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Oberkommissarin Victoria Stahl und ihr neuer Partner Daniel Freund stehen vor einem Rätsel: Eine Serie mysteriöser Morde hält Würzburg in Atem. Ein Familienvater springt während eines Stadtlaufs von der Alten Mainbrücke in den Tod. Was zunächst nach Selbstmord aussieht, entpuppt sich bald als Teil eines perfiden Plans. Weitere Opfer sind ein vergifteter Pharmavertreter und ein erstochener DJ. Zur gleichen Zeit erhält die Journalistin Susanne Riehl beunruhigende Nachrichten: Die selbsternannten »Wächter Würzburgs« bekennen sich zu den Taten und fordern sie auf, über die Morde zu berichten. Doch das ist nicht alles, was sie von ihr verlangen ...
Der fesselnde Auftakt zur Krimi-Reihe von Kirsten Nähle inmitten der berühmten Stadt am Main, wo nichts so ist, wie es scheint. Der erste Fall für Oberkommissarin Victoria Stahl und Daniel Freund aus Köln. Weiter geht es in »Vertraute Qualen« und »Frische Wunden«.
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Nepomuk
Victoria
Daniel
Susanne
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Susanne
Victoria
Daniel
Susanne
Victoria
Daniel
Daniel
Victoria
Der Wächter
Daniel
Borromäus
Susanne
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Die Wächterin
Victoria
Susanne
Daniel
Die Wächterin
Victoria
Daniel
Der Wächter
Daniel
Die Wächterin
Susanne
Victoria
Daniel
Der Wächter
Victoria
Susanne
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Susanne
Daniel
Die Wächterin
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Susanne
Daniel
Die Wächterin
Daniel
Victoria
Daniel
Susanne
Daniel
Susanne
Daniel
Victoria
Daniel
Burkard
Victoria
Daniel
Victoria
Maria und Josef
Daniel
Victoria
Daniel
Susanne
Victoria
Daniel
Friedrich
Kolonat
Victoria
Der Wächter
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Der Wächter
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Daniel
Victoria
Nachwort und Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
Leseprobe
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Oberkommissarin Victoria Stahl und ihr neuer Partner Daniel Freund stehen vor einem Rätsel: Eine Serie mysteriöser Morde hält Würzburg in Atem. Ein Familienvater springt während eines Stadtlaufs von der Alten Mainbrücke in den Tod. Was zunächst nach Selbstmord aussieht, entpuppt sich bald als Teil eines perfiden Plans. Weitere Opfer sind ein vergifteter Pharmavertreter und ein erstochener DJ. Zur gleichen Zeit erhält die Journalistin Susanne Riehl beunruhigende Nachrichten: Die selbsternannten »Wächter Würzburgs« bekennen sich zu den Taten und fordern sie auf, über die Morde zu berichten. Doch das ist nicht alles, was sie von ihr verlangen ...
Kirsten Nähle
Zwölf Sünden
Kriminalroman
Ich laufe, aber im Gegensatz zu den anderen werde ich nicht am Ziel ankommen.
Meine Beine fühlen sich an, als lägen sie in Ketten. Die Fußsohlen brennen. In den Waden spüre ich ein fast unerträgliches Ziehen. Hinzu kommt dieser heftige Wind, der mir bis auf die Knochen dringt.
Ich senke den Kopf und versuche, gleichmäßig zu atmen. Es fällt mir schwer, denn eine unsichtbare Hand hat sich mir um den Hals gelegt. Ich glaube zu ersticken.
Die Tränen, die ich seit Minuten zu unterdrücken versuche, fließen mir jetzt doch über die Wangen und trocknen im Wind. Ich laufe weiter, die Löwenbrücke hinauf. Die Menge jubelt. Es interessiert mich nicht.
Ich bin wütend. Vor allem auf mich selbst. Was habe ich mir damals nur gedacht? Verfluchtes Geld!
Ich lasse den Blick über die Menschen zu beiden Seiten der Brücke schweifen. Wo ist sie? Sie muss hier sein. Wenn nicht, laufe ich keinen Meter weiter, das schwöre ich.
Jetzt sehe ich sie. Meine Lisa. Ich bleibe stehen, versuche zu lächeln. Sie erwidert das Lächeln, winkt mir zu, ruft »Papa«. Die anderen Läufer ziehen an mir vorbei.
Jemand rempelt mich an, zischt mir ein »Lauf doch weiter, du Idiot« zu.
Langsam setze ich mich wieder in Bewegung. Seitenstechen erinnert mich an meine Unsportlichkeit. Schlimmer ist der Schmerz, der sich durch die Füße bohrt. Mein Herz rast, und ich kriege kaum Luft.
Wie kann man nur freiwillig am Stadtlauf teilnehmen? Mehr als sechstausendsechshundert Starter sind es in diesem Jahr.
Mir wird übel, bestimmt muss ich mich gleich übergeben. Meine Klamotten sind schweißnass, was nicht nur an der Anstrengung liegt.
Die Strecke am Mainufer entlang kommt mir endlos vor. Was wohl geschieht, wenn ich hier und jetzt einen Herzinfarkt erleide?
Da ist sie. Die Alte Mainbrücke. Nur noch wenige Schritte bis zu meinem Ende. Die Anfeuerungen der Zuschauer nehme ich gedämpft wahr. In meinen Ohren pocht es. Ich kann das nicht. Wie soll ich das durchziehen? Vielleicht spreche ich einen der Polizisten an? Nein. Das geht nicht. Ich habe es meiner Frau versprochen.
Keuchend bleibe ich stehen, alles dreht sich. Fast sprengt mir das Herz den zu engen Brustkorb. Ich schwanke, kämpfe mich trotzdem durch die Menge zu meiner Linken. Zur Statue des Nepomuk. Ich stütze mich am Sockel des Heiligen ab und schlucke mehrmals, um die Magensäure, die meine Speiseröhre heraufkriecht, zurückzudrängen.
Schon bald ist mein Speichel aufgebraucht, der Mund trocken. In Erwartung des ersten Schwalls beuge ich mich nach vorn, und es dauert nicht lange, da drängt die saure Flüssigkeit durch Rachen und Mund aus mir heraus.
Niemand beachtet mich, alle Blicke sind auf die Läufer gerichtet.
Ich schaffe das. Es wird schnell vorüber sein. Ich atme tief ein, steige auf die Mauer und drehe mich um.
Jetzt erst sehen sie mich, zeigen auf mich und schreien. Einige von ihnen rennen in meine Richtung.
Ich schau auf zu Nepomuk, dann schließe ich die Augen.
Ein Mann ruft mir etwas zu. Egal. Ich bin bereit, für sie zu sterben.
Freitag, 28. April 2017
Victoria Stahl stellte ihren Mini auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion Würzburg ab.
Erneut starrte sie auf die SMS, die Haller ihr um 6:30 Uhr geschrieben hatte.
Kommen Sie um acht Uhr gleich bei mir im Büro vorbei. Es ist wichtig!!! Drei Ausrufezeichen und nicht mal ein »Bitte«. Es ging bestimmt um den Baumann-Fall.
Nicht gut.
Sie hetzte über den mit Pfützen übersäten Parkplatz und fluchte, weil sie wieder einmal den Schirm nicht eingepackt hatte. Dabei lag er auf dem Schuhschrank im Flur, gleich neben der Haustür, aber sie hasste Regenschirme mehr als den Regen selbst. Das Problem war, dass sie die Dinger immer irgendwo vergaß.
Sie betrat das Gebäude und ignorierte den Gruß des Kollegen am Empfang.
Jetzt muss ich wie ein begossener Pudel beim Chef antreten.
Ein Blick auf die Armbanduhr entlockte ihr den Anflug eines Lächelns. Eine Viertelstunde hatte sie noch.
Sie flitzte die Treppe hinauf bis zum zweiten Stock und verschwand hinter der ersten Tür, die links vom Flur abging.
Victoria war froh, dass niemand an den breiten Waschbecken stand. Sie lauschte, um festzustellen, dass in den Kabinen keine der Kolleginnen einem dringenden Bedürfnis nachging. Dann rupfte sie zwei Blatt Papier aus dem Spender und trocknete sich damit das Gesicht und die Spitzen ihrer vor Nässe triefenden schulterlangen Haare. Sie benötigte ein drittes Blatt, um die vom Regen unter den Augen verteilte Mascara vollständig zu entfernen.
Da sie immer noch fünf Minuten bis zum Meeting mit dem Chef hatte, beschloss sie, sich einen Kaffee zu gönnen. Auf dem Weg in die Küche legte sie Handtasche und Trenchcoat an der Garderobe in ihrem Büro ab und warf mit einer Mischung aus Trotz und Traurigkeit einen Blick auf den leeren Platz gegenüber von ihrem Schreibtisch. Wenn es nach ihr ginge, bliebe der Stuhl weiterhin unbesetzt. Die zwei Idioten, die zuletzt dort gesessen hatten, konnten ihrem Vorgänger Klaus Mücke bei Weitem nicht das Wasser reichen.
»Grüß Gott, Victoria.« Kriminalkommissar Kilian May schenkte sich gerade eine Tasse Kaffee ein. »Auch einen?«
Sie nickte. »Ja, gern. Schwarz, bitte.«
»Weiß ich doch.«
Sie bemühte sich um ein Lächeln und hoffte, es wirkte nicht allzu ermutigend. Sie hegte die Vermutung, dass Kilian in sie verschossen war – was ihr schmeichelte, denn einige Kolleginnen schwärmten für den Sonnyboy. Seine lockere Art führte allerdings dazu, dass die meisten in der Abteilung ihn unterschätzten – zu Unrecht, wie sie fand.
Vor ein paar Monaten, kurz nach der Trennung von ihrem Mann, hatte Kilian sie gefragt, ob er sie mal auf einen Drink einladen könne. Höflich, aber bestimmt hatte sie abgelehnt und gesagt, dass sie noch nicht bereit sei, wieder zu daten. Das war sie bis heute nicht. Männer konnten ihr gestohlen bleiben.
Sie bedankte sich für die Tasse, die Kilian ihr reichte, und bemerkte den erwartungsvollen Blick aus seinen dunklen Augen.
Mit einem Räuspern wandte sie sich ab. »Ich muss los. Haller wartet auf mich.«
Kilian zwinkerte ihr zu. »Viel Glück. Er hat nicht die beste Laune heute.«
Das glaubte sie sofort. Ihr Chef war selten gut gelaunt.
Rolf Haller, Erster Kriminalhauptkommissar, betrachtete von der Fensterfront seines geräumigen Eckbüros aus die Talavera. Auf dem Parkplatz oberhalb der Mainwiesen hatten Schausteller vor wenigen Wochen die Besucher des Frühjahrsvolksfestes mit Achterbahn, Autoscooter und Zuckerwatte begeistert.
Victoria fühlte sich beim Anblick von Hallers Büro immer an amerikanische Filme erinnert, in denen sich ein junger, aufstrebender Anwalt nichts sehnlicher wünscht, als ein Eckbüro mit Aussicht auf die Skyline seiner Stadt zu ergattern. Nur war das hier nicht New York, sondern Würzburg. Und ihr Chef kein junger Mann, sondern Anfang fünfzig, mit grauem, schütterem Haar und einem beachtlichen Bierbauch.
Sie nahm einen großen Schluck aus der Kaffeetasse und atmete tief durch, bevor sie mit der freien Hand an die Bürotür klopfte. »Sie wollten mich sprechen?«
Haller drehte sich zu ihr um. »Ah, Frau Stahl, ja, kommen Sie rein. Und schließen Sie bitte die Tür.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, kam aber seiner Bitte, die eher wie ein Befehl klang, nach.
In ihrer Abteilung galt die Kultur der offenen Büros, was die Kommunikation unter den Beamten fördern sollte. Wenn Haller auf einer geschlossenen Tür bestand, dann meist, damit so wenig wie möglich von seinen Wutanfällen nach draußen drang.
»Setzen Sie sich doch«, meinte Haller, auf einen Stuhl deutend, wobei er selbst stehen blieb.
»Nein, danke.« Sie lief ein paar Schritte in den Raum hinein und stellte sich vor den Schreibtisch ihres Chefs, die geschlossene Tür zu ihrer Rechten. Sie sah Überraschung in seinen Augen und triumphierte innerlich.
»Wie Sie möchten. Ich will mit Ihnen über den Baumann-Fall sprechen.«
Victoria hielt die Luft an.
»Sie haben sich über meine Anweisungen hinweggesetzt. Ich hatte unmissverständlich klargemacht, dass Sie sich darauf konzentrieren sollen, weitere Beweise gegen den Geschäftspartner des Toten zu sichern. Stattdessen sind Sie ohne Absprache nach München gefahren. Ein klarer Verstoß gegen die Dienstvorschriften.«
»Wir hatten den Falschen im Auge. Und ich hatte recht. Der Mörder von Baumann ...«
Haller unterbrach ihre Verteidigungsrede. »Das spielt keine Rolle. Es geht darum, dass Sie sich schon zum zweiten Mal gegen mich, Ihren Vorgesetzten, gestellt haben. Ein weiteres Mal werde ich nicht mehr dulden!«
Haller hatte gegen Ende seiner Tirade die Stimme erhoben. Sein Gesicht war mit jedem Satz etwas röter geworden.
Victorias Hand krampfte sich um die Kaffeetasse. »Meine Intuition sagte mir, dass mit diesem Handelspartner aus München etwas faul ist. Wäre ich nicht dorthin gefahren, hätten wir den Fall nicht gelöst.« Auch sie war nun lauter geworden.
Eine Kollegin auf dem Flur gaffte durch die Glastür, lief aber sofort weiter, als sie den Blicken der beiden begegnete.
»Das können Sie nicht wissen. Es geht hier auch nicht um Ihre Aufklärungsquote, denn die ist, ehrlich gesagt, der einzige Grund, warum Sie noch hier sind. Aber ich habe Ihre ständigen Alleingänge satt!«
Victoria stellte die Kaffeetasse hin und stützte sich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab. Sie atmete einmal tief durch und sammelte ihre Gedanken. »Ohne mich hätten wir den Täter nicht gekriegt, das wissen Sie genau. Alle in dieser Abteilung waren dermaßen auf diesen Müller fixiert, dass der Mörder fast davongekommen wäre.«
»Weil die Beweislage eindeutig war. Alles sprach für Müller als Täter.«
»Nein. Eben nicht alles.« Sie gestikulierte aufgebracht und setzte zu einer weiteren Ausführung an.
Haller kam ihr zuvor. »Schluss jetzt! Ich diskutiere das nicht länger mit Ihnen.« Er schrie. Die Kollegen in den Nachbarbüros zerrissen sich sicher schon die Mäuler. »Das ist Ihre zweite und letzte Abmahnung. Ignorieren Sie erneut meine Anordnung, sorge ich für Ihre Versetzung.«
Sie schwieg, aber in ihrem Inneren brodelte es. Haller hatte ihr schon einmal mit einem Disziplinarverfahren gedroht. Doch würde sie nur Dienst nach Vorschrift machen, liefe hier gar nichts. Da war sie sich sicher.
»Noch was«, fügte Haller hinzu. »Sie sind Sonntag bei Würzburg läuft im Einsatz, da Kullmann ausfällt.«
»Was, Sonntag? Aber ich ...«
»Ich bin noch nicht fertig!«
Sie zuckte zusammen.
»Sie haben ab heute einen neuen Partner.«
Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Perplex starrte sie ihren Chef an. Das war doch Absicht, sie erst jetzt darüber zu informieren.
Haller lief zur Tür, um sie zu öffnen und dem Gespräch somit ein Ende zu setzen. »Sie lernen ihn gleich in der Einsatzbesprechung kennen.«
Frustriert schnappte sie sich ihre Tasse und verließ, ohne Haller eines weiteren Blickes zu würdigen, den Raum. Ihr Kaffee schmeckte auf einmal bitter.
»69,1 Prozent Aufklärungsquote. Fast vier Prozentpunkte über dem bayerischen Landesdurchschnitt.« In der Stimme des Personalchefs schwang unverhohlener Stolz mit. Er schwärmte schon seit zwanzig Minuten von der Polizeiinspektion Würzburg. »Was die Sicherheit angeht, steht unsere Stadt weit vorn. Das verdanken wir vor allem der personellen Aufstockung in den letzten Jahren.«
Daniel hörte geduldig zu, obwohl man ihn von dem Job nicht überzeugen musste. Er war ganz scharf darauf, loszulegen. Diese Stadt würde sein Neubeginn sein, er spürte es. Dabei hätte er nie gedacht, dass er mal aus seiner Heimatstadt wegziehen würde.
Er war froh, dass eine junge Mitarbeiterin der Personalabteilung die Bürotür öffnete und ihr Gespräch unterbrach. »Ich soll Herrn Freund in seine Abteilung bringen. Die Besprechung startet gleich.«
Der Personalchef nickte und entließ die beiden.
Die junge Frau zwinkerte Daniel verschwörerisch zu. »Hat er es wieder übertrieben mit den Heldengeschichten?«
»Ist okay, war ja interessant.«
Sie kicherte. »Er ist schon so lange dabei, dass er sich ein wenig zu sehr mit unserer Inspektion und seinem Job identifiziert.«
Daniel fand die junge Frau sympathisch und witzig. Von wegen die Franken haben keinen Humor. Der Meinung seiner Freundin, die Menschen in der neuen Heimat seien alle ein wenig griesgrämig und distanziert, konnte er sich bislang nicht anschließen.
Sie betraten einen Meetingraum mit Tageslicht, der mit Beamer, Leinwand und einem Fernseher – vermutlich für Videokonferenzen – ausgestattet war. Einige Personen hatten bereits auf Stühlen Platz genommen, andere standen beieinander und unterhielten sich.
Seine Begleitung führte ihn quer durch den Raum zu fünf seiner neuen Kollegen.
»Ach, Herr Freund, da sind Sie ja.«
Daniel erkannte seinen neuen Chef, den ältesten Mann der Gruppe, der lächelnd auf sie zukam.
Die Mitarbeiterin der Personalabteilung wünschte Daniel einen guten Start und verabschiedete sich.
»Darf ich Ihnen die Kollegen vorstellen?« Haller machte ihn mit der Gruppe bekannt.
Daniel beobachtete die Reaktion der vier anderen Männer auf seine dunkle Hautfarbe genau. Alle begrüßten ihn freundlich, einer jedoch lächelte nicht. Das muss ja nichts heißen, versuchte Daniel sich zu beruhigen. Vielleicht hat er nur einen schlechten Tag.
Fünf Minuten später hatte sich der Raum gefüllt. Fast alle Sitzplätze waren belegt. Daniel blieb auf Bitten Hallers als Einziger mit ihm vor der Leinwand stehen. Mit seinen 1,93 Meter überragte er den Chef um einen halben Kopf.
»Grüß Gott zusammen«, begrüßte Haller die Anwesenden im Raum. »Ich möchte Ihnen allen zunächst einen neuen Kollegen vorstellen.« Er wandte sich Daniel zu, der ihm mit einem Nicken dankte. »Kriminaloberkommissar Daniel Freund aus Köln. Er hat sich auf unsere freie Stelle beworben.«
Alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Daniel lächelte freundlich in die Runde. Keine argwöhnischen oder feindseligen Blicke, stellte er fest, nur erwartungsvolle Gesichter. Beruhigt atmete er durch.
»Herr Freund hat trotz seines jungen Alters von neunundzwanzig Jahren eine Menge Erfahrung, gerade im Bereich der Banden- und Jugendkriminalität. Ich freue mich, dass er unser Team ergänzt, und bin mir sicher, er wird sich schnell einarbeiten.«
Beim letzten Satz hatte Haller die Augen halb zusammengekniffen und nach links in den Raum gestarrt. Neben der zweiten Stuhlreihe stand eine Blondine in Jeans und langer weißer Bluse. Die Arme hatte sie vor dem Körper verschränkt, die Lippen zusammengepresst. Ihr Blick war eisig.
»Mit Kriminaloberkommissarin Victoria Stahl bekommen Sie eine unserer Besten als Partnerin«, sagte Haller und deutete auf die eindeutig verärgerte Kollegin. »Frau Stahl, Sie zeigen Herrn Freund nach der Sitzung bitte Ihr gemeinsames Büro.«
Daniel suchte den Blick seiner neuen Partnerin, diese fixierte aber weiterhin Haller.
»Ich freue mich, Victoria.« Daniel hoffte, es war auch in Bayern üblich, dass sich die Kollegen untereinander duzten. »Sicher kann ich einiges von dir lernen.«
Jetzt sah sie ihn doch an, zwar immer noch grimmig, aber zumindest nickte sie ihm kurz zu.
»Nun denn, willkommen bei uns«, schloss Haller die Vorstellungsrunde ab. »Herr Weber, der Einsatzleiter von der Schutzpolizei, wird uns mit der Planung für den Stadtlauf vertraut machen. Danke, Herr Freund. Sie können sich gern setzen.« Er selbst nahm in der ersten Reihe Platz.
Daniel beschloss, sich neben seine neue Partnerin zu stellen.
Herr Weber hatte inzwischen den Beamer eingeschaltet und trat neben die Leinwand, die die Laufstrecke zeigte. »Wir hatten letztes Jahr gehäuft Taschendiebstähle und Rangeleien unter den Zuschauern. Daher haben wir die Zahl der Beamten um vierzig aufgestockt. Neben Schupo und Kripo ist die Bereitschaftspolizei im Einsatz.«
Es gab zwei Streckenverläufe. Eine Route führte um den Ringpark herum, die längere schloss Löwenbrücke und Alte Mainbrücke mit ein.
»Die längere Strecke ist für die Wettbewerbe am Nachmittag, zum Beispiel den Hauptlauf«, erklärte Weber. »Wir haben demnach dieses Jahr zwei Routen zu sichern – wenn auch nicht zeitgleich. Der Verkehr über die Löwenbrücke wird gesperrt.« Weber erläuterte schließlich noch die Ressourcenverteilung. »Sammelpunkt ist wie immer der Residenzplatz.«
»Warum die erweiterte Strecke?«, fragte Victoria verwundert. »Das verkompliziert den Einsatz, und wir haben mehr Brennpunkte, was die Sicherheit angeht.«
Weber stimmte ihr zu. »Schon, aber was die Absicherung auf der Alten Mainbrücke angeht, hilft uns die Erfahrung vom Firmenlauf. Die längere Strecke dient einer besseren Verteilung, denn jedes Jahr melden sich mehr Personen für die Nachmittagsläufe an, und die Zuschauerzahlen steigen.«
Daniel bemerkte, wie seine Partnerin neben ihm den Kopf schüttelte. Er teilte ihre Bedenken. Kurz zögerte er, denn es war sein erster Tag. Sollte er da schon Kritik äußern? Andererseits hatte er eine Menge Erfahrung, was solche Veranstaltungen anging.
»Ich bin zwar neu in Würzburg und kenne daher den Firmenlauf nicht, aber ich entnehme Ihren Ausführungen, dass dieser nur über eine Brücke führt, der Stadtlauf aber über zwei ...«
»Und die Löwenbrücke ist länger und vor allem breiter«, warf Victoria ein. »Hier werden sich sehr viele Zuschauer einfinden.«
Daniel wusste nicht, ob er sich über die argumentative Unterstützung freuen oder eher beleidigt sein sollte, weil sie ihn unterbrochen hatte. Aber er ließ sich nicht beirren, sondern fuhr fort: »In Köln hatten wir einige Veranstaltungen, die Brücken mit einschlossen. Auch wenn die Brücken über den Rhein viel länger und breiter sind, scheinen mir die für morgen geplanten Ressourcen an diesen Stellen zu knapp. Wie die Kollegin richtigerweise anführt, werden sich die Menschen vor allem auf den Brücken einfinden, um den Lauf zu beobachten. Ich schlage daher vor, hier mehr Beamte abzustellen.«
»Bei allem Respekt, Herr Freund«, entgegnete Weber, »ich bin mir sicher, genug Einsatzkräfte auf den Brücken eingeplant zu haben. Außerdem finden sich vor allem am Ringpark jugendliche Störer ein. Hier kann ich keine Leute abziehen.«
»Aber Herr Freund hat schon recht«, wandte jetzt ein Kollege aus den hinteren Reihen ein. »Wenn ich an den letzten Lauf denke, haben Taschendiebe die Enge auf der Mainbrücke schamlos ausgenutzt.«
Im Saal war zustimmendes Gemurmel zu vernehmen.
Haller stand auf und trat nach vorn. »Ich denke auch, ein paar mehr Beamte auf den Brücken schaden nicht. Danke für Ihren Rat, Herr Freund. Aber – hier gebe ich Herrn Weber recht – wir sollten diese vom Mainufer abziehen statt vom Ringpark. Und ich möchte, dass wir vor allem die Löwenbrücke stärker sichern.«
Damit hatte Haller das letzte Wort gesprochen, die Versammlung löste sich auf.
»Und, zeigst du mir unser Büro?« Daniel lächelte die neue Kollegin an. »Ich habe ein paar kleine Kisten in meinem Wagen, die ich gern auspacken möchte.«
Sie erwiderte das Lächeln nicht, sondern nickte nur und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Ganz schön wortkarg und kühl. Vielleicht bin ich nun doch der ersten echten Fränkin begegnet.
Ihr Termin beim Fraunhofer Institut für Silicatforschung war interessant gewesen. Die Forscher hatten ein Material für Sensoren vorgestellt, das sich auf Textilien drucken ließ und erlaubte, Herzschlag und Atmung beim Joggen zu messen. Sie hatte den Text bereits während der Pressekonferenz so gut wie druckfertig in ihr Notebook getippt. Für heute lag nur noch die Finalisierung ihres Features an.
In der Lokalredaktion der Würzburger Nachrichten ging sie die Mails durch, die in ihrer Abwesenheit eingetroffen waren, doch die Anzahl hielt sich in Grenzen.
Susanne seufzte. Sie war hektischere Arbeitstage gewohnt. Im neuen Job ging es um einiges ruhiger zu, als sie es kannte – und mochte. Anders als die meisten Kollegen liebte sie es, wenn die Telefone in der Redaktion heiß liefen, Deadlines näher rückten und sich die Aufgaben auf ihrem Schreibtisch stapelten. Nichts fand sie schrecklicher als Langeweile. Erst unter Druck lief sie zur Hochform auf. Das war schon zu Schulzeiten so gewesen.
Ein vorsichtiges Klopfen an ihrer Bürotür riss sie aus ihren Gedanken.
Sie hob den Blick. »Herr Lauer!«
Ihr Chef zuckte kurz mit den Mundwinkeln und hüstelte. »Wie läuft es mit dem Feature? Schaffen Sie die Deadline heute?«
Susanne schluckte ihren aufkommenden Ärger hinunter. Sie hatte nie eine Deadline gerissen. Auch nicht in den letzten drei Wochen, in denen Hermann Lauer Chefredakteur war.
Seine Vorgängerin hatte sie eingestellt und war immer überzeugt von ihrer Arbeit gewesen. Sie hatte nie gefragt, ob Susanne einen Abgabetermin einhielt.
Dagmar Schimpf hatte vor einem Monat den Chefposten aus persönlichen Gründen aufgegeben, was alle in der Redaktion geschockt hatte, denn sie war nicht nur kompetent, sondern auch beliebt gewesen.
Susanne hatte den Eindruck, dass ihr neuer Chef sie unterschätzte. Sie wusste nur nicht, warum. An der Qualität ihrer Arbeit lag es sicher nicht. Immerhin hatte sie letztes Jahr als sechsundzwanzigjährige Volontärin den Deutschen Lokaljournalistenpreis in der Kategorie Nachwuchs erhalten.
»Klar. Ich bin schon dran. Ich schicke es innerhalb der nächsten Stunde ans Layout.«
Lauer nickte und drehte sich wieder um, aber das war die Gelegenheit, ihren Chef von sich zu überzeugen.
»Herr Lauer?«
Er wandte sich erneut ihr zu, die Stirn gerunzelt.
»Ich kann die Vorberichterstattung zur Bundestagswahl übernehmen. Ich dachte an eine Interview-Serie mit allen Kandidaten der Region. Das habe ich beim Kölner Stadt-Anzeiger vor der NRW-Landtagswahl gebracht und viel positive Resonanz erhalten.«
Lauer überlegte kurz. »Dafür ist eigentlich Tremmel, unser Politikexperte, zuständig. Konzentrieren Sie sich erst einmal aufs Feature, dann sehen wir weiter. Es stehen so viele Termine in den kommenden Wochen an, ich fürchte, da werden Sie vorerst keine Zeit für anderes haben.«
Herr Lauer verließ Susannes Büro. Verwundert wandte sie sich wieder dem Rechner zu. Wenn sie nur hier war, um Pressekonferenzen abzuhaken, ohne eigene Ideen umsetzen zu können, konnte sie gleich wieder gehen.
Die Stimme ihres ehemaligen Chefs in der Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers schrillte in ihrem Kopf. »Sie schmeißen allen Ernstes Ihre Zukunft bei uns hin, um für ein Blatt in der fränkischen Provinz zu schreiben?«
Susanne arbeitete aber nicht für eine Provinzzeitung, sondern für die führende Tageszeitung in Mainfranken, und sie hatte nach Abschluss ihres Volontariats eine neue Herausforderung gesucht. Die Würzburger Nachrichten waren ihr Sprungbrett für eine Karriere bei der Süddeutschen Zeitung oder bei der Frankfurter Rundschau. Aber nun hatte sie das blöde Gefühl, dass sie auf ihren Ex-Chef hätte hören sollen.
»So, das ist der letzte.« Der neue Kollege stellte den dritten Karton auf seinem Schreibtisch ab.
Victoria ignorierte ihn demonstrativ. Schließlich hatte Haller nichts davon gesagt, dass sie freundlich zu dem Neuen sein musste. Ihre letzten beiden Partner waren nach einer Weile freiwillig gegangen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser hier auch aufgab.
Sie hämmerte den Bericht zum Baumann-Fall in den Computer. Währenddessen füllte Daniel eine Schublade nach der anderen mit Inhalten aus den Kisten. Wenigstens erledigte er das einigermaßen leise.
»Du hast einiges zu tun, was?«
Als sie ihn genervt ansah, deutete er auf die Akten, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten.
»Mhmm, mhmm«, murmelte Victoria und wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu.
»Vielleicht kann ich dir gleich damit helfen«, bot Daniel an. »Ich brauche nicht lange mit dem Zeug hier, dann kann’s losgehen.« Er stellte ein paar Ringordner in das kleine Regal an der Wand.
»Ich komme schon klar«, antwortete Victoria, ohne ihn anzusehen. Sie brauchte niemanden, der ihr in die Arbeit pfuschte, und schon gar keinen Aufpasser. Haller hatte dem Neuen sicher aufgetragen, ihr auf Schritt und Tritt zu folgen und ihm alles zu berichten, was sie tat.
Der Kollege lachte auf. »Würzburger Kickers? Sag bloß, die gehört dir.« Er deutete auf eine kleine Fahne im Regal.
Verflucht noch mal! Sie sprang auf und rannte zu ihm hinüber. »Nicht drücken!«
Zu spät. Er hatte bereits den Knopf am Fuß des Fahnenmasts betätigt. Die Hymne der Würzburger Fußballprofis tönte durchs Büro: »Die Schuhe sind geschnürt, der Platz ist abgestreut, und alles wartet auf uns’re Kickers ...«
Er grinste. »Du hast ja doch so etwas wie Humor.«
Victoria warf ihm einen düsteren Blick zu und stellte mit einem weiteren Knopfdruck die Musik ab. »Die gehört einem ehemaligen Kollegen und Freund. Er hat sie hier vergessen, als er in Rente gegangen ist.«
»Vergessen?! Ein echter Fan vergisst so etwas doch nicht.«
Hat er auch nicht. Ich habe ihn gebeten, sie hierzulassen, als Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit, aber das geht dich gar nichts an.
»Jedenfalls gehört sie nicht dir, also lass die Finger davon.« Sie lief zurück an ihren Platz, um sich wieder ihren Akten zu widmen. Sie hatte Besseres zu tun, als Babysitter zu spielen. Wobei der Neue ja schon ein Riesenbaby war. Sie unterdrückte ein Grinsen.
Daniel nutzte die einmal gewonnene Aufmerksamkeit. »Wenn die da stehen bleiben darf, dann nur in Begleitung.«
Victoria warf ihm einen Blick zu, der unmissverständlich ausdrückte, dass sie weder verstand, was er meinte, noch, dass es sie interessierte.
Doch sein Grinsen wurde nur breiter.
»Warte.« Daniel kramte in einer seiner Kisten und holte einen kleinen Gegenstand hervor.
Victoria stöhnte. Was für ein Idiot!
Er stellte die Fahne mit dem FC-Köln-Logo neben die andere ins Regal und drückte den Knopf. Die Hymne der Geißböcke ertönte.
»Du nervst!« Verärgert stand sie auf und lief zur Tür. Wie sollte man sich da auf die Arbeit konzentrieren?
Daniel stellte die Musik ab. »Hey, lauf nicht gleich davon. Ich höre schon auf.«
Sie winkte ab. »Ich brauche eh noch einen Kaffee.«
»Super, ich komme mit. Ich habe zum Einstand Kuchen in die Küche gestellt. Hat meine Freundin gebacken.« Er folgte ihr durch den Flur.
»Ich esse nichts Süßes.«
»Da entgeht dir aber was. Meine Freundin backt ausgezeichnet.«
Victoria zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wie ich die Kollegen kenne, ist sowieso nichts mehr da.«
Sie behielt recht, denn in der Küche war nur noch ein Stück Kuchen übrig.
Daniel riss die Augen auf. »Echt jetzt?! Das ist keine halbe Stunde her, dass ich ihn hingestellt habe.«
Sie konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen. Der Gesichtsausdruck des Kölners war aber auch zu komisch.
»Schön, dass ich dich doch noch zum Lachen gebracht habe«, meinte Daniel und bot an, den Rest des Kuchens zu teilen.
Victoria schüttelte den Kopf und schenkte sich Kaffee ein.
»Kein Wunder, dass du so schlank bist«, urteilte Daniel. »Ich könnte den ganzen Tag lang futtern. Ich habe immer Hunger.«
»Was verschlägt dich nach Würzburg?« Victoria biss sich auf die Lippe. Nur nicht zu viel Interesse zeigen.
»Die Liebe«, antwortete Daniel, sah sie dabei aber nicht an.
Sie musterte ihn. Möglich, dass du einer Liebe gefolgt bist. Aber da ist noch etwas anderes. Ich finde schon noch heraus, was.
»Köln war wohl ein raues Pflaster, wie? Wenn ich mir so deine Narbe anschaue ...«
Victoria bemerkte, wie der Neue zusammenzuckte und sich dann mit dem Daumen über das Wundmal am Kinn fuhr. Es war genauso lang wie seine Unterlippe und hob sich deutlich auf der hellbraunen Haut ab.
»Was, meinst du die hier?«
Welche Narbe sollte sie sonst meinen? Falls er noch andere hatte, dann zumindest keine an sichtbaren Körperstellen.
»Die ist vom Kickboxen. Ist ein paar Jahre her.«
Er mied bei seiner Antwort den Augenkontakt. Er log, und sie konnte Lügner nicht ausstehen.
»Ich gehe dann mal zurück an die Arbeit«, sagte Victoria und ließ ihn in der Küche stehen.
In ihrem Büro griff Victoria zum Handy. Ihre Tochter musste bereits aus der Schule zurück sein. Sie ließ es lange klingeln, doch Marie ging nicht ran. Dafür sprang die Mailbox an.
»Hi, mein Schatz. Ich werde heute Abend nicht so spät zu Hause sein. Wenn du möchtest, können wir was zusammen kochen. Marie, leider klappt es am Sonntag mit dem Besuch von Oma nicht. Ich muss für einen Kollegen einspringen. Es tut mir leid. Wenn du magst, ruf mich zurück. Bis später.«
Es klopfte an der Bürotür. Sie war verwundert, Kilian zu sehen und nicht den neuen Kollegen. Wobei ... warum hätte der anklopfen sollen, ist ja auch sein Büro, dachte sie und bemerkte, wie Verdruss in ihr aufstieg.
Sie winkte Kilian herein.
»Und? Was hältst du von dem Neuen?«, fragte Kilian und ließ seinen Blick über Daniels Schreibtisch schweifen. »Bin gespannt, wie er sich so schlägt.«
»Bist du deshalb hier? Ich habe echt viel zu tun, also ...«
»Nein, natürlich nicht, entschuldige. Es geht um den Einsatz am Sonntag. Ich habe gerade mit Weber gesprochen, und er meinte, Benedikt und ich sollen unsere Position auf der Mainbrücke mit dir und Daniel tauschen. Da er ja so viel Erfahrung mit der Sicherung von Brücken hat.« Kilian verdrehte die Augen.
Victoria zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Würzburg läuft ist mir ziemlich egal, wenn ich ehrlich bin.«
Kilian lachte. »Lass das nicht den Chef hören. Also dann, ich gebe Weber Bescheid ... und schon bin ich wieder weg.«
Victoria hob die Hand zum Abschied, besann sich dann aber eines Besseren. »Kilian? Warte mal.«
Überrascht sah der Kollege sie an.
»Hast du noch Kontakt zu deiner Ex in der Personalabteilung?«
Er nickte.
»Du könntest mir einen Gefallen tun.«
Kilian grinste.
Sonntag, 30. April 2017
Er stand auf der Südseite der Brücke in Höhe der Statue der Heiligen Jungfrau Maria. Plötzlich spürte er eine Veränderung in der Menge. Ein paar Zuschauer rannten unter dem Absperrband hindurch auf das Feld der Läufer.
Daniel folgte ihnen, um sie aufzuhalten. Da entdeckte er den Mann auf der Mauer der Ausbuchtung, die die Brückenstatue umschloss. Für den Bruchteil einer Sekunde lähmte ihn der Schock. Dann fasste er sich wieder.
»Halt, bleiben Sie stehen!« Daniel sprintete los. Die Menschen wichen zur Seite und ließen ihn passieren.
Bitte, spring nicht.
Der Mann hob den Blick zur Statue und schloss die Augen.
»Tun Sie das nicht!« Auf einmal hatte Daniel diese Bilder im Kopf. Ein anderer Ort, ein anderer Einsatz. Jemand, der Hilfe benötigte und den er im Stich gelassen hatte.
Heute nicht. Nur noch wenige Meter.
Der Mann breitete die Arme aus, als versuchte er zu fliegen.
»Ich kann Ihnen helfen.« Daniel blieben die Worte im Hals stecken.
Das helle Shirt des Mannes flatterte im Wind. Es erinnerte Daniel an die weiße Flagge der Kapitulation. An eine kampflose Übergabe zum Schutz des eigenen Lebens. Doch dieser Mann wollte nicht leben.
Als Daniel an der Mauer ankam, sah er den Körper auf dem Wasser aufprallen.
Scheiße! Er spürte, wie sich etwas um seinen Magen schlang, dann langsam in seinem Inneren hochkroch und ihm die Kehle zuschnürte. Sein Puls beschleunigte sich, und er schnappte nach Luft. Vor seinen Augen flimmerte es. Es fühlte sich an, als flösse ihm Eis durch die Adern.
Er krallte sich mit den Fingern an der Mauer fest, bis sie schmerzten. Neben und hinter ihm drängten sich die Schaulustigen, alle riefen sie durcheinander. Aus dem Augenwinkel registrierte er einen Jugendlichen, der sein Smartphone auf den Fluss richtete, in der Hoffnung, den Todeskampf des Mannes zu filmen.
Daniel zwang sich, die Augen zu schließen und ein paarmal tief durchzuatmen, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken und den Schwindel in den Griff zu bekommen. Dann tastete er nach seinem Funkgerät.
»Main für 10/75. Wir haben einen Springer auf der Alten Mainbrücke. Möglicherweise bewusstlos. Treibt flussabwärts Richtung Veitshöchheim. Notarzt und Wasserwacht werden benötigt«, gab Daniel keuchend an die Kollegen durch.
Dann wies er die Schaulustigen an, sich zurückzuziehen. »Polizei Würzburg. Verlassen Sie umgehend die Brücke. Bitte alle zurückweichen. Machen Sie den Einsatzkräften Platz. Bei Zuwiderhandlung müssen wir Sie gegebenenfalls wegen Behinderung der polizeilichen Maßnahmen in Gewahrsam nehmen.«
Sein Atem kam zur Ruhe. Die Menschen folgten langsam seiner Anordnung. Einige Läufer schimpften. An eine Fortsetzung des Laufs war angesichts des Chaos auf der Brücke nicht zu denken.
»Ich setze mich mit Weber in Verbindung«, rief Victoria, die mit einem uniformierten Kollegen bei ihm eintraf. »Wir brauchen Verstärkung, um die Brücke zu räumen und zu sperren. Bis dahin müssen wir uns die Presseleute, die heute hier sind, vom Hals halten.« Dem Uniformierten trug sie auf, nach Zeugen zu fragen und die Personalien festzustellen.
Daniel hörte Polizeisirenen. Wenige Minuten später tauchte an beiden Seiten der Brücke die angeforderte Verstärkung auf. Die schnelle Reaktion der Einsatzleitung beeindruckte ihn.
»Der Lauf wird fortgesetzt, aber nur noch über die kurze Route«, informierte Victoria ihn nach ihrem Telefonat. »Weber lässt auch die Löwenbrücke räumen. Er hat Angst vor Nachahmern. Wir hatten schon Fälle von Mutproben unter Studenten, die sich zum Brückenspringen verabredet haben.«
»Der Mann war definitiv zu alt für einen Studenten. Ich hätte ihn eher bemerken müssen und auch, was er vorhat. Ich hoffe nur, er überlebt«, meinte Daniel zerknirscht und zeigte den Kollegen die Stelle, von der aus der Mann gesprungen war. Einer teilte ihm mit, die Spurensicherung sei unterwegs.
»Die Chancen sind gering.« Victoria klang ernüchternd. »Die Strömung ist heute sehr stark, und es sind schon viele im Main ertrunken. Aber gib dir nicht die Schuld. Wir hätten bei dem Gedränge hier mehr Einsatzkräfte gebraucht.«
Sie benötigten fast drei Stunden, um den Tatort zu sichern, mit der Spurensicherung zu sprechen und Zeugenaussagen aufzunehmen.
»Die Wasserwacht hat sich gemeldet.« Ein Kollege nahm Daniel und Victoria zur Seite. »Sie haben den Mann gefunden. Er konnte nur noch tot geborgen werden. Die Kollegen sind vor Ort. Die Staatsanwaltschaft ist benachrichtigt.«
»Wissen wir etwas über seine Identität?«, fragte Daniel.
Der Kollege bejahte. »Wir haben zwar keine Papiere beim Toten gefunden, aber über die Startnummer haben wir einen Namen. Stephan Walder, wohnhaft in Lengfeld. Laut Abfrage beim Einwohnermeldeamt lebt er zusammen mit einer Dorothée Walder.«
»Okay, danke«, antwortete Daniel. »Fahren wir hin, Victoria?«
Sie nickte, aber ihre Miene verriet, dass sie lieber allein gefahren wäre.
Sie parkten vor einem Haus im Lengfelder Neubaugebiet. Wohnungen in Würzburg waren knapp, vor allem im Zentrum. Deswegen hatte man hier im Nordosten der Stadt eine ganze Reihe moderner Mehrfamilienhäuser hochgezogen. Spielplätze und Kitas sollten vor allem Paare mit kleinen Kindern aus der Stadtmitte locken. Seufzend drückte Victoria auf die Klingel mit dem Schild »Walder«. »Übernimmst du das?«
Der Kölner nickte nur. Er schien bedrückt. Sicherlich hatte er sich seinen ersten Einsatz in Würzburg anders vorgestellt.
Sie musste ein zweites Mal klingeln, bevor ein vorsichtiges »Ja, bitte, wer ist da?« durch die Gegensprechanlage tönte.
»Frau Walder? Kriminalpolizei Würzburg, würden Sie uns bitte hereinlassen?«
Schweigen. Victoria meinte, förmlich spüren zu können, wie die Frau den Atem anhielt.
»Frau Walder«, insistierte Victoria. »Bitte, es ist wichtig.«
Jetzt erst erklang das Summen des Türöffners, und sie betrat zusammen mit Daniel den Hausflur.
»Erster Stock«, rief jemand von oben.
Sie nahmen die Treppe und hielten vor einer Tür, in der eine pummelige und blasse Blondine in Leggins und Strickpullover stand. Misstrauen blitzte in ihren Augen, unter denen sich dunkle Schatten abzeichneten. Sie fragte, ob sie sich ausweisen konnten. Ihr Tonfall verriet, dass sie sie anderenfalls nicht hereinlassen würde.
Nahezu synchron zückten Victoria und Daniel ihre Ausweise. Zögerlich machte Frau Walder den Weg in ihre Wohnung frei. Ein langer Flur führte ins Wohnzimmer.
»Um was geht es denn?«, fragte Dorothée Walder, ohne ihnen einen Sitzplatz anzubieten.
Daniel räusperte sich. »Es ist, glaube ich, besser, wenn Sie sich setzen.«
Frau Walder rührte sich nicht vom Fleck.
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was los ist? Warum sind Sie hier? Hat etwa mein Mann Sie ...« Dorothée Walder unterbrach ihren Redeschwall.
Victoria bemerkte ein Flackern in ihren Augen. War es Angst? »Hat Ihr Mann uns was?«
Frau Walder presste entschlossen die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Frau Walder, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass vor ein paar Stunden ein Mann von der Alten Mainbrücke gestürzt und dabei verstorben ist. Wir gehen momentan davon aus, dass es sich bei dem Mann um Ihren Ehemann handelt.« Daniel ließ seine Worte wirken.
Dorothée Walder starrte ihn an, ihr Gesicht wurde noch blasser. Dann drehte sie sich um und sank ein paar Schritte weiter auf die dunkelblaue Couch. Sie sah ihre beiden Besucher nicht an, ihr Blick war auf den Couchtisch gerichtet. Genauer gesagt auf das Smartphone darauf. Merkwürdige Reaktion, dachte Victoria. Keine Nachfrage, wie es zu dem Sturz gekommen ist.
»Frau Walder, haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?«, fragte Daniel ein paar Sekunden später, die Victoria wie eine Ewigkeit vorkamen.
Dorothée Walder fixierte weiterhin den Tisch. Sie wirkte nervös.
»Wir verstehen, dass das ein Schock für Sie ist«, fuhr Daniel fort. »Haben Sie ein Foto von Ihrem Mann, damit wir den Verstorbenen identifizieren können?«
Frau Walder griff zum Smartphone. Ihre Hand zitterte, als sie Daniel ein Foto zeigte.
Dieser nickte, um der Frau zu verstehen zu geben, dass er ihren Mann wiedererkannt hatte. »Es tut mir sehr leid. Ich muss Ihnen außerdem mitteilen, dass Ihr Mann – wie mehrere Zeugen gesehen haben – von der Brücke gesprungen ist. Können Sie uns sagen, ob er in letzter Zeit Probleme hatte? Im Job oder privat, oder ob er depressiv war?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Falls sie die Anspielung auf Eheprobleme verstanden hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«
»Heute Mittag. Gesprungen, sagen Sie? Das verstehe ich nicht. Das ergibt keinen Sinn.« Sie schien mit den Gedanken weit weg. »Kann ich meinen Mann sehen?«
»Nach der Obduktion«, sagte Victoria. »Wir geben Ihnen Bescheid. Ich empfehle jedoch, bis zur Überbringung an den Bestatter zu warten. Nur in absoluten Ausnahmefällen gewährt das rechtsmedizinische Institut Angehörigen den Zutritt. Ich lasse Ihnen meine Karte sowie die Telefonnummern eines Seelsorgers und einer Psychologin da.« Sie legte alles auf den Tisch.
»Das Mädchen auf dem Foto, ist das Ihre Tochter?«
Daniels Frage überraschte Victoria. Frau Walder hob endlich den Blick.
Daniel war zum Kamin getreten und deutete auf ein gerahmtes Bild auf dem Sims. Victoria schätzte das Mädchen auf sechs Jahre.
Frau Walder nickte, Tränen in den Augen.
»Wo ist Ihre Tochter jetzt?« Victoria versuchte, behutsam zu klingen.
»Bei meiner Mutter«, antwortete Dorothée Walder hastig. »Darf ich Sie bitten zu gehen? Ich möchte allein sein.«
»Können Sie Ihre Mutter benachrichtigen, damit sie herkommt? Es ist besser, wenn jetzt jemand bei Ihnen ist.«
»Ich rufe sie an.«
»In Ordnung.« Victoria gab dem Kollegen das Zeichen zum Aufbruch, dann fiel ihr etwas ein. »Wie lange läuft Ihr Mann schon beim Stadtlauf mit?«
Frau Walder starrte sie mit offenem Mund an. »Beim Stadtlauf? Warum sollte er das tun? Mein Mann hasst Sport.«
»Traurig, wenn sich ein Familienvater umbringt«, meinte Daniel auf der Rückfahrt und zog einen Schokoriegel aus seiner Jackentasche. »Ich meine, es ist immer traurig, aber der Mann hatte doch alles. Wie kann er seine Familie im Stich lassen?«
Man kann einem eben nicht in den Kopf schauen, dachte Victoria. Sie erinnerte sich an einen Fall, der erst vor sechs Monaten den Ort Marktbreit südlich von Kitzingen erschüttert hatte. Ein Mann war mit seinen zwei Kindern von einer Autobahnbrücke in den Tod gesprungen.
Sie konnten vielleicht von Glück reden, dass sie nur einen Toten zu beklagen hatten.
»Die Ehefrau verheimlicht irgendetwas«, murmelte Victoria mehr zu sich selbst.
»Wieso glaubst du das? Auf mich wirkte sie einfach nur geschockt.«
»Sie hatte Angst. Ich frage mich, wovor. Und wieso springt der Typ ausgerechnet bei Würzburg läuft statt an einem Tag, an dem er ungestörter wäre? Jemand hätte ihn vom Springen abhalten können. Zudem hasste er Sport. Wie passt das zusammen?«
»Du hast recht. Es ist ein ungewöhnlicher Suizid. Aber ich habe schon andere narzisstische Selbstmörder erlebt, die ihren Abgang gern zur Schau stellen. Sie genießen die Aufmerksamkeit, sogar im Angesicht des Todes.« Daniel nahm einen weiteren Bissen. Vielleicht half ihm die Schokolade beim Nachdenken. »Möglicherweise weiß seine Frau nicht alles über ihn, und er hat mit dem Laufen angefangen, ohne jemandem davon zu erzählen, aus Schiss, sich beim Stadtlauf zu blamieren oder es nicht durchzuziehen.«
Sie gab ihm recht. Schließlich hatte auch sie nicht alles über ihren Noch-Ehemann gewusst.
Im Büro fassten sie die Zeugenaussagen zusammen. Victoria erklärte sich bereit, den Bericht über die Befragung der Witwe zu übernehmen, da Daniel noch seinen Aktenvermerk mit eigenen Beobachtungen zum Vorfall anfertigen musste.
Um 22:30 Uhr betrat Victoria ihre Wohnung in der Zellerau. Sie fand Marie auf dem Balkon, wo sie genüsslich an einer Zigarette zog.
»Seit wann rauchst du?« Victoria war entsetzt.
»Reg dich ab, ist nur gelegentlich.« Marie verdrehte die marineblauen Augen, die sie von Victoria geerbt hatte, und machte keinerlei Anstalten, die Zigarette auszudrücken.
»Himmel, du bist Sportlerin. Wie kannst du dir nur die Gesundheit mit den Dingern ruinieren?«
»Du hast jahrelang geraucht.«
»Ich habe aufgehört. Aus gutem Grund. Damit fängt man erst gar nicht an. Solange du hier wohnst, verbiete ich dir das Rauchen.«
»Na super. Vielleicht sollte ich zu Papa ziehen«, murmelte Marie und schnippte die Zigarette mit einer theatralischen Geste über das Balkongeländer.
»Wie bitte?« Die Erwähnung ihres Noch-Ehemanns brachte Victoria auf die Palme.
»Ach, nichts.« Marie fuhr sich durch die langen blonden Haare. Schwarzer Kajal und roter Lippenstift ließen sie älter aussehen. Das eng anliegende Oberteil betonte ihre Weiblichkeit, die mit der Zierlichkeit ihres restlichen Körpers kontrastierte.
Victoria folgte ihrer Tochter in die Küche. »Hast du schon was gegessen? Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«
Marie schüttelte den Kopf. »Habe keinen Hunger.«
»Es gibt Reste, Käsenudeln. Die habe ich gestern für uns gekocht, aber du bist spät nach Hause gekommen. Darf ich wissen, wo du gesteckt hast?« Victoria bemühte sich, ihrer Stimme den Ärger nicht anmerken zu lassen.
Marie zuckte mit den Schultern. »Bei einer Freundin.«
»Und da kannst du nicht wenigstens anrufen? Oder erreichbar sein? Herrgott noch mal, du bist vierzehn! Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht habe?« Sie hörte selbst, dass sie doch verärgert klang.
»Hab ich halt vergessen, und mein Akku war leer. Na und? Chill mal! Ich habe doch schon oft am Wochenende bei Melli übernachtet. Du hast eh keine Zeit für mich.«
»Ich hatte Dienst heute, wie du weißt. Gestern aber nicht.«
»Wir wollten heute zu Oma. Immer geht deine Arbeit vor. Zum Kotzen!«
»Tut mir leid. Wirklich. Wir holen das bald nach. Okay?«
»Kannst du ja machen. Ich war heute bei Oma – allein. Aber ist auch egal. Sie erkennt eh niemanden mehr.« Damit ließ Marie sie stehen und lief hinaus in den Flur. Das Letzte, was Victoria von ihr vernahm, war das Zuschlagen der Zimmertür.
Seit wann ist die Kommunikation mit ihr so schwierig?
Seufzend nahm Victoria die Käsenudeln aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Silvaner ein. Dann widmete sie sich der Lektüre des Stapels Zeugenaussagen, den sie im Büro ausgedruckt hatte.
Er verließ gegen 20:30 Uhr das Büro und fühlte sich, als hätte er selbst am Stadtlauf teilgenommen.
Er war erleichtert gewesen, dass Victoria den Bericht über den Besuch bei der Witwe übernahm. Er sehnte sich danach, nach Hause zu seiner Freundin zu kommen und den Tag zu vergessen.
Morgen würde er zusammen mit Victoria alle gesammelten Zeugenaussagen durchgehen, obwohl der Fall klar war und sie ihn bestimmt bald abschließen konnten.
Oder nicht? Irgendetwas störte ihn, und die Kommentare seiner Partnerin ließen ihn nicht los. Immer wieder hatte er den Mann vor Augen, dessen letzten Blick hinauf zur Statue und den Sprung. Leider auch das Gefühl von Ohnmacht und Versagen, das ihn sekundenlang gelähmt hatte.
Gut, dass ich mich rechtzeitig wieder gefangen habe.
Trotzdem fragte er sich manchmal, ob er dem Beruf noch gewachsen war. Er hatte gehofft, mit dem Abstand zu Köln würde alles besser werden.
»Du kommst spät«, begrüßte Susanne ihn in ihrer gemeinsamen Altbauwohnung in der Sanderau. Die zentrale Lage direkt am Ringpark verdankten sie einem Kontakt bei ihrem neuen Arbeitgeber.
»Schatz, du glaubst es nicht, aber es ist schwieriger als in Köln, hier eine vernünftige Wohnung zu finden. Und die Preise ...«, hatte Susanne ihm zu Beginn ihres neuen Jobs bei den Würzburger Nachrichten am Telefon erzählt. Zu der Zeit übernachtete sie in einem Hotel und befürchtete, auch bei seinem Nachzug drei Monate später noch keine feste Bleibe zu haben. Glücklicherweise dauerte dieser Zustand nur zwei Wochen an, und Daniel war froh, dass Susanne, was Wohnung und Einrichtung anging, seinen Geschmack teilte. Schon in Köln hatten sie in der Nähe des Parks am Aachener Weiher gewohnt. Seitdem liebten sie Spaziergänge im Grünen.
Er holte zwei Kölsch aus dem Kühlschrank und küsste seine Freundin auf den Mund. »Entschuldige bitte. Es war ein furchtbarer Tag.«
»Du Armer. Du kannst es mir gleich erzählen, aber erst gibt es Makkaroni. Ich habe gekocht und sterbe vor Hunger.«
Sie hatten zu Beginn ihrer Beziehung vor drei Jahren vereinbart, immer erst nach dem gemeinsamen Abendessen über die Arbeit zu sprechen. Zuerst wollten sie genießen und abschalten. Ein voller Magen, so waren sie sich einig, erleichterte selbst unangenehme Gespräche.
»Das war sehr lecker, danke fürs Kochen«, sagte Daniel eine halbe Stunde später, und nachdem er das Geschirr gespült und aufgeräumt hatte, kuschelten sie sich auf das Sofa.
»Du zuerst«, forderte Susanne ihn auf. »Geht es um den Selbstmord beim Lauf heute? Du warst doch auf der Alten Mainbrücke im Einsatz, oder?«
Gegen seinen Willen musste er schmunzeln. Wie erwartet, wusste sie schon Bescheid, obwohl sie heute nicht gearbeitet hatte. Sicherlich war in den sozialen Netzwerken und lokalen Radiosendern darüber berichtet worden.
»Ich war nicht nur da. Ich hätte es verhindern können.«
Sie umarmte ihn und schwieg, damit er seinen Bericht fortsetzte.
»Ich meine, klar, wenn einer sich umbringen will, lässt sich das meist nicht verhindern, aber trotzdem ... wenn ich nur schneller reagiert hätte.«
»Ich frage mich, wie er es geschafft hat, das bei der Masse an Leuten durchzuziehen. Hat denn keiner was gesehen und ihn aufgehalten?«
»Na ja, die Leute haben auf den Lauf geachtet. Außerdem hat sich der Mann, bevor er gesprungen ist, übergeben. Zeugen, die das gesehen haben, gaben zu, sich da erst recht weggedreht zu haben.«
»Typisch«, warf Susanne kopfschüttelnd ein. »Alle schauen weg, statt zu helfen.«
»Danach ist alles so schnell gegangen. Er ist auf die Mauer und rückwärts runter.«
»Und wo warst du?«
»Schräg gegenüber. Wir waren zu wenige auf der Brücke. Es war schwierig, die Zuschauer hinter der Absperrung zu halten.«
»Schräg gegenüber wovon? In den Medien haben sie nicht gesagt, wo genau der Mann gesprungen ist. War es von der Mitte der Brücke?«
Daniel wunderte sich über die Frage. Als ob das eine Rolle spielte. »Ich stand auf der Südseite. Der Mann ist von der Nordseite gesprungen. Bei der Statue des heiligen Nepomuk.« Zumindest hatte das ein Kollege von der Spurensicherung erwähnt. Er selbst kannte sich nicht aus mit den Brückenheiligen und hatte auch nicht auf den Namen am Sockel geachtet. »Weißt du, was merkwürdig ist?«
»Was denn?«
»Du weißt, ich habe schon bei ein paar Selbstmorden ermittelt, auch bei einem von der Mülheimer Brücke. Viele von denen, die springen, werden von anderen, die versuchen, sie zu stoppen, in Panik versetzt und springen dann sofort. Der heute nicht. Er schien fast gelassen, hat zu diesem heiligen Nepomuk aufgeschaut, die Augen geschlossen und sich erst dann fallen lassen.«
»Ich dachte, alles ging so schnell?«, fragte Susanne, eindeutig verwirrt. Ihre journalistische Neugier war längst geweckt.
»Ja, zu schnell, um ihn aufhalten zu können, aber trotzdem: Dieser Blick ... er wirkte so gefasst. Außerdem springen die meisten vorwärts, mit dem Gesicht zum Wasser. Der von heute ist rückwärts runter.«
»Mhmm«, murmelte Susanne und kräuselte ihre mit Sommersprossen übersäte Nase. »Wahrscheinlich hat er den Gedanken schon lange mit sich herumgetragen und seinen Selbstmord genau geplant. Er hat sich sicher auch nicht umsonst den Tag von Würzburg läuft ausgesucht.«
»Genau das aber wundert meine Kollegin. Sie glaubt, dass an dem Suizid was faul ist.«
Susanne grinste. »So, so, deine Kollegin. Wie heißt sie, wie alt ist sie und das Wichtigste: Wie sieht sie aus?«
Daniel lachte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Victoria Stahl ist zwar ganz hübsch, aber auch ein wenig älter als ich. Außerdem ist meine neue Partnerin eine ziemliche Kratzbürste.«
»Was, ihr versteht euch nicht?« Susanne klang besorgt und kuschelte sich enger an ihn.
Er strich ihr durch das lange rotblonde Haar. Ihr Geruch stieg ihm in die Nase, und wie immer beruhigte er ihn. »Sie ist eher ernst, eine echte Fränkin, und ich glaube, sie arbeitet lieber allein.«
»Schade. Und warum denkt sie, etwas stimmt nicht mit dem Selbstmord?«
»Sie findet es merkwürdig, dass sich jemand während einer Veranstaltung umbringt. Es stimmt zwar, dass die meisten Brückenspringer nicht gesehen werden wollen, aber es gibt immer wieder Ausnahmen. Außerdem meint sie, die Witwe verheimliche etwas.«
»Glaubst du das auch?«
Er dachte über das Gespräch am Nachmittag nach. »Ich bin mir nicht sicher. Eigentlich wirkte die Frau auf mich nur geschockt. Aber sie hat uns auch erzählt, dass ihr Mann Sport hasste. Da ist es schon eigenartig, dass er ausgerechnet an einem Lauf teilnimmt, nur um sich von der Brücke zu stürzen. Außerdem war er weder depressiv, noch hatte er sonst irgendwelche Probleme, es sei denn, die Frau lügt. Und auf mich wirkte sie aufrichtig.«
»Mag sein, dass ihr beide recht habt«, meinte Susanne.
Daniel sah sie fragend an.
»Die Frau könnte euch die Wahrheit über ihren Mann gesagt, aber nicht alles erzählt haben.«
Montag, 1. Mai 2017 (Tag der Arbeit)
Stephan Walder war Datenschutzbeauftragter in einer Würzburger IT-Firma«, begrüßte Victoria den Kollegen, der um acht Uhr das gemeinsame Büro betrat. »Und wir haben eine Akte über ihn.«
Sie saß seit einer Stunde vor dem Rechner und recherchierte Hintergründe zum Opfer.
»Aha«, meinte Daniel, zog seine Lederjacke aus und startete den Rechner. »Bist du immer so früh im Büro?«
»Nein, aber ich konnte nicht schlafen. Dieser angebliche Suizid lässt mir keine Ruhe.« Du hingegen hast bestimmt den Abend mit deiner Freundin genossen und den Fall schon abgehakt wie jeder andere hier. »Walder war elf Jahre lang in der Firma, bevor sie ihn rausgeschmissen haben.«
»Nach elf Jahren? Was hat der Kerl angestellt?«
»Angeblich hat er Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert. Die Firma hat ihn deswegen vor zwei Jahren angezeigt, und es gab einen Prozess. Allerdings wurde er nicht verurteilt.«
»Okay. Und danach? Haben sie ihn wieder eingestellt?«
Sie schnaubte. »Ach was! Jetzt mal ehrlich: Würdest du in eine Firma zurückgehen, die dich verklagt hat?«
»Das heißt, Walder war seitdem arbeitslos? Oder hat er woanders angefangen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Auf seiner Webseite präsentiert er sich als selbstständiger Datenschutzbeauftragter.«
»Fragt sich nur, wie erfolgreich er nach der Klage noch war. Sein Ruf dürfte einen ziemlichen Schaden genommen haben. Vielleicht war das ja das Motiv für seinen Selbstmord.«
Victoria murmelte nur ein »Ja, schon möglich«. Sie war nicht überzeugt.
Daniel schlug vor, die Zeugenaussagen durchzugehen.