal waren es vor allem die Studierenden, die mich inspiriert haben. Ich habe meine open door policy nie bereut – auch wenn manches in letzter Minute entstehen musste, weil ich zu viel geplaudert habe. An der Yale habe ich wunderbare Kolleginnen und Kollegen, mehr als ich nennen kann. Besonders denke ich an Carlos Eire, dessen Grosszügigkeit und Gelehrsamkeit einem Heiligen würdig sind. Auch denke ich an Markus Rathey, Joel Baden, Tisa Wenger, Ken Minkema, Harry Attridge, Melanie Ross, Joyce Mercer, Adam Eitel, Clifton Grandby, John Hare, Terese Berger, Chloe Starr, Steve Crocco, Jennifer Herdt, Emilie Townes und den verstorbenen Lamin Sanneh. Dean Greg Sterling war stets unterstützend und ermutigend – ein wahrer Freund. Ebenfalls an der Yale gilt mein Dank John Roger (unsere gemeinsame Lehrveranstaltung über Britannien!), Frank Griffel (mit dem ich 2006 in Berlin das WM-Finale gesehen hatte), Larry Manley, David Quint, David Kastan, Julia Adams, Phil Gorsky, Keith Wrightson, Francesca Trivellato (mittlerweile in Princeton) und Rob Nelson.
Zwingli und Luther mögen sich bis zu ihrem Tod nie versöhnt haben, doch zwei ihrer besten Kenner haben mich gelehrt, sie zu verstehen, und ihre Freundschaft ist mir besonders wertvoll: Amy Nelson Burnett und Lyndal Roper.
Eine besondere Freude an der Yale sind die Doktorierenden und graduate students, mit denen ich arbeiten durfte und darf: Max Scholz, Elizabeth Herman, Ryan Patrico, Dan Jones, Flynn Cratty, Brad Abbromaitis, Russ Gasdia, Alexander Batson, Elizabeth Buckheit und Serena Strecker. Sie alle haben mich mehr gelehrt, als ich je zurückgeben kann.
Einmal mehr gilt mein besonderer Dank Heather McCallum an der Yale, deren grenzenloser Enthusiasmus und Support mir bei einer weiteren Persönlichkeit des 16. Jahrhunderts geholfen hat. Ihre kurzen, prägnanten E-Mails sind es wert, eingerahmt zu werden. Sie hat dafür gesorgt, dass ich mich an das Zeichenlimit gehalten habe! Ich bin auch den Leserinnen und Lesern unglaublich dankbar, die eine frühe Fassung des Buchs gelesen und hilfreiche Vorschläge gemacht haben. Wie schon vor Jahren bei Calvin hat mich Rachael Lonsdale fachkundig durch den Veröffentlichungsprozess begleitet. Besonderen Dank schulde ich Philip Benedict, dessen Wissen über die Reformation uns alle bereichert und der dieses Buch massgeblich beeinflusst hat.
Mir ist bewusst, dass sich mein Dank wie die Zehn Gebote liest. Dennoch: Mit grosser Freude danke ich der Arbeit und dem Rat meines lieben Freundes Pierrick Hildebrand, dessen eigenes Buch über den Zürcher Bund in Kürze erscheinen wird. Er hat mein Schweizerdeutsch in eine verständlichere Sprache übertragen und mich in vielen Punkten auf den richtigen Weg geführt. Nie werde ich den Spaziergang im Emmental vergessen, bei dem er mir grosszügig und nachdenklich seine Überlegungen dazu mitteilte, wie man Zwingli besser verstehen kann. Unsere Skype-Gespräche sind ein wöchentliches Highlight, ebenso wie sein Vorbild christlicher Gemeinschaft.
Vielen haben das Manuskript zu diesem Buch teilweise oder vollständig gelesen und mir wertvolles Feedback gegeben. Besonders hervorzuheben ist mein Lektor Nate Antiel, dessen Ratschläge die Ausrichtung des Buchs zum Besseren verändert haben. Vom Herzen danke ich Ward Holder für seine Freundschaft und ein langes, lehrreiches Telefongespräch, Euan Cameron, Diarmaid MacCulloch, Alec Ryrie, Peter Marshall, Joel Harrington, Chris Ocker, Jennifer McNutt, Paul Lim, Michael Walker, Randy Head, Kathryn Lofton, Richard Muller, David Noe, Justin Hawkins, Will Tarnasky, Bill Goettler, Colin Destache und Jamie Dunn. Russ Gasdia hat wunderbare Arbeit mit den Karten geleistet und Pierrick Hildebrand hat bei der Beschaffung der Bilder geholfen.
Besonderer Dank gebührt drei Personen, nämlich meinen unermüdlichen und einfallsreichen Forschungsassistenten: Jacques Fabiunke (der mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt ist), Max Norman und Will Tarnasky.
In New Haven haben wir das Glück, Teil einer Kirchgemeinde zu sein, die liebevoll und der Gerechtigkeit Gottes verpflichtet ist. Unsere Freunde Bill Goettler und Maria LaSala begleiten uns seit Jahren. Jetzt haben wir das Glück, die prophetische Stimme von Pastorin J. C. Cadwallader zu hören. Hätte Zwingli gewusst, dass das Geschlecht kein Hindernis ist, um Gottes Worte zu verkündigen, wäre er begeistert gewesen. Ich verdanke Dr. Victoria Morrow, die ich wöchentlich treffe, sehr viel. Ich habe versucht umzusetzen, was sie vorgeschlagen hat. Ich hatte zudem das grosse Glück, mit Clive Liddiard vom Verlag zusammenzuarbeiten; sein fachkundiges Lektorat hat das Buch erheblich verbessert.
An der Yale war Steve Pincus mein Kollege und Mitstreiter. Von ihm habe gelernt, mir immer die Frage «na und?» zu stellen? Ich vermisse ihn sehr, freue mich aber, dass es ihm und Sue Stokes in Chicago gut geht. Sie geben uns einen guten Grund, die Stadt kennenzulernen. Auf viele weitere gemeinsame Mahlzeiten.
Vor zwölf Jahren konnte ich Calvin als Zeichen meiner Liebe Rona widmen. Mir war klar, dass Du mir die Bedeutung unseres Eheversprechens «in Krankheit und Gesundheit» beigebracht hast. Wir ahnten damals nicht, dass uns noch mehr Krankheit, Krankenhäuser, Psychiater und Behandlungen erwarten würden. Und doch sind wir hier, verliebt wie eh und je. Dein tiefes Verständnis der Frühen Neuzeit hat mich dazu inspiriert, stets noch mehr nachzudenken und noch besser zu schreiben. Durch Deine redaktionelle Arbeit werden meine Gedanken klarer und meine Ideen beflügelt, selbst dann, wenn Du dachtest, ich läge falsch. Jede Seite dieses Buches ist auch das Produkt Deiner Weisheit. Es gab nichts Schöneres, als mit Dir durch Wien zu spazieren und etwas über eine verschwundene Welt zu erfahren.
Charlie, Dein Wunsch, die Welt zu verändern, inspiriert mich unaufhörlich. Ich hoffe, dass Du bald nach Jordanien zurückkehren, Arabisch sprechen und Deine Leidenschaft ausleben kannst.
Schliesslich ist es mir eine Freude, dieses Buch meinen Freunden zu widmen, die mich unterstützt, inspiriert und geliebt haben.
New Haven
Dezember 2020
Daher haben alle bewaffneten Propheten den Sieg davongetragen; die unbewaffneten aber sind zu Grunde gegangen.Machiavelli, Der Fürst, Kapitel 6
«Und meine Hand wird gegen die Propheten sein, die Nichtiges schauen und Lüge wahrsagen!» Ezechiel 13,9
Mit seinem Tod 1531 verschwand Huldrych Zwingli schlagartig von der Bildfläche. Noch auf dem Schlachtfeld wurde sein Leichnam von den Kriegsgegnern rituell geschändet, zu Asche verbrannt und mit Schweineblut vermischt. Ein ordentliches Begräbnis gab es nicht, auch nicht in Zürich. Dort traten stattdessen Zweifel an die Stelle öffentlichen Gedenkens und kollektiven Erinnerns. In den zwölf Jahren seit Zwinglis Ankunft in seiner Wahlheimat war das Christentum neu konzipiert worden, allerdings zu einem hohen Preis. Ein lebendiges Glaubensleben wurde ausgelöscht, Bilder aus Kirchen ausgeräumt und Gegner des Landes verwiesen oder gar ertränkt. Obschon eine neue Realität geschaffen worden war, blieb die erhoffte Bekehrung aller Schweizer Gebiete zum Evangelium aus. Stattdessen wurden unüberbrückbare Gräben zwischen den Religionen aufgerissen. Besonders erschütternd war, dass Zwingli in einem Krieg gestorben war, den er in seinen Predigten und militärischen Schlachtplänen selbst propagiert hatte. Seine letzten Worte auf dem Kriegsfeld lauteten angeblich: «Sie können den Körper töten, nicht aber die Seele.»
Huldrych Zwingli war sich bewusst, dass die westliche Christenheit nicht ohne Gewalt leben konnte. Das bekümmerte ihn zwar, doch verstand er ihre Bedeutung und ihren Stellenwert. So schimpfte er etwa gegen Grausamkeiten und Ungerechtigkeit, zog aber als Priester mit Truppen in den Krieg und war als Reformator für die Hinrichtung von Täufern. Auch verabscheute er den Verkauf junger Männer aus den ärmeren Gebieten der Schweiz als Söldner und verglich den Solddienst mit Prostitution. Dennoch rühmte er seine Vorfahren als ein tapferes Volk, das stets bereit war, die alten Freiheiten mit Gewalt gegen ausbeuterische Bischöfe und Äbte zu verteidigen. Seine Kritik galt nicht dem Schwert, sondern den Mächtigen, die das Schwert missbrauchten. Im Gegensatz zu Girolamo Savonarola, dem florentinischen Dominikanerprediger, und Machiavellis «unbewaffneten Propheten» betrachtete Zwingli seine Vision einer göttlichen Reformation nie losgelöst von politischer und militärischer Macht.
Zwingli war der bewaffnete Prophet Gottes. Allerdings nicht nur, weil er bei Kappel fiel, niedergestreckt von katholischen Soldaten. Seine Waffen waren vielfältiger Natur: Er nutzte die Kanzel, um einen radikalen sozialen, politischen und religiösen Wandel herbeizuführen, und er bewirkte mit seinen Worten eine Reform der Armenfürsorge und des Bildungswesens für junge Menschen. Glaube und Herrschaft waren zwar eigenständig, durften aber niemals getrennt werden, wie schon das Beispiel des alten Israel gezeigt hat. Freiheit existierte nur innerhalb der von Gott gegebenen Strukturen. Der allmächtige und alles durch Vorsehung leitende Gott bestimmt die Ordnung der Hierarchien im Leben der Menschen. Unter den Reformatoren seiner Generation stach Zwingli durch seine Bereitschaft heraus, die Verbindung zwischen Christentum und irdischer Autorität für ein neuartiges und überraschend kühnes Konzept von Kirche und Gesellschaft nutzbar zu machen.
Für diese Vision einer neuen Welt war Zwingli nicht nur bereit zu töten, sondern auch zu sterben. Er war deswegen kein Kriegstreiber, und doch war er bereit, sich selbst und andere zu opfern. Diese konsequente Entschlossenheit und Zuversicht beunruhigten selbst seine engsten Gefährten zutiefst. Wiederholt hatten sie Zwingli vor militärischen Auseinandersetzungen gewarnt. Sein bester Freund, Leo Jud (1482–1542), bereute noch auf seinem Sterbebett jenen Krieg, der beinahe das Ende für die Reformation bedeutet hätte. Und das Denkmal, das im 19. Jahrhundert in Zürich zu Ehren Zwinglis errichtet wurde, zeigt den Reformator mit aufgeschlagener Bibel und Schwert in der Hand, den Blick gegen die katholische Schweiz im Süden gerichtet. Zwinglis kriegerisches Vermächtnis bleibt bestehen.
Wie so viele andere herausragende religiöse Persönlichkeiten vereinte auch Huldrych Zwingli zahlreiche ungelöste Widersprüche in sich. In Zwinglis Fall waren sie zugleich Quelle seiner Wirkmacht wie Ursache seines Scheiterns. Es wäre zu einfach, Zwingli als komplexen Menschen abzutun. Vielmehr wird in diesem Buch untersucht, wie diese konkurrierenden Impulse und widersprüchlichen Spannungen zugleich enorm produktiv und fruchtbar, aber auch überaus zerstörerisch werden konnten. Zwar stand Zwingli tief in Martin Luthers Schuld, denn erst durch den Wittenberger Reformator erhielt das protestantische Verständnis von Schrift, Glaube und der Erlösung durch Gottes Gnade allein eine Stimme, wie Zwingli in seinen grosszügigeren Momenten einräumte. Dennoch unterschied sich Zwinglis Vision massgeblich von der seines Zeitgenossen. Obwohl sie sich in vielen Punkten einig waren, hätten die von ihnen jeweils eingeschlagenen Wege nicht unterschiedlicher sein können. Beide richteten sich nach der Bibel, kamen aber zu radikal unterschiedlichen Schlussfolgerungen.
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Um uns Zwingli nähern zu können, müssen wir uns mit seinem Gottesbild beschäftigen. Der rote Faden, der sich durch Zwinglis Leben als Prediger und Reformator zieht, ist seine Vorstellung von Gott als Schöpfer, von der Vorsehung und insbesondere vom Guten. Gott war das Gute selbst. Trotz der Unergründlichkeit Gottes und der Unverständlichkeit mancher seiner Entscheidungen stand für Zwingli Gottes bedingungslose Liebe zu den Menschen nie in Frage. Zwinglis Gottesbild basierte auf den Lehren einflussreicher Denker. Von Platon, den er sehr schätzte, hatte er die Vorstellung übernommen, dass alle Dinge dem Guten entspringen. Durch seinen Mentor Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) hatte er ein optimistisches Bild von der Schöpfung kennengelernt. Zwingli war überzeugt, dass das christliche Leben nicht aus öder Selbstqual bestand. Auch wenn Gott gelegentlich Plagen über die Menschen brachte, um die Gläubigen zu prüfen und zu disziplinieren, fand Zwingli Zuversicht in der Vorstellung eines den Menschen zugewandten Gottes. Er glaubte daran, dass das Leben in ständiger Veränderung und Gestaltung begriffen war, um eine gerechtere Welt zu schaffen. Mittelpunkt dieser konstanten Veränderung und Gestaltung war für Zwingli das Abendmahl. Seine oft verhöhnte und missverstandene Vorstellung des Abendmahls als blosser Akt der Erinnerung oder des Gedenkens sollte vor allem die Herrlichkeit und Einheit Gottes und der Gemeinde zum Ausdruck bringen: Wenn das Licht durch die klaren Kirchenfenster strömte und von den weiss getünchten Wänden reflektiert wurde, wurde der Tischgemeinschaft eine Vision der Ewigkeit und Einheit mit den versammelten Gläubigen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuteil. Zwingli war kein Mystiker, aber er betrachtete das Abendmahl als eine Erfahrung, die uns aus unserem gewöhnlichen Dasein entrückt.
Der Mensch lebt nicht mehr im Paradies. Zwingli wollte die weltliche und geistliche Autorität so zusammenzuführen, dass sie bruchlos den Leib Christi in der Welt bildeten. Dazu band er Macht und Gewalt gleichermassen an weltliche Obrigkeiten und die Kirche. Individuen und Gemeinschaften befanden sich in einem steten Entwicklungsprozess im Streben danach, Christus ähnlicher zu werden. Allerdings betrachtete er ein Leben, das sich allein auf die Heilige Schrift, die Sakramente und das Gebet stützt, als unvollständig. Vielmehr glaubte Zwingli, dass die weltliche Regierung streng sein musste und nicht nur korrigierend eingreifen, sondern nötigenfalls auch dämonisieren, ausgrenzen und sogar zerstören sollte. Dem Zeitgeist seiner Generation folgend war Zwingli überzeugt, dass dem Einzelnen der Glaube nicht frei zur Wahl stehen sollte und propagierte stattdessen, dass die Religion des Staats auch die Religion des Volks sein musste. Allerdings hatte Zwingli die Rechnung ohne die zahlreichen widerstrebenden Bauern, die institutionalisierte Kirche und die selbstbewussten politischen Autoritäten gemacht, die sich seiner Reformation in Zürich und den Plänen einer Zuführung der Schweizerischen Eidgenossenschaft zum Evangelium wehrhaft entgegenstellten. Schmerzhaft musste Zwingli schon bald erkennen, dass sich die wenigsten Menschen ohne Weiteres zum Evangelium bekehren liessen.
Mit Blick auf Zwinglis Verbindungen zu Martin Luther (1483–1546) und dessen antisemitischen Überzeugungen sowie zu Johannes Calvin (1509–1564) und dessen Rolle bei der Hinrichtung von Michael Servet (1509/11–1553) lässt sich die Reformation kaum mit unseren modernen Werten in Einklang bringen. Im Kurzroman Helena von Evelyn Waugh erkundigt sich die Mutter von Kaiser Konstantin beim Christen Laktanz über den neuen Glauben im Römischen Reich und will wissen, ob dieser Glaube einen Platz neben den alten Göttern einnehmen werde. Darauf antwortet Laktanz: «Das Christentum ist nicht diese Art von Religion. Es kann mit niemandem etwas teilen. Solange es frei ist, wird es erobern.» Von der mittelalterlichen christlichen Tradition ererbte Zwingli einen ausgeprägten Sinn für Rechtgläubigkeit und eine völlige Intoleranz gegenüber Häresie, wenn auch in Abstufungen. Es waren diese strengen Überzeugungen, die ihn letztendlich von seinem verehrten Erasmus distanzierten. Obwohl er die Juden als gottlose Leugner Christi betrachtete, stützte Zwingli sein Modell des christlichen Amtes auf die rabbinischen Traditionen eines Priestertums der Gebildeten im Dienst am Wort. Er hatte eine umfassende Vorstellung vom Heil und erwartete, im Himmel die tugendhaften Persönlichkeiten des klassischen Altertums anzutreffen. Gleichzeitig aber war er der Meinung, dass diejenigen, die die Kindertaufe ablehnten, es verdienten, im Fluss ertränkt zu werden.
Wie so viele religiöse Anführer seiner Zeit interpretierte auch Zwingli die Reformation als einen Eingriff Gottes in die Geschichte der Menschheit. Das Heil des verlorenen Volks lag für ihn in der Erneuerung des Wortes, weshalb das Evangelium keinesfalls behindert werden durfte. Sowohl die geistliche als auch die weltliche Macht hatten sich in Zwinglis Verständnis vollständig dem Dienst am Evangelium zu unterwerfen. Diese unerschütterliche Überzeugung zeigte sich nicht zuletzt in seiner Rolle als militärischer Stratege, in der er sogar die Eroberung der katholischen Nachbarn Zürichs ins Auge fasste. Aus heutiger Perspektive mag Zwinglis enormer und ungebrochener Optimismus vielleicht naiv erscheinen. Doch lässt sich seine Haltung nur über just diese tiefsitzende Überzeugung verstehen. Er war fest davon überzeugt, dass das Volk den Götzendienst aufgeben und die Wahrheit annehmen würde, sobald man es mit dem wahren Wort Gottes konfrontiere. Es war dieses übermässige Vertrauen in sich selbst, seine Mitstreiter und die vermeintliche Wahrheit seiner Sache, die Zwinglis Persönlichkeit und Wirken bestimmte.
Nichtsdestotrotz lebte Zwingli nicht in einer abgeschlossenen Realität. Er war ein beeindruckender und charismatischer, aber auch unvollkommener Mensch, der eine Revolution auslöste, die er nur unter grosser Anstrengung anführen konnte. Auch die Zürcher Katholiken und Täufer träumten von einer gereinigten Kirche und von Reformation und waren in ihren Überzeugungen genauso unnachgiebig wie Zwingli. Selbst Zwinglis Freunde und Gleichgesinnte verstanden sich nie nur als seine Anhänger. Ihre gemeinsamen Überzeugungen konnten nicht über unterschiedliche Ansichten und Perspektiven bezüglich der Reformation hinwegtäuschen. Zwinglis Rolle, so fesselnd und prägend sie auch gewesen sein mag, muss insofern unbedingt mit Rücksicht auf den weiteren historischen Kontext betrachtet werden. Sein Agieren war hauptsächlich ein Reagieren auf (äussere) Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hatte. Viele seiner Auseinandersetzungen hatte er sich weder ausgesucht, noch konnte er ihren Ausgang vorausahnen. Und so hätte die Reformation auch völlig andere Richtungen einschlagen oder sogar ganz ausbleiben können.
Zwinglis Zürich war eine Mischung aus Erneuerung und Bewahrung. Wie auch in anderen Teilen Europas, beruhte die Reformation in Zürich auf den Grundlagen mittelalterlicher Kirchenordnung. Sie folgte jenem Ideal, wonach sich jede Gemeinde um eine Pfarrkirche gruppierte und von einem Geistlichen betreut wurde. Das Zürich, in das Zwingli im Dezember 1518 gelangte, war geprägt von Prozessionen, Reliquien und Heiligenverehrung sowie dem Umgang von Priestern mit dem Leib Christi. Obschon Zwinglis Reformation solche Praktiken auszuhöhlen begann und Priester zu Pfarrern machte, waren die Laien weiterhin auf die Ortskirchen angewiesen, um sich taufen, konfirmieren, verheiraten und letztlich auch beerdigen zu lassen. Darüber hinaus war die reformierte Überzeugung, dass moralische Integrität und wahrer Glaube untrennbar miteinander verbunden sind, tief in der mittelalterlichen Glaubenswelt verwurzelt. Gleiches gilt für die schonungslose Ächtung von abweichendem Verhalten und die Überzeugung, dass alles, was die Gemeinschaft befleckte, mit aller Gewalt verurteilt und ausgemerzt werden müsse. Zwinglis Reformation war keine Befreiung von einer dunklen Vergangenheit.
Auch spielte sich die Reformation inmitten des magischen Universums des Spätmittelalters ab, mit einer Welt voller guter und böser Kräfte und Geister. In dieser Welt bestand der menschliche Körper aus Säften, deren Fluss von der Bewegung der Sterne und Elemente gelenkt wurde. In den Wäldern hausten Dämonen, die jederzeit die Gestalt eines Wolfs oder einer verstorbenen Grossmutter annehmen konnten. Jenseits der Stadtmauern lag eine bedrohliche Welt, innerhalb derer das Reisen voller Gefahren war. Auch auf die Pest, die sich ihre Opfer ohne Rücksicht auf Stand und Besitz aussuchte, hatte die Reformation keine Antwort. Zwingli selbst wäre 1519 beinahe an der Pest gestorben. Seine spätere Frau Anna Reinhart kümmerte sich während dieser Zeit um ihn. Die Welt der Natur löste Ehrfurcht und Furcht zugleich aus. Doch weder Zwingli noch seine Anhänger stellten diese Ordnung oder diesen Aufbau des natürlichen ptolemäischen Kosmos und den Platz des Menschen darin in Frage. In Zwinglis Überzeugung waren die alpinen Berge und Täler, die ein tapferes, kühnes und gottesfürchtiges Volk hervorgebracht hatten, ein Abbild des Himmels.
Trotzdem war die Zerrüttung immens. Luthers Reformationsdrang kam nicht annähernd an den Eifer heran, mit dem der Gottesdienst in Zürich sowohl geistlich als auch äusserlich neugestaltet wurde. Als am Gründonnerstag 1525 in Zürich zum ersten Mal das reformierte Abendmahl gefeiert wurde, gab es nichts, womit sich das Ereignis hätte vergleichen lassen. Nach dem neuen Verständnis war Christus nicht mehr leiblich anwesend und die Verbindung zwischen den Lebenden und Toten durchtrennt. Symbolisch predigte Zwingli nun von jenem Ort aus, an dem einst der Hochaltar, die Stätte des Gebets des Priesters für das Volk, gestanden hatte. Auf Anordnung der Obrigkeit wurden Altäre, Bilder, Glasmalereien und Orgeln aus den Kirchen entfernt. Das alles war das Ergebnis von Zwinglis Vorstellung einer bruchlosen Einheit von Weltlichem und Heiligem in Form eines corpus Christianum. Kritiker sahen in dieser engen Verknüpfung von weltlichen und himmlischen Belangen einen Kompromiss mit der irdischen Macht und somit einen Verrat am Evangelium. Doch für Zwingli bestand die Kirche aus der gesamten Gemeinschaft, einschliesslich aller Gläubigen und Ungläubigen. Obschon sie beim Jüngsten Gericht voneinander getrennt würden, bildeten sie im Diesseits eine sichtbare Gemeinschaft, die der Obrigkeit und den Propheten unterstellt war. Nach Zwinglis Auffassung konnte nur ein gehorsamer Diener des Staats auch ein Mitglied der Kirche sein – und umgekehrt.
Als Priester erlebte Zwingli im Jahr 1516 eine Offenbarung, die ihn davon überzeugte, dass die Schrift allein genügte. Zeitlich ging diese Einsicht Martin Luthers 95 Thesen voraus, Zwingli war deswegen aber nicht der erste Protestant und bis zur Umsetzung seiner Vision lag noch ein beschwerlicher Weg bevor. Nichtsdestotrotz bildete die Offenbarung den Grundstein für eine Karriere, in der Zwingli alle Bücher der Bibel von Anfang bis Ende durchpredigen sollte. Für ihn war die Heilige Schrift die Fülle der Offenbarung Gottes an die Menschheit. Sie war klar und verständlich. Wie auch Luther glaubte er daher, dass sich die Bibel selbst erkläre. Schwierige Passagen würden durch verständlichere Passagen erklärt und aufgeschlüsselt. Als Schüler von Erasmus betonte er aber auch die Bedeutung der Sprachen als Schlüssel zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift – vorausgesetzt die Lesenden würden vom Heiligen Geist geführt. Und so wichen seine anfänglichen Überzeugungen, wonach die Heilige Schrift von jedem Gläubigen verstanden werden kann, schon bald einem Priestertum der Gelehrten und der didaktischen Rolle der Pfarrer. Den Konsens der weisen Propheten galt es durchzusetzen. Ein zentrales Symbol beziehungsweise Organ dieser neuen reformierten Ordnung war die Einrichtung der Prophezei in der Hauptkirche von Zürich. Dort trafen sich die führenden Geistlichen täglich im Chor, um das Alte Testament in Griechisch, Hebräisch und Latein auszulegen und die Lesung anschliessend für die Gläubigen ins Deutsche zu übersetzen. Deutlicher lässt sich nicht zum Ausdruck bringen, dass die Auslegung der Bibel im Raum der Kirche nicht vom Volk, sondern von den kirchlichen Eliten ausgehen sollte.
Zwingli hatte eine Vision von einer neuen Kirche, von einem neuen Verständnis der Sakramente und einem neuen Selbstverständnis der sakralen Gemeinschaft. Diese Vision fand in der «reformierten Tradition» ihren Ausdruck, die zu einer Vielzahl von theologischen und kirchlichen Ausdrucksformen führen sollte. Nicht selten wird diese reformierte Tradition irrtümlicherweise als «Calvinismus» bezeichnet. Die reformierte Tradition nahm allerdings ihren Ursprung in den Bestrebungen eine Bauernsohns aus dem Toggenburg und führte zu einer Vielzahl von theologischen und kirchlichen Ausdrucksformen. Überhaupt wurde Zwingli lange Zeit als die marginale Gestalt neben Martin Luther und als Vorläufer von Johannes Calvin gehandelt. Beide Vorstellungen sind unzutreffend. Zwar erkannte Zwingli Luthers zentrale Rolle in der frühen Reformation an, doch er war deswegen keineswegs von ihm abhängig. Seine Überzeugungen fand Zwingli einzig durch seine Beziehung zu Gott, der Schrift und der Kirche, und nicht unter dem Einfluss Luthers. Selbstverständlich las er Luther mit grossem Interesse und Gewinn und glaubte auch lange, mit ihm übereinzustimmen. Doch die Perspektiven der beiden Reformatoren unterschieden sich wesentlich. Während Luther das Gesetz und das Evangelium als grundlegende Dynamik des christlichen Lebens betrachtete, sah Zwingli die christliche Gemeinschaft als Analogie zum Leib Christi: gefallen und tief fehlerhaft, aber durchaus fähig zur Erneuerung. Zwinglis Denken wurde viel nachhaltiger von Erasmus beeinflusst. Auch wenn er sich später von seinem niederländischen Mentor abwenden und eine radikalere Reformation anstrebten sollte, fühlte er sich Erasmus bis zu seinem Tod verpflichtet.
In Bezug auf ihren Charakter und ihr Denken sind Zwingli und Calvin nicht bloss zwei vergleichbare Alternativen. Auch wenn Calvin das nie wirklich anerkennen wollte, hatte er Zwingli vieles zu verdanken. Als er sich zum evangelischen Christentum bekehrte, war Zwingli bereits verstorben. Er gehörte somit der nächsten Generation an, die jene reformierte Tradition erbte, die zuvor in Zürich, Basel und Strassburg eingeführt worden war. Calvins eigener und umso bedeutender Beitrag bestand darin, dass er das Erbe in seiner Gesamtheit zusammenfasste und so die Furchen, die die Reformation bisher hinterlassen hatte, weiter vertiefte. Der schöpferische Geist aber war Zwingli. Er erdachte und schuf eine neue Form des Christentums, die auf dem positiven Verständnis des göttlichen Gesetzes und dem Bund zwischen Gott und den Menschen gründete. Aus seiner unbändigen Leidenschaft für den altgriechischen Lyriker Pindar, den Philosophen Platon und die Musik erschuf er eine Liturgie für den Gottesdienst und eine Ästhetik des Heiligen Geistes. In gewisser Hinsicht war Zwingli der Künstler der Reformation, während Heinrich Bullinger (1504–1575) und Johannes Calvin seine wichtigsten Handwerker waren. Diese erbten von ihm auch seinen Hass auf Täufer, Götzendiener und Dissidenten. Sowohl die Form als auch der Rhythmus des reformierten Christentums wurden insofern von Zwingli gestaltet beziehungsweise vorgegeben.
Eine Biografie sollte auf die Überhöhung einer einzelnen Person verzichten und andere Figuren nicht als blosse Statisten darstellen. In diesem Buch wird zu zeigen versucht, dass Zwingli die Reformation ermöglicht hat und dass seine reformatorischen Ideen und Gedanken über die von ihm gepflegten Netzwerke in andere Schweizer Gebiete und ins Ausland getragen wurden. Im Buch wird aber auch gezeigt, dass Zwinglis Ideen nicht ausschliesslich seine eigenen waren und dass er nicht allein handelte. Zwingli war zweifellos ein origineller Denker, aber er teilte auch viele Ansichten und tiefste Überzeugungen mit seinen Zeitgenossen. Durch eine unverwechselbare Mischung aus neuen und entlehnten Ideen schuf Zwingli allerdings eine Vision, die das bisherige Vorstellungsvermögen seiner Zeitgenossen bei weitem übertraf. Dabei bewies er eine beeindruckende Fähigkeit zu Klarheit, Synthese und Polemik. Im Gegensatz zu Erasmus schrieb Zwingli nicht aus der Position der bequemen Ruhe des Studiums heraus. Seine umfangreichen Werke entstanden vielmehr im Gefecht der Kontroverse und Angriffslust. Zudem war ihm nur überaus kurze Zeit vergönnt: Während Luther über 60 alt wurde und Calvin fast 25 Jahre in Genf lebte, wirkte Zwingli nur zwölf Jahre lang in Zürich und starb im Alter von 45 Jahren. In der kurzen Zeit, die Zwingli zur Verfügung stand, schuf er eine neue Kirche und produzierte Schriften und Briefe, die ein Dutzend dicker Bände füllen.
Zwinglis Schriften mögen der modernen Leserschaft bisweilen als schwer zugänglich erscheinen, da seine Logik und seine Schlussfolgerungen heute oft fremdartig wirken und seine theologischen Werke auf Behauptungen, Tautologien und willkürlichen Beweisführungen zu basieren scheinen. Viele seiner Gedankengänge und Voraussetzungen betrachtete er als selbstverständlich und versuchte sie daher gar nicht erst zu beweisen, darunter etwa die Existenz Gottes, die Trinität Gottes und den Fall des Menschen. Auch die Kindertaufe, in der Tradition des westlichen Christentums eine Selbstverständlichkeit, benötigte für ihn keine Begründung, zumindest bis sie von radikalen Anhängern der Reformation in Frage gestellt wurde. Und auch wenn Zwingli häufig von Vernunft sprach, entspricht sein Verständnis nicht unseren post-aufklärerischen Instinkten. Zwingli betrachtete Vernunft als Teil der Schöpfung. Sie war im Einklang mit dem Willen Gottes, wie er den Menschen offenbart worden ist. Die vorliegende Biografie ist ein Versuch, Zwingli in seinem eigenen Kosmos und Denkraum zu erfassen. Dabei soll nicht vergessen werden, dass Zwingli, trotz seiner radikalen Theologie, ein Schüler der mittelalterlichen Scholastik war und sich selbst als Teil der geistigen Tradition der Kirchenväter verstand.
Die liberalen Protestanten des 19. Jahrhunderts glaubten, in Zwingli den zugänglichsten Theologen der Reformation gefunden zu haben. Eine solche Aneignung ist bei näherer Betrachtung allerdings kaum haltbar. Zwingli war kein Vorreiter des Liberalismus. Wahre Religion, wie er sie in seinen ausgefeilten theologischen Werken definierte, stellte einen schmalen Weg dar und bot wenig Raum für Flexibilität. Und doch prägte Zwingli die Vorstellung von der Freiheit des Christenmenschen, vom befreiten Gewissen und dem erlösten Leben. Er war weder welt- noch menschenfeindlich und betonte, dass sich das innere Wirken des Geistes stets auch in äusseren Handlungen artikulieren solle. Die Sünde war in seinem Verständnis lediglich eine «Krankheit», weswegen er sowohl von Katholiken als auch Lutheranern wiederholt dafür kritisiert wurde, dass er keine ausreichend fundierte Lehre von der Sünde hatte. Darüber hinaus besass Zwingli, ganz im Gegensatz zu seinem Ruf als Kritiker von Bildern und Kirchenmusik, eine ausgeprägte Ästhetik, die die Schönheit der Schöpfung und der Menschen wahrnahm und die er wiederholt in seinen lyrischen Werken pries.
Zwingli war ein meisterhafter Kommunikator, der unterhaltsam schrieb und brillant taktierte. Die Kanzel und die Druckerpresse nutzte er mit beispielloser Wirkung, während er mühelos zwischen Latein und seiner (schweizer)deutschen Muttersprache wechselte. Als «Landei», das fern der Stadt aufgewachsen war, konnte er das Evangelium sowohl in den engen Gassen der Stadt als auch auf den weiten Höfen der Dörfer zum Leben erwecken. Zwingli liebte es, mit der Sprache zu spielen. Selbst seinen Taufnamen Ulrich wandelte er in Huldrych um, was so viel wie «reich an Gnade» bedeutet. Er inszenierte sich unermüdlich auf der Kanzel, in der Ratsstube und auf dem Papier. In der Volkssprache beschwor er Heimat und Familie, Täler und Berge sowie das bäuerliche Leben. Obschon seine Sprache paternalistisch und seine Metaphern meist maskulin waren, erinnerte er die Menschen gerne daran, dass sie in Gottes Augen über den Engeln standen. Auch die Welt der Antike war für Zwingli eine Spielwiese: Er liebte Homer, verehrte die Dichtung Pindars und nutzte die Komödien von Aristophanes und Terenz für elegante Allegorien und um seine Gegner mit Sarkasmus und Spott zu überziehen. Geprägt von Erasmus war er davon überzeugt, dass die klassische Welt in das Christentum integriert werden konnte.
Zwinglis aussergewöhnliches Charisma wirkte in beide Richtungen. Bereits bei seiner Ankunft in Zürich im Jahr 1519 gelang es ihm mühelos, die Vorstellung von Korruption durch Söldnerrenten und Missbräuche des klerikalen Standes als Teil des göttlichen Gerichts über die Welt zu etablieren. Auf der Kanzel nutze er seine Gabe, um zu inspirieren, zu beschwören und auch zu tadeln. Etwas Vergleichbares hatte das Volk noch nie zuvor gehört, und so wurde Zwingli schon bald zur wichtigsten Stimme innerhalb der Zürcher Kirche. Sein Name wurde unmittelbar mit der Heiligen Schrift als einzige Autorität und mit scharfer sozialer und politischer Kritik in Verbindung gebracht. Mit seinen Predigten gewann er Anhänger und überzeugte diese nicht nur davon, dass der traditionelle Glaube fehlerbehaftet und unehrlich sei, sondern auch, dass die Bibel das Versprechen einer besseren Welt enthalte. Auch knüpfte er wichtige Kontakte innerhalb der Zürcher Oberschicht, insbesondere zu führenden Familien, die zu seinen Mäzenen wurden. Für solche Fähigkeiten wurde Zwingli allerdings nicht nur bewundert, sondern auch gehasst. Besonders diejenigen, die eine schnellere Reformation anstrebten oder daran zweifelten, dass die obrigkeitlichen Amtsträger wahre Christen seien, zeigten sich ob Zwinglis Ansatz rasch enttäuscht. Davon liess sich Zwingli allerdings nicht beirren. Der Taktiker in ihm wusste, dass seine Vision einer neuen Kirche und Gesellschaft ohne die Unterstützung der Obrigkeit eine Illusion bleiben würde. Ohne Hilfe der politischen Autorität, und sei es auch nur durch eine Minderheit der städtischen Elite, wäre Zwingli der grobschlächtige Prediger höchstwahrscheinlich schnell aus der Stadt gewiesen worden – oder noch schlimmer. Die spätmittelalterliche Welt kennt zahlreiche Beispiele für das tragische Schicksal unerwünschter Prediger.
Zwinglis politische Strategie stand nicht im Widerspruch zu seinem Wirken als Prediger und Theologe. Im Gegenteil. Im Zentrum dieses Buchs steht der Gedanke, dass Zwinglis Denken und Handeln zwar immer wieder widersprüchlich erscheinen mögen, jedoch eine untrennbare Einheit bilden und daher auch zwangsläufig als solche behandelt werden müssen. Zwingli der Politiker war immer auch Zwingli der Prediger. Er betrachtete die Welt stets mit den Augen der Bibel. Das machte ihn zuweilen vielleicht blind für politische Realitäten, doch sein Ziel war es, die Menschen und die Gesellschaft zurück zum Wort Gottes zu führen. Dafür nahm er schon früh die Identität eines Propheten an, um den Menschen die Heilige Schrift näherzubringen, politische Führer zu beraten und die Vorstellung von einem neuen Land, regiert durch Gottes Gerechtigkeit, zu etablieren. Zwingli war überzeugt, dass er von Gott berufen worden war. Als aber am Morgen des 12. Oktober 1531 die Nachricht von der militärischen Niederlage und von Zwinglis Tod Zürich erreichte, wurde sein Name schnell zum Synonym für Verrat. Zwinglis Nachfolger fühlten sich daher gezwungen, das Andenken des gefallenen Reformators zu verteidigen. Zwingli sei ein wahrer Prophet gewesen, betonten sie in ihrer ersten Ansprache nach dessen Tod. Doch viele liessen sich davon nicht überzeugen und blieben skeptisch.
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Es war noch nie einfach, Zwinglis Geschichte zu erzählen. Sein Tod erfüllt sämtliche Kriterien eines schmählichen Endes. Weder wurde er durch die Hand eines unrechtmässigen Verfolgers zum Märtyrer, noch starb er friedlich in seinem Bett, umgeben von seinen engsten und trauernden Freunden, wie es etwa bei Luther und Calvin der Fall war. Die Trauer unter seinen Freunden in der reformatorischen Bewegung war gross, sie vermieden es aber ausdrücklich, sich über die Umstände von Zwinglis Tod zu äussern. Luther war überzeugt, dass sein Erzfeind, der durch das Schwert gelebt hatte und gefallen war, in die Hölle gefahren war. Katholiken wie Lutheraner verachteten Zwingli und sahen ihn als Symbol für Ketzerei. Da Zwingli zudem mit Zürichs jahrhundertealten Ambitionen auf politische Vormachtstellung assoziiert wurde, war es schwierig, ihn als Träger nationaler oder heroischer Empfindungen der Eidgenossenschaft zu vermarkten. Selbst ein enger Freund Zwinglis warnte den potenziellen Autor einer Biografie des Zürcher Reformators, dass das Thema zu umstritten sei. Und auch Calvin gab vor, nur wenig über Zwingli zu wissen.
Im 19. Jahrhundert änderte sich die Sichtweise auf den Reformator massgeblich. Getrieben von den damaligen patriotischen und nationalen Bestrebungen, wurde Zwingli zum Begründer des liberalen Protestantismus stilisiert. Er wurde zu einem Helden und Märtyrer verklärt und diente als Projektionsfläche für die schweizerische Identität. In einer Zeit der zunehmenden säkularen Haltung im 19. Jahrhundert war Zwingli ein Reformator, der den konfessionellen Interessen eines neuen Zeitalters dienen konnte. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurden zahlreiche Gedenkfeiern abgehalten, ein Denkmal errichtet, diverse Biografien und Theaterstücke geschrieben oder aufgeführt und seine Werke in einer kritischen Edition veröffentlicht. Nicht zuletzt wurde Zwingli dadurch zu einem bedeutenden Teil des Wiederauflebens der Reformation in der englischsprachigen Welt. Und obwohl heute in Zürich – wo mehr Katholiken als Protestanten leben – das säkulare Bewusstsein dominiert und Konfessionslose die zahlenmässig grösste Gruppe darstellen, wurde im Jahr 2019 ein enormer Aufwand betrieben, um den 500. Jahrestag von Zwinglis Ankunft in der Stadt zu feiern. Dabei wurde der Reformator zur zentralen Figur einer hitzigen Debatte über Identität und Modernität. Mitten in dieser Phase entstand der teuerste kommerzielle Film, der je in der Schweiz produziert worden war: eine Filmbiografie über Huldrych Zwingli.
Die alpinen Ferienorte, die durch die spektakulären Errungenschaften des Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert entstanden, und die mondäne Welt des heutigen St. Moritz oder Klosters sind weit entfernt von jener rauen Bergwelt, in der Huldrych Zwingli aufwuchs.1 Die atemberaubenden Höhenzüge und die saftig grünen Täler täuschten über einen harten Überlebenskampf hinweg: eine Welt der Subsistenzwirtschaft, die der Willkür ausbeuterischer Grundherren unterworfen war, darunter nicht selten angesehene Vertreter der Kirche und kirchliche Ordenshäuser. Einen möglichen Ausweg boten die Versprechungen von Geld und Abenteuer im Solddienst für den König von Frankreich oder den Papst. So wurde der junge Zwingli durch eine tiefe Verbundenheit mit Land und Menschen, den Glauben seiner Eltern, seinen scharfen Sinn für das Leid in Gottes Welt und die allgegenwärtige Gewalt geprägt.
Ulrich Zwingli kam am 1. Januar 1484 im Toggenburger Bergdorf Wildhaus zur Welt und wurde auf den Namen seines Vaters getauft. Die umliegende Landschaft ist atemberauend und gezeichnet von Tälern, die in majestätische Berge und einen offenen Himmel übergehen. Zwingli wuchs im Schatten der Churfirsten auf, einer Bergkette, die nach den sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs benannt ist. Vom benachbarten, oft schneebedeckten Säntis reicht der Blick bis ins heutige Österreich und nach Deutschland. Schon Zwinglis erster Biograf, sein Freund und Kollege Oswald Myconius (1488–1562), bemerkte, dass die Schönheit und Dramatik dieser Landschaft den jungen Zwingli mit einem ausgeprägten Sinn für die Nähe Gottes erfüllte und dass Zwingli «etwas Göttliches direkt vom Himmel, unter dem er lebte», bezogen habe.2
Das Bauernhaus, in dem Zwingli geboren wurde, steht noch heute: ein robustes Holzgebäude mit geräumiger Wohnstube im Erdgeschoss und mehreren kleinen Schlafkammern darüber. Die Grösse des Hauses lässt darauf schliessen, dass Zwinglis Familie verhältnismässig wohlhabend war und im Dorf ein gewisses Ansehen genoss. Ein weiterer Biograf, der Zwingli persönlich kannte, hielt fest, dass Zwinglis Vater aus einer «guten, alten Familie» stammte, zutiefst fromm war und das Amt des Ammanns bekleidete. Die Verbindung zur Kirche war in der Familie tief verankert: Zwinglis geliebter Onkel Bartholomäus war Priester in Wildhaus, dessen Kirchgemeinde die Rechte an der Pfarrei erworben hatte, einschliesslich des Rechts zur selbständigen Pfarrerwahl. Ein Cousin von Zwinglis Mutter war zudem einst Abt des Klosters Fischingen gewesen.
Zwinglis Kindheit verlief weniger konfliktreich als jene von Martin Luther. Er war das dritte von insgesamt zehn Kindern und hatte fünf Brüder und vier Schwestern. Seine Eltern scheinen ein ansehnliches Alter erreicht zu haben; der Vater wird letztmals 1513 erwähnt, während die Mutter Margaretha Meili wohl 1519 verstarb, wie ein Brief eines Bruders von Zwingli nahelegt.3 Die zwei jüngsten Brüder waren 1522 bereits tot, während die übrigen das Kindsalter überlebt hatten. Zwei der Brüder folgten Ulrich und wurden ebenfalls Priester. Einer der wenigen erhaltenen Hinweise auf Zwinglis familiäre Beziehungen findet sich im Vorwort zu seiner Predigt über Maria von 1522. Darin verteidigte er sich gegen Vorwürfe der Unmoral und warnte seine Brüder eindringlich vor den seelenzerstörenden Verlockungen des Reislaufens.4 Es scheint, dass auch sie die Reformation angenommen hatten, ebenso wie ein weiterer Onkel, der Abt von St. Johann, mit dem Zwingli auch nach seiner Ankunft in Zürich 1519 in Kontakt blieb und der später ein leidenschaftlicher Verfechter der Reformation im Toggenburg wurde. Wie Zwingli berichtete, hat ihn dieser Onkel geliebt wie sein eigenes Kind.5
Zwinglis gelegentliche Rückblicke auf seine Kindheit deuten auf eine glückliche Jugend und tiefe Zuneigung zu seiner relativ wohlhabenden Familie hin. Später im Leben verglich er die Güte Gottes mit jener eines Vaters, der seinem Sohn Trauben vom Weinstock reicht. In einem seiner letzten Briefe wandte sich Zwingli an einen lebenslangen Freund und Mentor und bat ihn, sich um einen Cousin zu kümmern, mit dem er als Kind zusammengelebt hatte und der nun schwer krank war.6 Seinen Eltern dankte Zwingli dafür, dass sie ihm eine christliche Erziehung ermöglicht und ihn gelehrt hatten, Entbehrungen und Leid stets mit gutem Geist zu ertragen. Einmal erinnerte er sich:
Meine Grossmutter erzählte mir oft die Geschichte, wie sich Petrus und Jesus ein Bett teilten. Petrus ging immer früher zu Bett und verliess den Herrn. Jeden Morgen kam die Hausherrin, packte Petrus bei den Haaren und weckte ihn.7
Zweifellos erinnerte er sich daran, wie er als Kind ein Bett mit seinen Brüdern geteilt hatte. Zwinglis Liebe zu seiner Heimat beruhte auf den Geschichten, die ihm als Kind erzählt wurden und die von den heroischen Taten der Schweizer im Kampf gegen fremde Herrscher handelten. Seine späteren Schriften, insbesondere jene zur göttlichen Vorsehung, zeugen von seiner tiefen Verbundenheit mit der Natur, besonders mit der Berglandschaft, in der er aufwuchs.8 In einem Kommentar zu Psalm 104 sprach er über David, den Psalmisten:
Er beschreibt sowohl die Weisheit als auch die Vorsehung Gottes in einer Weise, die uns Gott als Schöpfer zeigt, der die Berge in seiner mächtigen Hand balanciert, sie sorgfältig an ihre Plätze setzt, die Täler dazwischen formt und die frischen Bäche durch die Täler fliessen lässt, die Felder ausbreitet und das turbulente Meer in seine Tiefen zurückdrängt, sodass keine Verwirrung durch seine Unbeständigkeit entsteht. Dann wies er jeder Region Siedler zu und versorgte sie reichlich.9
Bis zu seinem Lebensende sprach Zwingli von einem gütigen und fürsorglichen Gott.
Freiheit – insbesondere die Freiheit des Christenmenschen – war ein vertrautes Thema in Zwinglis Denken. Auch dieses Motiv reicht in seine frühen Jahre im Toggenburg zurück. Im Jahr 1468, nur sechzehn Jahre vor Zwinglis Geburt, hatte das mächtige Kloster St. Gallen die Herrschaft über das Toggenburg erworben. Die Toggenburger jedoch waren stolz auf ihre Unabhängigkeit und fest entschlossen, ihre Rechte zu verteidigen. Anfang der 1490er Jahre entsandte der Abt 8.000 Soldaten ins Toggenburg, um seine Ansprüche auf Land und Kirche durchzusetzen. In seiner ersten Schrift, Das Labyrinth von 1516, spielte Zwingli gezielt auf die Gier und den Ehrgeiz des Abts an und verglich ihn mit einem Bären – einem «hässlichen Anblick» und «ungezähmten Tier».10 Auch Zwinglis Vater war ein leidenschaftlicher Verfechter der traditionellen Rechte der Toggenburger und der Unabhängigkeit ihrer Kirche. Diese familiäre Prägung sowie Zwinglis Darstellung des Abts hat in der Vergangenheit Historiker zu der Annahme geführt, dass Zwinglis Patriotismus auf seine Jugend zurückzuführen sei.11
Zwinglis Vater war entschlossen, seinem talentierten Sohn eine solide Ausbildung zu ermöglichen, was eine angemessene Unterweisung voraussetzte. Er vertraute Zwingli zunächst dessen Onkel Bartholomäus an, der Wildhaus verlassen hatte, um im 25 Kilometer entfernten Weesen als Priester zu dienen. Zwingli stand ihm sehr nahe und blieb auch nach seiner Zeit in Weesen mit ihm in Kontakt. Er sah ihn als Vorbild eines Priesters und Mentors an, der ihm das Ideal des treuen Hirten vorgelebt habe. Bartholomäus blieb vor allem deshalb in Erinnerung, weil er eine Bruderschaft gründete, die sich um Waisenkinder kümmerte.12
Zwingli hatte Glück mit seinen Lehrern. Im Alter von zehn Jahren wurde er nach Basel geschickt, um von Gregor Bünzli unterrichtet zu werden – einem Lehrer, den Zwingli später liebevoll als inspirierend in Erinnerung behielt. Bünzli trat später die Nachfolge von Zwinglis Onkel Bartholomäus als Priester in Weesen an.13 In der Universitätsstadt Basel wurde Zwingli in Latein, Musik und Dialektik eingeführt. Sein erster Biograf berichtete von einem aussergewöhnlichen Schüler:
Er machte dermassen Fortschritte in Charakter und Gelehrsamkeit, dass er bei den Disputationen, die damals üblich waren, alle Ehren gegenüber allen Jungen und Jugendlichen in der Schule davontrug. Deswegen zog er den grössten Missmut der älteren Jungen auf sich. Seine Fähigkeiten in der Musik überstiegen das, was in seinem Alter erwartet werden konnte, was bei jenen, die von Natur aus in einer Kunst besonders begabt sind, wohl der Fall ist.14
Zwinglis Lehrer in Basel war so beeindruckt, dass er ihn für ein weiterführendes Studium bei Heinrich Wölfli (1470–1532, latinisiert Lupulus) in Bern empfahl. Der angesehene Gelehrte in Bern war ein typischer Vertreter der humanistischen Gelehrsamkeit, der sich eine Reformation der Kirche erhoffte.15 Dabei war Lupulus’ Reformgesinnung fest in der spätmittelalterlichen Welt verankert: Er unternahm regelmässig Wallfahrten zum Benediktinerkloster in Einsiedeln, und er unterstützte den Ablassprediger Bernhardin Sanson
