zwo-eins-zwo - Ludwig Schlegel - E-Book

zwo-eins-zwo E-Book

Ludwig Schlegel

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Beschreibung

Jens Mander, EDV-Berater und Computerfachmann lebt mit seiner Frau und seinem Hund in Berlin Schöneberg. Während eines Hundespaziergangs stolpert er über eine Leiche. Bevor die Polizei eintrifft, ist der Tote aber wieder verschwunden und findet sich erst anderntags auf dem Friedhof an der alten Dorfkirche wieder ein. Nachdem der Tote aus dem Park als Arbeitskollege seines Sohnes identifiziert wird, stellt Jens auf Bitten seines Sohnes eigene Ermittlungen an. Als Mander erneut eine Leiche im Rudolph-Wilde-Park findet, nimmt er Verbindung zu dem Teil seiner Vergangenheit auf, mit dem er eigentlich abgeschlossen hatte. Ein erster Verdacht lenkt Manders Recherchen in Richtung internationaler Handel mit Spenderorganen. Zusammen mit ehemaligen Arbeitskollegen, seiner Jugendfreundin Rika und einem Kripobeamten arbeitet er sich durch ein Gestrüpp aus organisiertem Verbrechen, Geheimdienst, Rechtsextremismus und Bioterrorismus. Weder ein Überfall noch ein Attentat mit einem Auto können Jens Manders Ermittlungen stoppen und so kommt es schließlich zum Showdown auf dem Innsbrucker Platz in Berlin-Schöneberg .

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum

zwo-eins-zwo Der Leise Tod

© 2015 Ludwig Schlegel

Mail: [email protected]

Twitter : https://twitter.com/lgschlegel

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-5579-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

das Buch

Jens Mander, EDV-Berater, Unix- und Datenbankadministrator und Wahlberliner, führt  mit seiner Frau und seinem Hund in Berlin Schöneberg ein ziemlich unspannendes Leben.

Dies ändert sich mit einen Schlag, als er im Abstand von einigen Tagen im nahegelegenen Rudolf-Wilde-Park über zwei Leichen stolpert.

Zur gleichen Zeit wird ein Arbeitskollege seines Sohnes vermisst. Jens macht sich auf die Suche und muss feststellen, dass einer der Toten der vermisste Arbeitskollege war.

Selbst neugierig geworden und auf Bitten seines Sohnes, versucht er die Todesfälle selbst aufzuklären. Mit Unterstützung durch ehemalige Kollegen und seiner Jugendfreundin recherchiert Jens Mander in einer Welt, mit der er eigentlich abgeschlossen hatte. Nach einigen Umwegen stößt er auf das tödliche Geheimnis der beiden Toten und die kriminellen Machenschaften einer nationalistischen Gruppe.

der Autor

Ludwig Schlegel, Jahrgang 1954, lebt und arbeitet seit etwa 10 Jahren in Berlin-Schöneberg. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Unix- und Datenbankadministrator ist er im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs, und wenn er keine Kunden berät oder Server administriert, dann erstellt er als technischer Redakteur Dokumentationen und Handbücher.

„zwo-eins-zwo Der Leise Tod“ ist sein erster Roman.

Danksagung

Ich möchte mich bei all den Menschen bedanken, die mich während der Zeit, in der dieses Buch entstand, durch die Höhen und Tiefen der Schriftstellerei begleitet haben.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Hannelore für ihr Verständnis und ihre Geduld, wenn ich mehr Zeit mit meinem Notebook als mit ihr verbrachte.

Mein Dank gilt aber auch Savina, die meiner Rechtschreibung auf die Beine geholfen hat.

Es gibt keine Unschuldigen,

es gibt nur unterschiedliche Abstufungen von Verantwortung

Prolog

Wer mit offenen Augen durch die Berliner Parkanlagen und Straßen schlendert, dem werden an Bäumen des Öfteren mal kleine weiße Schildchen mit einer schwarzen Nummer auffallen. Diese Schildchen sind das Ergebnis einer Maßnahme des Berliner Senats, während der einige Hundert Berliner und Berlinerinnen alle Bäume der Stadt inventarisierten.

Jeder Baum hat eine Nummer und im Rudolph-Wilde-Park ist der Baum mit der Nummer 212 eine Weide und steht im westlichen Teil des Parks am rechten Uferrand des Ententeichs.

Dieser Ententeich, der ursprünglich zum sogenannten Schwarzen Graben gehörte, war ein Entwässerungskanal des Berliner Urstromtals und reichte vom heutigen Nollendorfplatz bis weit nach Wilmersdorf.

Der Schwarze Graben, den die Schöneberger wegen seiner Funktion als Abwassergraben auch Fauler Graben nannten, wurde Achtzehnfünfundsiebzig zugeschüttet.

Heute erinnern nur mehr der Ententeich und einige grabenähnliche Senken an die stinkende Existenz des Schwarzen Grabens.

Dieser Roman ist eine Fiktion.

Auch wenn dieser Roman teilweise auf Tatsachen basiert, sind die Firmen, Organisationen und Behörden entweder fiktiv oder wenn real, in einem fiktiven Zusammenhang verwendet. Es besteht keine Absicht, ihr tatsächliches Verhalten zu beschreiben.

Die handelnden Personen in dieses Buch sind der Fantasie des Autors entsprungen und nicht real. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und vom Autor nicht gewollt.

Namentlich genannte Personen der Zeitgeschichte werden nur in der historisch belegten Bedeutung erwähnt. Für die Handlung selbst sind diese Personen ohne Bedeutung.

Marken und Produkte sind Eigentum der jeweiligen Hersteller und werden nur im funktionalen und wertungsfreien Sinn verwendet

Montag, 4. November

Es gibt Tage, an denen lohnt es sich nicht aufzustehen.

Diese Erkenntnis war für Jens Mander nicht neu. Zeit seines Lebens hasste er diese Tage und dieser Montag war ein solcher Tag.

Um halb sieben, nach einer kurzen Nacht, holte ihn eine fröhliche Stimme am Telefon aus dem Schlaf um sich dann freundlich mit „Sorry - da hab ich mich verwählt“ zu entschuldigen. Dazu kam, dass er schon seit mehreren Tagen Kopfschmerzen hatte. Drei-Tages-Kopfschmerzen waren nichts Neues für Jens und manchmal nannte der diese Zeit in einem Anflug von Selbstironie auch „seine Tage“. An diesem Tag fiel aber auch sein Hund negativ aus ihrer Rolle. Ayla, ein grosser Schweizer Sennhund, war sonst die Langschläferin, die nicht vor Zehn aus dem Haus wollte. Ausgerechnet an diesem Morgen begann sie »ihr Herrchen« zu tyrannisieren. Das volle Programm mit Bettdecke wegziehen, die Zehen abschlabbern, mit den Pfoten aufs Bett springen.

Soviel Aufdringlichkeit war für Jens Mander dann doch zu viel und so quälte er sich aus dem Bett und floh in Richtung Bad um sich, wie er immer zu sagen pflegte, „zu hübschen“ und dann anzuziehen.

Eigentlich war zuerst eine Tasse Kaffee und ein Blick in die Tageszeitung fällig, aber heute änderte sein Hund die Reihenfolge.

Nach einer nahezu sternenklaren Nacht im November war es schon ganz schön schattig, als Jens von seiner Hündin Ayla über die Straße in den Rudolf-Wilde-Park in Berlin-Schöneberg geschleppt wurde. Er hatte seine Augen zumindest soweit offen, dass er nicht blindlings über den Bordstein stolperte.

»Mal seh‘n wie weit sie mich heute jagen will«, murmelte Jens vor sich hin und trottete hinter seinem Hund her. Mit der Nase knapp über dem Boden marschierte sie zielstrebig in den Park, quer über eine Wiese in Richtung Ententeich an der Carl-Zuckmayer-Brücke. Etwa fünf Meter vor einem alten Weidenbaum blieb sie wie angewurzelt stehen und fing an zu knurren.

Vielleicht war es der Dunkelheit oder den Kopfschmerzen geschuldet, dass Jens Mander erst auf den zweiten Blick die Situation richtig einschätzen konnte.

Auf dem Weg lag eine schwarze Sporttasche und eine Gestalt lag zu Füssen des Baums mit der Nummer Zweihundertzwölf.

Mit einem Schlag war Jens Mander hellwach.

Am Baum lag etwas, das wie ein Mensch aussah. Ein männlicher Mensch. Auf die Distanz und im Strahl der Taschenlampe schien der schwarz gekleidete, männliche Mensch zu schlafen.

„Ach Gott, ein besoffener Penner“, murmelte Jens und wollte schon wieder an die Stelle zurück an der Ayla immer noch knurrend stand. Jens drehte sich nochmals um, stellte den Fokus seiner Taschenlampe auf Punktstrahl und leuchtete in Richtung des Mannes.

Keine Reaktion. Das war bei dem starken Licht merkwürdig.

Dieser Mensch rührte sich nicht. Er lag ausgestreckt vor dem Baum in stabiler Seitenlage. Das linke Knie angezogen, das rechte darüber gelegt, ein Arm unter dem Körper nach hinten und der andere Arm vor der Brust, den Kopf nach hinten gebeugt.

„So legt sich kein Mensch schlafen“, murmelte Jens.

Trotz der hellen LED-Taschenlampe konnte Jens das Gesicht des Mannes nur teilweise erkennen. Es machte einen blassen, fast weißen Eindruck, obwohl er offenbar von dunkler Hautfarbe war. Spätestens jetzt, als er ihm direkt ins Gesicht leuchtete, hätte eine Reaktion erfolgen müssen. Nichts - keine Reaktion, kein Blinzeln, kein gar nichts - bewusstlos oder tot - auf jeden Fall war das eine Sache für die Polizei.

Vom Fundort bis zu seiner Wohnung in der Freiherr-vom-Stein-Straße waren es nur rund zweihundert Meter. Aber zweihundert Meter können mit einem unwilligen Hund an der Leine eine lange Strecke sein und so brauchte Jens Mander fast zehn Minuten bis zu seiner Wohnung.

Eins-Eins-Null - Polizeinotruf.

Sachlich und völlig unaufgeregt setzte Jens die Stimme am Notruf über die Erlebnisse der letzten Viertelstunde in Kenntnis und bekam den Bescheid, dass ein Funkwagen unterwegs sei. Jens schlug als Treffpunkt den Parkeingang Innsbrucker Straße / Carl-Zuckmayer-Brücke vor.

Es dauerte nach dem Telefonat knapp fünf Minuten, Jens Mander hatte gerade den Treffpunkt erreicht, als ein Auto mit quietschenden Reifen aus der Martin-Luther-Straße kommend in die Fritz-Elsas-Straße einbog und sich seinem Standort näherte. Mit einer Vollbremsung, die nochmals einen Millimeter Gummi vom Reifen rubbelte, kam vor Jens ein VW-Passat zum Stehen.

Nun hat man ja von zivilen Polizisten so seine Vorstellung: salopp gekleidet, lässiges Auftreten. Aber die zwei aus dem Passat waren entweder keine Polizisten, die schlimmsten Penner Berlins oder hatten sich gerade aus einem Kleidersammel-Container bedient.

Der Beifahrer, der als erster bei Jens war, stellte sich als Kriminalkommissar Mäurer und mit dem Daumen über seinen Rücken zeigend den Fahrer als Kriminalobermeister Reuter vom Kriminaldauerdienst vor.

Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, ließ er gleich einen Stapel Fragen ab: „Wie heißen Sie?, Wo wohnen Sie?, Kann ich Ihren Personalausweis sehen?“ und „Was machen Sie um die Zeit im Park?“

Nun hatte Jens nicht ausgeschlafen, er hatte Kopfschmerzen und das ausgeschüttete Adrenalin war auch noch nicht ganz verbraucht. Mit anderen Worten, der Bürger Jens Mander war auf Krawall gebürstet.

„Kümmern Sie sich nicht um mich, kümmern Sie sich lieber um den, den ich gefunden habe“, blaffte er Mäurer an. „Zirka hundert Meter von hier, im Park an einem Baum, männlich, bewusstlos oder tot und mir geht‘s gut.“

„Na, jetzt mal cool down“, mischte sich der Fahrer des Passat ein. „Wir begleiten Sie jetzt zum Fundort und dann schaung mer mal, dann wiss‘mer mehr.“ Das »schaung mer mal« klang aus dem Mund des Fußballkaisers Franz Beckenbauer ganz witzig, aber aus dem Mund eines berlinernden Polizisten war es einfach lächerlich. Und so lachte Jens auch ganz laut. Auch der Herr Kommissar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Die beiden holten ihre MAG-LITE-Taschenlampen aus dem Passat und dann machten sich die drei auf den Weg.

Es war keine zwanzig Minuten her, seit Jens die Entdeckung gemacht hatte, aber zwischenzeitlich hatte sich was geändert: der Mann war weg. Einfach verschwunden. Zwar lag die Sporttasche noch auf dem Weg, aber der Mann, der war weg.

Jens leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Stelle, an der vor knapp zwanzig Minuten der Mann lag.

„Da lag er“, sagte Jens und blieb stehen, während die beiden Polizisten weiter gingen. Die beiden umrundeten den Baum, leuchteten mit ihren Lampen in und unter die angrenzenden Büsche und immer wieder auf den Boden.

Nach einigen Minuten des erfolglosen Suchens kamen sie wieder zurück und Mäurer leuchtete den Baum an.

„Hatten Sie was angefasst?“, fragte er und ging zu der Tasche.

„Nein“, sagte Jens. „Nein, ich habe mich nur auf den Mann konzentriert.“

Bevor Mäurer die Tasche untersuchte, streifte er sich Latexhandschuhe über. Vorsichtig betastete er die Tasche von außen ab. „Klamotten“, murmelte er. „Mal gucken was wirklich drin ist.“

Vorsichtig zog er am Reißverschluss, erst ganz behutsam und dann immer forscher.

„Klamotten“, sagte er jetzt laut, als die Tasche offen vor ihm lag und es klang, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. „Eine Reisetasche mit Klamotten“, wiederholte er.

Mäurer nahm sein Funkgerät aus der Jackentasche und begann eine Meldung an die Zentrale abzusetzen. „Geh mit dem Herrn schon mal zum Wagen und nimm seine Aussage auf. Ich warte hier auf die Kollegen von der Spurensicherung.“

Jens hatte den Eindruck, als solle er nicht hören, was da gesprochen wurde und so war Jens schon gut fünfzig Meter weg, als Mäurer mit gedämpfter Stimme das Gespräch wieder aufnahm.

Inzwischen war es schon fast sieben Uhr, aber es war immer noch dunkel. Reuter holte ein Klemmbrett mit Formularen aus dem Auto und setzte sich auf die Motorhaube des PKW.

„Nix für ungurd“, versuchte er wieder den Bayerischen Dialekt zu imitieren. „Wir sind heute schon das dritte Mal in der Gegend. Immer mit dem gleichen Notruf, dass ein Mann im Park liegt und immer mit dem Ergebnis, dass er weg ist, wenn wir erscheinen - die Tasche ist bisher das einzige, was wir haben.“

Inzwischen hatte er aus dem Formularstapel auf dem Klemmbrett das richtige Formblatt rausgezogen und an oberster Stelle neu eingeklemmt.

„Name und Anschrift“, begann Kriminalobermeister Reuter die Befragung des Jens Mander, ohne den Blick von seinem Formular zu nehmen.

„Jens Mander, Freiherr-vom-Stein-Straße, Berlin.“

„Nun erzählen Sie mal.“

Jens legte mit seinem Bericht los - mit Uhrzeit und ziemlich ausführlich und Reuter machte sich dabei Notizen, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Steno?“, unterbrach Jens seinen Bericht.

Kriminalobermeister Reuter nickte und Jens berichtete weiter.

Während der Vernehmung war ein weiteres ziviles Polizeifahrzeug aus der Freiherr-vom-Stein-Straße kommend auf die Carl-Zuckmeyer-Brücke gefahren. Die gesamte Zeit, in der Jens seinen Bericht zu Protokoll gab, stand er mit dem Rücken zur Carl-Zuckmeyer-Brücke und so bemerkte er nicht, dass Kriminalkommissar Mäurer seinem Kollegen offensichtlich ein Zeichen gegeben hatte, die Vernehmung zu beenden.

Mit den Worten „Ich schreibe Ihnen die Wachbuchnummer auf, kommen Sie bitte in den nächsten Tagen aufs Revier und unterschreiben das Protokoll“, beendete Reuter ziemlich abrupt die Befragung.

„Und bringen Sie Ihren Personalausweis mit“, waren die letzten Worte, bevor er zu seinem Kollegen ins Auto stieg und mit quietschenden Reifen abfuhr.

Jens Mander ging nochmals auf die Brücke, von wo aus man den Fundort der Tasche und der verschwundenen Leiche einsehen konnte. Der Raum um die Tasche und den Baumstamm war zwischenzeitlich mit einem rot-weißen Band abgesperrt worden. Zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen waren dabei Fotos anzufertigen und einige Zuschauer waren auch schon da und hatten kleine Grüppchen gebildet.

Mittwoch, 6. November

In den letzten beiden Tagen hatte Jens Mander jede Menge beruflichen und privaten Stress zu bewältigen. Ein Kollege machte mit einem Sack voll Problemen Telefonterror; sein Hund hatte „Dünnpfiff“ und musste ständig „Gassi gehen“; zwei Telefoninterviews mit potentiellen Auftraggebern, auf die er sich vorbereiten musste.

Jens hatte keine Zeit für andere Sachen und so hätte er sein Erlebnis vom vergangenen Montag verdrängt.

Kurz vor zwölf rief sein Sohn Rahul an.

Jens und seine Frau hatten Rahul einige Jahre zuvor in einem indischen Restaurant kennengelernt. Irgendwann hatten sie dann festgestellt, dass sie mehr eine Vater-Sohn-Beziehung als eine Freundschaft pflegten. Jens hatte keine leiblichen Kinder, mit den angeheirateten gab es häufig Stress und so hatte er Rahul kurzerhand emotional adoptiert.

Telefonate mit Rahul liefen immer nach dem gleichen Muster ab.

Phase eins: man befragte sich gegenseitig nach dem Befinden.

Phase zwei: die Befragung über den jeweiligen Partner.

Die Phasen eins und zwei nahmen manches Mal die meiste Zeit des Telefonats in Anspruch.

Doch diesmal war es anders, Rahul kam ganz schnell zur Sache. In dem für ihn typischen Deutsch-Hindi Dialekt fragte er Jens, ob der ihm einen Gefallen tun könnte.

Bei Jens schrillten die Alarmglocken: Wenn Rahul so schnell zur Sache kam, war es meist was Wichtiges im Busch. Also fragte Jens, womit er ihm helfen könne.

Rahul erklärte ihm, dass seit Tagen einer der Köche des Restaurant spurlos verschwunden sei; er sei einfach nicht zur Arbeit erschienen und seit Montag wären auch seine persönlichen Sachen und Kleidung weg. Zur Polizei wolle man nicht, da es vielleicht Probleme mit der Ausländerbehörde geben könnte. Auch in der indischen Gemeinde war er auch nicht mehr gesehen worden.

Jens versprach, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Sache kümmern würde und mit einer Verabredung zum Abendessen an seinem nächsten freien Tag beendete er das Telefonat. Noch während er überlegte, was zu tun sei, kam per eMail eine Nachricht von Rahul mit dem Bild des vermissten Kochs.

Jens musste auf das Polizeirevier um das Protokoll vom Montag zu unterschreiben. Da nahm er sich vor, mal »jaaanz dumm« nach dem verschwundenen Koch zu fragen.

Kurz nach drei machte sich Jens auf den Weg zum zuständigen Revier in der Rudolfstädter Straße und erreichte die Polizeidirektion 2 Abschnitt 26 genau zum Schichtwechsel. Er nannte dem Wachhabenden seinen Namen und die Wachbuchnummer. Nach einem Blick ins Wachbuch zog er einen Ordner unter dem Tresen hervor, blätterte kurz darin, schlug ihn auf und schob Jens den Ordner und einen Kugelschreiber hin.

„Bitte durchlesen und auf der Rückseite unterschreiben - da wo Ihr Name steht“, sagte der Wachhabende und wandte sich einer anderen Aufgabe zu. Jens studierte das Protokoll. Es war die fast wortwörtliche Niederschrift seiner Aussage vom Montag und so kritzelte er seine Unterschrift auf die Rückseite, fügte noch Ort und Datum ein und schob den Ordner wieder in Richtung Diensthabenden, der immer noch mit einem anderen Dokument beschäftigt war und ihn keines Blickes würdigte.

Mit gespielter stoischer Ruhe blieb Jens am Tresen stehen und fing an, den Wachhabenden mit den Augen zu fixieren. Schon vor vielen Jahren hatte er festgestellt, dass Menschen, die so tun, als wären sie mit irgendwas beschäftigt, durch das unverwandte beobachtet werden, unruhig werden.

Auch hier war das der Fall und so fragte er Jens nach ein paar Minuten: „Unterschrieben? Gibt‘s sonst noch was?“

„Ja“, sagte Jens, zog sein Smartphone aus der Tasche, öffnete die Datei mit dem gespeicherten Bild und schob es ihm hin. „Ich suche den jungen Mann. Er ist seit fünf Tagen spurlos verschwunden und seine Freunde machen sich schon Sorgen.“

Der Wachtmeister wollte gerade zu einer Ansprache ansetzen, als Jens von hinten angesprochen wurde: „Heute ohne Hund?“

Es war der Mundart-Imitator vom Montag - Kriminalobermeister Reuter. Obwohl es offenbar freundlich gemeint war, hatte er Jens auf dem falschen Fuß erwischt und so antwortete er mit einem steifen und spitzen »Moin moin«.

Jens vermutete, dass Reuter schon eine Weile hinter Jens gestanden und dessen Frage gehört hatte, da er sofort nach dem Telefon griff und sich das Bild ansah. Mit der Zwei-Finger-Wisch-Geste vergrößerte er das angezeigte Bild und verschob die Anzeige so, dass der Kopf in der Mitte des Telefons war.

„Den kenn ich nicht, aber vielleicht die Kollegen von der Vermissten“, sagte er und verschob das Bild weiter. „Aber die Tasche könnte ich kennen“, meinte er und mit den Worten „und Sie auch!“, gab er Jens das Handy zurück.

Erst jetzt machte es bei Jens klick. Ja, die Tasche kannte er und plötzlich war ihm klar, was ihm an dem Bild schon die ganze Zeit merkwürdig vorkam.

„Jetzt, wo Sie‘s sagen - stimmt, das könnte die Tasche sein.“

„Mach mal das Gatter auf und sag Werner Bescheid“, rief er seinem Kollegen zu und fuhr dann zu Jens gewandt fort, „Wir gehen ins Büro!“

Jens bemerke, dass sich im Nacken von Kriminalobermeister Reuter urplötzlich ein paar rote Flecken bildeten. „Gibt’s Stress?“, fragte ihn Jens scheinheilig, während er mit seinem unsymmetrischen Gang hinterher humpelte. Jens konnte Reuter leider nur von hinten beobachten, aber an dessen Körperhaltung bemerkte er, dass dessen Stimmung nicht mehr locker-flockig war.

Ohne eine Antwort auf die Frage, stürmte Reuter wortlos durch eine offene Tür in ein Büro; keine zehn Sekunden später kam auch sein Kollege Mäurer und knallte die Türe ins Schloss.

Mit den Worten „das ist keine Vernehmung, aber ich lass mal das Band mitlaufen“, stellte er ein kleines Diktiergerät auf einen Schreibtisch. „Nun erzählen Sie mal, wie kommen Sie zu dem Bild und warum fragen Sie nach der Person?“

Vorbei war es mit dem bayerisch eingefärbten Berlinern und seiner Körperhaltung war eine aggressive Spannung zu entnehmen.

Jens Mander war aber nicht der Mensch, den man hätte so leicht beeindrucken können. Er zog seinen Presseausweis aus der Tasche, hielt Reuter die Plastikkarte vor die Nase und sagte nur „Quellenschutz“. Noch bevor der ihn weiter anblaffen konnte, mischte sich sein Kollege aus dem Hintergrund ein: „Nun mal ganz langsam und keinen Stress.“ Reuter atmete tief durch: „Wir haben seit Montag ein Problem mit einer Leiche, die mal da ist und dann wieder weg ist. Und jetzt tauchen Sie mit dem Bild auf. Da haben wir halt ein paar Fragen und mit Höflichkeit und ohne Stress ist das ganze sicher schnell zu erledigen.“

Aha, guter Polizist - böser Polizist, dachte sich Jens. Aber das kann er noch besser: ganz böser Reporter. Das ist seine leichteste Übung.

Er lehnte sich an den zweiten Schreibtisch, der im Raum stand. „Kein Problem, das Protokoll habe ich bereits unterschrieben und das Bild? Ist eine ganz andere Story!“

„Sagen Sie mir zuerst mal, was das eine mit dem anderen zu tun hat und wenn es da eine Verbindung gibt, gibt es auch von mir Informationen. Wenn nicht, dann bin ich der böse Reporter, der über einen Kriminalfall berichtet.“

Die beiden sahen sich kurz an und die Zustimmung in ihren Blicken konnte man nur erahnen.

„Also gut, der Deal gilt. Aber nur unter einer Bedingung: alles was gesprochen wird, bleibt hier im Raum. Veröffentlichungen nur in Absprache mit dem zuständigen Staatsanwalt und der Pressestelle.“

„Einverstanden.“

„Also nochmals ganz von vorne. Ich bin Kriminalkommissar Mäurer und das ist mein Kollege Kriminalobermeister Reuter. Als wir nach Ihrer Meldung am letzten Montag ausrückten, hatten wir schon zwei Anrufe gleichen Inhalts. Immer ging es um eine männliche Person, dunkles, fast schwarzes Haar, mittleres Alter, vermutlich Ausländer, Vorderasien, schwarze oder dunkelblaue Bekleidung.“ Mäurer machte eine Pause. „Jedes Mal, wenn wir vor Ort eintrafen, war die Person verschwunden.“

Auf dem Tisch lag eine Packung Zigaretten und Mäurer hatte angefangen damit zu spielen.

„Haben Sie einen Raucherraum?“, fragte Jens. „Mir macht es nichts aus wenn wir dort weiter reden. Dann kann ich auch eine schmöken.“

Reuter blickte in Richtung seines Kollegen, der als stumme Antwort die Bürotür öffnete. „Rechts in den Gang und dann die dritte Türe - immer der Nase nach“, war Reuters Kommentar zu Manders Vorschlag.

Der Raucherraum war spartanisch eingerichtet. Ein Kaffeeautomat, zwei hohe Bistro-Tische auf denen Aschenbecher rumstanden und ein Cola-Automat. Durch das Fenster konnte man auf den Innenhof des Gebäudes blicken.

„Erst durch Ihrem Anruf erhielten wir eine greifbare Spur“, fuhr Mäurer fort, nachdem er sich seine Pfeife angezündet hatte. „Kein Ausweis, keine persönlichen Dokumente, aber eine Tasche voll Bekleidung - Socken und Unterwäsche, Hemden, Hosen, Pullover, Toilettenartikel“ und nach einem Zug an der Pfeife „und zwei Betelnüsse.“

„Die anderen Zeugen beschrieben die Person als männlich, relativ jung - zwanzig bis dreißig Jahre alt, schwarzes Haar, etwa eins sechzig groß und dunkelhäutig. In der ersten Meldung wurde er am Speerwerfer-Denkmal an der Bundesallee, in der zweiten auf einer Bank liegend am Hirschbrunnen gesehen.“

Seine Pfeife war ausgegangen und so trat eine Pause ein, während er das Ding wieder in Brand setzte.

„Jetzt sind Sie dran“, meinte er und reichte Mander sein Feuerzeug, damit er sich seine Zigarillo anzünden konnte. Mander verlängerte die Pause, indem er mehrere tiefe Lungenzüge machte.

„Also, meiner Meldung habe ich nichts hinzu zu fügen, da habe ich Ihnen schon am Montag alles gesagt. Und zu dem Bild: es ist das Foto eines Kochs aus einem indischen Restaurant, in dem ich öfter mal was esse. Der Koch ist seit letzten Freitag spurlos mit allen seinen Klamotten verschwunden und da ich mit meinem Hund viel unterwegs bin, hat man mich gefragt ob ich ihn vielleicht gesehen habe.“

„Gibt‘s ‘ne Vermisstenanzeige?“, unterbrach er Jens Mander.

„Nö, die wollen ihm keine Schwierigkeiten mit seinem Visum machen, falls er nur mal eine kurze Auszeit genommen hat“, antwortete Jens. „Könnte ja auch sein, dass er nur einen kurzen Urlaub macht.“

Noch bevor er Jens nach dem Foto fragen konnte, fügte er an: „Wenn Sie mir ihre Mailadresse verraten, schicke ich Ihnen das Bild per Mail.“

Mäurers Pfeife war wieder aus und bevor der sie wieder in Brand setzte, nannte er die Mailadresse, die Jens sofort in sein Smartphone notierte und das Bild als Anhang auf die Reise schickte.

Mit der Frage nach der Rasse von Jens Manders Hund und dass er lange Zeit bei der Hundestaffel gewesen sei, versuchte er die unpersönliche Stimmung aufzulockern.

„Okay - is‘ raus“, sagte Jens, „aber die Aufregung versteh ich trotzdem nicht. In Berlin gibt es mehr als einen Inder und die Tasche? Naja, auffällig ist sie schon, aber davon gibt‘s sicher mehr als eine in Berlin.“

„Die Kollegen von der SpuSi1 haben sich der Tasche angenommen und festgestellt, dass dieses Modell in Deutschland nicht verkauft wird. Das Ding wird in Pakistan für eine Firma in England produziert und auch nur dort verkauft. Die Kollegen vom Zoll konnten jedenfalls keine Importe nach Deutschland feststellen.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass die Tasche vom Park mit der auf dem Bild identisch ist. Ähnlich ja, aber ich würde nicht unbedingt darauf wetten.“ Der berühmte Detektiv Hercule Poirot2 hätte in der Situation gesagt, dass seine kleinen grauen Zellen angefangen hätten, aus den verschiedenen Informationen ein Bild zu erstellen.

„Wird es eine Vermisstenanzeige geben und wer wird sie stellen?“, unterbrach Reuter Jens‘ Denkprozess.

Jens Mander war mit den Besitzern und den Mitarbeitern des Restaurants, in dem der Koch vor seinem Verschwinden gearbeitet hatte, gut bekannt. Deshalb hielt er es für besser, Mäurers Frage erstmal zu ignorieren. Nicht, dass er sich da raushalten wollte, aber die »Grünen«3 hatten ihren Job und das war nun mal nicht seiner.

„Ohne Vermisstenanzeige können wir nichts unternehmen und so ohne weiteres können wir auch nicht beim Arbeitgeber aufschlagen“, sinnierte Mäurer nach der Pause weiter. „Also drei Anzeigen, dreimal nichts, eine Sporttasche und niemand, dem sie gehört. Das ist mal wieder Bullshit.“

Mäurer klopfte die Asche seiner Pfeife in einen großen Standaschenbecher und hielt Jens die Türe auf. „Sie waren auch keine große Hilfe. Also wenn Sie nichts mehr zu sagen haben, dann sind wir für heute mal durch.“ Reuter begleitete ihn noch zum Gatter und dann war Jens wieder draußen auf der Straße.

Das »für heute mal durch« verhieß nichts Gutes - »also lassen wir das mal auf uns zukommen«, dachte sich Jens, marschierte in Richtung S-Bahn und fuhr mit der Ringbahn die drei Haltestellen in Richtung Innsbrucker Platz. Während der Fahrt überlegte er sich, dass es eine gute Idee sei, heute mal wieder Chilli Chicken oder ein Fisch-Tikka zu essen.

Als Jens die Wohnungstüre öffnete, musste er mit Ayla erst mal »Party feiern«. Jens war nur drei Stunden unterwegs, Ayla begrüßte ihn, als wären er drei Tage gewesen.

Nun haben Hundemenschen eine besondere Beziehung zu ihrem Begleiter und so schob Jens den Gedanken an ein leckeres indisches Gericht nach hinten, nahm Ayla an die Leine und machte sich zu einer großen Runde auf. Sie marschierten über zwei Stunden durch den Rudolf-Wilde-Park und den Volkspark Wilmersdorf bis zur Blissestraße und dann über die Uhlandstraße, Berliner Straße und Badensche Straße wieder nach Hause. Ayla war nach der Runde nur noch müde und Jens hatte endgültig die Lust auf »Indisch« verloren. Er machte sich ein paar belegte Brote und wollte sich gerade auf das Sofa setzen, als das Telefon klingelte.

Es war Rahul.

Jens hob ab und meldete sich. „Hallo Rahul, wie geht es Dir?“

„Hallo Mister Jens, wie geht es Ihnen?“, bekam er zur Antwort.

Es folgte wieder der übliche Dialog, in dem sie sich versicherten, dass es ihnen gut gehe.

Da es schon spät war, unterbrach Jens das Ritual und kam zur Sache: „Ich war heute bei der Polizei und habe mal nach dem Koch gefragt. Aber da war nichts bekannt. Die Jungs meinten nur, dass irgendjemand auf dem schnellsten Weg eine Vermisstenanzeige aufgeben sollte. Könnte aber auch sein, dass die im Restaurant reinschneien und nach ihm fragen werden.“

Nach dieser Ansage benahm Rahul sich plötzlich merkwürdig. Während sie sonst immer über die verschiedensten persönlichen Dinge unterhielten, war Rahul diesmal recht einsilbig. Mit Floskeln wie „da kann man nichts machen“ und „da werde ich mit meinem Chef reden müssen“, versuchte er offensichtlich über die Zeit zu kommen, damit Jens das Gespräch beenden konnte. Rahul hat noch nie ein Telefonat von sich aus beendet; er war immer der Ansicht, das sei unhöflich.

Jens tat ihm also den Gefallen, wünschte eine gute Nacht und beendete das Gespräch. Inzwischen hatte sich jedoch, von ihm völlig unbemerkt, sein Hund über seine Brote hergemacht. In einem zweiten Anlauf kam Jens aber dann doch noch zu seinem Abendessen.

Donnerstag, 7. November

Jens Mander hatte sich wieder mal die Nacht um die Ohren geschlagen und an seinem Roman geschrieben; sein Hund schlief bis um acht friedlich auf einer Matte vor seinem Schreibtisch. Der Blick auf das Außenthermometer sagte ihm, dass die optische und die gefühlte Temperatur stark voneinander abweichen könnten und dass es kühler sein würde, als die strahlende Morgensonne verhieß.

Noch während er sich für den morgendlichen Hundespaziergang anzog, klingelte sein Telefon. „Polizeidirektion zwei, Abschnitt sechsundzwanzig“, bohrte sich eine Stimme aus dem Hörer in sein Ohr und bevor diese Stimme ihren Spruch weiter ablassen konnte, fiel Jens ihm sofort ins Wort:

„Guten Morgen Herr Reuter, was kann ich für Sie tun?“

Offensichtlich war Reuter überrascht, dass Jens ihn sofort erkannt hatte, denn erst nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Können Sie sofort in die Belziger Straße am Eingang zum alten Dorffriedhof kommen?“ Da Jens seinen Hund schon fast an der Leine hatte, erwiderte er, dass es prinzipiell kein Problem sei, aber er erst mit seinen Hund eine Runde machen müsse. „Reicht es in zirka einer Stunde?“

„Nein“, kam als Antwort aus dem Telefon. „Wir brauchen Sie sofort hier.“ Die Hintergrundgeräusche aus dem Telefon kamen jetzt nur mehr gedämpft aus dem Hörer, als halte Reuter die Hand über das Mikrophon. „Dann bringen Sie halt Ihren Hund mit. Wenn Sie jetzt losgehen, sind Sie in spätestens fünfzehn Minuten hier.“

Reuters Stimme hatte einen gestressten Unterton und da Jens Mander zwischenzeitlich neugierig geworden war, sagte er zu.

Raus aus dem Haus, über die Freiherr-vom-Stein-Straße in den Rudolph-Wilde-Park Richtung Hirschbrunnen, die Treppe hoch, über die Martin-Luther-Strasse, Richtung Rathaus Schöneberg, über die Dominicus Strasse auf den Kennedy-Platz und in die Belziger Straße - sein Hund hatte offensichtlich heute große Lust auf Laufen und so schafften sie den Weg wirklich in fünfzehn Minuten.

Vor dem Tor zum Friedhof stand ein Polizeibus mit eingeschaltetem Blaulicht; der Eingang war mit einen rot-weißen Band abgesperrt und trotz der frühen Stunde standen ein paar neugierige Passanten rum. Jens drängte sich durch die Neugierigen an das Sperrband, was mit seinem Hund an der Leine gar nicht schwer fiel. Es passierte ihm immer wieder, dass seine große Schweizer Sennhündin mit einem Rottweiler verwechselt wurde.

Jens zog seinen Presseausweis aus der Tasche, hielt ihn der Polizistin hinter der Absperrung unter die Nase uns sagte: „Herr Reuter erwartet mich.“

Jens Mander genoss die neidvollen Blicke der umstehenden Zuschauer und wie aufs Stichwort kam Reuter um die Ecke. Entweder hatte er die Szene beobachtet oder solche Auftritte, wie Jens soeben einen abgeliefert hatte, waren ihm nicht unbekannt, denn er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Jens mit Handschlag begrüßte.

„Schön, dass Sie doch so schnell kommen konnten“, begrüßte er Jens und zu dessen Verblüffung kraulte er Ayla hinter den Ohren. Dann hob er das Band so weit an, dass Jens durchschlüpfen konnte und mit dem Hund an der Leine ging Jens hinter Reuter her; vorbei an neuen und alten Gräbern.

Vor einem Mausoleum mit einer Kuppel sah man Uniformierte und Männer in weißen Schutzanzügen an etwas rumhantieren, das er aber aus der Entfernung nicht erkennen konnte.

Etwa zehn Meter vor dem Eingang zum Mausoleum fing Ayla, die bisher schwanzwedelnd neben Jens lief, an zu bocken: sie wollte einfach nicht mehr weiterlaufen. Ein große Schweizer Sennenhund ist im Grunde durch nichts aus der Ruhe zu bringen, aber jetzt spürte sie etwas, das ihr nicht geheuer war. Sie setzte sich hin - einfach so. Jens drückte einem neben ihm stehenden Polizisten die Leine in die Hand und noch bevor der was dagegen sagen konnte, übernahm Reuter wieder die Regie und sagte zu dem Polizisten: „Pass mal auf den Hund auf.“

Sie gingen weiter und jetzt konnte Jens das schwarze etwas erkennen. Da lag ein Mensch, männlich, schwarze Bekleidung, schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe und offenbar tot.

Noch bevor Reuter was sagen konnte, sprach Jens das Offensichtliche aus: „Jo - der lag am Montag im Park. Fast genauso, wie er jetzt hier liegt.“

„So wurde die Leiche heute Morgen von einem Kirchgänger gefunden. Zum Glück hatte der sein Handy dabei - sofort die eins-eins-null gerufen und sich nicht vom Platz bewegt.“ Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme fuhr er fort: „Sonst wäre die Leiche wahrscheinlich ein weiteres Mal aufgestanden und hätte sich woanders wieder hingelegt. Aber Leichen können nicht laufen und der ist schon so lange tot, dass die Leichenstarre durch die beginnende Verwesung wieder nachlässt. Insgesamt ist die Leiche in einem besseren Zustand, als sie eigentlich sein dürfte, wenn man davon ausgeht, dass der Tod in der Nacht zum Vierten eintrat. Außerdem hätte er auch so nicht laufen können - jemand hat ihm wortwörtlich den Kopf verdreht.“ Reuter machte eine kurze Pause um die Dramatik seiner Worte zu unterstreichen. „Um volle einhundertachtzig Grad.“

Reuter sah Jens an, während er weiter sprach: „Aber ein solcher Anblick ist Ihnen ja nichts neues - oder?“

„Wie meinen Sie das?“, erwiderte Jens. Er fixierte Jens Mander noch immer mit seinen Augen, als er wieder ansetzte: „Is‘ nur so‘n Gefühl. Für einen normalen Staatsbürger, der seine erste Leiche sieht, sind Sie nicht genug erschrocken, die Aussage vom Montag war druckreif und auf dem Revier haben Sie mich ganz schön abblitzen lassen.“

„Ach das dürfen Sie nicht so eng sehen“, erwiderte Jens und grinste. „Ich hab mich meinem Hund angepasst - wir sind beide durch nichts zu erschüttern. Mein Hund ist es von Natur aus und ich bin mit meinen knappen sechzig schon zu alt um mich noch über irgendwas aufzuregen.“

Er drehte seinen Kopf zur Seite, als sein Kollege Mäurer, den Jens bisher noch gar nicht bemerkt hatte, ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Zu Jens gewandt, fing Reuter wieder an: „Wie wäre es zur Abwechslung mal mit ein paar Informationen?“

„Sorry, ich weiß auch nicht mehr. Aber ich kann ja mal meinen Adoptivsohn anrufen. Der kann ihn vielleicht identifizieren.“

Jens ging einen Schritt in Richtung der Leiche um sie sich näher anzusehen. Reuter hatte recht, ein Normalo tut das nicht und er hatte auch recht mit seiner Behauptung, dass Jens nicht das erste Mal eine Leiche sah. Aber das war eine andere Geschichte aus seiner Vergangenheit und die wollte ihm Jens nicht so direkt auf die Nase binden.

„Den haben wir noch nicht erreicht und das Restaurant hat noch nicht geöffnet. Aber eine Streife steht vor dem Laden und wartet auf ihn.“

„Also Herr Reuter, jetzt klopfen Sie aber mächtig auf den Putz“, antwortete Jens. „Erstens habe ich Ihnen seinen Name nicht genannt und zweitens wenn Sie mich nach seiner Anschrift und seiner Telefonnummer gefragt hätten...“, Jens ließ den Satz unvollendet, zog sein Smartphone aus der Tasche um aus den Kontakten Rahuls Nummer rauszusuchen.

„Ich stelle die Verbindung her und Sie sprechen mit ihm.“

Plötzlich hatte er jedes Interesse an Rahul verloren. „Nö - das brauchen wir nicht. Nach meinen Unterlagen öffnet das Lokal um elf Uhr. Es reicht, wenn wir dann jemand hinschicken und dann ist es besser, wir sprechen gleich mit den Inhabern.“

Ayla hatte inzwischen ihre Starre überwunden und zerrte so stark an der Leine, dass sie der Polizist fast nicht mehr halten konnte. Jens ging die paar Meter in Richtung seines Hundes und da hatte sein Hund nichts Besseres zu tun, als mit ihm »Wiedersehensparty« zu feiern.

Jens drehte sich nochmals zu Reuter um und fragte ganz scheinheilig: „Brauchen Sie mich noch?“

„Nö“, kam als knappe Antwort, „wir wissen ja, wo Sie wohnen.“

Jens verließ den Friedhof durch den Eingang an der alten Dorfkirche. Nach der durchgearbeiteten Nacht war er hundemüde und so machte er sich auf den Weg nach Hause und ins Bett.

Es war schon spät, als es an der Türe klingelte. Noch im Halbschlaf schnappte er sich seinen Bademantel, Ayla war schon vor ihm an der Türe und auch Jens machte sich auf den Weg. Es klingelte nochmals, aber da war Jens schon an der Türsprechanlage. „Hallo - wer stört“, sprach er in den Hörer und hörte nur ein, „Ich bin‘s“. Jens drückte auf den Türöffner, öffnete die Wohnungstüre und ging dann zurück in die Küche um sich eine Tasse Kaffee aus dem Automaten zu ziehen, während er Rahul seinem Schicksal überließ. Rahul wurde von Ayla heiß und innig geliebt und der hatte auch schon seine Erfahrungen mit tierischen Wiedersehensparties. Jens brauchte sich während der nächsten fünf Minuten nicht um die Beiden kümmern.

Mit seiner Tasse in der Hand setzte er sich auf das Sofa, griff zu seiner Zigarillobox und zündete sich eine an.

„Wenn ihr beide mit der Begrüßung fertig seid - ich bin hier“, rief er in Richtung Flur. Durch einen Blick auf die Uhr erfuhr Jens, dass es sechzehn Uhr war.

„Shit“, brummelte Jens, „der ganze Tag ist versaut.“

Rahul hatte jetzt auch das Sofa erreicht und Jens forderte ihn zum Hinsetzen auf.

„Wie geht es Dir? Hast Du heute keinen Dienst? Wie geht es der Mutter meiner ungeborenen Enkel?“

Es begann wieder das gleiche Ritual wie es auch am Telefon stattfand und nach fünf Minuten kam Rahul dann endlich zur Sache.

„Heute war die Polizei im Restaurant, sie haben Mahavir gefunden“. Jens kommentierte die Information mit einem kurzen „Ich weiß“ und sah Rahul fragend an.

Während Rahul darauf wartete, dass Jens mehr sagte, gab Jens die Nummer vom Schweiger und beobachtete Rahul. Rahul war sichtlich nervös und obwohl sonst durch nichts aus der Ruhe zu bringen, rutschte er unruhig auf dem Sofa hin und her. Nachdem Rahul zu der Einsicht kam, dass von Jens keine rhetorische Hilfe zu erwarten war, fing er mit dem Erzählen an.

„Die haben den Geschäftsführer mitgenommen.“

Jens nickte wieder.

„Sie haben Mahavir, unseren Koch, gefunden“, wiederholte Rahul.

Jens entschied, dass es jetzt doch an der Zeit war, sich verbal zu äußern. „Okay und wo?“, stellte er als Frage in den Raum, wohl wissend, wie es weiter gehen würde.

„Er ist tot, wahrscheinlich ermordet, auf dem Friedhof.“

„Ich weiß“, erwiderte Jens. „Ich war mit der Polizei da und ich habe ihn gesehen.“

Von dem Vorfall am Montag sagte Jens erst mal nichts. Rahul war zwar nicht dumm, aber in dem Moment war er so gestresst, dass er nicht mal auf die logische Frage kam, warum Jens am Fundort der Leiche war.

„Ich hab ihn anhand der Fotografie identifiziert, die Du mir geschickt hattest.“

Obwohl Jens und Rahul schon so lange freundschaftlich und familiär miteinander verbunden waren, redete Rahul Jens immer noch mit Sie an.

„Mein Chef lässt fragen, ob Sie helfen könnten?“, fragte Rahul und erhielt nur ein „Schaung mer mal, aber dann musst Du mir schon mehr erzählen“, als Antwort.

In den nächsten zehn Minuten erzählte Rahul die Geschichte von Mahavir.

Mahavir sei ein entfernter Verwandter von Rahuls Chef. Um ihn nach Deutschland zu bringen, habe ihn seine Familie für drei Jahre als Koch angeboten. In dieser Zeit wollte er sich die notwendigen achttausend Euro sparen, um danach mit einem Studentenvisum in Deutschland studieren zu können. Nach seiner Einreise vor zwei Monaten bezog er ein Zimmer in der Wohnung über dem Restaurant und da sollte er auch die ganzen drei Jahre bleiben. Ein Teil dessen, was er offiziell als Lohn bezahlen würde, sollte nach Indien überwiesen und der andere Teil auf ein Sperrkonto fürs Studium einbezahlt werden.

Nun war das, was Rahul da erzählte, für Jens nichts Neues.

Rahul erzählte weiter, dass Mahavir mit dieser Vereinbarung nicht so ganz glücklich war; hätte er doch die ganze Zeit über kein eigenes Geld verfügt. Eine Woche nach seiner Ankunft wäre auch schon der erste Brief aus Indien da gewesen, in dem seine Familie wegen Geld gefragt hätten und eine Woche danach habe er angefangen jeden damit zu nerven, wie man ganz schnell zusätzliches Geld verdienen könne.

Rahul machte eine Pause, die wieder Jens für eine Frage nutzte.

„Na und? Ist da was draus geworden?“

Jens hatte nicht die Erwartungshaltung, dass Rahul ihm die volle Wahrheit sagen würde, aber er wusste auch, dass Rahul ihn nicht belügen würde.

„In einer Zeitung stand“, fuhr Rahul mit seiner Erzählung fort, „dass für einen Film Leute gesucht werden. Einmal die Woche für zwölf Stunden. Ich habe für Mahavir bei der Filmfirma angerufen und einen Termin gemacht und wir sind dann an seinem freien Tag gemeinsam hingefahren. Er wurde sofort genommen. Im Restaurant haben wir erzählt, dass er an seinem freien Tag bei einem Freund Deutsch lernt.“

Jens war heute bewusst unhöflich. Hatte er für Rahul sonst immer ein Glas Eiswasser auf den Tisch gestellt oder ihm ein Glas Tee oder ‘ne Tasse Kaffee angeboten, machte er heute keine Anstalt da was zu machen.

„Und weiter?“, drängte Jens. „Rück mit dem Rest der Story raus.“

Rahul sah Jens etwas irritiert an.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er.

„Da fehlt doch noch was.“

Jens lehnte sich zurück und wartete auf den Rest der Geschichte. Es dauerte dann doch fast eine Minute, bis Rahul sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte.

„Zum ersten Treff habe ich Mahavir mit dem Auto gefahren. Er musste schon um sechs Uhr da sein. Und ich habe ihn auch wieder abgeholt.“

Rahul machte wieder eine Pause.

„Dann beim zweiten Mal wollte er das nicht mehr und meinte, er würde auch so den Weg finden. Man hat mir aber erzählt, dass Mahavir mit einem Mercedes-Transporter abgeholt worden sei. Am Abend wäre Mahavir aber zu Fuß gekommen und sofort auf sein Zimmer gegangen, ohne noch mal ins Lokal reinzuschauen.“

„Na und?“, fragte Jens. „Das ist doch nichts Schlimmes. Zwölf Stunden als Komparse - das schlaucht schon gewaltig.“

„Aber ... aber ... aber ...“, fing Rahul plötzlich an zu stottern. „Als am Tag darauf die Frau des Geschäftsführers sein Zimmer lüften wollte, fand sie fünfhundert Euro unter seinem Kissen.“

„Tante Neugier? Hat sie mal wieder gestöbert?“

„So dürfen Sie das nicht sehen, Mr. Jens“, nahm er sie sofort in Schutz. „Sie meint es ja nur gut. Außerdem hat sie von Mahavirs Vater die Verantwortung übertragen bekommen.“

„Papperlapapp, sie musste mal wieder alles wissen.“

„Sie hat dann Mahavir zur Rede gestellt und gefragt, woher das Geld käme, was Mahavir damit erklärte, dass er das Geld beim Wetten gewonnen habe.

Die darauf folgenden freien Donnerstage von Mahavir verliefen unauffällig. Er wurde abgeholt und kam am Abend zu Fuß wieder.

Am letzten Donnerstag wurde er wieder von dem schwarzen Mercedes abgeholt, dieses Mal aber am Abend auch wieder gebracht. Mahavir kam dann auch noch mal ins Restaurant und im Vorbeigehen steckte er mir etwas in die Tasche. Ich konnte leider nicht reagieren, da ich gerade fünf Portionen Essen auf einem Tablett balancierte. In der Hektik hatte ich es auch vergessen und als ich spät am Abend dazu kam, das Zugesteckte zu untersuchen, stellte ich fest, dass es ein Briefumschlag mit zehn Fünfhundert-Euro-Scheinen war.“

„Da kann ich nur sagen - guter Deal, den Mahavir da gemacht hat. Aber erzähl weiter.“

„Nachdem das Restaurant geschlossen hatte, ging ich noch mit in die Wohnung und wollte mit Mahavir sprechen. Ich klopfte mehrmals an die Türe und als keine Antwort kam, trat ich einfach ein. Im Zimmer war kein Mahavir, der Schrank war ausgeräumt und die Reisetasche war weg.“

„Bullshit“, sagte Jens nur. „Wie ging es dann weiter?“

„Der Barmann, der das Zimmer nebenan bewohnt sagte, dass Mahavir nach oben in die Wohnung kam und ohne ersichtlichen Grund zu stänkern anfing“, erzählte Rahul weiter.

„Ausbeuter, Leuteschinder, Sklaventreiber - so bezeichnete er den Chef und die Chefin. Der würde nur an sich denken und sich an seiner Arbeitskraft seiner Mitarbeiter bereichern.“ Und er, Mahavir, habe davon die Nase voll.

Rahul war es sichtlich unangenehm, diesen Teil der Geschichte zu erzählen. Er hätte so etwas nie freiwillig zugegeben, aber beide kannten die Wahrheit hinter Mahavirs Gefühlsausbruch. Rahul umschrieb diese Verhältnisse immer mit dem „indischen Herz“, während Jens es mit „du bist immer der Diener deines Herrn“, bezeichnete. Ein intimer Kenner der indischen Kultur hatte Jens mal gesagt: „Wenn Dir in Indien einer was Gutes tut, erwartet er von Dir eine lebenslange Dankbarkeit.“

„Mahavir ging wieder in sein Zimmer und der Barmann guckte im Fernsehen das Kricketspiel weiter an. Was soll ich jetzt machen? Ich habe keinem was von dem Geld gesagt.“

Was Rahul da von Jens wollte, war eigentlich eine Sache der Polizei. Bei Mord und Totschlag konnten nach seiner Erfahrung die »Oberförster« ganz schön biestig werden. Um die Anspannung bei Rahul etwas abzubauen, ging Jens wortlos in die Küche und holte ihm ein Glas Eiswasser aus dem Spender. Dann beschloss er, da er immer noch im Bademantel war, sich anzuziehen. Das Ganze dauerte rund fünf Minuten und diese Zeit nutzte Jens zum Nachdenken. Ja, einmischen und helfen oder nein, ablehnen - das war die Frage. Der Schreiberling in ihm witterte den Stoff für eine gute Story, aber ein kleiner Mann in seinem Ohr warnte ihn vor den Folgen dieser Hilfe. »Jede gute Tat wird sofort bestraft«, war so ein Spruch, den seine Mutter in einer solchen Situation aussprach.

Aber im Grunde hatte Jens gar keine andere Option, als sich des Problems anzunehmen: Rahul war irgendwie an der ganzen Sache beteiligt und da musste Jens die Geschichte auch zu seiner Geschichte machen.

Rahul saß zusammengesunken in seiner Ecke auf dem Sofa, als Jens angezogen wieder aus dem Bad kam.

„Okay Rahul - ich schau mal, was ich machen kann“, sagte Jens und setzte sich neben ihn auf das Sofa. „Ich brauch aber noch ein paar Informationen - wie heißt die Filmfirma, wenn‘s geht Anschrift, Telefonnummer und einen Namen; Typ, Farbe und Kennzeichen des Mercedes und die vollständigen Personendaten von Mahavir.“

Offensichtlich hatte Rahul sich auf diese Fragen schon vorbereitet. Er zog aus der Innentasche seiner Jacke einen Briefumschlag und reichte ihn Jens. Darin enthalten ein paar Kopien - Pass, Visum, internationale Geburtsurkunde und ein handschriftlicher Zettel mit den Angaben zur Filmfirma und Auto sowie die fünftausend Euro.

„Das Geld nimm mal wieder mit und verwahre es bei Dir zuhause. Die anderen Sachen behalte ich“, sagte Jens. „Heute ist es schon zu spät und am Wochenende erwische ich eh niemand, also kann ich erst am Montag aktiv werden. Aber Du kannst Deinem Chef sagen, dass ich mich drum kümmern werde.“

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, strahlte Rahul und umarmte Jens und vor lauter Erleichterung brachte er nur ein „Danke“ raus.

Nachdem er sein Anliegen an den Mann gebracht hatte, unterhielten sie sich noch ein paar Minuten über Persönliches und als Jens merkte, dass Rahul verstohlen auf die Uhr sah, fragte er ihn, ob er denn noch arbeiten müsse. Rahul bejahte das und so gab Jens ihm einen Vorwand, seinen Besuch zu beenden, indem er behauptete, dass es jetzt Zeit für Aylas Abendrunde sei.

Rahul verabschiedete sich mit dem Versprechen, Jens auf seinem Heimweg noch eine Portion indisches Essen vorbeizubringen.

Freitag, 8. November

Über Nacht war das Wetter gekippt. Es gab den ersten Nachtfrost in diesem Jahr und auf der Morgenrunde mit Ayla konnte man laut und deutlich die Kratzgeräusche der Eisschaber vernehmen.

Es gibt einen Spruch, dass Berlin niemals schläft und zwischen drei und vier Uhr nachts nur ruht. Heute galt dies aber nicht. War sonst das Rauschen von der Stadtautobahn und das Fahrgeräusch der S-Bahn im Park zu hören - heute lag eine fast tödliche Stille über dem Rudolf-Wilde-Park.

Ayla und Jens drehten ihre Runde durch den Park, liefen am Hundeauslauf vorbei und waren nach knapp zwei Stunden wieder zuhause. Es war inzwischen zehn Uhr geworden und Jens hatte seinen Guten-Morgen-Kaffee noch immer nicht gehabt. Ein rascher Blick in den Kühlschrank sagte ihm, dass es sinnvoll wäre, fürs Wochenende noch ein paar Einkäufe zu machen.

Aber zuerst ließ sich Jens aus dem Jura-Automaten eine Tasse Kaffee raus, setzte sich an sein MacBook und holte die abonnierte Onlineausgabe seiner Berliner Tageszeitung auf den Bildschirm. Ausnahmsweise blätterte er gleich zur Rubrik Berlin und war von der Schlagzeile absolut nicht überrascht: Leichenfund auf dem alten Dorffriedhof in Berlin-Schöneberg.

Zu zwei Fotos, eins zeigte das Mausoleum und das Zweite die versammelten Polizisten - einer mit einem Hund an der Leine, stand der Text, dass in den frühen Morgenstunden des siebten November von einem Spaziergänger die Leiche eines männlichen Ausländers gefunden wurde. Bisher habe die Identität nicht ermittelt werden können, aber er könnte aus dem vorderasiatischen Bereich stammen. Zu der Todesursache habe die Polizei keine Angaben machen können, aber man werde weiter berichten.

Jens zündete sich eine Zigarillo an und zog Rahuls Zettel aus dem Umschlag. M-Face Casting-Agentur Berlin stand auf dem Zettel, eine Internetadresse und eine Telefonnummer. Er startete den Internetbrowser und gab die Internetadresse ein. Die angezeigte Seite war die einer offensichtlich normalen Casting-Agentur. Viel Brimborium um „wie gut - wie beliebt - wie erfolgreich“ die Agentur sei und wer schon alles durch diese Agentur ins Film- und Model-Geschäft gebracht worden wäre.

Jens verglich die Telefonnummer auf dem Zettel mit der, die im Impressum als Kontakt angegeben war - sie war gleich. Bei der Nummer stand ein Name, den er sich notierte.

Nach einem Schluck aus der Tasse startete er am Monitor die Suchmaschine und gab bei Suchbegriff »m-face&Casting&berlin« ein. Millisekunden später hatte Jens eine volle Bildschirmseite mit Ergebnissen zu seinem Suchbegriff - insgesamt über tausend Stück. Die Ergebnisse, die schon anhand der Kurzbeschreibung nicht passten, ignorierte er, die anderen öffnete er zur Ansicht. Eine alte Regel für Suchmaschinen besagt, wenn man auf den ersten zwei Bildschirmseiten nichts Passendes findet, findet man auf den nachfolgenden Seiten auch nichts mehr.

So war es auch in diesem Fall. Also formulierte er den Suchbegriff neu: „beschwerden“ AND „casting“ AND „agentur“ AND „m-face“

Auch in diesem Fall brachte das Ergebnis nicht den gewünschten Erfolg. Jens fand auch in den Suchergebnissen nichts Auffälliges. Zwar fand er einige Einträge, die sich darüber beschwerten, dass sie abgelehnt wurden und einige, die sich über gezahlte Gagen oder Vermittlungsgebühren beschwerten.

Jens ging in die Küche um seine Tasse nochmals aufzufüllen. Ohne auf die Uhr zu schauen, wusste er dass es zwölf Uhr war. Die Freiheitsglocke4 im Turm des Schöneberger Rathauses hatte ihr Geläut angestimmt. Er nahm sich vor, nach dieser Tasse Kaffee und zwei weiteren Internetaufrufen seinen Einkauf zu erledigen.

Der erste Aufruf war eine Spezialseite für Firmeninformationen. Jens Mander hatte sich vor Jahren wegen einer Recherche mal registriert und so gab er seinen Benutzernamen, sein Passwort, den gesuchten Firmennamen ein und bestätigte die Abfrage, dass die für die Auskunft anfallenden Kosten von zehn Euro von seiner Kreditkarte abgebucht werden dürfen.

Einige Sekunden später bekam er die Daten angezeigt.

Name, Rechtsform, Anschrift, Steuernummer und alles was sonst zu einer Firma gehört, deren Bonität und InfoScore wurden angezeigt und waren auf den ersten Blick auch nicht auffällig. Dann holte er sich vom elektronischen Bundesanzeiger die letzten drei veröffentlichten Bilanzen. Auch in den Dokumenten fand Jens Mander nichts, was auf irgendwelche geschäftlichen Probleme hingewiesen hätte.

„Bullshit“, sagte er so laut, dass Ayla, die auf ihrer Matte vor seinem Schreibtisch schlief, erschrocken den Kopf hob und ihn anblickte. Als richtiger Hundemensch hatte Jens gleich ein schlechtes Gewissen und so murmelte er: „Is‘ ja gut, nichts passiert“, in Richtung seines Hundes.

Nach fast vier Stunden Arbeit, die Uhr seines iPhone zeigte dreizehn-dreißig hatte er immer noch keinen Ansatz und das frustrierte ihn. Also schaltete Jens seinen Rechner aus. Er kontrollierte noch seinen Bestand an Zigarillos und befand, dass der für das ganze Wochenende ausreichend war und machte sich auf den Weg.

Der Supermarkt im U-Bahnhof Innsbrucker Platz hatte auch am Samstag bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet, aber so lange wollte Jens mit dem Einkaufen dann doch nicht warten. Der Einkauf war schnell erledigt; schneller als der Spaziergang, den er anschließend noch mit seinem Hund machte und so war es schon fast siebzehn Uhr, als er sich wieder an sein MacBook setzen konnte.

Die einzige Quelle, die Jens bisher noch nicht angezapft hatte, war FakeBox5, das Social Network. Er öffnete seinen Passwortsafe und kopierte sich die Zugangsdaten für den Entwickler-Account auf den Desktop seines Rechners.

Jens meldete sich bei FakeBox an. Diesen Zugang hatte er mal für einen Auftrag bekommen, nach Beendigung des Projekts hatten die Verantwortlichen vergessen, den Account wieder zu löschen und so hatte Jens als registrierter Entwickler relativ einfach Zugang zu den Datenbanken. Das pikante an diesem Zugang war, dass über diese Art des Zugangs die Polizeibehörden und die Geheimdienste die FakeBox Datenbanken ebenfalls für ihre Nachforschungen benutzen konnten.

Als erstes formulierte Jens eine Datenbankabfrage nur auf den Firmennamen. Die Ergebnisse von einigen tausend Datensätzen speicherte er auf seinem lokalen Rechner. Während der nächsten zwei Stunden verfeinerte und variierte er die Suchanfrage, bis am Ende zwölf Datensätze übrig blieben.

Zwölf Datensätze - zwölf Benutzer, das war das Ergebnis seiner Arbeit.

Dann erstellte er ein kleines Programm, das die Chroniken dieser zwölf Benutzer auf seinen Rechner kopierte und beendete die Verbindung zu FakeBox.

„Da hast Du heute Abend was zum Lesen“, murmelte Jens, „hoffentlich schlaf ich nicht dabei ein.“ Er wollte gerade mit dem Lesen beginnen, als es an der Türe klingelte. Ayla war natürlich schon vor Jens an der Türe und als er sein „Wer stört?“ in den Hörer der Sprechanlage donnerte, vernahm er das bekannte „Ich bin‘s, Rahul.“

Jens drückte den Türöffner, öffnete die Wohnungstüre und fasste Ayla am Halsband. Ayla machte sich schon für die Willkommensparty fertig um Rahul zu begrüßen. Der aber machte Ayla einen Strich durch die Rechnung. Er drückte Jens eine Plastiktüte in die Hand und war mit den Worten „Ein Freund wartet im Auto“ gleich wieder verschwunden.

Während Jens Mander sich über sein Abendessen hermachte, plante er in Gedanken seine weiteren Schritte. Danach setzte er sich an seinen Mac und begann die Chroniken zu lesen.

FakeBox war eigentlich ein faszinierendes Medium: da geben Menschen Informationen von sich preis, die sie nur ihren intimsten Freundinnen und Freunden erzählen würden. Doch jeder der mit dem Medium umgehen kann, sei es legal oder illegal, kann diese geheimsten Geheimnisse mitlesen. Es gibt aber auch Menschen in FakeBox, die ihre wahre Identität verschleiern um sich als die Besten, die Größten und die Schlauesten darzustellen, so dass man sich fragt, warum man in seriösen Recherchen noch nicht auf diese Intelligenzbestien gestoßen war.

Sei‘s drum. Es war nicht seine Aufgabe, die Sinnhaftigkeit von FakeBox zu analysieren und so nahm er sich ein Protokoll nach dem anderen vor. Nebenbei machte er sich Notizen, sprang von einem zum anderen Profil, verglich und verwarf seine Notizen wieder.

Nach mehreren Stunden Recherche im Internet, er wollte gerade aufhören und mit seinem Hund die Nachtrunde machen, stieß er auf eine Seite, bei der seine Alarmglocke heftigst bimmelte: kein Impressum, nur eine Seite mit einer Weiterleitung auf eine neue Seite.

Jens folgte den Verknüpfungen und hatte schon mindestens ein dutzendmal die Seite gewechselt, als er schließlich auf der Internetseite einer russischen Domain landete.

Jens ließ sich den Text der Internetseite von Google6 übersetzen. Die Übersetzung war so grottenschlecht, dass er den Text mit Unterstützung eines Wörterbuchs nachbearbeiten musste. Aber auch dann musste er sich den Inhalt noch zusammenreimen: für ein internationales Filmprojekt in Berlin wurden weltweit junge Männer im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren gesucht und in Deutschland wird die Firma durch die m-Face-Casting7 Berlin vertreten.

Das allein wäre noch sich nichts Anrüchiges gewesen; weltweit werden solche Castings tausendfach im Internet ausgeschrieben. Was ihn aber in eine gewisse negative Grundstimmung versetzte war der Umstand, dass die m-Face-Casting auf ihrer Internetseite die russische Firma nicht als offiziellen Partner verlinkt hatte.

Jens Mander startete auf seinem MacBook einen neuen Desktop, bemühte erneut seine Benutzerkennung um sich bei FakeBox in die Datenbank zu hacken und formulierte eine neue Abfrage: Anzeige aller Benutzer, die der russischen Castingfirma folgen. Auch diese Ergebnisse speicherte er auf seinen Rechner. Mit der nächsten Abfrage eliminierte er die FakeBox-Benutzer, die ihren Wohnsitz nicht in Deutschland hatten und begann sofort mit der Kontrolle.

„Bingo“, raunte Jens. „Da ist ja unser toter Koch. Lesen wir doch mal sein Journal und vielleicht kriegen wir noch ein paar Fotos.“

Anschließend schrieb Jens aus der Tabelle die Benutzernamen aller Follower, die als Wohnort Berlin eingetragen hatten. Dann beendete er den Zugriff auf FakeBox und schaltete seinen Rechner aus.

Aus den Kontaktdaten der russischen Internetseite hatte Jens Mander sich schon vorher die Name, Anschrift und die Namen der Geschäftsleitung der russischen Partnerfirma notiert. Dann begann er seine Recherchen auszuweiten. In einer Suchmaschine für Personen begann er alle Namen zu überprüfen. Er notierte sich in einer Tabelle die Namen und Ergebnisse der Suchmaschine. In zwei Fällen erteilte er einen Suchauftrag, dessen Ergebnis er vermutlich an einem der nächsten Tage in seinem eMail-Postfach vorfinden würde.

Samstag, 9. November

Es war mal wieder eine kurze Nacht als Jens von seinem Hund aus dem Bett geholt wurde. Ohne seine obligate Tasse Kaffee machte er sich auf den Weg in den Rudolf-Wilde-Park. Ayla voraus, trabte er mit nicht ganz offenen Augen hinterher.

Zeit seines Lebens hatte sich Jens immer gefragt, woher der Mensch wusste wohin der Hund gehen wollte. Aber irgendwann bekam auch Jens mit, dass »Herrchen« und »Frauchen« einfach nur dem Hund hinterher liefen. Wie jeden Morgen ging es über die Carl-Zuckmeyer-Brücke, die Fritz-Elsas-Straße in Richtung RIAS8, den Fußweg entlang der Kufsteiner Straße und auf die Freiherr-vom-Stein-Straße. Neben einer alten Villa im Gründerstil stand, teilweise durch Bäume und Büsche verdeckt, ein gemauertes Trafohäuschen.

Bisher hatte Ayla dieses Bauwerk meistens ignoriert. An diesem Morgen erweckte es ihr besonderes Interesse. Sie lief in Richtung Trafohäuschen und blieb bellend vor einer, auf der Bank kauernden Person stehen.

Jens konnte seinen Hund kaum beruhigen und nahm ihn an die Leine. Erst dann konnte er sich mit der sitzenden Person beschäftigen. „Bullshit“, murmelte er und in Erinnerung an einen Kinofilm fügte er hinzu, „da trifft die gleiche Scheiße den selben Mann zum zweiten Mal.“

War es Intuition oder einfach nur Gewohnheit, dass er dieses Mal sein iPhone einstecken hatte. Aus dem Adressbuch suchte er sich die Nummer vom Kriminalobermeister Reuter, wählte und als dieser sich mit seinem Namen meldete, legte Jens sofort mit seinem Bericht los. „Mander. Im Volkspark Schöneberg liegt schon wieder eine Leiche. Es würde Sinn machen, wenn Sie ihren Kollegen, die Spurensicherung und einen Leichenwagen mitbringen würden. Ich erwarte sie in der Freiherr-vom-Stein-Straße Ecke Kufsteiner Straße auf der Parkseite. Und - machen Sie schnell, mir ist lausig kalt.“

Offensichtlich hatte Reuter einen guten Tag, denn er stellte keine Fragen, murmelte nur ein „Okay. Wir sind in fünf Minuten da“ ins Telefon und beendete das Gespräch.