"Zwischen Himmel und Beton" Unterwegs zu mir selbst – ein moderner Coming-of-Age-Roman - Jona Levin - E-Book

"Zwischen Himmel und Beton" Unterwegs zu mir selbst – ein moderner Coming-of-Age-Roman E-Book

Jona Levin

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Beschreibung

Jona hat viel verloren – seine Heimat, seine Familie, seinen Glauben an sich selbst. Aufgewachsen in grauen Plattenbauten, umgeben von Geheimnissen und stillen Schmerzen, kämpft er sich durch eine Welt, die oft zu laut, zu hart und zu einsam ist. Doch dann trifft er eine Entscheidung: nicht länger Opfer seiner Vergangenheit zu sein, sondern sein Leben selbst zu schreiben. Zwischen zerbrochenen Träumen, zarten Freundschaften und ersten großen Lieben entdeckt Jona, dass Heilung kein Ziel ist, sondern ein Weg. "Mein Name ist Jona" erzählt leise und doch unvergesslich von Verlust, Mut und der Kraft, sich selbst zu finden – für alle, die irgendwann nicht mehr weglaufen wollen, sondern ankommen.

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Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2025

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„Zwischen Himmel und Beton“

Kapitelübersicht (30 Kapitel):

Teil 1 – Kindheit endet nicht leise (Kapitel 1–10)

Der letzte Sommer mit meiner Mutter

Plattenbau-Romantik und andere Lügen

Finn, der immer lachte

Schatten in meinem Zimmer

Die Welt im Bus zur Schule

Kaugummis gegen die Angst

Wenn Lehrer nicht zuhören

Erster Kuss, falscher Moment

Familie ist ein loses Versprechen

Silvester mit Tränen im Keller

Teil 2 – Zwischen Aufbruch und Absturz (Kapitel 11–20)

Mein Vater, der Fremde

Eine Zigarette entfernt vom Nichts

Das Mädchen mit den grünen Kopfhörern

Schulverweis und andere Katastrophen

Wie Freunde zerbrechen

Partys, Pillen, Polizei

Nächte ohne Zuhause

Therapie ist kein Schimpfwort

Briefe, die ich nie abschicke

Wenn Liebe weh tut

Teil 3 – Vielleicht wird alles gut (Kapitel 21–30)

Neubeginn in einem fremden Zimmer

Auf einmal war ich nicht mehr allein

Jobs, die nach Freiheit schmecken

Abschied von der Schuld

Wiedersehen mit dem Schmerz

Ich, du und dieser eine Tag

Die Entscheidung

Frühling im Kopf

Zwischen Himmel und Beton

Mein Name ist Jona

Kapitel 1: Der letzte Sommer mit meiner Mutter

Manchmal frage ich mich, ob man den letzten Sommer mit einem geliebten Menschen erkennt, während er passiert. Ob es einen Moment gibt, in dem einem klar wird: Jetzt gerade. Das ist das letzte Mal, dass wir so sind, wie wir waren.

Bei mir war es der Duft von Sonnenmilch und kaltem Filterkaffee, der mich später an sie erinnerte. Der kleine Plastikstuhl auf dem Balkon, auf dem sie immer saß, Zigarette in der einen Hand, Buch in der anderen, den Blick auf das, was sie "unser kleines Himmelreich" nannte. Dabei war es nur der Hof zwischen den grauen Wohnblöcken. Aber sie hatte eine Gabe – Dinge schöner zu reden, als sie waren.

Ich war siebzehn und wütend auf die Welt. Meine Mutter war 39 und müde davon. Unser Leben bestand aus leeren Kühlschrankfächern, Rechnungen in der Spüle und Musik, die zu laut lief, weil sie alles andere übertönen sollte. Und doch – oder gerade deshalb – war dieser Sommer wie ein letztes Aufatmen. Ein Atemzug vor dem Sturm.

Sie weckte mich oft spät. Ihr "Aufstehen, mein Held" klang wie ein Witz, den nur wir verstanden. Ich kam selten vor Mittag aus dem Bett, wenn Ferien waren. An diesem Sommermorgen – es war Ende Juli – hatte sie schon Toast gemacht. Verbrannt, wie immer. Ich fluchte, wie immer. Und sie grinste nur, als sei der angekohlte Rand ein Zeichen ihrer Liebe.

"Wenn du das isst, wirst du 100", sagte sie.

"Will ich gar nicht."

"Doch. Weil ich will, dass du alt wirst. Und glücklich."

Ich starrte auf den verkohlten Toast und sagte nichts. Damals wusste ich nicht, wie kostbar solche Sätze sind.

Wir verbrachten die Tage oft auf dem Balkon. Ich las in alten Comics, sie las in dicken Romanen, deren Titel ich nie verstand. Wir redeten nicht viel, aber wenn wir redeten, war es echt. Unverstellt. Sie fragte nicht nach Noten, sie fragte, wie ich schlafe. Ob ich wieder diese Träume habe. Ob ich das Gefühl habe, nicht genug zu sein. Manchmal nickte ich nur, und sie legte ihre Hand auf meinen Arm.

"Du bist mehr als genug, Jona. Auch wenn du's selbst nicht glaubst."

Sie sagte das so oft, dass ich irgendwann dachte, vielleicht stimmte es.

An einem Abend gingen wir zum See. Der Himmel war rosa, als hätte ihn jemand mit Aquarellfarben gemalt. Sie bestand darauf, dass wir barfuß gehen. "Die Erde muss dich spüren", sagte sie und lachte. Ihr Lachen war selten geworden, aber wenn es kam, dann vibrierte es in der Luft.

Am Wasser setzten wir uns auf den Steg. Ihre Füße baumelten im Wasser. Ich betrachtete ihr Gesicht. Es wirkte müder als sonst. Blasser. Ihre Augen lagen tiefer, als ob sie heimlich weinte, wenn ich schlief.

"Mama, geht’s dir gut?"

Sie schaute aufs Wasser. "Ja. Heute ja."

Ich fragte nicht weiter. Ich war siebzehn, und sie war meine Mutter. Ich wollte glauben, dass sie unbesiegbar war.

Es gab auch Streit. Natürlich. Sie wollte, dass ich öfter nach draußen ging, ich wollte mit niemandem reden. Sie warf mir vor, mich zurückzuziehen. Ich warf ihr vor, nicht genug da zu sein – obwohl sie fast nie ging. Aber unsere Kämpfe waren leise. Keine Teller, keine Türen. Nur Worte, die zu schwer waren für kleine Wohnungen.

Einmal sagte ich: "Du verstehst mich nicht."

Und sie antwortete: "Ich versuch’s jeden Tag, Jona."

Der Sommer kroch langsam voran. Die Nächte wurden wärmer, die Luft schwerer. Ich bemerkte, dass sie öfter schlief. Dass sie seltener aß. Dass sie manchmal auf dem Sofa saß und einfach nur ins Nichts starrte.

Ich wollte fragen. Ich traute mich nicht.

An einem Dienstag bekam sie einen Anruf. Ich hörte sie in der Küche flüstern, dann weinen. Als ich reinkam, wischte sie sich die Tränen mit einem Küchentuch ab, auf dem ein Kaffeefleck war. "Nur Quatsch", sagte sie. "Alles gut."

Ich glaubte ihr nicht. Aber ich tat so.

In der letzten Juliwoche gingen wir wieder zum See. Sie trug ein Kleid, das ich noch nie gesehen hatte. Hellblau, mit kleinen weißen Punkten. Es flatterte im Wind wie etwas, das gehen will. Sie nahm meine Hand, was sie lange nicht getan hatte. Wir saßen auf derselben Bank wie immer. Aber diesmal redete sie.

"Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin...", begann sie.

"Was soll das jetzt?"

"Hör mir zu. Ich will, dass du weißt: Du musst nicht stark sein. Du darfst wütend sein. Traurig. Alles. Aber hör nie auf, du selbst zu sein. Und: Vergib mir, dass ich nicht alles besser machen konnte."

Ich schaute sie an. Ihre Augen glänzten. Meine Kehle war wie zugeschnürt.

"Du spinnst. Du bleibst."

Sie lächelte. "Ich bleibe – in dir."

Zwei Wochen später fand ich sie auf dem Sofa. Es war morgens, ich hatte den Toast gerochen – aber sie war nicht aufgestanden. Der Fernseher lief, stumm. Ihr Buch lag auf dem Boden. Und sie atmete nicht mehr.

Ich weiß nicht, wie lange ich nur dastand. Alles in mir war leer und laut zugleich.

Später sagten sie, es war Krebs. Sie wusste es. Hatte es nicht gesagt. Wollte den Sommer schön halten. Für mich. Für uns.

Jetzt, ein Jahr später, sitze ich oft am selben Steg. Ihre Asche liegt im See, den sie so liebte. Ich habe manchmal das Gefühl, sie ist noch da. Im Wind. Im Licht. In meinem Herzen.

Und ich denke an diesen letzten Sommer. An Sonnenmilch und verbrannten Toast. An Bücher, Barfußwege, und das Kleid mit den weißen Punkten.

An das kleine Himmelreich, das sie mir gebaut hat – mitten im Grau.

Kapitel 2: Plattenbau-Romantik und andere Lügen

Die Sonne scheint auch auf graue Wände. Nur sieht das kaum jemand.

Wenn Leute von „Ghetto“ sprechen, dann meinen sie Orte wie meinen. Wo Satellitenschüsseln wie Narben an den Hauswänden kleben, wo Kinder auf kaputten Spielgeräten sitzen, während ihre Mütter rauchend im Schatten stehen. Ich habe nie verstanden, warum andere so auf uns herabsehen – vielleicht, weil wir gelernt haben, mit wenig zu leben. Oder weil man von oben nicht sieht, was wirklich zählt.

Wir nannten es Block 8. Sechs Etagen, kein Aufzug, Flure wie aus einem alten Horrorfilm. Die Fenster waren oft beschlagen, selbst im Sommer. Der Putz bröckelte an den Ecken. Der Hausmeister trug immer dieselbe Jogginghose, egal welches Wetter war. Und trotzdem war das hier mein Zuhause. Zwischen den Rissen, dem Lärm und der Wärme, die sich versteckte, aber da war – irgendwo.

Nach dem Tod meiner Mutter wurde alles noch stiller. Mein Vater, den ich bis dahin kaum gesehen hatte, tauchte plötzlich wieder auf – für genau fünf Minuten beim Jugendamt. Danach war ich offiziell „in Betreuung“. Tante Ute, die eigentlich nur Utes Mutter war, wurde meine Pflegemutter auf Zeit. Sie wohnte zwei Etagen über uns. In derselben Siedlung. Im selben Grau.

Aber sie hatte Blumen auf dem Balkon. Bunte. Und eine Katze, die auf alles scheißt. Irgendwie passte das.

Ich hatte einen Lieblingsplatz. Die Bank am Ende des Blocks. Direkt zwischen den Mülltonnen und einem vergessenen Apfelbaum. Dort saß ich oft mit Finn. Wenn ich an „Plattenbau-Romantik“ denke, dann denke ich an diese Bank, an unsere Gespräche und daran, wie ehrlich Stille sein kann, wenn zwei Menschen sie teilen.

Finn war mein bester Freund. Vielleicht mein einziger. Er war zwei Monate älter, einen Kopf größer und trug die Haare immer wie frisch aus dem Bett – absichtlich. Er hatte ein Lächeln, das Lehrer nervös machte und Mädchen in den Wahnsinn trieb. Und doch war er meistens ernst. Zu ernst für sein Alter.

„Wenn ich mal groß bin“, sagte er oft, „zieh ich hier weg. Irgendwohin, wo der Himmel größer ist.“

Ich nickte nur. Ich wusste, was er meinte. Der Himmel über dem Block wirkte oft wie ein Deckel.

Tagsüber war alles lauter. Kinder schrien. Mütter schrien zurück. Mopeds knatterten. Im Hinterhof wurde geraucht, gedealt, geküsst. Die alten Männer spielten Domino am Plastiktisch. Und mittendrin wir – zwei Jungs mit zu vielen Gedanken und zu wenig Raum.

Finn hatte seine eigenen Dämonen. Sein Vater trank. Seine Mutter war selten da. Und manchmal, wenn er zu mir raufkam, roch er nach kaltem Rauch und irgendwas Bitterem. Er sagte nie viel dazu. Aber einmal, spät abends auf unserer Bank, meinte er:

„Weißt du, Jona… ich hab nie gewusst, wie sich echte Ruhe anfühlt. Bis ich bei dir im Wohnzimmer lag und deine Mutter mir den Nacken gekrault hat.“

Mir schnürte es damals die Kehle zu. Ich sagte nur: „Sie hat dich geliebt wie mich.“ Und er nickte. Langsam. Fast wie ein Gebet.

Ich ging weiterhin zur Schule. Nicht aus Ehrgeiz, sondern weil ich sonst hätte arbeiten müssen. Die Lehrer behandelten mich plötzlich wie Glas. Als ob man an mir vorbeisehen musste, damit ich nicht zerbrach. Ich hasste das.

Nur Frau Belmin, meine Deutschlehrerin, war anders. Sie drückte mir ein zerlesenes Buch in die Hand, „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. „Das wird dir gefallen, Jona“, sagte sie. „Der Junge im Buch erinnert mich an dich.“

Ich las es in zwei Nächten. Und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, verstanden zu werden. Nicht als Fall. Sondern als Mensch.

In unserem Block wohnte auch Yasmin. Ein Mädchen mit dunklen Augen und Lippen, die aussahen, als hätten sie ein Geheimnis. Sie war anders. Ruhig, aber nicht schüchtern. Klug, aber nicht arrogant. Manchmal saß sie mit einem Skizzenbuch im Hof und zeichnete. Keine Blumen, keine Herzen – nur Menschen. Gesichter, Körper, Hände, die sich berührten oder voneinander wegzogen.

Ich traute mich lange nicht, sie anzusprechen. Bis eines Tages ihre Katze mir auf dem Weg zur Mülltonne zwischen die Beine rannte und ich beinahe stürzte. Yasmin lachte. Zum ersten Mal hörte ich ihr Lachen – es klang wie etwas, das nicht aus diesem Ort stammte.

„Meine Katze testet Menschen“, sagte sie. „Du hast bestanden.“

Ich grinste. „Was hab ich gewonnen?“

„Vielleicht ein Gespräch.“

Und das war der Anfang.

Wir trafen uns öfter. Nie verabredet, immer zufällig. Sie erzählte mir von ihrem Traum, Modedesign zu studieren. Von ihrer Angst vor der Zukunft. Von ihrer Mutter, die zu viel arbeitet, und ihrem Vater, der seit drei Jahren nicht mehr angerufen hat. Und ich erzählte ihr – ein bisschen – von mir. Von Mama. Von Finn. Vom Wunsch, irgendwann irgendwo anzukommen.

Einmal sagte sie: „Weißt du, Jona… hier gibt es keine Träume. Nur Leute, die vergessen haben, wie man träumt.“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Vielleicht war es zu wahr.

Der Block hatte seine eigenen Mythen. Der Typ in Wohnung 3b, der angeblich mit Drogen dealt. Die alte Frau, die nachts mit einem Einkaufswagen Flaschen sammelt, obwohl sie reich sein soll. Und dann gab es die Wand im Treppenhaus, auf der immer wieder ein neues Graffiti auftauchte: „LIEBE GEHT DURCH BETON.“

Niemand wusste, wer es malte. Aber es war da. Immer wieder neu. In verschiedenen Farben. Als wolle jemand sagen: Ich bin hier. Und ich gebe nicht auf.

An einem Abend saß ich mit Finn auf der Bank, Yasmin war kurz zuvor gegangen. Die Sonne war hinter dem Block verschwunden, und das Licht der Straßenlaternen warf lange, müde Schatten.

Finn zündete sich eine Zigarette an, reichte sie mir. Ich nahm einen Zug, hustete. Wir lachten beide.

Dann wurde er plötzlich still.

„Weißt du, was ich mich frage, Jona?“

„Was denn?“

„Ob wir überhaupt je wirklich rauskommen. Aus dem hier. Oder ob wir irgendwann einfach dazugehören, wie die Wände. Die Narben. Die Geschichten.“

Ich schaute ihn an. Und zum ersten Mal begriff ich: Vielleicht ist es nicht der Ort, der uns einsperrt. Sondern das, was wir über ihn glauben.

Kapitel 3: Finn, der immer lachte

Manche Menschen tragen ihr Herz nicht auf der Zunge, sondern hinter einem Lächeln, das so fest sitzt wie Beton.
 So war Finn.
 Immer am Grinsen, immer einen Spruch auf den Lippen, selbst wenn es regnete – außen wie innen. Finn war der Typ, der Witze machte, wenn alle anderen still waren. Der bei jeder Party auf dem Dach stand, eine Bierflasche in der Hand, und rief: „Komm, wir leben, als gäb’s kein Morgen!“ Und genau das war sein Problem.

Er wusste, dass es manchmal keinen Morgen gibt.

Wir waren elf, als wir uns zum ersten Mal prügelten – nicht gegeneinander, sondern miteinander gegen drei andere Jungs aus Block 6. Es ging um einen Ball oder ein Fahrrad oder irgendwas anderes, das heute keine Rolle mehr spielt. Aber in diesem Moment war klar: Wir sind ein Team.

Seitdem war er mein Bruder. Nicht durch Blut, sondern durch alles, was wir zusammen durchgestanden hatten.

Wenn ich an Finn denke, denke ich an drei Dinge:
 1. Seine zerschlissene Jacke, die er selbst im Sommer trug.
 2. Seinen Walkman, den er wie einen Schatz behandelte, obwohl der schon zweimal kaputt war.
 3. Und sein Lachen, das kam, wenn man es am wenigsten erwartete – laut, schräg, ansteckend. Ein Lachen, das Licht machte in einem Ort, der zu viel Dunkelheit kannte.

Aber wer Finn nur für sein Lachen hielt, kannte ihn nicht.

Sein Zuhause war eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit gelben Wänden, auf denen vergilbte Poster von Motorrädern hingen. Sein Vater lag oft auf dem Sofa, Fernseher laut, Flasche in der Hand. Seine Mutter war meistens weg – Putzjobs, Nachtschichten, Schweigen.

Wenn Finn bei mir schlief, atmete er ruhiger. Als ob die Stille in unserer Wohnung ihn schützte. Er sagte mal:
 „Bei dir fühlt sich alles an wie Urlaub von mir selbst.“

Ich verstand das erst später.

Eines Abends, wir waren sechzehn, hockten wir auf dem Dach von Block 8. Der Himmel war klar, voller Sterne. Wir rauchten Zigaretten, die wir in einem Automaten am Bahnhof gezogen hatten. Finn hatte Musik dabei – irgendwas Melancholisches aus den 90ern, das von Freiheit handelte.

Plötzlich sagte er:
 „Manchmal stell ich mir vor, dass ich in einem Film lebe. Und wenn die Kamera aus ist, bin ich jemand ganz anderes.“

„Und wer wärst du dann?“, fragte ich.

Er zog an seiner Zigarette, starrte in die Nacht.

„Jemand ohne Angst.“

Finn war gut darin, sich nicht helfen zu lassen. Wenn er zu viel getrunken hatte, wich er Fragen aus. Wenn seine Augen müde wurden, sagte er, es läge nur an der Schule. Er schaffte es, seine Dämonen zu verstecken – mit einem Lächeln, einem Witz, einem Lied.

Aber ich kannte die Risse.

Ich kannte die Nächte, in denen er bei mir auf dem Boden lag, nicht schlafen konnte, weil er dachte, sein Vater würde irgendwann einfach nicht mehr aufwachen.
 Ich kannte die Panik in seinen Augen, wenn plötzlich laute Stimmen durch die Wand drangen.
 Ich kannte die leeren Stellen in ihm – und wie er versuchte, sie mit Lachen zu füllen.

Im Sommer vor unserem letzten Schuljahr wurde alles ein bisschen brüchiger.

Finn schwänzte öfter den Unterricht. Nicht zum Spaß, sondern weil er müde war – innerlich. Wir verbrachten immer noch viel Zeit zusammen, aber es war anders. Seine Späße waren bissiger. Seine Witze sarkastischer. Als würde er die Welt testweise an sich heranlassen, nur um sie im nächsten Moment wieder wegzuschieben.

Einmal fragte ich ihn:
 „Hast du eigentlich Angst vor der Zukunft?“

Er antwortete nicht sofort. Dann sagte er:

„Nur, wenn ich drüber nachdenke.“