Zwölf Geschichten vom Hoffen und Wünschen - Jojo Moyes - E-Book

Zwölf Geschichten vom Hoffen und Wünschen E-Book

Jojo Moyes

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Alle bisherigen Kurztexte der Bestsellerautorin in einem Band versammelt. Inklusive einer bisher nicht auf Deutsch veröffentlichten Bonusgeschichte. Kleine Alltagsfluchten. Jojo Moyes ist die Meisterin des Gefühls. In zwölf hinreißenden Geschichten entführt sie uns aus dem Alltag. Es sind die vermeintlich kleinen Ereignisse – ein gefundenes Handy, eine vertauschte Sporttasche, ein missglücktes romantisches Wochenende – die für einen Augenblick das Fenster in ein anderes Leben öffnen. Geschichten vom Hoffen und Wünschen, die uns zum Lachen und zum Weinen bringen Dieser Band enthält die bisherigen Veröffentlichungen «Nachts an der Seine», «Kleine Fluchten» und «Die Tage in Paris». 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jojo Moyes

Zwölf Geschichten vom Hoffen und Wünschen

 

 

Aus dem Englischen von Karolina Fell

 

Über dieses Buch

Kleine Alltagsfluchten

 

Jojo Moyes ist die Meisterin des Gefühls. In zwölf hinreißenden Geschichten entführt sie uns aus dem Alltag. Es sind die vermeintlich kleinen Ereignisse – ein gefundenes Handy, eine vertauschte Sporttasche, ein missglücktes romantisches Wochenende –, die für einen Augenblick das Fenster in ein anderes Leben öffnen. Geschichten vom Hoffen und Wünschen, die uns zum Lachen und zum Weinen bringen.

 

Alle bisherigen Kurztexte der Bestsellerautorin in einem Band versammelt – inklusive einer bisher nicht auf Deutsch veröffentlichten Bonusgeschichte.

Vita

Jojo Moyes, geboren 1969, hat Journalistik studiert und für die Sunday Morning Post in Hongkong und den Independent in London gearbeitet. Ihr Roman «Ein ganzes halbes Jahr» war ein internationaler Bestseller und eroberte weltweit die Herzen von über 16 Millionen Leser:innen. Zahlreiche weitere Nr.-1-Romane folgten. Jojo Moyes hat drei erwachsene Kinder und lebt in London.

 

Karolina Fell hat schon viele große Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen, u.a. Jojo Moyes, Bernard Cornwell und Kristin Hannah.

Impressum

Die Erzählung «Die Tage in Paris» wurde 2015 bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, veröffentlicht. Die Erzählung «Nachts an der Seine» wurde 2016 bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, veröffentlicht. Die Erzählungen «Der Mantel vom letzten Jahr», «Ein Spatz in der Hand», «Der Wunschzettel», «Krokodilsschuhe», «Liebe am Nachmittag», «Holdups», «Dreizehn Tage mit John C», «Between the Tweets» und «Margot» sind 2017 in der Erzählsammlung «Kleine Fluchten» bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, erschienen. Die Erzählung «Das Makeover» erscheint in diesem Sammelband erstmals auf Deutsch.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«PARIS FOR ONE» Copyright © 2012 by Jojo’s Mojo Ltd.

«HONEYMOON IN PARIS» Copyright © 2015 by Jojo’s Mojo Ltd.

«LAST YEAR’S COAT» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«THIRTEEN DAYS WITH JOHN C» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«BETWEEN THE TWEETS» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«LOVE IN THE AFTERNOON» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«A BIRD IN THE HAND» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«CROCODILE SHOES» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«HOLD-UPS» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«THE CHRISTMAS LIST» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«MARGOT» Copyright © 2016 by Jojo’s Mojo Ltd.

«THE MAKEOVER» Copyright © 2020 by Jojo’s Mojo Ltd.

 

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung Silke Schmidt

ISBN 978-3-644-02407-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

 

 

www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Nachts an der Seine

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Die Tage in Paris

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Der Mantel vom letzten Jahr

Ein Spatz in der Hand

Der Wunschzettel

Krokodilsschuhe

Liebe am Nachmittag

Holdups

Dreizehn Tage mit John C

Between the Tweets

Margot

Das Makeover

Nachts an der Seine

Erstes Kapitel

Nell zieht ihren Rollkoffer an der Plastikstuhlreihe im Bahnhof vorbei und sieht zum hundertsten Mal auf die Wanduhr. Ihr Blick zuckt zurück, als die Türen Richtung Sicherheitskontrolle aufgleiten. Die nächste Familie – vermutlich auf dem Weg nach Disneyland – kommt mit einem Buggy, schreienden Kindern und völlig übermüdeten Eltern in die Abfahrtshalle.

Seit einer halben Stunde schlägt ihr Herz wie wild, und ihre Kehle ist wie zugeschnürt.

«Er wird kommen. Er kommt noch. Er kann es immer noch schaffen», murmelt sie vor sich hin.

«Abfahrt des Zuges 9051 nach Paris in zehn Minuten von Bahnsteig zwei. Bitte begeben Sie sich zum Bahnsteig. Achten Sie darauf, kein Gepäckstück zurückzulassen.»

Sie kaut auf ihrer Unterlippe, schreibt ihm noch eine SMS – die fünfte.

Wo bist du? Der Zug fährt gleich ab!

Sie hatte ihm zwei SMS geschrieben, als sie von zu Hause losgegangen war, um noch einmal zu bestätigen, dass sie sich am Bahnhof treffen würden. Als er nicht antwortete, sagte sie sich, es müsse daran liegen, dass sie in der U-Bahn war. Oder er. Sie schrieb eine dritte SMS und eine vierte. Und jetzt, da sie in der Wartehalle steht, vibriert das Telefon in ihrer Hand.

Sorry, Babe. Hänge bei der Arbeit fest. Werde es nicht schaffen.

Als hätten sie vorgehabt, nach dem Büro noch schnell was trinken zu gehen. Ungläubig starrt sie auf ihr Handy.

Du schaffst es nicht, den Zug zu kriegen? Soll ich warten?

Sekunden später kommt die Antwort.

Nein, fahr schon mal. Ich versuche, einen späteren Zug zu nehmen.

Sie ist zu fassungslos, um wütend zu werden. Bleibt wie angewurzelt stehen, während die Leute um sie herum aufstehen, ihre Mäntel anziehen. Dann tippt sie in ihr Handy:

Aber wo sollen wir uns treffen?

Er antwortet nicht. Hänge bei der Arbeit fest. Er arbeitet in einem Laden für Surfer- und Taucherbedarf. Es ist November. Wie kann er da bei der Arbeit festhängen?

Sie sieht sich um, als könnte das ein Scherz sein. Als käme er mit seinem breiten Grinsen jeden Moment durch die Tür gerannt und würde ihr erklären, er hätte sie nur ein bisschen veralbern wollen (er veralbert sie ein bisschen zu gern). Und als würde er sie dann am Arm nehmen, sie mit den vom Wind kühlen Lippen auf die Wange küssen und so etwas sagen wie: «Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich mir das nehmen lasse, oder? Deine erste Reise nach Paris?»

Aber die Glastüren bleiben fest geschlossen.

«Madam? Sie müssen jetzt zum Bahnsteig.» Der Eurostar-Schaffner streckt die Hand nach ihrer Fahrkarte aus. Und eine Sekunde lang zögert sie – Wird er kommen? –, dann tippt sie:

Am besten treffen wir uns im Hotel.

Dann ist sie Teil der Menge und zieht ihren kleinen Koffer hinter sich her. Als sie zum Aufzug geht, fährt gerade der riesige Zug ein.

 

«Was soll das heißen, du bist nicht dabei? Das haben wir doch schon seit Ewigkeiten geplant!» Es geht um die jährliche Reise der Freundinnen nach Brighton. Sie fahren regelmäßig über das erste Novemberwochenende dorthin, jedes Jahr, seit sechs Jahren: Nell, Magda, Trish und Sue. Entweder quetschen sie sich in Sues alten Offroader oder in Magdas Firmenwagen. Für zwei Tage flüchten sie aus ihrem Alltag, gehen etwas trinken, unterhalten sich mit Typen, die ihren Junggesellenabschied feiern, und pflegen ihren Kater bei einem fettigen Frühstücksbüfett in einem schäbigen Hotel namens Brightsea Lodge.

Ihre Ausflüge haben zwei Babys, eine Scheidung und eine Gürtelrose überlebt (damals haben sie in Magdas Hotelzimmer gefeiert). Keine von ihnen hat auch nur eine einzige Fahrt ausgelassen.

«Na ja, Pete hat mich nach Paris eingeladen.»

«Pete fährt mit dir nach Paris?» Magda hatte sie angestarrt, als hätte sie verkündet, ab jetzt Russisch lernen zu wollen. «Pete Pete?»

«Er kann es nicht fassen, dass ich noch nie dort war.»

«Ich war mal in Paris, auf Klassenfahrt. Ich habe mich im Louvre verirrt, und irgendwer hat in der Jugendherberge meine Turnschuhe ins Klo gesteckt», sagte Trish.

«Und ich habe mit einem Franzosen rumgeknutscht, weil er aussah wie der Typ, der mit Halle Berry zusammen ist.»

«Pete-mit-den-Haaren-Pete? Dein Pete? Sorry, ich wollte nicht gemein sein. Ich dachte nur, er wäre ein ziemlicher …»

«Loser», ergänzte Sue hilfsbereit.

«Arsch.»

«Blödmann.»

«Offensichtlich haben wir falschgelegen. Und siehe da, er ist sogar der Typ Mann, der Nell zu einem romantischen Wochenende nach Paris einlädt. Und das ist … also echt. Super! Ich wünschte nur, es wäre nicht dasselbe Wochenende wie unser Wochenende.»

«Na ja, als wir endlich die Fahrkarten hatten … das war kompliziert …», murmelte Nell mit einer hilflosen Handbewegung und hoffte, dass niemand fragen würde, wer diese Fahrkarten bezahlt hat. (Es war das einzige Wochenende vor Weihnachten gewesen, für das noch ermäßigte Fahrkarten zu bekommen waren.)

Sie hatte diese Reise genauso sorgfältig geplant, wie sie ihre Arbeit im Büro organisiert. Sie hatte im Internet nach den schönsten Sehenswürdigkeiten gesucht und bei TripAdvisor nach den günstigsten Hotels, die Lage jedes einzelnen auf Google nachgeprüft und die Ergebnisse in eine Liste eingetragen.

Sie hatte sich für ein Hotel hinter der Rue de Rivoli entschieden – «sauber, netter Service, sehr romantisch» – und zwei Übernachtungen gebucht. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie mit Pete eng umschlungen in einem französischen Hotelbett lag, durch das Fenster den Eiffelturm sah und wie sie bei Kaffee und Croissant in irgendeinem Straßencafé Händchen hielten. Und etwas anderes, als sich etwas auszumalen, blieb ihr nicht übrig – sie hatte nämlich keine Vorstellung davon, was man in Paris tut, abgesehen von dem Offensichtlichen.

Mit sechsundzwanzig Jahren war Nell Simmons noch nie mit einem Liebsten übers Wochenende weg gewesen, es sei denn, man wollte dieses eine Mal mitzählen, bei dem sie mit Andrew Dinsmore zum Klettern gefahren war. Er hatte darauf bestanden, dass sie in seinem Mini schliefen, und sie war so durchgefroren aufgewacht, dass sie ihren Hals sechs Stunden lang nicht bewegen konnte.

Nells Mutter erzählte mit Vorliebe jedem, der es hören wollte, dass Nell «nicht der abenteuerlustige Typ» war. Sie war auch «nicht reiselustig», «nicht die Sorte Mädchen, die sich auf ihr Aussehen verlassen kann», und inzwischen leider auch «nicht mehr ganz taufrisch».

So war es, wenn man in einer Kleinstadt aufwuchs: Jeder glaubte zu wissen, wie man war. Nell war die Sensible. Die Stille. Diejenige, die immer alles ganz genau vorbereitete. Auf die man sich verlassen konnte, wenn es ums Blumengießen oder Babysitten ging. Und die garantiert keinem verheirateten Mann schöne Augen machte.

Nein, Mutter, was ich wirklich bin, denkt Nell, während sie ihre Fahrkarte entwertet, den Stempel begutachtet und sie dann zu all den anderen wichtigen Unterlagen in den Umschlag steckt, ist die Art Mädchen, die übers Wochenende nach Paris fährt.

Als der große Tag näher gerückt war, hatte sie gern gewisse Andeutungen fallenlassen. «Ich muss nachsehen, ob mein Pass noch gültig ist», sagte sie, als sie sich nach dem sonntäglichen Mittagessen von ihrer Mutter verabschiedete. Sie kaufte neue Unterwäsche, rasierte sich die Beine, lackierte ihre Fußnägel knallrot (normalerweise benutzte sie farblosen Nagellack). «Denkt dran, dass ich am Freitag früher wegmuss», sagte sie bei der Arbeit. «Wegen Paris.»

«Oh, du bist ja so ein Glückspilz», ertönte der Chor der Kolleginnen aus der Buchhaltung.

«Ich werde gleich grün vor Neid», meinte Trish, die Pete ein winziges bisschen besser leiden konnte als die anderen.

 

Nell steigt in den Zug, verstaut ihren Koffer und fragt sich, wie neidisch Trish tatsächlich wäre, wenn sie sie jetzt sehen könnte: eine Frau, die neben einem leeren Sitzplatz nach Paris fährt und keine Ahnung hat, ob ihr Freund noch auftauchen wird.

Zweites Kapitel

Auf dem Bahnhof in Paris ist viel los. Sie verlässt den Bahnsteig und bleibt überfordert mitten in der drängenden und schiebenden Menschenmenge stehen. Sie fühlt sich vollkommen verloren zwischen all den Shops und Aufzügen, die nirgendwohin zu führen scheinen.

Ein melodischer Akkord ertönt aus dem Lautsprecher, und eine Sprecherin verkündet etwas auf Französisch, das Nell nicht so schnell versteht. Alle anderen Leute bewegen sich zügig und entschlossen und scheinen ihren Weg ganz genau zu kennen. Als Nell aus dem Bahnhofsgebäude tritt, ist es bereits dunkel – und wieder spürt sie einen Anflug von Panik. Ich bin in einer fremden Stadt, und Französisch ist eine fremde Sprache, an die ich mich erst wieder gewöhnen muss. Und dann sieht sie das Schild: Taxis.

Mindestens fünfzig Leute stehen Schlange, aber das macht ihr nichts aus. Sie kramt in ihrer Handtasche nach dem Ausdruck mit der Hoteladresse, und als sie endlich an der Reihe ist, hält sie ihn hoch. «Hôtel Bonne Ville», sagt sie. «S’il vous plaît.»

Der Fahrer dreht sich zu ihr um, als würde er sie nicht verstehen.

«Hôtel Bonne Ville», wiederholt sie und bemüht sich um eine französische Aussprache. «Bonne Ville.»

Er sieht sie immer noch verständnislos an und rupft ihr dann den Zettel aus der Hand. «Ah! Hôtel Bonne Ville!» Er verdreht die Augen zum Himmel. Dann drückt er ihr den Zettel wieder in die Hand und reiht sich in den dichten Verkehr ein.

Nell lässt sich ins Polster sinken und atmet tief durch.

Und übrigens: Willkommen in Paris.

 

Die Fahrt dauert zwanzig lange, teure Minuten. Der Verkehr ist schrecklich. Sie schaut aus dem Fenster auf die belebten Straßen, die Restaurants und Cafés, die Modeboutiquen, Friseursalons und Nagelstudios und liest tonlos murmelnd die Straßennamen mit. Elegante graue Gebäude ragen hoch in den Himmel, und aus den Bistros fällt ein warmer Schimmer in den dunklen Winterabend. Paris, denkt sie, und plötzlich hat sie das Gefühl, dass alles gut wird. Pete kommt zwar etwas später, aber sie wird im Hotel auf ihn warten. Und morgen? Morgen werden sie darüber lachen, wie sehr es sie verunsichert hatte, allein vorauszufahren. Er hat ja schon so oft gesagt, dass sie sich zu viele Sorgen macht.

Entspann dich, Babe, wird er sagen. Pete macht sich nie Stress. Er kennt die Welt, ist schon viel herumgereist. So hat er ihr einmal von seinem Urlaub in Laos erzählt, als ihn Soldaten plötzlich mit vorgehaltenem Gewehr am Weiterfahren hinderten. «Hatte ja keinen Zweck, sich aufzuregen. Entweder sie wollten mich erschießen oder nicht. Hätte sowieso nichts dran ändern können.» Dann hatte er genickt. Ganz entspannt. «Und weißt du, wie es ausgegangen ist? Am Schluss sind wir mit diesen Soldaten ein Bier trinken gegangen.»

Oder damals, als er auf einer kleinen Fähre in Kenia unterwegs war, die kenterte. «Wir haben einfach die Reifen von der Schiffsseite abgeschnitten, sind ins Wasser gesprungen und haben uns drangehängt, bis Hilfe kam. Da war ich auch ganz locker drauf – bis sie mir gesagt haben, dass es dort Krokodile gibt.»

Sie fragt sich manchmal, warum sich der sonnengebräunte Pete mit all seiner Lebenserfahrung eigentlich für sie entschieden hat. Sie sieht weder besonders gut aus, noch ist sie besonders unternehmungslustig. Einmal hatte er ihr gesagt, dass sie ihm gefiel, weil sie ihm nicht auf die Nerven ging. «Meine anderen Freundinnen haben mich ständig vollgetextet.» Dazu hatte er im Sekundentakt neben seinem Ohr Daumen und Finger zusammenschnellen lassen. «Es ist … entspannend, mit dir zusammen zu sein.»

Als Pete sie so beschrieb, hatte Nell an einen Omasessel denken müssen … Aber das war bestimmt überinterpretiert.

Sie lässt die Autoscheibe herunter, nimmt die Verkehrsgeräusche in sich auf und die Gerüche. Paris ist genau so, wie sie es sich vorgestellt hat. Die Gebäude sind hoch, mit langen schmalen Fenstern und kleinen Balkonen – Bürogebäude sind keine zu sehen. An praktisch jeder Straßenecke gibt es ein Café, vor dem runde Tischchen und Stühle stehen. Als das Taxi weiter Richtung Zentrum vorankommt, fallen ihr immer mehr elegant gekleidete Frauen auf und Leute, die sich auf dem Gehweg mit Wangenküssen begrüßen.

Ich bin tatsächlich in Paris, denkt sie. Und plötzlich ist es ihr ganz recht, dass sie ein paar Stunden hat, um sich zu duschen und umzuziehen, bevor Pete kommt. Ausnahmsweise hat sie einmal keine Lust auf ihre Rolle als Landei mit staunend aufgerissenen Augen.

Ich werde pariserisch sein, denkt sie und sinkt in die Polster zurück.

 

Das Hotel liegt in einer engen Seitenstraße. Sie zählt die Summe ab, die auf dem Taxameter steht, doch statt das Geld zu nehmen, benimmt sich der Fahrer, als hätte sie ihn beleidigt, und wedelt mit der Hand Richtung Kofferraum, in dem ihr Koffer verstaut ist.

«Entschuldigen Sie. Ich verstehe nicht, was Sie wollen», sagt sie. Dann, nach kurzer Stille, streckt sie ihm einen weiteren Zehn-Euro-Schein hin. Kopfschüttelnd akzeptiert er das Geld und stellt dann ihren Koffer auf den Bürgersteig. Sie sieht ihm beim Wegfahren nach und fragt sich, ob sie gerade ausgenommen wurde.

Das Hotel sieht hübsch aus, und sie will sich die Stimmung nicht verderben lassen. Sie geht hinein und findet sich in einem engen Foyer wieder. Sofort fragt sie sich, was Pete dazu sagen würde. «Nicht schlecht. Gar nicht schlecht, Babe.»

«Hallo», sagt sie nervös, und dann fügt sie hinzu: «Ich habe ein Zimmer reserviert.»

Hinter ihr ist noch eine Frau hereingekommen, die schnaufend und keuchend in ihrer Tasche kramt.

«Ja, ich habe auch ein Zimmer reserviert.» Schwungvoll legt die Fremde ihre Papiere neben Nells auf den Empfangstresen. Nell rückt ein Stück zur Seite und versucht, sich nicht bedrängt zu fühlen.

«Echt. Es war ein Albtraum, bis ich endlich hier war. Ein Albtraum.» Die Frau scheint Amerikanerin zu sein, ihr Akzent verrät sie. «Der Verkehr ist ja total chaotisch.»

Die Empfangsdame ist etwa Mitte vierzig und trägt ihr dunkles Haar in einer gutgeschnittenen Kurzhaarfrisur. Stirnrunzelnd sieht sie die beiden Frauen an. «Sie haben beide eine Reservierung?»

Sie beugt sich vor und überprüft die Belege. Dann schiebt sie die Zettel wieder ihren Besitzerinnen zu. «Ich habe aber nur noch ein Zimmer. Wir sind ausgebucht.»

«Das kann nicht sein. Sie haben die Reservierung bestätigt.» Die Amerikanerin schiebt ihr den Beleg erneut hin. «Ich habe letzte Woche gebucht.»

«Und ich habe mein Zimmer bereits vor zwei Wochen reserviert», sagt Nell. «Sehen Sie? Hier steht das Datum.»

Die beiden Frauen starren sich an. Plötzlich wird ihnen klar, dass sie sich in einer Konkurrenzsituation befinden.

«Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Buchung gekommen sind. Wir haben nur noch ein freies Zimmer.» Die Französin klingt, als wären die beiden Frauen daran schuld.

«Nun, dann müssen Sie uns noch ein Zimmer suchen. Sie müssen die Reservierung anerkennen. Sehen Sie, hier steht es schwarz auf weiß. Ich kenne meine Rechte.»

Die Französin hebt eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen. «Madame. Ich kann Ihnen nicht geben, was ich nicht habe. Es gibt nur noch ein Zimmer mit einem Doppelbett oder zwei Einzelbetten, je nachdem, wie Sie die Betten gestellt haben möchten. Ich kann einer von Ihnen eine Rückerstattung anbieten, aber ich habe keine zwei Zimmer.»

«Aber ich kann nicht woanders hingehen. Ich treffe mich hier mit jemandem», sagt Nell. «Er würde ja gar nicht wissen, wo ich bin.»

«Ich ziehe nicht in ein anderes Hotel», sagt die Amerikanerin und verschränkt die Arme vor der Brust. «Ich habe gerade einen Flug von sechstausend Meilen hinter mir und muss zu einem Abendessen. Ich habe keine Zeit, mir woanders ein Zimmer zu suchen.»

«Wenn das so ist, schlage ich vor, dass Sie sich das Zimmer teilen. Und ich biete Ihnen beiden einen Nachlass von jeweils fünfzig Prozent an. Zudem bitte ich das Zimmermädchen, die Betten auseinanderzustellen.»

«Ich soll mit einer Fremden das Zimmer teilen? Das soll ja wohl ein Scherz sein», empört sich die Amerikanerin.

«Dann schlage ich vor, dass Sie sich ein anderes Hotel suchen», antwortet die Rezeptionistin frostig und dreht sich weg, um einen Anruf anzunehmen.

Nell und die Amerikanerin starren sich an. Die Amerikanerin sagt: «Ich komme gerade von einem Flug aus Chicago.»

Und Nell sagt: «Ich war noch nie in Paris. Ich wüsste nicht, wo ich nach einem anderen Hotel suchen soll.»

Keine von ihnen rührt sich. Schließlich erklärt Nell: «Hören Sie – ich will mich hier mit meinem Freund treffen. Wir könnten doch fürs Erste beide unser Gepäck nach oben bringen, und wenn er kommt, sehen wir, ob er ein anderes Hotel für uns findet. Er kennt Paris besser als ich.»

Die Amerikanerin mustert sie so ausführlich, als würde sie überlegen, ob sie Nell trauen kann. «Ich teile mir das Zimmer auf keinen Fall mit Ihnen beiden.»

Nell hält ihrem Blick stand. «Das entspräche auch nicht meiner Vorstellung von einem schönen Wochenendurlaub, das können Sie mir glauben.»

«Wir haben vermutlich ohnehin keine große Wahl», sagt die Amerikanerin. «Aber dass so was passiert, ist einfach nicht zu fassen.»

Sie informieren die Empfangsdame über ihren Plan, und die Amerikanerin fügt hinzu: «Und wenn diese Lady hier auszieht, will ich trotzdem meine fünfzig Prozent Nachlass. Die ganze Sache ist völlig unmöglich. Dort, wo ich herkomme, würden Sie mit so einem Service niemals durchkommen.»

Nell durchzuckt der Gedanke, ob sie sich je in ihrem Leben schon einmal unbehaglicher gefühlt hat als jetzt gerade, da sie zwischen dem demonstrativen Desinteresse der Französin und dem verächtlichen Gehabe der Amerikanerin festsitzt. Sie versucht, sich Petes Reaktion vorzustellen. Er würde mit Sicherheit lachen und ganz locker mit der Situation umgehen. Seine Fähigkeit, das Leben nicht immer so ernst zu nehmen, ist eine der Eigenschaften, die sie an ihm attraktiv findet. Es ist okay, sagt sie sich, später werden wir darüber lachen.

Nell und die Amerikanerin nehmen die Schlüssel und gehen in den dritten Stock hinauf. Als die Frau die Tür öffnet, finden sie sich in einem Mansardenzimmer mit zwei getrennt stehenden Betten wieder.

«Oh», sagt die Amerikanerin. Dann inspiziert sie den Raum und entdeckt das Badezimmer. «Es gibt keine Badewanne. Grässlich! Und alles ist so klein.»

Nell stellt ihren Koffer in die Ecke, schreibt Pete eine SMS und bittet ihn, ein anderes Hotel zu suchen.

Ich warte hier auf dich. Sagst du mir, ob du rechtzeitig zum Abendessen da bist? Ich habe ziemlichen Hunger.

Es ist schon acht Uhr.

Er reagiert nicht. Sie überlegt, ob er sich gerade im Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal befindet. Wenn ja, hat er dort vielleicht keinen Empfang. Schlimmer noch ist die Vorstellung, dass es dann noch mindestens anderthalb Stunden dauert, bis er ankommt. Schweigend sitzt sie da, während die Amerikanerin mit viel Gestöhne ihren Koffer auf ihrem Bett öffnet und sämtliche Kleiderbügel benutzt, um ihre Sachen in den Schrank zu hängen.

«Sind Sie geschäftlich hier?», fragt Nell höflich, als das Schweigen zu bedrückend wird.

«Ich habe zwei Termine. Einen heute Abend, dann hab ich einen Tag frei. Ich hatte in diesem Monat noch keinen einzigen freien Tag.» Die Amerikanerin sagt es, als wäre Nell daran schuld. «Und übermorgen muss ich quer durch die Stadt auf die andere Seite von Paris. Tja, ich muss jetzt los. Und ich gehe davon aus, dass Sie Ihre Finger von meinem Zeug lassen!»

Nell kann die Fremde nur anstarren. «Ich rühre Ihre Sachen ganz bestimmt nicht an.»

«Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich bin es nur nicht gewohnt, mir mit vollkommen fremden Menschen ein Zimmer zu teilen. Wenn Ihr Freund ankommt, könnten Sie dann Ihren Schlüssel unten abgeben?»

Nell versucht, ihren Ärger zu unterdrücken. «Mach ich», sagt sie, nimmt ihr Buch und tut so, als würde sie lesen, während die Amerikanerin mit einem Blick über die Schulter aus dem Zimmer geht. Genau in diesem Moment piept Nells Telefon. Blitzschnell greift sie danach.

Sorry, Babe, ich schaffe es nicht nach Paris. Amüsier dich gut.

Drittes Kapitel

Fabien sitzt auf dem Dach, zieht sich die Wollmütze tiefer in die Stirn und zündet sich noch eine Zigarette an. Hier hat er immer geraucht, wenn es sein konnte, dass Sandrine gerade dann zurückkam. Sie mochte den Geruch nicht, und wenn er drinnen rauchte, hatte sie immer die Nase gerümpft und behauptet, die ganze Einzimmerwohnung würde stinken.

Der Dachvorsprung ist nicht breit, aber er reicht für einen großgewachsenen Mann, einen Becher Kaffee und 332 handschriftliche Manuskriptseiten. Im Sommer macht er sogar manchmal ein Nickerchen hier draußen, und wenn sie da sind, winkt er den Teenagerzwillingen auf der anderen Seite des Platzes zu. Sie sitzen oft auf ihrem eigenen Dach, hören Musik und rauchen, weit weg von den Blicken ihrer Eltern.

Im Zentrum von Paris gibt es überall solche Stellen. Hat man keinen Garten und auch keinen noch so winzigen Balkon, sucht man sich seinen Platz eben im Freien. Wo es nur geht – und sei es auf dem Dach.

Fabien zückt seinen Stift und fängt an, Wörter zu streichen. Seit sechs Monaten überarbeitet er schon seinen Text, und inzwischen wimmelt er von Anmerkungen. Jedes Mal, wenn er seinen Roman liest, entdeckt er neue Fehler.

Die Protagonisten sind langweilig, ihre Dialoge wirken künstlich. Fabiens Freund Philippe sagt, er soll endlich den nächsten Schritt tun, das Manuskript in den Computer tippen und an eine Agentur schicken. Doch jedes Mal, wenn Fabien darin liest, findet er neue Gründe, weshalb er sein Buch noch niemandem zeigen kann.

Es ist nicht fertig.

Sandrine hat behauptet, er würde es deswegen niemandem geben, weil er sich bis zur Abgabe weiterhin einreden konnte, der Text könnte noch gut werden. Das war einer ihrer weniger grausamen Kommentare gewesen.

Er wirft einen Blick auf die Uhr und sieht, dass er nur noch eine Stunde hat, bevor seine Schicht anfängt. Doch dann klingelt sein Handy. Verdammt! Es liegt drinnen. Er verflucht sich selbst, weil er wieder einmal vergessen hat, das Handy in die Tasche zu stecken, bevor er aufs Dach geklettert ist. Er balanciert seinen Becher auf dem Papierstapel, damit keine Seiten davonwehen, und dreht sich dann um, weil er durch das Fenster zurück in die Wohnung steigen will.

Hinterher weiß er nicht mehr so genau, was eigentlich passiert ist. Jedenfalls ist sein rechter Fuß auf dem Tisch, über den er immer zurück ins Zimmer klettert, ausgerutscht. Und sein linker Fuß muss in dem unwillkürlichen Versuch, den Sturz aufzuhalten, nach hinten geschnellt sein. Und dann muss er mit einem seiner dicken, unbeholfenen Füße (wieder so ein Kommentar von Sandrine) gegen den Becher gekickt sein. Jedenfalls konnte er nur noch zusehen, wie alle 332 Manuskriptseiten davonsegelten. Über den Dachvorsprung hinaus. Und in den abendlichen Himmel hinein. Wie weiße Tauben, die über den Straßen von Paris flattern.

Viertes Kapitel

Seit einer Stunde liegt Nell auf ihrem Bett und weiß immer noch nicht, was sie jetzt mit ihrer Zeit anfangen soll. Pete kommt nicht nach Paris. Er kommt wirklich nicht! Sie hat die ganze Reise bis in die französische Hauptstadt gemacht, mit neuer Unterwäsche und knallrot lackierten Fußnägeln – und Pete hat sie versetzt.

Zuerst hat sie einfach nur eine Ewigkeit lang seine SMS angestarrt – sein fröhliches «Amüsier dich gut» – und auf eine Erklärung gewartet. Umsonst. Das war’s, er kam nicht.

Sie liegt auf dem Bett, das Handy in der Hand, und starrt an die Wand. Ihr wird klar, dass sie wohl immer gewusst hat, dass so etwas passieren könnte. Sie richtet ihren Blick auf das Handy, schaltet das Display an und aus, nur um sicher zu sein, dass sie nicht träumt.

Aber sie weiß es. Sie wusste es vermutlich schon am Abend zuvor, als er nicht auf ihre Anrufe reagierte. Womöglich hätte sie es sogar schon vor einer Woche wissen können, als er auf ihre sämtlichen Vorschläge, was sie in Paris unternehmen könnten, nur mit einem «Ja, meinetwegen» oder einem «Ich weiß nicht» geantwortet hatte.

Es lag nicht einfach nur an Petes Unzuverlässigkeit – er verschwand sogar ziemlich oft, ohne ihr zu sagen, wohin er ging. Wenn Nell ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass er sie eigentlich auch gar nicht eingeladen hatte.

Es stimmte, sie hatten darüber geredet, wo sie schon gewesen waren, und sie hatte erzählt, sie wäre noch nie in Paris gewesen. Daraufhin hatte er vage gemeint: «Echt? Die Stadt ist einfach umwerfend. Sie würde dir bestimmt gefallen.»

Und dann hatte sie das einzige Mal in ihrem Leben wirklich spontan gehandelt. Auf der Website des Eurostars hatte sie das Sonderangebot entdeckt. Zunächst hatte ihr rechter Zeigefinger verhalten über dem Jetzt buchen-Link geschwebt. Und dann hatte sie, ohne weiter nachzudenken, zwei Rückfahrkarten gekauft. Am nächsten Abend waren sie zu Pete nach Hause gegangen, und Nell hatte ihm mit Wangen, die halb vor Verlegenheit und halb vor Vorfreude glühten, die Fahrkarten überreicht.

«Du hast was getan?» Er war betrunken gewesen, wie ihr jetzt wieder einfiel, und hatte langsam und ungläubig geblinzelt. «Du hast mir eine Fahrkarte nach Paris gekauft?»

«Uns», hatte sie geantwortet, als er an den Knöpfen ihrer Bluse herumfummelte. «Ein Wochenende in Paris. Ich dachte, das wäre … schön.»

«Du hast mir eine Fahrkarte nach Paris gekauft!» Er hatte den Kopf geschüttelt, eine Haarsträhne war ihm übers Auge gerutscht. Und dann hatte er gemurmelt: «Klar, Babe. Warum nicht? Nette Idee.» Sie wusste nicht mehr, was er sonst noch gesagt hatte, als sie sich auf sein Bett hatten fallen lassen.

Jetzt wird sie wieder zum Bahnhof und nach England zurückfahren und Magda, Trish und Sue sagen müssen, dass sie recht gehabt haben. Dass Pete genau so war, wie sie ihn beschrieben hatten. Und dass sie ein Dummkopf gewesen war, der sein Geld zum Fenster rausgeworfen und überdies die gemeinsame Fahrt nach Brighton für nichts und wieder nichts abgesagt hatte.

Sie presst die Augenlider ganz fest zu, bis sie sicher ist, dass sie nicht weinen wird, dann setzt sie sich auf. Sie schaut zu ihrem Koffer, überlegt, wo sie nach einem Taxi suchen soll und ob sie ihre Fahrkarte umbuchen kann. Was ist, wenn sie am Bahnhof erfährt, dass sie mit ihrem Ticket nicht in den Zug gelassen wird? Sie überlegt, ob sie die Empfangsdame bitten soll, für sie bei Eurostar anzurufen, aber sie fürchtet sich vor dem eisigen Blick der Frau. Sie hat keine Ahnung, was sie machen soll.

Ihr Handy piept. Sie schaut auf das Display, ihr Herz rast. Er kommt doch! Alles wird gut! Aber es ist nur eine SMS von Magda.

Na, hast du Spaß, oder hat er schon schlappgemacht?

Blinzelnd schaut sie auf den Text und hat auf einmal schreckliches Heimweh. Ach, wäre sie doch auch dort, in Magdas Hotelzimmer. Vier Plastikbecher voller Billigsekt würden auf dem Waschbeckenrand stehen, während sie sich alle beim Schminken vor dem Spiegel drängten. In England ist es jetzt eine Stunde früher. Ihre Freundinnen machen sich bestimmt gerade zum Ausgehen fertig. Aus ihren Koffern quellen die neuen Klamotten, und die Musik läuft so laut, dass sich vermutlich einer der anderen Hotelgäste beschweren wird.

Nell hat sich noch nie im Leben so einsam gefühlt.

Alles super, danke. Feiert ordentlich!

Sie tippt den Satz langsam, dann drückt sie auf Senden und wartet auf das zischende Geräusch, das ihr mitteilt, dass die SMS über den Ärmelkanal geflogen ist. Schließlich schaltet sie ihr Handy aus, damit sie nicht weiter lügen muss.

 

Um sich zu beruhigen, holt sie ihr Notizbuch aus der Tasche, begutachtet den Eurostar-Fahrplan und beginnt, eine neue Liste zu schreiben. Listen helfen ihr immer, um festzustellen, welche Möglichkeiten sie hat, wenn eine Situation schwierig wird. Es ist schon Viertel vor neun. Selbst wenn sie sofort zum Bahnhof fährt, würde sie vermutlich keinen Zug mehr erwischen, der so früh in London ankommt, dass sie es noch bis nach Hause schafft. Notgedrungen wird sie über Nacht in Paris bleiben müssen.

Das grelle Licht des Badezimmerspiegels zeigt ihr, wie müde und deprimiert sie aussieht. Genau wie eine Frau, die gerade den langen Weg bis in die französische Metropole zurückgelegt hat, nur um dann von ihrem Freund versetzt zu werden. Sie stützt sich mit einer Hand auf den Rand des Waschbeckens, atmet lange und zittrig ein und versucht, vernünftig zu bleiben.

Sie wird sich etwas zu essen suchen, ein bisschen schlafen, und dann sieht alles gleich viel besser aus. Und morgen wird sie den ersten Zug zurück nehmen. So hat sie sich ihre Reise ganz und gar nicht vorgestellt, aber das klingt nach einem vernünftigen Plan. Plötzlich fühlt sich Nell wohler. Sie hat einen Plan!

Sie verlässt das Zimmer, schließt ab und geht nach unten. Sie versucht, unbeschwert und selbstbewusst zu wirken, wie eine Frau, die häufig in fremden Städten unterwegs ist.

«Kennen Sie ein nettes Lokal, wo ich kurz etwas essen könnte?», fragt sie die Empfangsdame.

Die Frau sieht sie an. «Meinen Sie ein Restaurant?»

«Oder ein Café. Das ist mir gleich. Einfach etwas, wo ich zu Fuß hingehen kann. Oh, und … mhm … wenn die andere Dame zurückkommt, würden Sie ihr dann bitte ausrichten, dass ich hier übernachte?»

Die Französin zieht ihre Augenbraue ein winziges bisschen in die Höhe, und Nell stellt sich vor, dass sie denkt: Also kommt dein Freund wohl gar nicht, du graue Maus aus England. Das überrascht mich überhaupt nicht.

«Hier in der Nähe ist das Café des Bastides», erklärt die Rezeptionistin und reicht Nell einen kleinen Stadtplan. «Wenn Sie aus dem Hotel treten, gehen Sie nach rechts. Dann ist es in der zweiten Straße auf der linken Seite. Es ist sehr nett dort. Man kann gut …», sie unterbricht sich, «… allein essen.»

«Danke.» Nell nimmt mit brennenden Wangen den Stadtplan, steckt ihn in ihre Handtasche und verlässt eilig das Foyer.

 

In dem Café ist viel los, trotzdem findet sie einen kleinen Tisch und einen Stuhl in einer Ecke am Fenster. Sie setzt sich. Die Fenster sind von innen beschlagen, und die anderen Gäste im Café scheinen sich prächtig zu unterhalten. Auf Französisch. Nell ist befangen, als hätte sie sich ein Schild mit der Aufschrift angeheftet: Ich Arme. Ich habe niemanden, der mit mir isst.

Sie schaut auf die Tafel, die über dem Tresen hängt und Auskunft über die Gerichte gibt. In Gedanken übt sie die Worte ein paarmal, bevor sie sie laut aussprechen muss.

«Bonsoir.» Der Kellner, der sich den Kopf rasiert hat und eine lange weiße Schürze trägt, stellt einen Krug mit Wasser vor sie auf den Tisch. «Qu’est-ce que …?»

«Je voudrais le steak frites, s’il vous plaît», antwortet sie hastig. Ihre Bestellung – Steak mit Pommes frites – ist teuer, aber es ist das einzige Gericht, das sie im Moment so fließend wie möglich aussprechen kann, ohne sich dumm anzuhören.

Der Kellner nickt knapp und wirft einen Blick über die Schulter, als wäre er abgelenkt worden. «Das Steak? Und was wollen Sie zu trinken, Madame?» Er hat ins Englische gewechselt, erkannt, dass sie Ausländerin ist. Und hört sich perfekt an. «Möchten Sie Wein?»

Sie hatte eine Cola bestellen wollen. Stattdessen flüstert sie: «Ja, bitte.»

«Bon.» Kurz darauf ist er mit einem Brotkörbchen und einem Krug Wein zurück. Er stellt alles auf ihren Tisch, als wäre es ganz normal, dass eine Frau an einem Freitagabend hier allein essen geht. Dann ist er wieder verschwunden.

Nell kann sich nicht erinnern, jemals eine Frau allein in einem Restaurant gesehen zu haben, abgesehen von damals, als sie diese Butterfahrt nach Corby mitgemacht hat. Damals hatte sie eine Frau beobachtet, die allein mit einem Buch in der Nähe der Damentoilette saß und zwei Desserts aß anstelle eines Hauptgangs. Da, wo Nell wohnt, gehen Frauen in Gruppen zum Essen aus, und meistens gibt es Curry nach einem langen Abend mit viel Alkohol. Ältere Frauen gehen vielleicht allein zum Bingo oder zu einem Familienfest. Aber sonst, ganz allein? Nein, daran kann Nell sich nicht erinnern.

Während sie an einem knusprigen Stück Baguette kaut, sieht sie, dass sie hier im Café nicht als einzige Frau allein zu Abend isst. Nicht weit von ihr entfernt sitzt eine einzelne Frau. Vor ihr auf dem Tisch steht ein Krug Rotwein, und sie raucht, während sie zusieht, wie draußen die Passanten vorbeieilen. In einer Ecke sitzt ein Mann und liest beim Essen die Zeitung. Eine andere Frau mit langem Haar, Rollkragenpullover und einer Zahnlücke plaudert mit dem Kellner. Niemand achtet auf sie. Nell entspannt sich ein bisschen. Es tut gut, hier zu sitzen, in der Wärme, und sie legt ihren Schal beiseite.

Der Wein schmeckt. Sie trinkt einen Schluck und spürt, wie die Anspannung des Tages nachlässt. Sie trinkt noch einen Schluck. Dann kommt ihr Steak, schön braun und kross, doch als sie es anschneidet, ist es innen noch blutig. Sie überlegt, ob sie es zurückgehen lassen soll, doch sie will kein Aufsehen erregen.

Überraschenderweise schmeckt es hervorragend. Auch die Frites sind gelungen, knusprig und golden und heiß, und der grüne Salat ist köstlich. Sie isst alles auf, selbst erstaunt über ihren Appetit. Als der Kellner abräumen will, lächelt er sichtlich erfreut. «Das ist gut, oder?»

«Wunderbar», sagt sie. «Danke … ähm, merci.» Er nickt und schenkt ihr etwas Wein nach. Als sie ungeschickt nach dem Glas greift, bringt sie das Kunststück fertig, die Hälfte des Rotweins auf die Schürze und die Schuhe des Kellners zu spritzen, sodass es dunkelrote Flecken gibt.

«Oh. Das tut mir wirklich leid!» Ihre Hand fliegt an ihren Mund.

Der Kellner seufzt und klingt etwas erschöpft, während er die Tropfen von der Schürze schüttelt. «Das macht nichts. Wirklich.»

«Es tut mir so leid. Oh, ich …»

«Nein, alles in Ordnung, das macht nichts.» Er lächelt sie kurz an und verschwindet.

Sie spürt, dass sie knallrot geworden ist, und zieht ihr Notizbuch aus der Tasche. Sie muss jetzt einfach etwas tun. Sie blickt kurz auf ihre Liste mit den Sehenswürdigkeiten von Paris, dann blättert sie um und starrt so lange auf die freie Seite, bis sie sicher ist, dass niemand zu ihr schaut.

«Lebe im Augenblick!», schreibt sie auf die jungfräuliche Seite und unterstreicht den Satz doppelt. Diesen Satz hat sie einmal in einer Zeitschrift gelesen. «Und wenn möglich, ohne irgendetwas zu verschütten», setzt sie hinzu.

Sie schaut auf die Uhr. Es ist einundzwanzig Uhr vierundvierzig. Nur noch ungefähr 39600 weitere Augenblicke, und sie kann zurück zum Bahnhof gehen und so tun, als hätte diese Reise nie stattgefunden.

 

Die Französin ist immer noch an der Rezeption, als Nell ins Hotel zurückkommt. Natürlich ist sie das. Sie schiebt Nell den Schlüssel über den Tresen zu. «Die andere Dame ist noch nicht zurück», sagt die Frau. «Wenn sie kommt, solange ich noch da bin, sage ich ihr, dass Sie im Zimmer sind.»

Nell murmelt einen Dank und geht die Treppe nach oben.

Sie stellt sich unter die Dusche und versucht, all die Enttäuschung abzuwaschen, die ihr dieser Tag gebracht hat. Schließlich, gegen halb elf, legt sie sich hin und liest in einer der französischen Zeitschriften, die auf dem Nachttisch liegen. Leider hat sie kein Buch mitgebracht.

Um elf schaltet sie das Licht aus und lauscht im Dunkeln auf die Mopeds, die durch die schmale Straße knattern, und auf das Geplauder offenkundig sehr fröhlicher Franzosen auf dem Heimweg. Sie hat das Gefühl, von einer gigantischen Party ausgeschlossen zu sein.

Tränen steigen ihr in die Augen. Sie denkt daran, die Mädels anzurufen und ihnen zu erzählen, was passiert ist. Doch sie ist nicht bereit für Mitleid. Stattdessen verdrängt sie jeden Gedanken an Pete und daran, dass er sie versetzt hat. Sie versucht, sich nicht das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen, wenn sie ihr später die Wahrheit über ihr romantisches Wochenende erzählen muss.

Und dann geht die Tür auf. Das Deckenlicht wird angeschaltet.