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Gesamtausgabe Band 1-4 Leetha ist die Thronerbin der hellen Seite des Mondes. Der König der dunklen Seite erklärte bereits vor vielen Jahren den Krieg. Doch auch in den eigenen Reihen scheint eine Bedrohung zu wachsen: Rebellen erheben sich gegen die Herrschaft ihres Vaters und Leetha wird dazu gedrängt, einen ihr fremden Soldaten zu heiraten. Derweil träumt sie von einem fremden Planeten, den sie niemals erreichen wird. Schon als kleines Mädchen sehnte sie sich danach, einmal zur Erde zu reisen. Doch alles kommt anders … Plötzlich findet sich Leetha zwischen Machtspielchen, Lügen und Geheimnissen, die all ihre bisherigen Überzeugungen auf den Kopf stellen. Wem kann sie vertrauen? Und was ist das Richtige für die Zukunft des Mondes?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Zwischen Licht und Sternenstaub - Gesamtausgabe
Band 1 – 4
M.B. Reese
An alle, die offen durchs Leben gehen.
An alle, die in der Nacht nicht nur die Dunkelheit, sondern die Sterne sehen.
An alle, die mit dem Herzen sehen, anstatt mit den Augen.
»Life isn’t about finding yourself. Life is about creating yourself.«
― George Bernard Shaw
Nervosität war mir ein Fremdwort. Neugier, ja, das war es. Ehrlich gesagt war ich mehr als gespannt auf diese Prinzessin, von der das ganze Reich sprach. Sie sollte wunderschön und gebildet sein. Das waren allerdings die einzigen positiven Eigenschaften, von denen ich gehört hatte. Naiv, arrogant, kalt. Dies waren nur einige der Charakterzüge, die man ihr nachsagte. Aber was wusste ich schon? Ich hatte noch nie auf das Geschwätz der Leute gehört. Jedoch hatte ich meine Arbeit getan und so viel wie möglich über sie in Erfahrung gebracht. Das tat ich immer. Bei jeder Mission. Und Leetha Aeterna war genau das: eine Mission. Eine Aufgabe. Dafür wurde ich ausgewählt, und ich würde niemanden enttäuschen. Immerhin hing eine Menge davon ab. Ich wusste, dass sie schöne Dinge liebte: Schmuck, Kleider, Schuhe und das ganze Zeugs. Nicht unerwartet, schließlich handelte es sich um eine Prinzessin. Außerdem hatte ich erfahren, dass sie gerne feiern und tanzen ging, dass sie viele Freunde besaß und 569 Jahre alt war. Etwas jünger als ich. Sie liebte die Farbe Blau, spielte ein paar Instrumente und war angeblich politisch interessiert. Leetha stand gern im Mittelpunkt, das sagte mir so ziemlich jeder. Nicht gerade mein Beuteschema, was Frauen anging. Normalerweise mochte ich die einfachen Mädchen, denen Äußerlichkeiten nicht so wichtig waren. Frauen, die auf ihr Herz hörten, und nicht auf das, was andere erwarteten. Tja, da hatte ich wohl keine Wahl. Ich würde sie wohl oder übel heiraten und mir ein Leben an ihrer Seite aufbauen müssen. Heiraten. Ich. Zwei Dinge, die eindeutig nicht zusammenpassten. Etwas, das ich niemals vorhatte zu tun. Und doch stand ich hier und hatte diese Mission. Zum Glück gab es noch ein paar andere Seiten an Leetha, die mich hoffen ließen. Hoffen, dass sie nicht ganz so voreingenommen war, wie alle behaupteten. Ihre Familie stand an erster Stelle. Vater, Mutter, Onkel. Genau in dieser Reihenfolge. Außerdem erfuhr ich, dass sie manchmal etwas verträumt war. Das konnte ich doch nutzen, um sie um den Finger zu wickeln. Sie liebte es, in der Sonne zu sitzen, dabei die Erde zu betrachten und ein Buch zu lesen, meistens Geschichten über besagten Planeten. Am allermeisten jedoch liebte sie ihren Vater. Ja, ich hatte meine Arbeit getan. Ich wusste alles über diese Frau, deren Herz ich erobern sollte.
Ihr Vater, ging es mir durch den Kopf, während ich hier stand und zum ersten Mal die Hauptstadt betrachtete. Soviel ich wusste, wollte sie stets ihren Vater, den König, stolz machen, und man sagte mir, er sei ein harter Brocken. Wahrscheinlich musste ich ihn genauso von mir überzeugen wie sie. Aber ich wäre nicht der, an den alle glaubten, wenn ich das nicht meistern würde. Immerhin hatte ich schon ganz andere Aufgaben erledigt. Schwierigere, blutigere … Dagegen erschien es mir wie ein Kinderspiel, einer verwöhnten Prinzessin schöne Augen zu machen.
Ein wenig schlenderte ich durch die Stadt, in der ich nie zuvor gewesen war, und betrachtete die Straßen. Ich hielt mich etwas abseits der großen Plätze, denn ich wollte nicht sofort auffallen. Aber irgendjemand hatte mich bemerkt, denn ich wurde seit meiner Ankunft hier beschattet. Etwas, das ich überhaupt nicht mochte. Ich war derjenige, der beobachtete! Normalerweise enttarnte ich sofort jeden Spion, aber dieser beherrschte seine Sache wirklich gut. Obwohl ich ihn nicht sah, spürte ich ihn. Wer auch immer auf mich angesetzt worden war, wusste genau, was er tat. Ich ließ mir nichts anmerken und ging weiter auf meinem Weg zum Palast, der über der ganzen Stadt aufragte. Dort, wo ich ihn treffen würde. Er hatte mich erwählt und ich würde nicht unpünktlich kommen. Nicht bei ihm. Er hasste das. Und ich wusste, dass man ihn nicht verärgern durfte. Er hatte mir ausrichten lassen, ich solle etwas früher im Palast erscheinen, damit ich mich noch frisch machen konnte. Der erste Eindruck bei der Prinzessin sei entscheidend, betonte er immer wieder.
Obwohl ich mich abseits der Handelsstraßen durch kleine Gassen bewegte, hörte ich das Treiben der Stadt. Ich hasste alles hier. Alles. Dieser Ort war der vollkommene Beweis dafür, dass sich etwas ändern musste. Verschwendung, wo man nur hinsah. Prunk, überall. Ich hasste es so sehr, dass ich die Zähne aufeinanderbiss und mir klarmachte, wofür ich das überhaupt tat. Genau dafür, Caidan, sagte ich mir. Für eine Veränderung.
Die Welt stand still. Oder bildete ich es mir ein? Langsam drehte ich mich um und sah auf die steinernen Mauern des Palastes. Dann aufdie Flügeltür, die ich hinter mir verschlossen hatte. Es war nicht nur ein Gefühl, es war mehr als das. Es war ein Wissen, tief in mir. Plötzlich verstummten alle Geräusche um mich herum. Die Laute der Stadt unter mir, das ständige Summen und Surren des Treibens, das ich gerne beobachtete. Mein Herz schlug schneller und ich betrachtete meine zitternden Hände.
Noch immer stand ich auf dem Balkon, meinem Lieblingsort, von dem aus ich die Erde betrachten konnte. Der blaue Planet war in ständiger Bewegung. Die Wolken schoben sich langsam von einem Ort zum anderen und die kleinen Flugwesen umkreisten ihre Bahnen. Normalerweise. Denn in diesem Moment stand alles still. Und mein Herz stockte bei dieser Erkenntnis. Ruhig, Leetha, du bildest dir alles nur ein, sagte ich mir und bemühte mich, langsam zu atmen. Das ist nur die Aufregung. Ja, das war es mit Sicherheit. Die Anspannung vor dem heutigen Tag. Dem Tag, der alles verändern könnte. Nein. Der alles verändern würde.
Eins, zwei, drei. Ruhig zählte ich jeden Atemzug, ehe ich mich zusammenriss, und schloss dabei die Augen. Als ich sie öffnete, war alles beim Alten, fast so, als hätte ich die Welt aus einem Schlaf geholt, als hätte ich der Zeit den Befehl gegeben, fortzufahren. Die Stadt erwachte wieder zum Leben und wurde in ihr tägliches Surren getaucht, das ich so sehr liebte. Auch die beiden Wachen, die hinter der verschlossenen Flügeltür standen, hörte ich leise miteinander sprechen. Mein Blick fiel sofort zur Erde. Alles schien wie immer. Ich hatte es mir nur eingebildet, eine andere Erklärung gab es nicht. Doch mein Herz raste noch immer und meine Hände hörten nicht auf zu zittern. Der Schreck saß zu tief. Noch einmal atmete ich tief aus. Hinter mir hörte ich das Knarren der Tür und leise Schritte folgten.
»Hier bist du, mein Liebes«, flüsterte Mutter, die sich neben mich stellte und ebenfalls den blauen Planeten mit ihren Blicken verschlang.
Ich betrachtete sie. Ihr schien nichts Ungewöhnliches aufgefallen zu sein. Das, was gerade durch meinen Kopf gegangen war, wollte ich ihr nicht erzählen. Sie würde ohnehin nur darüber lachen. Ich hatte tatsächlich geglaubt, die Zeit wäre stillgestanden. Aber es war nur eine Sinnestäuschung. Mehr nicht. Die Aufregung. Das war alles.
»Lass uns hineingehen, dein Vater wird ungeduldig«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine Schulter.
Ein schwerer Seufzer entfuhr mir. Der heutige Tag würde über meine Zukunft entscheiden und über die des Reiches. »Noch einen Moment, Mutter«, hauchte ich und betrachtete die Erde, hörte auf das Treiben der Stadt und genoss Mutters Hände, die zärtlich durch mein offenes Haar fuhren.
»Du solltest etwas anderes anziehen, etwas Feines. Vielleicht das rote Kleid …?«
Selbstsicher unterbrach ich sie: »Das blaue.« Ich hasse rot!
Sie nickte und lächelte. »Ja, das blaue. Es harmoniert so gut mit deinen Augen. Du wirst ihn verzücken.« Sanft strich sie mir das lange, offene Haar zur Seite und betrachtete mich eingehend. »Schau´ nicht so traurig, mein Kind. Du wirst ihm gefallen.«
Ihm gefallen … Mit einem Schulterzucken signalisierte ich, was ich davon hielt. Sollte ich ihr sagen, dass ich mich nicht sorgte, ob er mich mochte oder ob ich ihm gefiele? Sondern, dass ich um meine Freiheit bangte? Darum, dass ich meine Unabhängigkeit aufgeben musste? Freisein war, was ich am meisten liebte. Selbstständig zu entscheiden. Das machen, was mir gefiel, und nicht das, was ein Mann von mir erwartete. Nein. Ich behielt es für mich. Mutter schien ohnehin zu aufgeregt, um am heutigen Tag mit mir zu diskutieren. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, doch ihre Mundwinkel wirkten angespannt. Es war mir bisher nicht aufgefallen, doch nun kam es mir vor, als strebte sie ebenfalls diese Verbindung an. Als wollte sie unbedingt, dass er Gefallen an mir fand.
So schwieg ich und dachte darüber nach, was es bedeuten würde, einen Mann zu heiraten und mein Leben mit jemandem zu verbringen. Eine Zukunft zu erschaffen mit einer Person, die an meiner Seite leben würde. Als Einzelkind musste ich bisher nie etwas teilen. Ich hatte alles. Wirklich alles! Und das Wichtigste war meine Freiheit. Über fünfhundert Jahre lang lebte ich als Prinzessin in dieser Stadt, die einzige Tochter des Königs von Meridem und mir standen alle Türen offen. Bis das Unvermeidliche geschah. Mein Vater und seine Entourage hatten entschieden: Ich, Leetha Aeterna, Tochter des Königs, sollte heiraten. Und obwohl ich mich in der Öffentlichkeit selbstsicher gab und niemals Schwäche zeigte, verkroch ich mich schon den gesamten Vormittag auf diesem Balkon. Die Vorstellung, einen Fremden zu heiraten, ängstigte mich mehr, als ich zugab. Mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte. Kein Wunder also, dass die Fantasie mit mir durchging und mir Streiche spielte. In ein paar Stunden würde ich ihn kennenlernen, ihn das erste Mal sehen und mit ihm sprechen. Dieser Gedanke ließ alle Alarmglocken in mir aufläuten.
Mir war bewusst, dass mein Vater nicht völlig mit einer Verlobung einverstanden sein konnte, doch der Zirkel bestand darauf. Es ist von Nutzen in dieser Zeit. Ein Lichtblick für das Volk, eine Ablenkung, ein Hoffnungsschimmer. Dies waren Vaters Worte, als er versucht hatte, es mir zu erklären, und trotz all seiner Bemühungen erkannte ich es in seinen Augen: Nicht er wollte es. Der Zirkel pochte darauf, mich zu verheiraten. Das Volk hungert nach Veränderung, nach einer Chance auf ein neues Zeitalter, nach einer Zukunft, die uns den drohenden Krieg überstehen lässt, hatte er erklärt und ich wusste, dass es nicht seine Worte sein konnten. Ich kannte ihn. Ebenso die Minister. Vater hatte nichts weiter getan, als sie zu zitieren. Doch ich werde dich nicht zwingen, hatte er dann leise hinzugefügt, als könne er mich damit besänftigen. Leider wussten wir beide, dass es unvermeidlich war.
Auch meine Mutter bemerkte nun die Anspannung, die ich so dringend verbergen wollte. »Sieh ihn dir einfach an, lerne ihn kennen. Der Zirkel ist der Meinung … er wäre die perfekte Partie«, erklärte sie, als würde sie ebenfalls jemanden zitieren.
Ein Schauder lief mir den Rücken hinab. Die perfekte Partie. Ich lächelte ungläubig bei diesem Gedanken und schüttelte den Kopf. Für wen? Für den Zirkel? Um die Aufständischen zu besänftigen? Um die Soldaten zu ermutigen? Mit Sicherheit dachten sie bei ihren Plänen weder an mich noch an den armen Kerl, der es mit mir aushalten müsste. Darüber hinaus wusste ich kaum etwas über ihn. Es handelte sich um einen Soldaten, zumindest hatte man ihn mit diesen Worten beschrieben. Der ehrenvollste und mutigste, den es seit Jahrhunderten gegeben hatte, nicht von edlem Blut und aus keiner einflussreichen Familie. Ein Niemand also.
Alles Weitere, was man mir über den Fremden erzählte, war, dass er es zum Offizier geschafft hatte. Allein seine Taten an den Grenzen hatten ihn unter Beweis gestellt. Es musste schon etwas heißen, wenn ein Niedergeborener, der nicht von edlem Blut abstammte, es zum Offizier schaffte. Und ich wusste nicht einmal, wie er aussah, nicht, wie alt er war und auch nicht, wie er mit richtigem Namen hieß. Den Schattenjäger von Meridem, nannten sie ihn. Das niedere Volk betete ihn schon seit einigen Jahrzehnten an und sah zu ihm auf. Die Leute sangen Loblieder und erzählten Legenden darüber, wie er an den Grenzen für das Volk kämpfte. Aber ich war der Meinung, sie verehrten ihn deshalb, weil er in den untersten Reihen des Volkes geboren wurde und einer der wenigen war, der es bis ganz nach oben in die Armee geschafft hatte. Die Leute sahen etwas in ihm, und ich musste den Ministern zustimmen, wenn sie sagten, es wäre Hoffnung.
Mutter bemerkte, wie tief ich in Gedanken versank und streichelte mir über die Wange. »Das wird alles schon«, seufzte sie leise. Ein kläglicher Versuch, mich aufzumuntern. Sie zwang sich, breiter zu lächeln und suchte meinen Blick. Ihre hellbraunen Augen strahlten eine Sanftheit aus, die mich tatsächlich meistens beruhigte. Doch ich fürchtete, dass es an diesem Tag nichts gab, dass mich besänftigen konnte. Keine Worte, keine Blicke, keine Versprechen.
Mit einem leichten Nicken gab ich ihr zu verstehen, was sie hören wollte: dass sie recht hatte. Es wird schon … Auch wenn ich mir selbst nicht sicher war.
•••
Kira und Aya, meine liebsten Zofen, flochten mir das weißblonde Haar zu einem langen Zopf, den ich mir schlicht über die rechte Schulter legte. Es sollte nicht aussehen, als hätte ich mir große Mühe gegeben, und doch wollte ich perfekt sein. Während Aya mich frisierte, sah ich aus dem Fenster. Mein Gemach besaß ebenfalls einen Ausblick auf die Erde, wenn auch nicht so vorteilhaft wie von meinem Lieblingsbalkon aus. Die Türme des Palastes und die der Stadttempel verdeckten einen Teil der Sicht, wenn ich auf dem breiten Sims saß und nach draußen sah. Außerdem spiegelte sich das Sonnenlicht zu stark auf den Dächern der Stadt und blendete mich leicht.
»Was denkst du, wie er aussieht?«, quasselte Kira. »Soldaten haben ja schon ihre Vorzüge, sie sind durchtrainiert und stark, außerdem …«
Ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Mein Blick schweifte durch den Raum zu Mutter, die schweigend auf einem der Sessel saß und uns beobachtete. Sie erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln und einem kurzen Nicken, doch sie sagte kein Wort. Wenn Kira und Aya bei mir waren, mischte sie sich nie ein. Die beiden waren nicht nur meine Zofen, sondern meine Freundinnen. Aber das war nicht der Grund, warum Mutter so still blieb. Aya und Kira waren Vollwertige, genau wie ich. Mutter nicht. Und doch suchte ich ihren Blick, ihr Lächeln, ihr zufriedenes Nicken. Es gab mir Kraft. Sie gab mir den Mut, den kein Vollwertiger dieser Welt mir geben konnte. Es wird schon alles.
»... oder was meinst du, Lee?«, fragte Kira und sah mich abwartend an.
»Wie bitte?« Ich blinzelte.
»Ich sagte gerade, wenn er hässlich ist, heiratest du ihn doch nicht, oder?« Kira sah mich selbstsicher an.
Aya schüttelte den Kopf, während sie mit den Augen rollte. Leise murmelte sie: »Aussehen ist nicht alles.«
Noch immer wartete Kira auf eine Antwort von mir.
»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zu. Ich befürchtete, dass ich keine Wahl hatte, auch wenn Vater mich in diesem Glauben ließ.
Anschließend halfen die Mädchen mir in das blaue Seidenkleid. Mein Lieblingskleid. Es erinnerte mich an die Farbe des Planeten, aus dem unsere Heimat einst entstand, und immer ein Teil unserer Welt bleiben würde. An den Ort, auf den wir zwar hinabsehen konnten, den wir aber niemals verstehen würden. Die Welt, deren Tore uns für immer verschlossen blieben.
»Möchtest du den Mondstein tragen?«, fragte Kira, als sie meine Lippen in ein Zartrosa gehüllt hatte.
Ich spitzte die Lippen und betrachtete den neuen Farbton. Kira sah mich mit großen Augen an. Sie bewunderte mich, das wusste ich. Das tat sie schon immer. Obwohl sie selbst wunderschön war. Sie war groß und schlank, ihre Beine waren unheimlich lang und ihre vollen, roten Lippen passten wunderbar zu ihrem dunkelblonden, gelockten Haar, das sie stets halboffen trug. Wenn wir ausgingen, waren es Kira und ich, die all die Aufmerksamkeit der Männer auf uns zogen. Doch im Gegensatz zu ihr wurde ich nur selten angesprochen. Die Männer wussten, wer ich war, und hielten mich auf Abstand. Sie hatten zu großen Respekt vor mir und meiner Macht. Kira dagegen flirtete, wann immer sie konnte, und nicht selten ging sie mit einem der Männer nach Hause. Aya war zwar ihre Zwillingsschwester, doch komplett anders. Klein, undurchschaubar und ganz normal. Weder besonders hübsch noch hässlich. Sie war einfach anders. Allein das dunkelblonde, gelockte Haar hatten beide gemeinsam. Doch was Kira an Aussehen besaß, machte Aya mit ihrem Verstand wett. Sie war eine starke Persönlichkeit, die sich nicht herumschubsen ließ und mir auch ab und an ihre Meinung geigte. Aber ich liebte sie. Ich liebte beide, als wären sie meine Schwestern.
Kira legte mir die Kette an. Von der rechten Seite des Haares bis zur linken und mitten auf meiner Stirn lag der Mondstein. Mein Markenzeichen. Keine Krone, kein Diadem. Ein einfacher, wunderschöner Stein, der an einer goldenen Kette über meiner Stirn hing. Seit ich dieses Accessoire trug, machten es mir die edlen Frauen des Palastes nach.
»Du siehst zauberhaft aus«, rief meine Mutter und klatschte in die Hände. »Benimm dich einfach wie eine Prinzessin und der Schattenjäger wird die Augen nicht von dir lassen können.«
Der Schattenjäger. Alles in mir zog sich zusammen. Wie er mich wohl nannte? Die Prinzessin? Sprach er überhaupt über mich? Fragte er sich ebenfalls, wie ich aussah? Wie ich war? Ich konnte nicht sagen, warum, doch wenn ich an ihn dachte, erschien automatisch ein gruseliger Kerl mit dunklem Haar und ungepflegtem Bart vor meinem geistigen Auge. Schwer bewaffnet und mit Blut an den Händen. Möglicherweise trug er Tätowierungen. Wenn ich sie mir vorstellte, sah ich Totenköpfe und monsterartige Flugwesen. Der Schattenjäger, das war nicht einfach ein Name, den man ihm gegeben hatte. Es würde sein Titel sein, ein Abzeichen. Eines, das vom König an diesem Tag höchstpersönlich an ihn vergeben wurde. Eine Ehre, die seit Generationen niemandem mehr verliehen wurde. Und bei dieser Zeremonie würde ich ihn kennenlernen. Ich würde ihn das erste Mal sehen, mit ihm sprechen und herausfinden, ob ich mich mit ihm verlobte oder nicht.
Aya rückte mir die goldene Mondkette zurecht und küsste mich auf die Wange: »Du bist wunderschön, Prinzessin.« Wenn sie es sagte, wusste ich, dass es stimmte. Aya würde mir sagen, wenn es nicht so wäre. Sie war zu direkt.
Kira stimmte ihr zu und küsste mich auf die andere Wange. Musternd betrachtete ich mich im Spiegel. Kira hatte etwas zu viel Puder aufgetragen, was mich ärgerte, es verdeckte meine Sommersprossen, die ich an mir liebte. Sie zeigten, dass ich eine Meridemerin war und darauf war ich stolz.
»Ich bin nicht komplett unzufrieden«, gab ich leise zu, während ich ein Tuch in die Hand nahm, und etwas von dem Puder abtupfte.
Vor dem großen Spiegel im anderen Teil des Raumes, drehte ich mich hin und her. Das Kleid saß hauteng und meine Kurven kamen gut zur Geltung. Es gefiel mir, wie schlicht ich aussah, und doch so perfekt. Der Schattenjäger sollte nicht merken, wie viel Mühe ich mir für ihn gegeben hatte. Es würde ihm zweifellos die falschen Signale senden.
Die beiden Zofen tuschelten miteinander, als ich vor der Tür schwere Schritte hörte. Vater. Seine Schritte könnte ich unter Tausenden erkennen. Sie klangen schwer und schlendernd. Gar nicht, wie man es von einem König erwarten würde. Er kam näher, blieb vor meinem Gemach stehen und klopfte an, höflich wie immer.
»Komm rein, Vater«, rief ich und als mit einem lauten Knarren die Tür aufging, sprühten seine Augen vor Stolz. Nach eingehender Begutachtung schlichen sich jedoch kleine, fast unscheinbare Tränen in seine Augen und ich wusste, dass er nicht bereit war, mich weiterzugeben. Er wusste genau wie ich, dass es sein musste. Der Krieg stand unmittelbar bevor und das Volk hungerte nach Hoffnung und Ablenkung, was eine königliche Hochzeit bewirken könnte. Die Prinzessin, ihre zukünftige Königin, würde sich mit dem beliebtesten Mann des Volkes vereinen. Einem Niemand, aus einer kleinen Provinz, die nicht einmal einen Namen hatte. Ein Mann aus einer Familie, die niemand kannte. Und doch einer, dessen Ruf ihm vorauseilte und über den Legenden geschrieben wurden. Obwohl ich es nicht zugeben wollte, war ich selbst gespannt auf ihn. Auf diesen Kerl, der Tausende meiner Soldaten gerettet und zahlreiche feindliche Truppen niedergestreckt hatte, die in unser Reich marschiert waren. Wer war dieser Mann?
»Hast du ihn schon gesehen?«, fragte ich Vater. Das musste ich einfach fragen. Ich hatte Mutter gefragt sowie die Angestellten, ob sie den Schattenjäger bereits gesehen hätten. Niemand konnte mir etwas sagen. Ein kleiner Hinweis hätte genügt, denn ich wusste rein gar nichts. Er könnte groß und schlank oder klein und dick sein, dunkles Haar besitzen oder helles, alles war möglich. Immerhin war er ein Niedergeborener. Und wie man sich bei uns sagte, gab es die in allen möglichen Farben und Formen. Ich hasste es, wenn man so über Nichtvollwertige sprach, immerhin gehörte Mutter auch zu ihnen. Aber es stimmte. Meridemer besaßen stets blondes Haar. Je heller, desto schöner galten sie. Zumeist besaßen sie Sommersprossen und helle Haut. Niedergeborene dagegen waren anders. Ihre ganze Ausstrahlung war anders. Man erkannte sie sofort. Während man die Macht eines Vollwertigen spürte, erschien die Aura der Niedergeborenen blass und formlos.
Vater schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn noch nicht gesehen. Dein Onkel sagt, er sei gerade erst angekommen.«
Bei diesen Worten zog sich alles in mir zusammen. Es war so weit. Er war hier! Seit Wochen war es nur eine Vorstellung gewesen, doch nun wurde alles real. Er war hier, in diesem Palast, so nah wie niemals zuvor. Und ich musste eine Entscheidung treffen. Über die Zukunft des Reiches. Ob das Volk besänftigt werden würde oder ob alles scheiterte, noch bevor es begonnen hatte. Diese Last wog schwer auf meinen Schultern, auf meinem Herzen, auf meiner Seele. Es fühlte sich an, als würde mir jemand mein bisheriges Leben unter den Füßen wegreißen. Und ich wusste nicht, ob ich jemals wieder Fuß fassen könnte, wenn ich die falsche Wahl traf.
Vater stemmte die Hand in seine Hüfte und signalisierte mir, mich unterzuhaken. Mein Herz begann noch heftiger zu pochen. Mit jeder Sekunde, die näher rückte, wurde ich aufgewühlter, innerlich zerrissen. Doch ich war königlich genug, um es mir nicht anmerken zu lassen. So reckte ich das Kinn, setzte mein gebieterisches Lächeln auf und reichte meinem Vater den Arm.
Mutter lief hinter uns, wie es sich für sie gehörte. Sie war nicht die Königin, sie war die Frau des Königs, was einen klaren Unterschied machte. Sie stammte nicht aus einer hochgeborenen Familie, wie man es erwartet hätte. Ihre Eltern galten als reich, was sie ausschließlich ihren Handelsbeziehungen zuzuschreiben hatten. Doch das Blut, welches durch die Adern meiner Mutter floss, war entscheidend. Es war nicht vollwertig, was ihr den Titel Königin verweigerte. Ich dagegen war die Tochter meines Vaters, die zukünftige Regentin und eines Tages würde ich die mächtigste Frau im Reich sein. Da mein Vater edles Blut besaß – das edelste überhaupt –, spielte es keine Rolle, dass Mutter nicht vollwertig war. Ich war eine Vollwertige durch und durch. Die Magister erklärten stets: Vollwertiges Blut dominiert. Was wohl bedeutete, egal wen ich eines Tages heiraten würde, mein Kind würde in jedem Fall vollwertig sein.
Meine Mutter war gezwungen, sich mir unterzuordnen, und das, seit ich auf die Welt kam. Die Etikette an unserem Hof war streng und hatte meiner Meinung nach zu viele unlogische und teilweise unwürdige Regeln. Doch ich wurde dazu erzogen, jede einzelne einzuhalten, wie dumm sie auch sein mochten. Diese strenge Rangordnung am Hof verbot es meiner Mutter sogar, am selben Tisch mit uns zu speisen. Es war ihr nicht gestattet, mir etwas zu verbieten, obwohl sie meine Mutter war. Sie durfte mich nicht einmal duzen. Doch das waren Dinge, die mir egal waren. In der Öffentlichkeit lebten wir nach diesen Regeln, aber unter uns, warfen wir alles über Bord. Wir aßen zusammen in den eigenen Gemächern und sogar meine beiden Zofen duzten mich, wenn wir unter uns waren. All die Regeln und Gebote galten nur, wenn der Zirkel und andere Vollwertige anwesend waren. Wir lebten zwei Leben: eines, das nur uns als Familie etwas anging, und eines, welches das Volk sehen sollte.
•••
Während Vater und ich in den Thronsaal eintraten, spielte eine Kapelle die königliche Hymne. Es handelte sich um ein Streichquartett, das hohe, gemächliche Töne anstimmte. Erst langsam, dann etwas schneller und rhythmischer. Obwohl es einen Text gab, den normalerweise ein Chor dazu sang, erklangen heute nur die Instrumente. Die Noten schwebten durch den Raum und streichelten meine Seele. Jedes Mal, wenn es einen solch wichtigen Moment gab, beruhigte mich die Musik meines Hauses, meiner Heimat. Sie signalisierte, wo ich hingehörte, was ich war und wer ich sein musste. Besonders an einem Tag wie diesem hallten die Klänge von den Wänden zurück und trafen tief in mein Herz, wie Pfeile, die mich daran erinnerten, was ich zu tun hatte: dem Volk Frieden und Hoffnung schenken. Eine Wahl treffen. Es wurde Zeit, mich dem zu stellen, was kommen würde.
»Ihre Majestäten König Ary der Siebte aus dem Hause Aeterna und Prinzessin Leetha«, ertönte es laut von einem Podest aus, auf dem der Kapellenmeister stand.
Die Menge verstummte und verbeugte sich, während Vater und ich den langen Flur entlangmarschierten, ohne die Leute anzusehen. Mit erhobenem Kopf und dem Ausdruck zweier Monarchen stolzierten wir am Volk vorbei. Rechts und links von den Gästen hingen lange Banner die Wand entlang, die unser Reichssymbol präsentierten: ein silbernes Einhorn auf hellblauem Grund.
Vater setzte sich auf den Königsthron und ich auf den kleineren, der neben ihm stand und ursprünglich der Königin gehören sollte. Mit gerecktem Kinn saß ich an der Seite meines Vaters und betrachtete die Gesellschaft, die sich nach und nach wieder aufrichtete.
»… der königliche Reichskanzler Lord Ryal, … der Oberbefehlshaber Lord …«, der Kapellenmeister zählte weitere Namen auf, die nach Priorität ihres Standes hineintraten. Zuerst die Männer, die dem Zirkel angehörten, dann mein Onkel Vestas und zum Schluss meine Mutter, auf deren Erwähnung ich bestand, obwohl es sich nicht gehörte. »… Lady Hyra, die Gattin des Königs.« Es brach mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn ich zusehen musste, wie eine stolze und gutherzige Frau wie meine Mutter, die stets jede Tradition schätzte, als Letzte hineingerufen wurde und sich am Ende, hinter den Vollwertigen einreihen musste. Wie gerne hätte ich sie nur ein einziges Mal auf dem Stuhl gesehen, auf dem ich saß, an der Seite meines Vaters, den sie so sehr liebte.
»Und als heutiger Ehrengast …«, ertönte das Wort des Kapellenmeisters, während Trommelwirbel das Erscheinen des Gastes begleitete und meine Hände kalt und nass wurden, sodass ich sie kaum stillhalten konnte. Fest krallte ich sie in die Armlehnen des Throns, sodass niemand das Zittern bemerkte. Mein Herz schlug bis zum Hals und ich bekam kaum Luft. Ich wusste, wer als Nächstes den Thronsaal betreten würde. Wer mir zum ersten Mal unter die Augen treten würde. Der Schattenjäger. Dieser Moment könnte alles ändern. Mein ganzes Leben. Wenn ich ihn nicht mochte, würde ab diesem Zeitpunkt meine Zukunft düster werden. Wenn er mir gefiel … Dieser Gedanke schien mich fast noch mehr zu beängstigen.
»… der erfolgreiche und mutige Soldat sowie Anwärter auf das Abzeichen des Schattenjägers, Caidan Orchon, Sohn des ehemaligen Soldaten und Veteranen Caimar Orchon.«
Caidan. Nun hatte ich wenigstens einen Namen. Nicht bloß der Schattenjäger. Die Tür ging auf und er trat herein. Ich bemühte mich, ihn nicht anzustarren und gab mich gleichgültig. Was mir sonst so leicht fiel, fühlte sich in diesem Augenblick schwer an. Meine Maske drohte zu bröckeln, als die Tür aufging. Die Maske, die ich trug, wenn ich auf diesem Stuhl saß. Ich zwang mich, ruhig zu atmen, und bemühte mich, stillzusitzen. Das Licht aus dem Flur ließ sein Haar aufleuchten wie die Sonne. Er marschierte zielsicher den langen Gang entlang, den Vater und ich ebenfalls entlanggelaufen waren. Langsam erkannte ich die Umrisse seiner Gestalt und je näher er kam, musterte ich aufmerksam seine Gesichtszüge.
Er sah gut aus. Viel zu gut für einen einfachen Soldaten. Viel zu gut für einen Niedergeborenen. Sein Haar schimmerte in einem Weißblond, das meinem ähnelte, und ein paar Strähnen fielen ihm über die Stirn, obwohl er es fein zurückgekämmt hatte. Seine Augen funkelten silbern und auch wenn ich ihm ansah, dass er sich gleichgültig geben wollte, strahlten sie Freundlichkeit aus. Von einem Moment auf den anderen wurde ich zunehmend ruhiger. Diese sanften Augen waren dafür verantwortlich, dass all die Angst und das Unbehagen nach und nach von mir abfielen. Würde ich es nicht deutlich spüren, hätte ich ihn für einen Vollwertigen gehalten: Seine Haut war hell und makellos, die Gesichtszüge männlich und kantig, doch auch auf irgendeine Weise weich. Er trug eine Uniform, in hellem Grün mit goldenen Manschetten, die ihn als einen Offizier der Grenzverteidiger auswies. Außer dass er groß und muskulös war, hatte er nichts mit dem Bild gemeinsam, das ich mir ausgemalt hatte. Er gefiel mir auf Anhieb. Wir könnten ein schönes Paar abgeben. Aber Caidan Orchon sah mich nicht an. Nicht mit einem einzigen Blinzeln. Er kniete vor dem Thron meines Vaters nieder, bis dieser aufstand und auf ihn zuging.
»Ihr seid ein ehrenvoller Krieger, ein mutiger Soldat und ein Lebensretter. Ihr habt Tausenden Eurer Kollegen das Leben gerettet und keine Sekunde an Euer eigenes gedacht …«, sprach mein Vater einstudiert. »Ihr habt sieben Grenzstädte vor dem Untergang gerettet. Für diese Taten …«, Vater streckte die Hand nach rechts aus, wo mein Onkel Vestas neben ihn trat und ihm das Abzeichen reichte, »… segne ich Euch im Namen des Königs und des Reiches. Hiermit verleihe ich Euch ein seltenes Symbol, welches für Königstreue und Mut stehen soll und für immer meine Dankbarkeit und die meines Volkes bezeugen mag. Nun erhebt Euch, Caidan Orchon, und nehmt das Abzeichen an.«
Caidan stand auf, neigte aber weiterhin den Kopf vor seinem König, der fast einen ganzen Kopf kleiner war als der junge Soldat. Vater steckte Caidan das Abzeichen an das Revers seiner teuren Uniform, die ihm, wie ich vermutete, jemand aus dem Zirkel beschafft haben musste, um ordentlich gekleidet zu sein, wenn er vor den König trat. Wenn er vor mich trat.
»Hiermit ernenne ich Euch zum Schattenjäger«, sprach mein Vater und die Menge murmelte leise. Mit kalter Miene betrachtete ich Caidan Orchon, der bescheiden errötete. Ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. Ein Krieger, über den Lieder geschrieben wurden, errötet vor dem König? Ich sah ihn angestrengt an und wünschte mir, dass er zu mir sehen würde. Doch er würdigte mich keines Blickes, als gäbe es mich überhaupt nicht. Allein das machte mich noch neugieriger auf ihn. Jetzt wollte ich ihn kennenlernen, mit ihm sprechen, mehr über ihn erfahren. Ich war es nicht gewohnt, dass man mich nicht beachtete. Normalerweise sah man erst mich an, bevor man meinen Vater wahrnahm. Egal wohin wir gemeinsam reisten, welche Städte oder Familien wir besuchten, ich hatte noch nie so wenig Aufmerksamkeit bekommen, wie von diesem Kerl. Der Mann, mit dem ich mich verloben sollte. Wusste er es überhaupt? Hatte man es ihm gesagt, dass man ihn als einen Heiratskandidaten für mich in Erwägung zog? Wenn er davon gehört hatte, dann würde er mir ganz gewiss mehr Beachtung schenken. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass er unwissend darüber sein musste. Doch auch das stellte mich nicht gänzlich zufrieden.
Caidan hob den Kopf und sah meinem Vater in die Augen: »Ich bin zutiefst dankbar, für dieses Abzeichen und für diese außerordentliche Ehre, Eure Majestät.« Dann verneigte er sich leicht. Zum ersten Mal nahm ich seine Stimme wahr. Sie klang männlich, etwas rau und doch schön. Ich könnte mir durchaus vorstellen, diese Stimme öfter zu hören. Diesen Mann öfter anzusehen … Nein, Leetha! Reiß dich zusammen.
Ich erkannte meine Chance, endlich die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, die ich so dringend benötigte: »Auch ich möchte mich für Eure heldenhaften Taten bedanken, Lord Caidan.« Ich sprach laut, stand langsam auf und ging auf ihn zu. Als ich neben Vater stehen blieb, streckte ich meine Hand aus. Ich wusste, Caidan musste sie nehmen und küssen, was er zögerlich tat.
»Prinzessin, verzeiht mir …« begann er zu sprechen und sah mir das erste Mal in die Augen. Silberblaue Augen, so hell wie die Atmosphäre der Erde. Mein Herz klopfte und für einen kurzen Moment befürchtete ich, die Fassung zu verlieren. Doch ich war Leetha Aeterna, zukünftige Königin und Tochter des mächtigsten Mannes. Ich riss mich zusammen und gab mich elegant und graziös wie immer. Ich schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und wartete auf seine nächsten Worte: »Ich bin kein Lord«, gab er zu, während er den Blick von mir abwandte und den Kopf beschämt senkte.
»Ihr seid zu bescheiden, Caidan«, entgegnete ich lächelnd und ging zurück auf meinen Thron. Vater folgte und setzte sich ebenfalls, während Caidan den Kopf neigte, um sich zu entschuldigen. Er ging, hinter die Vollwertigen, wo ebenso meine Mutter stand. Dafür, dass er nur irgendein Soldatensohn war, kannte er die Etikette am Hof zu gut, fiel mir auf. Und ich fragte mich, welcher Berater aus dem Zirkel ihm das alles erklärt und ihn mit solch teurer Kleidung ausgestattet hatte. Mit Sicherheit derjenige, der ihn als meinen Zukünftigen vorgeschlagen hatte. Nun schenkte ich dem Zirkel meine Aufmerksamkeit. Ich musterte sie alle. Lord Ryal allen voran. War er es gewesen? Hatte er den Schattenjäger hierhergebracht, um mich mit ihm zu verloben? Oder doch einer der anderen? Etwas nicht zu wissen, machte mich wahnsinnig!
»Dem Schattenjäger zu Ehren wird heute ein Festmahl errichtet. Es wird anschließend einen Ball im Merkursaal geben«, verkündete mein Vater laut.
Ruhig und gelassen saß ich auf dem Stuhl, auf dem ich schon so viele Male gesessen hatte, doch innerlich brannte ich vor Ungeduld. Es war der erste Tag nach Neumond und es war üblich, dass Kläger aus dem ganzen Reich ihre Sorgen vortragen durften. Selbstverständlich musste ich dabei sein. Doch heute wollte ich nur den jungen Mann kennenlernen, den ich heiraten sollte. Ich wusste, dass es später auf dem Ball genügend Möglichkeiten geben würde, mit ihm zu sprechen, doch bis dahin kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich konnte mich kaum konzentrieren und sah immer wieder vorsichtig in die Menge, insbesondere an die Stelle, an der sich Caidan niedergelassen hatte und ich bemerkte, dass er mit meiner Mutter tuschelte. Danach schaute er zu mir, so als ob sie über mich gesprochen hatte. Oh, Mutter, dachte ich, bitte nicht. Ich kannte sie. In diesem Moment pries sie mich bei ihm an und erzählte alle möglichen Geschichten über mich. Ich konnte ihre Stimme und die Wörter schon in Gedanken zusammenreimen, wie sie mich als perfekte Frau darstellte. Meine Wangen wurden warm und ich befürchtete, dass ich errötete. Schnell begann ich, dem nächsten Kläger zuzuhören, um mich abzulenken, doch meine Blicke wanderten unwillkürlich zu Caidan und Mutter, die mich beide ansahen. Er lächelte, was mir mehr Hitze in die Wangen trieb. Er sah so gut aus. So unglaublich gut. Anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Anders, als die Offiziere, die ich kannte. Er hatte etwas Weiches an sich. Überhaupt nicht wie der unrasierte, ungepflegte Kerl, den ich mir vorgestellt hatte.
Selbst wenn er nichts von den Plänen des Zirkels über unsere Verlobung wusste, würde er es spätestens jetzt wissen. Mutter konnte nichts für sich behalten. Erst recht nicht, wenn es um mich ging. Sie wollte diese Verbindung fast so dringend wie der Zirkel. Mein Vater, so hatte ich jedenfalls das Gefühl, sträubte sich gegen den Gedanken, mich an einen Mann weiterzureichen. Mutter jedoch hoffte auf einen netten Schwiegersohn und auf viele Enkelkinder, die sie von ihren eigenen Sorgen ablenken würden. Immerhin war ich fast sechshundert Jahre alt, ein Alter, in dem meine Mutter längst mit meinem Vater vermählt war. Wie alt Caidan sein mochte? Sicherlich nicht viel älter als ich. Wobei das nichts heißen mochte. Vater war tausend Jahre älter als Mutter und die beiden liebten sich sehr.
•••
Die Erde drehte sich und das Blau der Sichel, die man betrachten konnte, wandelte sich in eine dunkle, fast noch schönere Seite der Erde. Sie war voller kleiner Lichter, die ich mir beim besten Willen nicht erklären konnte. Der Ball hatte längst begonnen, und das Mahl war bereits beendet. Nach einigen Gesprächen mit den Ministern des Zirkels und mit meinen beiden Freundinnen Aya und Kira, hielt ich es nicht länger aus zuzusehen, wie Caidan und meine Mutter am anderen Ende des Saals sitzen mussten. Es ärgerte mich, dass Caidan und Mutter nicht an unserem Tisch speisen durften. Wie gern hätte ich mich mit Caidan unterhalten. Dort mit dem Zirkel und anderen Ministern am Tisch zu sitzen, wurde mir langsam zuwider. Lieber genoss ich Aussicht auf die Erde, die in tausend kleine Lichter eingetaucht wurde.
Dunkelheit gab es bei uns nicht. Es gab keinen Tag und keine Nacht, wie die Erde es kannte. Es war immer hell. Unser Reich, Meridem, lag auf der hellen Seite des Mondes, die stets von den warmen Strahlen der Sonne beschienen wurde. Die Sonne gab uns nicht nur Licht, sondern die Energie, die wir zum Leben brauchten. Die andere Seite des Mondes, die dunkle Seite namens Tenebris, wurde von einem König regiert, der uns den Krieg erklärt hatte. Er wurde erst vor fünfzig Jahren gekrönt, nachdem sein Vater verstorben war. Ich kannte ihn, diesen tenebrischen König. Xaver. Allein beim Gedanken an ihn lief mir ein Schauder den Rücken hinunter. Seinem Vater war der Frieden zwischen unseren Reichen wichtig gewesen und er war höchstpersönlich zu Friedensverhandlungen nach Claritas gereist. Seinen Sohn Xaver hatte er oft mitgenommen. Er wollte ihn als Abgesandten erklären, doch Xaver war alles andere als begeistert von unserem Volk. Er verachtete uns. Er hasste uns abgrundtief und ich konnte nicht einmal sagen, weshalb. Als sein Vater vor fünfzig Jahren starb, machte Xaver uns dafür verantwortlich und erklärte den Krieg. Seitdem gab es an den Grenzen zwischen Hell und Dunkel brutale Auseinandersetzungen. Ich konnte nur erahnen, wie schlimm es um die Grenzstädte stand. Womöglich konnte mir Caidan davon mehr erzählen, immerhin hatte er an vorderster Front gekämpft.
Wie immer stand ich auf dem Balkon, die Musik des Balls ertönte laut und dazwischen mischten sich das Gelächter und die Gespräche des Hofstaats. Beim Festmahl saß ich zu weit von Caidan entfernt, der als Nichtvollwertiger keinen Platz an unserem Tisch nehmen durfte, selbst wenn das Mahl ihm zu Ehren gedacht war. Nichtvollwertige gab es nur wenige am Hof. Meine Mutter war eine davon. Ihr Bruder, Onkel Vestas, der andere. Ein paar Angestellte, die niedere Arbeiten erledigten, ebenfalls. Doch die meisten, die hier lebten, waren Vollwertige. Es ärgerte mich, dass Caidan es nicht war. Es wäre alles so einfach gewesen, wenn er von edlem Blut wäre. Nicht zuletzt könnte mein Ruf darunter leiden, einen wie ihn zu ehelichen. Mein Vater musste es am eigenen Leib spüren. Wie ich einst mitbekommen hatte, wollte er diese Ehe anfangs nicht. Doch die Schulden meines Großvaters hatten ihn dazu gezwungen. Trotz dieser Geschichten war ich mir sicher, dass sich meine Eltern liebten. Auch wenn mein Vater es in der Öffentlichkeit nicht zeigte.
Ich hörte seine typisch schweren Schritte. Dann roch ich sein Rasierwasser. Vater stand hinter mir: »Willst du nicht hereinkommen und tanzen, anstatt die Erde zu betrachten?« Obwohl ich es nicht sehen konnte, hörte ich ein Lachen in seiner Stimme.
Langsam lehnte ich mich zurück, schmiegte mich an ihn und hauchte: »Ich würde zu gern wissen, wie es dort drüben ist.«
»Es gab eine Zeit, in der konnten wir zur Erde reisen«, sagte er ruhig.
Ich nickte: »Ich kenne die Geschichten, Vater …« Ich seufzte.
»Genau. Bei Vollmond.« Wieder das Lachen in seiner Stimme. »Aber nach so vielen Tausenden von Jahren, hat sich dort auch vieles verändert.«
»Warum konnten sie dann vor kurzer Zeit hierherreisen? Wie haben sie das gemacht?« Es ließ mich nicht los. Dieses Mysterium. Diese Wesen dort, die uns so ähnlich waren.
Ich spürte, dass er mit den Schultern zuckte: »Sie haben sich weiterentwickelt, meine Kleine.«
»Aber … Warum konnten sie uns nicht sehen?« Ich erinnerte mich. Ich war damals tieftraurig gewesen. Die Menschen von der Erde waren hierhergeflogen, mit ihren riesigen Vögeln aus Metall, und ich konnte den Tag ihrer Ankunft kaum erwarten. Obwohl die Gelehrten mir erklärt hatten, dass sie uns nicht wahrnehmen könnten, hatte ich etwas anderes gehofft. Doch die Magister behielten recht. Die Menschen waren zwischen unserer Welt hindurchgereist, ohne etwas davon zu erkennen, hatten ihre Flagge in unsere Oberfläche geschlagen, ohne unsere Vegetation zu sehen, hatten nichts gehört, obwohl ich ihnen zugerufen hatte. So enttäuscht und niedergeschlagen war ich noch nie in meinem Leben gewesen.
»Sie können nur drei Dimensionen wahrnehmen«, erklärte Vater. »Selbst wenn sie von uns wüssten, könnten sie uns nicht erkennen«, sprach er weiter, obwohl ich diese Frage schon so oft gestellt hatte.
»Aber als die Letzten von uns auf der Erde waren, sahen sie uns doch?«
»Ja, weil wir ihre dreidimensionale Gestalt annehmen konnten. Leider weiß niemand mehr, wie es funktioniert.«
»Aber man könnte es versuchen?«, fragte ich und ich wusste, dass mein Vater mir nicht die Wahrheit sagen würde, damit ich es nicht ausprobiere.
»Nein. Du brauchst dir keine Gedanken machen. Du wirst niemanden finden, der es dir erklären kann.« Ich spürte die Sorge in seiner Stimme. Sie versicherte mir, dass es doch jemanden geben musste. Doch Vater kannte meine Liebe zu diesem mysteriösen Planeten und sorgte sich. »Und selbst wenn, mein Kind, du wirst hier gebraucht, du wirst Königin und hast Verpflichtungen.« Er packte mich an den Schultern und drehte mich zu sich um, sodass er mir in die Augen sah: »Und eine dieser Verpflichtungen wartet dort drin auf dich.« Vater grinste und zeigte mit dem Finger auf die Balkontür zum Ballsaal.
»Caidan?«, fragte ich vorsichtig. »Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er hat mich erst überhaupt nicht beachtet.«
»Ich zwinge dich zu nichts. Wenn du ihn nicht magst, dann finden wir einen anderen, der Zirkel hatte mehrere Vorschläge. Darunter ein paar Vollwertige, die du kennst und mit denen du aufgewachsen bist.«
Ich dachte an die Söhne der Hofleute und ich seufzte. Sie waren alle traditionell und streng, was Regeln anging. Und doch hatte ich mir einst geschworen, nie einen Niedergeborenen zu heiraten. Zu oft hatte ich gesehen, wie es meinen Eltern erging. Zu oft hatte ich geweint, als Mutter unfair behandelt wurde.
Vater schien meine Gedanken zu erraten: »Einer wie Caidan, ein Nichtvollwertiger, müsste sich dir unterordnen. Er hätte keine Macht über dich und dürfte sich selbst nicht König nennen.« In seinen Augen erkannte ich, dass dies der einzige Trost für ihn war. Ich hatte ihn beobachtet, wie er Caidan angesehen hatte. Hatte gesehen, dass es ihm nicht gefiel, mich an ihn weiterzugeben. Aber ich fragte mich, ob es wirklich an Caidan lag oder ob Vater bei jedem Mann auf diese Weise reagieren würde.
»Was willst du damit sagen? Dass ich ihn so behandeln müsste, wie du Mutter?« Ich konnte meine Abneigung gegen diesen Gedanken nicht verbergen.
Er schwieg.
»Sag mir noch eines, Vater«, bat ich und hielt ihm am Arm fest, kurz bevor wir wieder in den Saal gingen. »Weiß er, dass er ein Heiratskandidat ist?«
Vater lachte laut und nickte: »Natürlich weiß er es. Wie ich gehört habe, hat er seinen vollwertigen Offizierskollegen dieses Arrangement sogar selbst vorgeschlagen und sie gebeten, diese Idee dem Zirkel vorzubringen. Seine Worte seien gewesen: Das Volk liebt mich, während sie sich gegen die Monarchen mehr und mehr auflehnen. Der König wäre klug, seine Tochter mit mir zu vermählen, um einen Aufstand im Keim zu ersticken.«
Ich prustete. »Tatsächlich?«
Vater nickte.
»Das ist ganz schön arrogant von ihm, meinst du nicht?«
»Er ist ein zielstrebiger Kerl, das muss man schon sagen«, lächelte mein Vater. »Er weiß eben, was er will.«
»Warum tat er dann so bescheiden und schüchtern, als er mich das erste Mal gesehen hat?«, fragte ich mit einem Unterton, der meine Wut nicht verbarg.
»Der Zirkel war anfangs auch entweder verärgert oder belustigt darüber, doch dein Onkel Vestas reiste dann zu Caidans Heer und wollte ihn kennenlernen. Und er versicherte dem Zirkel, dass es sich um einen wahrhaftigen Krieger handelt, der vom Volk geliebt wird.«
»Und dann hat man einfach beschlossen, mich diesem aufgeblasenen …« Ich biss die Zähne aufeinander. Was dachte sich dieser Kerl? Eins war sicher, er war von sich überzeugt und spielte ein Spiel, das er nicht gewinnen würde. Nicht mit mir, da wusste jemand nicht, wen er sich ausgesucht hatte.
»Nein, erst als die ersten Aufstände aufkamen. Da hat der Zirkel sich nochmals mit Vestas zusammengesetzt und die ganze Sache besprochen.«
»Also bin ich nur ein Mittel zum Zweck? Wie Vieh?«
Vater lachte und schüttelte den Kopf: »Dein Onkel Vestas versicherte mir, dass Caidan ein guter Kerl sei.«
»Pff …« Ich wusste nicht mehr, was ich dazu sagen sollte. Aber eines wusste ich. Mein Onkel liebte mich. Er selbst hatte keine Kinder. Meine kleine Prinzessin, nannte er mich stets. Onkel Vestas würde mir keinen Mann aufzwingen, der mich nicht verdient hätte, genauso wenig wie Vater.
Vater lachte lauter: »Na immerhin hat er es geschafft, deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Das war sicherlich sein Ziel gewesen.«
Ich nickte. Oh ja, das hatte er geschafft. Dieser Mistkerl! Diese Zurückhaltung und diese Schüchternheit waren nur ein Schauspiel. Caidan legte sich mit der Falschen an. Diese Art von Spielchen konnte ich ebenso spielen …
•••
Die feine Gesellschaft, wie meine Mutter die Vollwertigen am Hof stets nannte, tanzte die klassischen Standardtänze, die man schon als kleiner Junge oder Mädchen in- und auswendig kennen musste. Manchmal wurde die Musik etwas schneller, doch selbst dann kam es mir vor, als könnte man dabei einschlafen. Die Musik des Hofes bestand eher aus sinnlichen Klängen, die langsamen Noten folgten. Man umschlang sich oft beim Tanzen und kam sich nah genug, um jemanden kennenzulernen. Mir gefielen diese traditionellen Tänze nicht. Unten in der Stadt gab es Tanzcafés für junge Leute, die sich zu schneller Musik, und vor allem frei, bewegen durften. So, wie sie es wollten und nicht, wie es eine Etikette vorschrieb. Ich liebte diese Cafés und ging dort oft mit Aya und Kira hin, um zu feiern und neue Leute kennenzulernen. Mein Vater hatte mir nie verboten, mich frei in Claritas zu bewegen. Zumindest innerhalb der Stadtmauern. Zwischen den Gleichaltrigen hatten sich Freundschaften gebildet. Vor allem durch meine Nähe zum Volk. Doch niemals duzten sie mich oder behandelten mich wie eine von ihnen. Sie hielten stets exakt die Etikette ein, wenn ich mich im Raum befand, obwohl ich es mir so oft anders gewünscht hätte. So, wie es mit Aya und Kira war, schlicht und ungezwungen.
Hier im Ballsaal war es anders als in den Tanzcafés. Jede Frau, so mächtig sie auch sein mochte, musste warten, bis sie von einem Mann aufgefordert wurde. Niemals hatte eine Frau einen Mann zum Tanz gebeten. Zumindest erinnerte ich mich nicht an solch eine Situation. Ich blickte mich um und erkannte Caidan, der sich angeregt mit Vestas unterhielt. Als mein Onkel mich erblickte, deutete er auf mich, sodass ich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Schattenjägers bekam. Es schien fast so, als gäbe mein Onkel ihm einen kleinen Schubs in meine Richtung, doch so genau konnte ich das durch die Menschenmenge nicht erkennen. Langsam ging er auf mich zu. Die Tische, an denen wir zuvor gegessen hatten, standen u-förmig um die Tanzfläche herum, die aus kleinen bunten Mosaiksteinchen bestand, die im Sonnenlicht funkelten.
»Prinzessin«, sagte er freundlich und verneigte sich tief vor mir, während ich ihm die Hand reichte. Seine Augen … Sie funkelten im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster des Merkursaals hereinschien. Zögerlich nahm er meine Hand und drückte seine Lippen auf meinen Handrücken. Was für ein Spiel spielte er? Den schüchternen Jungen aus der Provinz? Ich musterte ihn eingehend und versuchte angespannt, schlau aus ihm zu werden.
»Wollt Ihr mich nicht zum Tanz auffordern?«, fragte ich ungeachtet dessen, dass es sich nicht gehörte. Er sah mich mit großen, silbernen Augen an, in denen ich fast so etwas wie echte Scham erkennen konnte.
»Prinzessin, ich komme aus einer Provinz, die kaum mehr als fünf Häuser besitzt. Niemand hat mir je beigebracht, wie man tanzt.«
»Ihr wart niemals mit Euren Soldatenkollegen feiern, in einem Tanzcafé oder in einem Wirtshaus, indem man auf Tischen tanzt?«, fragte ich ihn unbeeindruckt und er grinste. Fast, aber nur fast, hätte ich ihm in diesem Moment den Schüchternen abgenommen.
»Natürlich, Prinzessin. Doch diese Tänze hier sind mir fremd.« Seine Stimme wurde stärker, so als wüsste er genau, dass ich ihn absichtlich in Verlegenheit bringen wollte. Langsam, ja, ganz langsam glaubte ich, unter seine Maske sehen zu können. Er spielte ein Spiel. Definitiv. Er gab den lieben, mutigen und fremden, jungen Mann, der sich schämte, nicht wie wir zu sein. Doch ich wuchs am Hof auf, ich kannte jede Vorführung und jede Maskerade. Ich nahm ihm den bescheidenen Jungen, den er mir aufbinden wollte, nicht ab. So reichte ich ihm erneut eine Hand. »Fordert mich auf, wir tanzen so, wie Ihr mich führt.«
Echte Panik trat in sein Gesicht: »Das wäre nicht angebracht. Euer Onkel sagte mir, dass man strenge Tanzschritte einhalten …«
»Wessen Worte haben mehr Gewicht, mein guter Soldat, meine oder die meines Onkels?« Streng sah ich ihn an und spürte förmlich seine Verunsicherung.
Er schluckte: »Eure.«
Ich hätte gern gelacht, als ihm die Farbe aus seinem ohnedies schon bleichen Gesicht fiel. Doch meine Miene blieb streng und abwartend. Würde er sich für mich zum Gespött machen? Mir gefiel es, auszutesten, wie weit er gehen würde. Eine mögliche Heirat mit der Prinzessin war die größte Chance auf seiner ohnehin schon steilen Karriereleiter. Würde er sich dafür lächerlich machen?
Etwas blitzte in seinen Augen auf, das mir sagte, er hatte mich durchschaut. Caidan wusste, dass ich ihn absichtlich in eine peinliche Situation brachte, um ihn zu testen. Er nahm meine Hand und zog mich sanft auf die Tanzfläche. Bei den anderen Tanzpaaren schaute er sich ab, wie er mich berühren musste, und legte die Hände um meine Hüften, während ich die Arme um seinen Hals schlang. Etwas mehr als eine Handbreit Abstand lag zwischen unseren Gesichtern. Er war nur einen halben Kopf größer als ich und sein helles Haar fiel ihm leicht über die Augen, als er sich bewegte. Wir sollten uns ansehen, doch er schaute nach links und nach rechts und bemühte sich die Bewegungen der anderen Tanzpaare zu kopieren. Ich achtete nicht auf sie, ich genoss es, wie er sich in dieser Situation, die ihm äußerst unangenehm sein musste, zurechtfand. »Ich hatte Euch gewarnt, ich kann nicht tanzen. Zumindest nicht so«, sagte er nach einer Weile, als er sich an die langsame Musik gewöhnt hatte.
»Dafür macht Ihr es ganz gut«, gab ich zu und meinte es tatsächlich ernst. »Fühlt Ihr Euch unwohl?«
Er schluckte, dann nickte er. »Wir werden von allen Seiten beobachtet.«
»Stört Euch das auch, wenn Ihr mit dem Schwert umgeht?«
»Nein, aber das ist etwas, das ich gut kann.«
Ich sah mich um und erkannte, dass er recht hatte: Die Paare in unmittelbarer Nähe, beäugten uns neugierig. Dann sah ich Onkel Vestas, der über die Tanzfläche marschierte wie ein Offizier auf dem Schlachtfeld und den interessierten Zuschauern ein Ende bereitete. »Kümmert Euch um Euren eigenen Kram«, rief er zu den anderen Paaren, oder: »Was gibt’s da zu glotzen?«
Ich grinste. Onkel Vestas war ein hoher und mächtiger Mann, obwohl er nicht dem Zirkel angehörte. Dennoch genoss er den Status als königlicher Schatzmeister. Er war der Einzige, von dem ich wusste, dass er die Etikette genau so sehr verabscheute wie ich, was daran liegen musste, dass er nicht vollwertig war. Eigentlich hätte er diese Position niemals bekommen dürfen. Doch als Bruder meiner Mutter, der die Hochzeit zwischen meinen Eltern arrangiert hatte, hatte er sich einen hohen Rang erarbeitet, den viele im Zirkel anzweifelten. Sie nahmen ihn nicht ernst, doch es scherte ihn wenig und so kam es nicht selten vor, dass er kein Blatt vor den Mund nahm und aussprach, was ihm durch den Kopf ging.
»Hier ist alles so förmlich, daran muss ich mich noch gewöhnen«, sagte Caidan, um ein Gespräch mit mir zu finden.
»Müsst Ihr das?« Ich zog die Augenbrauen hinauf.
»Ja«, stammelte er und verengte die Augen.
»Es ist nicht schwer, ich bin sicher, Ihr spielt dieses Spiel bereits perfekt.« Ich beobachtete genau, wie er darauf reagierte.
»Was meint Ihr mit Spiel?« Er ließ sich nichts anmerken.
»Es ist alles ein Spiel, eine Maskerade. Diese Leute leben nach allen Regeln, welche die Etikette vorschreibt – Aber hinter verschlossenen Türen …« Ich seufzte.
Er sagte nichts und sah mich nur an.
Ich sprach weiter und deutete dabei auf eine mollige Frau, die einen Kelch Wein in der Hand hielt und mit einer anderen Lady tuschelte. »Das ist Lady Richelle, aus dem vollwertigen Hause Erison. Sie ist verheiratet mit Lord Raul, einem angesehenen Kaufmann.« Ich machte eine Pause, Caidan sah mich fragend an. »Sie teilt das Bett mit dem Kammerjäger«, erzählte ich weiter. »Das …«, ich zeigte auf ein junges Pärchen auf der Tanzfläche. »Das sind Lady Lysa und Lord Erik. Sie sind frisch vermählt, obwohl er keinen Gefallen an Frauen findet. Und sie weiß es.«
Caidan hörte mir aufmerksam zu.
»Und nun seht meine Mutter an« Ich deutete auf sie, die eingeschüchtert in der letzten Ecke stand und meinen Vater von Weitem betrachten musste, der sich mit einigen Männern aus seinem Zirkel unterhielt. »Sie hat hier so gut wie keine Rechte. Jeder hier, sogar viele Bedienstete, stehen im Rang über ihr. Und doch ist sie die Einzige im Raum, die es verdient hätte, verehrt zu werden. Die einzige Frau, die ein reines Herz besitzt und keine Spielchen spielt. Die anderen sollten sich vor ihr verneigen und ihr die Füße küssen, anstatt sie mit verachtenden Blicken anzusehen.«
Caidan schwieg noch immer.
»Wie ich sagte, Caidan. Alles hier ist ein Spiel, dessen Regeln irgendwann vor vielen tausend Jahren aufgestellt wurden. Jeder hier trägt eine Maske.« Ich machte eine Pause, bevor ich weitersprach: »Und ich kenne dieses Spiel zu gut, um zu wissen, wer wirklich vor mir steht.«
Er grinste: »Was wollt Ihr damit andeuten?«
»Wie gefällt Euch Eure Maske, Caidan?«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Prinzessin.«
»Ach ja? Ein Soldat, der kühnste und mutigste Soldat in unserer Generation, ja, vielleicht in der ganzen Geschichte, der Männern den Kopf abhackt, Frauen und Kinder aus brennenden Häusern rettet und ganze Städte vor dem Untergang bewahrt … Dieser besagte, mutige Mann, wird auf einmal zum schüchternen Jungen, wenn er einer Prinzessin begegnet? Das kann ich nicht so recht glauben.«
Caidan lächelte mich an. Er leugnete es nicht. Stattdessen fragte er: »Was ist mit Euch? Was für ein Spiel spielt Ihr mit mir?«
»Was meint Ihr?« Ich runzelte die Stirn.
»Eine Prinzessin, die schlau ist und die Etikette genauestens kennt, nennt mich vor versammelter Gesellschaft einen Lord? Ihr wusstet genau, dass ich kein Lord bin.« Ernst betrachtete er mich und ich war mir nicht sicher, ob er unsere Unterhaltung lustig fand oder wütend wurde.
»Reine Höflichkeit. Ich wollte nur nett sein«, wehrte ich mich, doch er fiel mir ins Wort, während seine Stimme lauter und ernster wurde: »Das war keine Höflichkeit. Es war respektlos! Ihr wusstet genau, dass ich weder Titel noch Reichtümer habe. Es war einfach nur herablassend!«
Ich schnaubte und blieb abrupt stehen: »Respektlos? Ihr, gerade Ihr, redet von Respekt?« Auch meine Stimme wurde lauter und ich bemerkte im Augenwinkel, dass wir einige Zuhörer hatten. Doch es war mir egal. »Ihr wagtet es, zu behaupten, Ihr seiet die beste Partie für mich. Ihr hattet die Frechheit, eine Ehe mit mir vorzuschlagen. Ihr! Ein Niemand! Man hätte Euch für diese Worte den Kopf abhacken können!«
»Mein Kopf ist noch da, falls Ihr es nicht bemerkt habt, Prinzessin!« Prinzessin, wie er es aussprach. Fast so, als wäre dieses Wort Gift in seinem Mund.
»Jemand, der so dreist ist und damit auch noch durchkommt, sollte nicht damit rechnen, dass ich ihm den schüchternen und bescheidenen Mann abkaufe!«, schnaubte ich wütend und setzte gerade an, um weiterzusprechen, da ergriff mich jemand am Arm.
»Leetha, Liebes, kommt, beruhigt Euch.« Onkel Vestas ging zwischen uns. »Habt Ihr keine eigenen Probleme?«, schrie er zu den zahlreichen Zuschauern, die sich murmelnd um uns versammelt hatten.
Ich riss mich von Onkel Vestas los und ging schnellen Schrittes zur Tür hinaus.
»Prinzessin Leetha, wartet«, hörte ich nach einigen Metern die Stimme des Schattenjägers hinter mir. Ich drehte mich nicht um, blieb aber stehen. »Ihr habt recht, ich bin weder schüchtern noch bescheiden.«
Ich hörte, wie er näher kam, doch ich rührte mich nicht. Wir standen im Flur und ein Pärchen, das uns neugierig ansah, verschwand sofort, als ich es böse anfunkelte.
»Wenn ich meine Maske abnehme, bekomme ich dann die Chance, mich zu erklären?«
Ich sagte nichts, nickte nicht, ich blieb einfach stehen, mit dem Rücken zu ihm gewandt.
Er sprach weiter: »Ich wollte nicht respektlos sein, ich weiß sehr wohl, dass ich für solche Worte meinen Kopf hätte verlieren können. Es war ein dummer Zufall, dass ich nun hier stehe. Bitte lasst es mich erklären.«
Langsam drehte ich meinen Kopf über die Schulter und sah ihn an: »Ich bin mir nicht sicher, ob …«
»Es ist schon eine Weile her, aber ...« Caidan fiel mir ins Wort, was mich verärgerte. Niemand außer Vater unterbrach mich! Niemand! »... nach einem schrecklich langen Tag an der Grenze besuchte ich mit meinen Soldaten ein Wirtshaus. Wir hatten die Grenzstadt verteidigt, wofür uns die Bewohner so dankbar waren, dass wir essen und trinken durften, was wir wollten. Das Volk feierte mit uns und wir übertrieben es maßlos. Ich war stockbetrunken, als ein vollwertiger Offizierskollege meinte, ich sei beim Volk beliebter als der König selbst. Daraufhin sagte ich, dass sich der König überlegen sollte, seine Tochter mit mir zu vermählen. Und ja, Prinzessin, ich sagte auch, dass ich die beste Partie für Euch wäre und dass ich diese Idee dem Zirkel vortragen sollte. Doch ich war betrunken und der letzte Kampf lag nicht weiter zurück, als ein Wimpernschlag. Ich meinte nichts davon ernst.« Er machte eine Pause, wartete ab, ob ich was dazu sagen würde, doch das tat ich nicht. Caidan sprach weiter: »Ich wusste nicht, dass ein Offizier der Sohn eines Mitglieds des Zirkels war. Es vergingen Monate und ich hatte es schon längst vergessen, da stand auf einmal Euer Onkel Vestas vor mir und sprach mich darauf an. Ich bekam Panik und dachte, ich würde für diese Worte zum Tode verurteilt werden. Doch es kam anders. Und nun, na ja, nun stehe ich hier.«
Ich drehte mich zu ihm um: »Was für eine nette Geschichte, mal sehen, ob ich dank dieses Märchens, besser einschlafen kann. Gute Nacht, Schattenjäger.«
»Alles in Ordnung, Prinzessin Leetha?«, fragte ein Wachmann, der mir gefolgt war. Wie ich es hasste, diese ständige Sorge und Überwachung.
»Es ist alles in Ordnung, danke«, sagte ich scharf und lief die langen Flure entlang in Richtung meiner Gemächer, doch ich war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. So drehte ich mich um und trat ins Licht.
Innerhalb einer Sekunde befand ich mich an meinem Lieblingsort, von wo aus ich die Erde sehen konnte. Ich beugte mich vor, stützte die Unterarme auf das Geländer und legte das Kinn in die Hände. Ich könnte stundenlang dort hinstarren. Zusehen, wie sie sich langsam drehte und wie sie von der Sonne beschienen wurde.
Hatte er die Wahrheit gesagt? War er ein junger Mann, der dem Tod knapp entkommen war und nur mit seinen Freunden und Kollegen zu kräftig gefeiert hatte? So wie ich gerne feiern ging? Ich hatte auch schon zu viel getrunken und blöde Dinge gesagt. Das war doch normal in unserem Alter. Erst recht für ihn, der an der Grenze das Reich beschützte, Tag für Tag sein Leben aufs Spiel setzte.
»Verzeihung, ich wusste nicht, dass Ihr hier seid, ich dachte, Ihr wärt ins Bett gegangen.« Caidan stellte sich neben mich. Ich rührte mich nicht. »Sie ist wunderschön, stimmt’s?«, hauchte er und betrachtete die Erde. »Ich kenne keinen Ort, an dem man sie so gut sehen kann.« Er sah mich an, während ich meinen Blick fest auf der Erde hielt. Dann sah er nach unten. »Das ist also Claritas. Ich war nie hier gewesen. Als ich herkam, schlenderte ich eine Weile durch die Stadt, aber viel Zeit hatte ich nicht.«