Zwischeneinander - Catherine Strefford - E-Book
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Catherine Strefford

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Beschreibung

Was, wenn die Liebe vor einem steht, aber man nicht bereit dafür ist?

Richie setzt alles daran, seinem eigenen Glück im Weg zu stehen. Doch muss er wirklich erst sich selbst lieben, um von anderen geliebt werden zu können? Die Beziehung mit Maxi kann Richie nur anfangs genießen, denn unentwegt wartet er auf das Ende, von dem Richie sicher ist, dass es früher oder später kommen wird. Keine Liebe ist wie die andere und nichts Neues kann wachsen, so lange das Herz und die Seele noch mit dem Unkraut der Vergangenheit bewuchert sind. Aber erkennt auch Richie das früh genug?

Der zweite Roman mit Richie, bekannt aus „Nur kurz leben“, ausgezeichnet mit dem 1. Platz des tolino media Newcomerpreis 2020.

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Zwischeneinander

Catherine Strefford

© 2021 Catherine Strefford

c/o Podologische Praxis Pliez, Talcenter

Oberweißbacher Straße 7, 12687 Berlin, Deutschland

ISBN: 978-3-75460-887-6 | 1. Auflage

Cover und Buchsatz: Catherine Strefford, www.catherine-strefford.de

unter Verwendung eines Fotos von © EVGENIY / Adobe Stock

Lektorat: Kia Kahawa, www.kiakahawa.de

Korrektorat: Nadine Föhse, www.nadine-foehse.de

Mit Musik von Taylor Swift (exile), Snow Patrol (What if this is all the love you ever get), 30 Seconds to Mars (The Kill), Tracy Chapman (Baby can I hold you), Joan Armatrading (The Weakness in me) und Sister Hazel (Your Winter).

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ohne schriftliche Zustimmung ist unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Ein Hinweis zum Buch

Dieses Buch ist in drei Teile unterteilt.

Teil eins von »Zwischeneinander« beginnt im August 2015,

etwa zwei Jahre vor dem, was in »Nur kurz leben« passiert.

Teil drei dieses Buches steigt einige Wochen nach den Vorkommnissen

aus »Nur kurz leben« wieder ein.

Es ist nicht notwendig, »Nur kurz leben« zu kennen,

um Richies Geschichte in diesem Buch zu genießen.

Aber die Freude über kleine Details ist größer,

wenn ihr »Nur kurz leben« kennt.

»Nur kurz leben« gibt es als Taschenbuch, E-Book und Hörbuch überall, wo es Bücher und Hörmedien gibt.

Content Notes

Romantik, Tod, Verlust, Alkoholkonsum, Cannabiskonsum, Verrat, Eifersucht, Fatshaming, Homofeindlichkeit, Queerfeindlichkeit

Für Marius,

denn ohne dich gäbe es dieses Buch gar nicht erst.

ALT+3 FOREVER

Teil 1

August 2015

»Bitte, bitte, bitte.« Stella umklammert Richies Arm, der seinen Kopf stützt, während er liest. Er liegt auf dem Bauch in seinem Bett, Stella sitzt im Schneidersitz auf dem Boden davor. Richie liebt Stella, aber das kommt nicht in Frage.

»Stella«, brummt er missmutig. »Ein Doppeldate? Im Ernst?« Richie stiert weiter auf die Buchstaben seiner Unilektüre, auf die er sich aber längst nicht mehr konzentrieren kann.

Stella müsste es besser wissen. Richie findet Dates an und für sich schon ziemlich zum Kotzen. Aber auch noch mit zwei anderen Leuten. Nein, darauf hat er wirklich keine Lust. Nerviger Small Talk, einen besonders guten Eindruck hinterlassen, obwohl man gar keine längerfristigen Absichten hat, den anderen bei ihrem kitschigen Getue zuzusehen. Und die Krönung: auch noch ein Blind Date. Die Schwester des Kerls, mit dem Stella ausgeht. Die beiden treffen sich seit einiger Zeit und man sollte doch meinen, dass sie lieber zu zweit wären.

»Komm schon. Drei Mal Kino auf meine Kosten.«

»Meine Güte!« Richie staunt. »Du weißt, dass du jederzeit mit jedem Sex haben kannst, du musst dafür nicht die schwer vermittelbare Schwester deines Freundes unter Dach und Fach bringen.« Er blättert eine Seite zurück, weil er das Kapitel über Grundlagen der Szenografie noch mal von vorne lesen muss.

»Sie ist nicht schwer vermittelbar«, widerspricht Stella.

»Ja klar, und ich bin der Prinz von Wales.«

»Außerdem«, fügt Stella hinzu, »ist er nicht mein Freund.« Sie klingt jetzt weniger begeistert.

Richie hebt den Blick von seinem Buch. »Wie kommt’s?«

»Keine Ahnung.« Stella seufzt. »Ich glaub, er denkt, ich mein’s nicht ernst.«

»Und du willst ihm das Gegenteil beweisen, indem du seine schwer vermittelbare Schwester mit deinem schwer vermittelbaren besten Freund verkuppelst?«

Stella knufft Richies Schulter. »Komm schon, tu mir den Gefallen. Wer weiß, vielleicht springt ja für uns beide Sex dabei raus.« Sie grinst breit.

Geschafft legt Richie seinen Kopf auf dem Buch ab. »Aber ich mag nicht«, jammert er. »Sie verliebt sich bestimmt in mich und will dann heiraten. Ein Haus mit Garten und Kinder …«

Stella lacht über Richies völlig überzogene Dramatik.

»Na, so ein toller Typ bist du auch wieder nicht. Und ich muss es wissen.«

»Hey«, protestiert Richie und schiebt seine Arme zwischen den Kopf und das Buch, blickt Stella an wie ein treuer Hund. »Er ist dir so wichtig, hm?« Noch ehe sie »ja, sehr« sagt, erkennt Richie die Antwort in ihren Augen.

Manchmal beneidet Richie Stella ein wenig darum, dass sie sich in neue Beziehungen stürzt, ohne Angst vor Verletzungen oder Verlust. Immer voller Inbrunst und Überzeugung, trotz all der Risse, die schon in ihrem Herzen sind. Als könne rein gar nichts schief gehen.

Richie kann das nicht, es ist zu viel Stress für ihn. Nicht, dass er es in den letzten Jahren darauf angelegt hätte. Er hat es lieber locker gehalten, auf Körperliches reduziert und ist zufrieden damit. Wenn Menschen einem nicht zu nahekommen, gibt es auch nicht so viele Herzrisse.

Und auch wenn Richie nicht viel für diesen Romantik-Kram und Beziehungen übrig hat … Stella ist seit dem Kindergarten seine Freundin. Und drei Mal gratis Kino sind nicht zu verachten. Darum sagt er: »Aber nur, wenn ich die Filme aussuchen darf.«

Stella fällt ihm jubelnd um den Hals. »Danke!«

»Du weißt, dass das Erpressung ist«, murmelt Richie irgendwo zwischen ihrem Arm und ihrem Hals. »Also das, was er – wie heißt er? Daniel? – mit dir macht.«

»Ach, Quatsch«, sagt Stella und entlässt Richie aus ihrer Umarmung. »Seine Schwester ist in der Stadt und er hat gefragt, ob ich sie nicht kennenlernen mag und eines führte zum anderen …«

Mit gespielter Empörung reißt Richie den Mund auf. »Du benutzt mich schamlos, weil du Angst hast, seine Familie kennenzulernen!«

»Das ist ja auch beängstigend«, wehrt sich Stella.

»Und kompliziert«, fügt Richie nickend hinzu.

»Aber auch schön.«

»Hm«, macht Richie.

»Findest du nicht?«

Richie sieht Stella an, zieht die Stirn kraus. Was für eine Frage. »Mag sein. Den ganzen Stress ist es mir trotzdem nicht wert.«

»Man kann ja auch nicht für immer allein bleiben«, sagt Stella und der veränderte Klang in ihrer Stimme lässt die Unterhaltung etwas ernster wirken.

»Ich bin nicht allein«, sagt Richie. »Ich habe dich und Nana … und einen Riesenberg Arbeit für die Uni zu erledigen.« Demonstrativ tippt Richie auf die Buchseite vor sich.

Obwohl es ihn nicht stören sollte, denkt er immer noch über das Alleinsein nach, selbst als Stella schon lange weg ist.

Er kommt sich nicht allein vor. Im Gegenteil, er fühlt sich frei und ist zufrieden so wie es ist. Trotzdem scheinen Nana und Stella der Meinung zu sein, dass es ihm nicht guttut. Das Alleinsein, ohne festen Partner oder Partnerin. Ständig stellen sie ihm irgendwelche Leute vor, die ihrer Meinung nach toll für ihn seien. Irgendwelche Schwestern, Neffen irgendwelcher Kaffeeklatsch-Bekanntschaften, Arbeitskollegen, Sportkumpaninnen, …

Damit er eine Weile seine Ruhe hat, lässt er sich hin und wieder zu diesen Dates überreden. Manchmal unterhält er sich gut, es gibt ausgezeichnetes Essen oder einen tollen Film, mit manchen dieser Dates sogar großartigen Sex, aber keiner der Menschen klickt bei ihm. Keiner löst das in ihm aus, was offenbar Daniel in Stella auslöst oder Drees in Nana. Und wenn er einen Euro für jedes Mal bekommen hätte, als er versuchte zu verdeutlichen, dass das für ihn so okay sei; er müsste längst keine Schichten mehr bei der Tankstelle schieben.

Es passiert äußerst selten, dass Werbung oder Zeitschriften es schaffen, dass Richie sich als unzulänglich oder unnormal empfindet. Selten denkt er, dass es womöglich niemanden für ihn auf dieser Welt gibt. Und körperliche Nähe bekommt man heutzutage oft schneller, als einem lieb ist. An manchen Tagen hat Richie den Eindruck, das Internet sei ausschließlich erfunden worden, um entweder Pornos zu gucken oder Leute zu finden, die Lust auf Sex haben. Dazwischen kurz etwas aus Wikipedia rauskopieren, damit man doch noch irgendwas für die Seminararbeit zusammenbekommt. Nicht zu vergessen die Katzenvideos. Man kann sich kaum einsam fühlen.

Richie kann sich nicht beklagen. Tut er ja auch nicht.

Am Abend steht Richie zur verabredeten Uhrzeit auf der Straße vor Stellas Wohnung, trägt ein sauberes Shirt und passable Hosen. Nichts zu Schickes, schließlich will er Daniels Schwester keine falsche Hoffnung machen.

Mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt beobachtet er die vorbeispazierenden Leute, als sich endlich die Haustür öffnet. Stella tritt heraus. Sie trägt ein schwarzes Kleid und hat ihre dunkelblonden Haare zu einem lockeren Zopf geflochten. Sofort fühlt Richie sich underdressed. Daniel folgt Stella und Richie stößt sich von der Wand ab, um ihm die Hand zu geben. Er trägt dunkelblaue Jeans und ein graues Poloshirt. Gutaussehender Typ, rasiert, mit Brille. Eine Mischung aus Hipster und Bankkaufmann, von dem Richie noch nicht weiß, was er davon hält. Sie haben sich erst einmal getroffen, in einer Kneipe, in der es viel zu laut war, um sich zu unterhalten. Da Stella ihn aber mag, wird er in Ordnung sein.

Daniel macht einen Schritt zur Seite und gibt den Blick auf seine Schwester frei, die ihm im Gutaussehen in nichts nachsteht. Sie stellt sich als Anne vor und schiebt sich schüchtern ihre dunklen Haare hinter die Ohren.

Sie machen sich auf den Weg durch die Innenstadt ins Hafenviertel, wo die besseren Restaurants liegen. Stella und Daniel halten sich an den Händen und Richie und Anne gehen hinter den beiden, nicht recht wissend, worüber sie reden sollen.

»Anne studiert auch«, ruft Stella über die Schulter, als sei das alles, was Richie wissen müsse.

»Und was genau?«, fragt er an Anne gewandt.

»Theologie«, antwortet Anne und steckt ihre Hände in die Taschen ihres Rocks.

Ach herrje, schießt es Richie durch den Kopf. Offenbar hat sie sein Zögern bemerkt, denn sie fügt hinzu: »Keine Sorge. Ich bin keine Gottesanbeterin oder sowas. Es interessiert mich einfach.« Sie gibt ein Kichern von sich, das wie das eines kleinen Mädchens klingt und Richie vor Unbehagen schlucken lässt. Weil der Abend aber gerade erst begonnen hat und er es Stella zuliebe wirklich versuchen möchte, rafft er sich zu einem Lächeln auf.

Am Restaurant angekommen, werden sie draußen an einen Tisch für sechs geleitet. Richie genießt die restlichen Sonnenstrahlen des Spätsommers auf seinem Gesicht. Die Unterhaltungen der anderen Gäste vermischen sich zu einem Geräuschsee, der seicht vor- und zurückschwappt, hier und da anschwillt oder manchmal fast still da liegt. Sie bestellen Getränke und Essen und geraten in ein Gespräch über nervige Professoren, Daniels Arbeit in der Tischlerei und Fernsehserien, ehe Anne sich schließlich gezielter an Richie wendet. Ihr Glas mit Weißweinschorle in der Hand, beugt sie sich zu ihm, als wolle sie ihn in einen verschwörerischen Plan einweihen.

»Du glaubst also nicht an Gott?«, greift sie das Thema Theologie erneut auf und blickt Richie an, sieht dabei ein wenig herausfordernd aus.

»Ich will seine Existenz nicht ausschließen, denn ich kann mir nicht sicher sein, aber ich denke, er hatte relativ wenig mit mir oder der Entstehung der Welt zu tun.«

»Agnostiker also.« Lächelnd nippt Anne an ihrer Weißweinschorle.

Richie verzieht das Gesicht zu etwas, das freundlich aussehen soll. »Wenn du es unbedingt kategorisieren möchtest.«

»Ein fleischessender Agnostiker«, fasst Anne zusammen, mit Blick auf den Burger auf Richies Teller. Die Art wie sie es sagt, wirkt kritisierend. Aber Richie tut, als höre er es nicht und beißt schweigend vom Burger ab.

»Sonst noch irgendwelche Laster, von denen ich wissen sollte?«

Richie entfährt ein amüsiertes Schnauben. Nicht, weil Anne besonders lustig ist, sondern weil sie ganz offensichtlich eine gründliche Partnerschau betreibt, was Richie einfach nur lächerlich findet.

»Keine, die ich beim ersten Date verraten würde«, antwortet Richie knapp.

»War das eine Einladung zu einem zweiten Date?« Anne blickt ihn herausfordernd an. Vermutlich hält sie sich gerade für sehr sexy. Und für gewöhnlich würde das bestimmt auch funktionieren. Aber Richie ist zu genervt von ihrer Art, um sie überhaupt noch als annähernd attraktiv wahrzunehmen.

»Warten wir’s ab.« Er nimmt einen Schluck vom Bier. Unter dem Tisch gibt Stella ihm einen sanften Stubs mit dem Fuß.

»Und was machst du so, wenn du nicht gerade Agnostiker triffst?« Und sie wegen ihres Fleischkonsums verurteilst, fügt Richie gedanklich hinzu.

»Ach, dies und das.«

Was für eine langweilige Antwort. Mit jedem Wort, das Anne spricht, wird sie farbloser für Richie und er verliert auch das letzte bisschen Interesse, das er für sie aufbringen konnte.

»Hörst du Musik?«, fragt Richie, um Stella zuliebe das Gespräch am Laufen zu halten.

Anne nickt. Und schweigt.

»Und was hörst du so?«

»Alles mögliche«, flötet Anne, als sei das eine unglaublich ausgefallene Musikrichtung. Dabei spielt sie mit einer ihrer Haarsträhnen.

Richie strengt sich wirklich an, das Brummen, das ihm rausrutscht, nicht zu genervt klingen zu lassen. Da Anne sich beim Gespräch über Fernsehserien weitestgehend rausgehalten hat, fragt er, ob sie liest. Irgendeine Gemeinsamkeit werden sie ja wohl finden.

»Total gerne«, sagt Anne strahlend. »Aber wegen der Uni komme ich aktuell leider nicht so viel dazu.«

Richie nickt verständnisvoll. »Und was liest du gerne?«

»Ach, eigentlich alles«, antwortet Anne und Richie bereitet es fast Schmerzen, so sehr muss er das Verlangen unterdrücken, seine Augen zu verdrehen. Vielleicht ist sie nervös, darum stellt Richie seine Frage präziser: »Was hast du zuletzt gelesen, das dir so richtig gut gefallen hat?«

»Fifty Shades of Grey«, ist alles, was Richie hört. In seinem Kopf ertönt ein Geräusch wie bei einem Computer, der auf einen fehlerhaften Befehl hinweist.

»Das war wirklich toll geschrieben. Und gegen die verruchten Szenen hatte ich auch nichts einzuwenden.« Anne sieht Richie mit einem Blick an, der wohl so etwas wie ein Schlafzimmerblick sein soll. Richie nickt nur, seine Augenbrauen wahrscheinlich schon längst mit seinem Haaransatz eins und wieder gerät das Gespräch ins Stocken.

Stella sieht ihn mit flehenden Augen an, was Richie mit einem Mundverziehen quittiert, aber Anne dann trotzdem fragt, was sie gerne isst.

»Ich mag alles gern«, kommt prompt die Antwort und Richie ist es schlichtweg zu suspekt, wenn Menschen, zum Thema Musik, Bücher und Essen, ähnlich farblose Antworten abgeben. Mit denen stimmt doch was nicht. Wie kann man so leidenschaftslos sein? Richie rückt seinen Stuhl vom Tisch.

»Ich verschwinde mal eben wohin«, entschuldigt er sich und sein genervtes Stöhnen dauert fast so lange, wie der Weg zu den Toiletten.

Richie trödelt auf der Toilette, wäscht sich gründlicher als gewöhnlich die Hände und trocknet sie sich dann ganz besonders intensiv ab. Alles schön langsam, um Zeit zu schinden. Als er fertig ist, bleibt er dennoch in den Toilettenräumen. Auf keinen Fall will er zu früh wieder nach draußen gehen und seine übrige Energie an diesem unfassbar eintönigen Menschen aufbrauchen. Stella und Daniel sind auch keine besonders große Hilfe, weil sie wie erwartet fast ausschließlich miteinander beschäftigt sind.

Richie zieht sein Handy aus der Tasche. Hofft auf eine Nachricht, wegen der er noch etwas mehr trödeln kann. Und tatsächlich hat er eine Einladung von Bruner, einem Kommilitonen, zu einer Party später am Abend. Super, die wird Stella auch bekommen haben. Und jede Veranstaltung, die Annes hohle Worte übertönt, ist eine gute Veranstaltung.

Als Richie im Toilettenraum wirklich nichts mehr findet, womit er sich die Zeit vertreiben kann, gibt er sich geschlagen und öffnet die Tür. Schwungvoll stolpert ihm ein Mann entgegen.

»Hoppla!«, ruft er und stürzt direkt gegen Richie. »Na, sowas ist mir ja noch nie passiert.« Er lacht und tritt einen Schritt von Richie zurück, als er sich wieder gefangen hat.

»Vor wem flüchtest du denn?«, fragt Richie, der diese Verzögerung herzlich gerne annimmt.

Der gutaussehende Kerl zieht einen Augenblick die Stirn kraus, zeigt dann aber sein wunderbares Lächeln, das direkt aus einer Zahnpastawerbung sein könnte.

»Familienessen. Aber es ist ausnahmsweise keine Flucht, sondern einfach nur echt dringend.« Er deutet auf die Pissoirs, lächelt verlegen und Richie macht ihm Platz, damit er vorbeikann.

Richie will die Toilettenräume schon verlassen, da fragt der Fremde: »Vor was versteckst du dich?«

Und weil Richie wirklich, wirklich nicht zurück zur langweiligen Anne will, lässt er die Tür wieder zufallen und antwortet: »Vor dem langweiligsten Date, das ich je hatte.«

Schlaff lehnt er sich gegen die geflieste Wand, das Gesicht leidend verzogen.

»Oje«, seufzt der Unbekannte, während er sich entleert. »Das tut mir leid.« Einen Moment später fügt er hinzu: »Was für eine Verschwendung.«

»Ja, allerdings«, bestätigt Richie. »Auf die Frage, welche Musik sie höre, hat sie mit ›alles Mögliche‹ geantwortet.« Um deutlich zu machen, wie genervt er davon ist, macht Richie Anführungszeichen mit seinen Händen.

Der Fremde geht zum Waschtisch und sieht Richie im Spiegel an. »Autsch«, sagt er, während er sich die Hände wäscht. Aber Richie kann sehen, dass auf seinen Lippen eine gewisse Amüsiertheit liegt.

»Die gleiche Antwort hat sie gegeben, als ich sie nach Büchern und Essen gefragt habe.«

»Doppel-Autsch«, kommt es vom Anderen, der sich nun händeabtrocknend wieder zu Richie dreht. »Das klingt echt nicht sehr spannend.«

»Oh, halt«, widerspricht Richie sich selbst. »Beim Thema Bücher hab ich immerhin aus ihr herausbekommen, dass sie Fifty Shades of Grey toll fand.« Er holt das vor Anne verdrängte Augenrollen nach.

Sein Gesprächspartner lacht laut auf, streicht sich kurz mit der Hand durch den Dreitagebart. »Das ist wirklich ein Grund, um sich auf der Toilette zu verstecken.«

Richie reibt sich lachend den Nacken.

»Die Gesellschaft ist hier auch um Längen besser«, entgegnet der Mann munter und grinst verschmitzt.

»Na, das ist noch nicht bewiesen, aber die Konkurrenz ist nicht besonders stark«, sagt Richie, stellt sich aufrechter hin, weil er sich vor dem Anderen von seiner besten Seite zeigen möchte und nicht wie ein alter Kartoffelsack.

Der Fremde lehnt sich entspannt an den Waschtisch und zählt an den Fingern auf: »Musik: Rock. Bücher: am liebsten Thriller. Essen: Indisch.«

Erleichtert hebt Richie die Arme in die Luft. »Und schon bist du interessanter als meine eigentliche Verabredung.« Er lacht und es ist sein echtes Lachen. Nicht das Höflichkeitslachen, das er sich bei der Arbeit angewöhnt hat und das er bei Anne heute schon ein ums andere Mal verwenden musste.

»Jetzt du«, fordert der Mann am Waschbecken und verschränkt lässig seine Arme vor der Brust.

»Musik«, sagt Richie und macht eine kleine dramaturgische Pause, ehe er ebenfalls »Rock« hinzufügt und eine zustimmende Geste mit Kopf und Händen macht. »Bücher: Romane, je tragischer, desto besser. Und Essen: Italienisch.«

»Damit kann ich arbeiten.« Der andere nickt anerkennend, dabei wippt sein dunkelblonder Haarknoten leicht auf und ab.

»Ich bin übrigens Maximilian.« Er presst die Augen kurz zusammen und schüttelt den Kopf, legt die Hand an seine Stirn. »Keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Eigentlich nennt mich jeder Maxi.«

»Richard«, sagt Richie und grinst breit. »Aber eigentlich sagen alle Richie.«

Maxi muss lachen und Richie mag sehr, wenn er lacht. Es ist tief und ehrlich und hinterlässt ein flatterndes Gefühl in Richies Magen.

»Es war mir eine große Freude, Richie«, sagt Maxi feierlich und streckt Richie die Hand hin. »Leider muss ich jetzt zurück zum Familienessen.« Er zeigt nochmals sein Zahnpastawerbung-Grinsen und Richie drückt kurz seine Hand.

»Man sieht sich«, sagt Maxi und schon ist er raus aus den Toiletten und Richie alleine. Gerade als er nach der Tür greift, um zur langweiligen Anne und den anderen zu gehen, springt die Tür wieder auf und Maxi steht erneut vor ihm.

»Weißt du«, sagt Maxi, »man sagt das immer so, ›man sieht sich‹, aber ich hab mich gerade gefragt, wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir uns tatsächlich irgendwann wiedersehen. Und da dachte ich, ich biete dir einfach meine Nummer an?«

Richie ist überrumpelt. Als wäre er gegen die Wand einer Hüpfburg geprallt, was weder blaue Flecken hinterlässt noch weh tut, sondern einen zu Boden wirft und zum Lachen bringt. Er nickt und als er seine Sprache wiedergefunden hat, fügt Richie seinem Nicken auch noch ein »ja, gerne« hinzu.

»Gib mir dein Handy«, bittet Maxi. Richie zögert nicht. Maxi tippt seine Nummer in Richies Smartphone und ruft diese dann an. Als er es Richie zurückreicht, klopft er sich auf seine Hosentasche, in dem sein eigenes Handy ist und sagt: »Ich speichere dich unter ›bestes erstes Toiletten-Date‹ ab. Nur dass du’s weißt.« Was Richie zum Schmunzeln bringt.

»Also dann, Richie. Man sieht sich. Jetzt wirklich.« Maxi zwinkert ihm zu. Was Richie sonst für eine ziemlich bescheuerte Geste hält, aber Maxi lässt er es durchgehen. Berauscht von dieser Begegnung verlässt nun auch Richie die Toiletten. Was auch immer der Abend mit Anne noch für Langeweile oder Frust bringen wird, es wird Richie kaum mehr nerven können.

Er fühlt sich glücklich, wie ein Kind mit Zuckerwatte, und noch weiß Richie es nicht, aber wenn ihn in Zukunft jemand fragt, wann er sich in Maxi verliebt hat, dann wird er diesen Moment nennen. Diese Begegnung, dieses beste, erste Toiletten-Date.

Der Bass dröhnt gegen Wände und Trommelfelle und der Schweiß tropft im wahrsten Sinne von der Decke der Bar. Stella und Richie stehen am Rand der gedrängten Tanzfläche, auf einen Song wartend, zu dem sie sich bewegen wollen. Schwitzend, obwohl sie sich bisher kaum bewegt haben, während Daniel und Anne Getränke holen.

»Wie läufts mit Anne?«, ruft Stella über die laute Musik hinweg.

Richie sieht sie mit einem Blick an, von dem er hofft, dass dieser deutlich ein sarkastisches »Ernsthaft?« formuliert.

»Tut mir so leid!« Stella verdeckt kurz ihre Augen mit der Hand. »Ich hatte echt keine Ahnung, dass sie so eine Schlaftablette ist.«

»Sie studiert Theologie und mag alles Mögliche. Was soll man da erwarten?«

»Ja«, gibt Stella zu. »Ein bisschen mehr Persönlichkeit darf’s dann schon sein.«

»Ich hoffe, dass wenigstens Daniel etwas davon abbekommen hat.« Richie stupst sachte mit seiner Schulter gegen Stellas.

»Aber halb so wild«, sagt er. Doch ehe er ihr von Maxi erzählen kann, brechen Daniel und Anne aus der Menge und halten den beiden ihre Getränke entgegen.

Anne scheint trotz allem einen Narren an Richie gefressen zu haben, denn sie drängt sich dicht an ihn, sieht zu ihm auf, als wolle sie ihm etwas sagen, doch Richie beschäftigt sich intensiv mit dem Strohhalm in seinem Cuba Libre, so dass Anne schließlich wegschaut. Einen Augenblick kommt Richie sich wie Dreck vor und ist sauer auf Stella, dass sie ihn in diese unangenehme Situation gebracht hat. Es ist nicht Richies Art, gemein zu anderen zu sein, aber Anne entspricht wirklich nicht seinem Schlag Mensch. Keine Interessen, keine Vorlieben, ein transparentes Abziehbildchen einer Gesellschaft, um deren Normen Richie stetig versucht, einen Bogen zu machen. So wenig normal wie möglich will er sein. Trotzdem muss auch Richie sich eingestehen, dass es ihm manchmal den Schlaf raubt, wie normal und konventionell er letztlich dann doch ist.

Da Daniel und Stella sich angeregt über etwas unterhalten, für das Anne offenbar auch kein Interesse hat und sie ihm leidtut, gibt er sich einen Ruck und hält ihr sein Glas hin, um anzustoßen.

Zurückhaltend stößt sie ihr Glas gegen seines und fast wie aufs Stichwort schmeißt der DJ einen Song an, bei dem Richie nur schwer stillstehen kann. Darum packt er Anne an ihrer freien Hand und zieht sie auf die Tanzfläche. Tatsächlich scheint immerhin tanzen etwas zu sein, das zu allem Möglichen gehört, das sie mag. Sie scheint sichtlich Spaß zu haben, bewegt selbstsicher ihre Hüften im Takt, wirft an den richtigen Stellen elegant die Arme über den Kopf und bewegt sich gewandt zusammen mit Richie zum Rhythmus der Musik.

Der DJ spielt nun einen Hit nach dem anderen, Richies Shirt ist längst schweißgetränkt, Daniel sorgt für eine neue Runde Getränke und mit jedem Cuba Libre mehr im Blut ist es Richie ein bisschen egaler, wie langweilig Anne ist. Tanzen kann sie und er genießt den Körperkontakt zwischen sich und ihr und all den anderen auf der Tanzfläche. Die Stimmung in der Bar wird ausgelassener, es wird lauter. Auch Daniel und Stella tanzen nun, so dass Richie nicht mehr die gesamte Aufmerksamkeit von Anne hat. Er macht sich auf den Weg zur Theke, um die nächste Runde zu besorgen. Bleibt hier und da bei einem bekannten Gesicht stehen, mit dem er sich einen Moment unterhält, um sich schließlich geschafft an die Theke zu stützen, als er endlich dort angekommen ist.

Auf seinem unteren Rücken spürt Richie eine Hand, wie eine freundliche Begrüßung, ein sanftes Erkennengeben, was ihm einen angenehmen Schauder über die Wirbelsäule treibt. Im ersten Moment denkt Richie, Stella sei ihm gefolgt oder vielleicht sogar Anne, aber als er sich umdreht, strahlt ihm das Zahnpastawerbelächeln entgegen.

»Dann hätten wir es ja doch bei dem ›wir sehen uns‹ belassen können.« Maxi grinst Richie an und Richie schämt sich etwas, dass er so durchgeschwitzt ist und ihm die Haare an der feuchten Stirn kleben. Trotzdem freut er sich, Maxi zu sehen, und strahlt ebenfalls übers ganze Gesicht.

»Bist du allein hier?«, fragt Maxi. Richie schüttelt den Kopf, ruft »mit ein paar Freunden« über die Musik und die Gespräche hinweg. Er deutet vage in die Richtung in der er die anderen tanzend zurückgelassen hat. »Und du?«

Maxi schüttelt ebenfalls den Kopf, deutet ebenso vage in eine andere Richtung und ruft: »Kollegen.«

Und als hätten sie beide mit »ja« geantwortet, fragen sie gleichzeitig: »Willst du was trinken?«

Sie müssen lachen und Richie sagt: »Gut, ich die erste Runde, du die zweite.«

»Zwei sichere Drinks mit dir. Sehr gut.« Maxi lehnt sich sichtlich zufrieden neben Richie an die Theke.

»Du kommst also von hier?«, fragt Maxi.

Woraufhin Richie nickt und entgegnet: »Genau wie du?«

Auch Maxi nickt, was zu einem kleinen Hüpfer in Richies Bauch führt, ähnlich dem Gefühl, wenn man als Kind mit dem Fahrrad mit voller Absicht über einen kleinen Hubbel gefahren ist. Für gewöhnlich ist der Wohnort keine relevante Information, um mit jemandem zu schlafen. Doch dass Maxi in der gleichen Stadt wohnt, macht Richie irgendwie glücklich.

»Und du und Miss Alles Mögliche? Wie läuft’s?«

»Immerhin kann sie tanzen«, sagt Richie anerkennend.

»Oh, ein Tänzer, sehr schön«, sagt Maxi und ein Lächeln huscht über seine Lippen. Richie ist fasziniert davon, wie Maxi Informationen über Richie aus dem Gespräch filtert.

»Wird sie dich vermissen?«, fragt Maxi nun.

Richie kann nicht widerstehen und antwortet großspurig: »Ziemlich sicher. Ich bin ein ganz schön guter Fang, aber ich habe nun mal einen viel interessanteren Menschen getroffen.«

Maxi nimmt Richie das Glas ab und stellt es zusammen mit seinem auf die Theke, packt dann seine Hand und zieht Richie in Richtung Ausgang. Hinaus in die kühle Nachtluft und Richie hat das Gefühl, als ob sein aufgeheizter Körper laut zischt und dampft. Doch ehe er weiter über zischende und dampfende Körper nachdenken kann, sind sie um eine Ecke gebogen, stehen in einer dunklen Gasse, Maxi dicht vor ihm. Er sieht Richie von oben herab an, ohne dass es von oben herab wirkt. Richie nimmt die Bewegung seiner Lippen und seines Kiefers in Zeitlupe wahr, als Maxi schluckt. Sein Blick in Richies Augen, auf Richies Mund, wieder in Richies Augen. Eine stille Frage, eine Bitte darum, eintreten zu dürfen, und Richie bestätigt mit einem Nicken. Im nächsten Moment liegt seine Hand an Maxis Hinterkopf und zieht ihn zu sich. Richie spürt nichts mehr von der frischen Luft, spürt nur noch Maxis Körper, der sich an seinen drückt, Maxis Hände auf seinem Rücken und seiner Wange und schließlich Maxis Lippen auf seinen. Vorsichtig, begrüßend, erkundend und dann immer verlangender. Ihre Zungen berühren sich, ebenso vorsichtig, begrüßend, erkundend.

Tiefe Atemzüge, die gelegentlich zu einem leisen Stöhnen werden. Hände, die Stoff und bald Haut berühren. Erst unbeabsichtigt, schließlich mit voller Absicht.

Ein Pfiff ertönt und ruft Richie vage in Erinnerung, dass sie nicht allein, sondern neben einer Bar sind. Maxi drückt Richie von sich weg gegen die Wand des Gebäudes. Die Hand auf Richies Brust gepresst. Nicht, um Richie fernzuhalten, sondern um sich selbst zurückzuhalten.

»Wohnst du in der Nähe?«, fragt Maxi und seine Stimme klingt rau, ein bisschen grob, als müsse er sich mühevoll an Sprache und Worte erinnern. Richie schüttelt den Kopf. Maxis Mund verzieht sich. Ein kurzes Zögern, ein Abwägen, aber dann sagt Maxi: »Gut, komm mit.« Erneut nimmt er Richies Hand und zieht ihn hinter sich her. »Wir gehen zu mir.«

Obwohl sie es beide eilig haben, können sie es nicht lassen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie roten Ampeln und dunklen Straßenecken, eine Pause zu machen, um sich zu küssen. Vergessen wo sie sind, ehe sie sich zusammenreißen und den Weg fortsetzen.

Sie küssen sich die dunklen Straßen entlang durch die Stadt, küssen sich beim Türaufschließen, küssen sich die Treppe hoch, durch eine Wohnungstür, bis in ein Bett, von dem Richie nichts wahrnimmt, außer dass es perfekt dafür gemacht ist, Maxi zu küssen und zu streicheln und zu entdecken. Es ist ein über- und ein untereinander, mit rauem Lachen, weil Richie mit seinen aufgeregten Fingern Maxis Hemd nicht aufknöpfen kann oder Maxis Fuß beim Ausziehen in der Hose hängen bleibt. Ein Versuchen und Testen, bis sie beide ihre gemeinsame Wellenlänge gefunden haben und zu einem miteinander werden. Alles begleitet von Küssen, die sich überall ausbreiten. Bis sie schließlich geschafft, aber zufrieden nebeneinander liegen.

»Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht unglaubwürdig, aber … ich mache sowas normalerweise nicht«, durchbricht Maxis Stimme den Rhythmus ihres ruhiger werdenden Atems. Der Klang hängt im Raum, hängt in der Dunkelheit und wartet darauf, dass er sich irgendwo ablegen kann.

»Ich schon«, gesteht Richie, damit der Klang von Maxis Stimme nicht mehr allein ist.

Am Morgen danach

Allein in einer fremden Wohnung aufzuwachen, ist neu für Richie. Für gewöhnlich bleibt er nicht über Nacht. Das Bett neben ihm ist leer, die Decke umgeschlagen und die Wärme von Maxi, der dort geschlafen hat, längst mit ihm fort. Während Richie sich anzieht, möchte er ein Bild von Maxi bekommen. Woran er bei seinen sonstigen Treffen kein Interesse hat, interessiert ihn heute besonders. Ohne zu stöbern inspiziert Richie die Wohnung – saugt jede Information über Maxi auf, die er bekommen kann. Die Bettwäsche ziert ein Muster aus schlichten, grauen Quadraten, an den Wänden hängen drei gerahmte Filmposter aus der Star Wars-Reihe. Neben dem Nachttisch, der von der Holzart nicht zum Schreibtisch passt, stapeln sich Romane. Ein Stapel, dessen Buchrücken in den Raum zeigen, ein zweiter Stapel daneben, dessen Buchrücken zur Wand gedreht sind. Richie überfliegt ein paar Titel. Als er genug Bücher entdeckt hat, die er zumindest vom Namen her kennt, wendet er sich dem Schreibtisch zu. Das meiste darauf wird von einem Pullover verdeckt, der darüber geworfen wurde. Ohne zu wühlen kann Richie nichts erkennen außer zwei Ordnern und ein paar geöffneten Briefumschlägen, die nach Rechnungen aussehen.

Vorsichtig öffnet Richie die Tür zum Nebenraum und blickt in eine Wohnküche. Sie ist leer und da es nicht wirkt, als könnte Richie irgendwelchen Mitbewohnern in die Arme laufen, traut er sich aus dem Zimmer.

Auf dem Esstisch findet Richie einen Zettel, der mit seinem Namen beginnt. Darum nimmt er ihn, braucht aber etwas, bis er die schreckliche Handschrift entziffert hat.

»Richie, musste zur Arbeit. Mach dir ruhig Kaffee. Wir sehen uns.« Darunter ein Smiley und etwas, das man als Herz deuten könnte. Richie reibt sich das Ohr.

Statt nach einer Kaffeemaschine, sieht Richie sich nach dem Bad um. Den Kaffee spart er sich. Allein in dieser fremden Wohnung zu sein fühlt sich nicht gerade gemütlich an. Viel eher fühlt er sich wie ein Fremdkörper, der hier eigentlich nicht hingehört. Darum schreibt er unter Maxis Nachricht: »Wir sehen uns« und macht sich dann auf den Weg in die Stadt.

Den ganzen Weg zum Café Kommod hat Richie über das Gekrakel von Maxi nachgedacht. Vielleicht war es gar kein Herz, sondern ein schnell hingeschmiertes M. Je mehr Richie darüber grübelt, desto sicherer wird er sich, dass es ein Buchstabe und kein Liebessymbol war. Wie dämlich. Sich so schnell den Kopf verdrehen zu lassen, dass er überall Herzen sieht. Er wirft einen schnellen Blick auf sein Handy. Keine Nachrichten oder Anrufe. Richie schüttelt über sich selbst den Kopf, ehe er das Café betritt und sich suchend nach Stella umblickt. Das Kommod ist gut besucht. Ein paar Mütter mit Kinderwagen, ein paar mit Tragetüchern, ältere Leute, allein mit einer Tageszeitung oder in geschwätzige Gespräche vertieft, ein Typ mit Laptop und am hinteren Fenster Stella, die eifrig auf ihrem Smartphone herumwischt.

»Da bist du ja endlich«, sagt sie fröhlich, als Richie sich auf den Stuhl neben ihr fallen lässt. »Lange Nacht gehabt?« Sie macht ein spitzbübisches Gesicht, die Lippen zu einem Schmollmund geformt. Sie kennt Richie gut genug, um zu wissen, dass er gestern Abend nicht ohne gutaussehenden Grund einfach verschwunden ist.

Richie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee, legt sein Handy nach einem weiteren prüfenden Blick auf dem Tisch ab und schaut dann aus dem Fenster auf die Allee und die vorbeifahrenden Autos und Fahrräder, als hätte er Stella gar nicht gehört.

»Komm schon!«, fleht Stella. »Spann mich nicht so auf die Folter. Gib mir Details!«

Richie platzt fast, so dringend möchte er Stella von Maxi erzählen, fragt aber zunächst: »Sind die anderen sehr sauer?«

Stella macht eine wegwerfende Handbewegung. »Anne hat sehr schnell ein neues Opfer gefunden und auch Daniel ist der Meinung, dass ihr beiden nicht so gut zueinander passt, wie wir dachten. Sie werden drüber wegkommen.«

»Aber bei dir und Daniel ist alles gut? Ich wollte nämlich nicht … der Plan war ja, dass er merken soll, dass du es ernst meinst und –«

»Wir sind jetzt zusammen«, platzt es aus Stella heraus und sie strahlt übers ganze Gesicht.

»Na endlich«, freut sich Richie mit ihr, drückt kurz ihre Hand, die auf dem Tisch liegt. Erwischt sich dabei, dass er schon wieder prüfen möchte, ob er eine Nachricht bekommen hat.

»Aber jetzt erzähl endlich, wer dein Herz erobert hat«, fordert Stella.

Richie schnaubt abwehrend. »Niemand«, sagt er. »Mein Herz kann man nicht erobern.«

Stella hebt lächelnd ihre Augenbrauen, nimmt einen Schluck Kaffee und lässt Richie dabei nicht aus den Augen.

»Hör auf, mich so anzugucken. Es war nur Sex.«

»Mh-hm«, macht Stella und es ist sehr deutlich, dass sie Richie nicht glaubt. »Weißt du, du hast«, Stella macht mit ihren Fingern vor Richies Gesicht eine flatternde Bewegung. »Dieses Glitzern. Das war lange nicht da, aber ich hab’s sofort erkannt, als du reingekommen bist.«

»Du hast nicht mal geguckt, als ich reingekommen bin«, widerspricht Richie trocken und schiebt ihre Hand weg. Stella lächelt milde und sie bestellen neuen Kaffee und ein kleines Frühstück.

»Jetzt erzähl schon endlich, mit wem du abgehauen bist.«

»Okay, okay«, sagt Richie. Er stützt sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab, sein Blick schweift erneut aus dem Fenster, während er redet. »Ich hab ihn gestern zufällig im Restaurant getroffen und wir sind ins Gespräch gekommen. Auf der Party sind wir uns dann wieder über den Weg gelaufen und wir haben uns ganz gut verstanden und … na ja.« Richie sieht wieder Stella an. Sie schaut ihn mit großen Augen an, die Lippen zusammengepresst, in dem Versuch ihre Begeisterung im Zaum zu halten.

»Was?«, fragt Richie.

»Dir ist klar, dass du grinst wie ein Kind im Süßigkeitenladen?«

Richie verzieht sein Gesicht, um Stellas Aussage zu entkräften. »Tu ich nicht.«

»Wenn du meinst«, sagt sie nur und leert ihre Tasse, damit die Bedienung, die ihre Bestellung bringt, sie mitnehmen kann. Richie nimmt sein Handy vom Tisch, um Platz zu machen. Tippt ohne nachzudenken das Display an, um zu prüfen, ob eine Nachricht gekommen ist.

Maxi – 2 Nachrichten. Richie merkt, wie seine Mundwinkel nach oben wandern, unkontrolliert wie ein Reflex, den er nicht beherrschen kann.

»Mist«, sagt er. Zum einen, weil Stella es gesehen hat, zum anderen, weil er sich doch sonst nicht verliebt.

»Ist doch nicht schlimm«, sagt Stella. Sie knufft Richies Schulter, will ihm zeigen, dass es wirklich kein Weltuntergang ist, wenn er sich mal wieder verliebt. Richie weiß, dass sie vermutlich recht hat. Aber für ihn fühlt es sich an, als würde er die oberste Treppenstufe auf dem Weg nach unten verfehlen. Man weiß, dass man stürzt, noch ehe es begonnen hat. Der Magen rauscht schneller nach unten als der Rest des Körpers. Stella nennt das Verliebtsein. Richie macht es schlichtweg Angst.

»Wie heißt er bei Instagram?«, fragt Stella und zieht ihr Handy hervor.

»Keine Ahnung«, gibt Richie zu.

Enttäuscht lässt Stella ihr Handy wieder sinken. »Ich kann ihn mir nicht mal bei Instagram ansehen?«

Richie schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung, ob du ihn da überhaupt finden würdest.«

»Richie Krienhagen, bist du etwa mit einem völlig Fremden mitgegangen?« Stella hat den Kopf schiefgelegt und die Hände mahnend in die Seite gestemmt.

Unwohl kratzt Richie sich an der Schläfe. »Er ist nicht völlig fremd. Ich weiß, dass er Rockmusik und indisches Essen mag.«

»Super, das hätte bei der Suche nach deiner Leiche sicherlich sehr geholfen. Mann, Richie, du hast den Kodex nicht eingehalten«, schimpft Stella. »Du weißt doch: We–«

»Wenigstens den Namen oder die Adresse schicken«, beendet Richie gequält den Satz. »Keine Ahnung. Das war so …« Richie fährt sich durch die Haare, versucht ein passendes Wort zu finden. »Intensiv. Mein Hirn war komplett ausgeschaltet. Genauso wie mein Schutzpanzer.« Geschafft lehnt Richie sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, pult ein paar Körner von seinem Brötchen.

»Meine Güte«, sagt Stella. »Sogar dein Schutzpanzer?«

Richie nickt. »Scheint so.«

»Trefft ihr euch wieder?«

Richie fährt mit dem Finger über den Rand seiner Tasse, zieht immer wieder Kreise auf ihr. »Nein, denke nicht«, antwortet er.

»Was? Warum nicht?« Stellas Stimme ist vor Entrüstung einen Tick zu laut. »Ich meine, da war doch ganz offensichtlich was, wenn weder Hirn noch Schutzpanzer aktiv waren.«

»Und genau deswegen werd’ ich ihn nicht noch mal treffen«, sagt Richie bestimmt. »Außerdem weiß ich ja gar nicht, ob er mich auch mag«, fügt er kleinlaut hinzu und kommt sich vor als sei er wieder vierzehn und voller Pickel und Unsicherheiten.

»Er hat dir doch geschrieben. Sieh nach, was drinsteht.« Stella zuckt mit den Schultern und beißt von ihrem Brötchen ab.

Richie drückt einige Male seinen Finger gegen seinen Mund, während er überlegt, ob er die Nachrichten lesen soll, zieht schließlich das Handy hervor.

Keine Ahnung ob’s cool war, den Zettel hinzulegen. Und dann auch noch mit einem Herz.

Bei dem Wort Herz muss Richie lächeln. Es war tatsächlich ein Herz und kein Buchstabe und das gefällt ihm irgendwie.

Jedenfalls fand ich dich echt nett und würde dich gerne besser kennenlernen. Vielleicht bei nem Kaffee? Magst du Kaffee? M

Richie scrollt zur zweiten Nachricht.

Ach. Du. Scheiße. Habe ich gerade nett geschrieben? Unfassbar. Du warst in meinem Bett, ich finde dich MEHR als nett! M

»Du magst ihn«, sagt Stella, die Richies Gesicht beim Lesen der Nachricht beobachtet hat. »Triff dich mit ihm.«

»Aber was, wenn –«

»Richie, ich weiß, in deinem kleinen Kokon ist es supersicher und so, aber du hast wegen einer Nachricht von jemandem lange nicht so dämlich gegrinst. Triff dich mit ihm. Vielleicht lässt du es endlich mal wieder zu und guckst was passiert«, schlägt sie vor.

»Das gibt nur Ärger«, entgegnet Richie gepresst und in seinen Gedanken flackert für einen Augenblick eine Erinnerung an Ravioli auf. Er kann das Treppensturzgefühl doch nicht einfach ignorieren.

Den ganzen Tag hat Richie überlegt, was er Maxi antworten soll.

Sie haben sich gut verstanden und hatten eine tolle Nacht miteinander. Aber reicht das?

Jetzt wäre es noch so einfach, Maxi sofort wieder aus seinem Leben zu stoßen. Den Schutzpanzer hinter ihm zu schließen. Dass Maxi so geschickt hineingekommen ist, ist bedrohlich. Richie hat das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben und das gefällt ihm überhaupt nicht. Wenn er Maxi jetzt von sich stößt, hat er sie wieder zurück. Ohne Verluste. Jedenfalls ohne große Verluste auf seiner Seite.

Und doch … Es war ein Herz und kein M. Was für ein Mensch macht sowas? Jedenfalls kein herzloser Aufreißer. Und Maxi wirkt wirklich nicht wie ein hinterhältiger Playboy. Aber das tun sie nie!

Richie tigert in seinem Zimmer auf und ab. Beginnt in einem Buch zu blättern, zappt sich durchs Fernsehprogramm, wechselt dann doch lieber zum Musikhören, kann sich aber auf nichts so richtig konzentrieren und beginnt von vorne. Alles was ihm sonst Ruhe bringt, schlägt fehl.

Schließlich hat er das Gefühl, sein Zimmer sei geschrumpft und erdrücke ihn und Richie geht zu Nana ins Wohnzimmer. Im Fernsehen läuft eine der Vorabend-Soaps, aber Nana sieht gar nicht hin, sondern sitzt am Tisch vor ihren Porzellanscherben. Sie blickt kurz auf, als Richie hereinkommt. »Alles gut bei dir, Prinz?«

Richie brummt nur, sackt auf die Couch und lässt sich einen Moment von der Soap berieseln. Eine Blondine ohrfeigt einen Mann und sie beschimpft ihn wütend, wegen einer anderen Frau.

»Was ist los?«, hakt Nana nach, in der einen Hand die Scherbe einer grauen Tasse, in der anderen eine Tube mit Klebstoff.

»Da ist dieser Typ«, beginnt Richie und Nana sieht ihn mit großen Augen an, was Richie stocken lässt. »Erzähl weiter«, fordert Nana und konzentriert sich wieder darauf, die Tasse zusammenzukleben.

»Er will irgendwie mehr und ich weiß nicht. Eigentlich besser nicht. Aber vielleicht ja doch. Es könnte ja – argh!« Richie kippt auf die Seite und drückt sich ein Kissen ins Gesicht.

»Und wenn du dich einfach mal mit ihm triffst und ihn besser kennenlernst und guckst, was passiert?«, schlägt Nana vor.

»Das hat Stella auch gesagt.« Richies Stimme ist dumpf vom Kissen.

Nana drückt das mit Klebstoff versehene Porzellanstück an die Stelle der Tasse aus der es herausgebrochen ist. »Dann steht’s zwei gegen eins«, sagt sie.

Richie zieht das Kissen von seinem Gesicht und starrt an die Decke. »Als ob ich keine Meinungsfreiheit hätte.«

Nana lacht. »Doch, natürlich. Aber die Tatsache, dass du so viel darüber nachdenkst, ist vielleicht schon deine Antwort.«

»Da sitzt sie, klebt kaputte Tassen zusammen und redet daher wie so ein Yoda.«

Wieder lacht Nana. »Vielleicht telefonierst du einfach mit ihm. So kann man sich ja auch besser kennenlernen.«

Und tatsächlich wirkt telefonieren weniger verbindlich auf Richie als ein Treffen. Er setzt sich auf. Nickt ein wenig vor sich hin, weil es ihn beruhigt und dabei hilft, dass die Zuversicht nicht sofort wieder von seinen negativen Gedanken zerschlagen wird. Er zieht sein Handy aus der Tasche und liest zum zigsten Mal Maxis Nachricht.

Es war ein Herz, kein M. Ein Herz.

Also atmet Richie einmal tief ein, saugt jedes Quäntchen Mut aus der Luft, das da rumschwirrt und tippt auf den Hörer neben Maxis Namen, um ihn anzurufen.

---ENDE DER LESEPROBE---