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Kirsten Nähle

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Beschreibung

Manche Wunden heilen nie

Die Hauptkommissare Victoria Stahl und Daniel Freund werden zu einem Tatort im Würzburger Stadtwald gerufen. Eine Frau Anfang zwanzig wurde grausam getötet und mit einer Babydecke zugedeckt. Die Obduktion ergibt, dass die junge Studentin wenige Tage zuvor entbunden hat. Doch wo ist das Baby? Lebt es noch? Ist es das Motiv für den Mord? Stahl und Freund sehen sich gleich mit mehreren Verdächtigen konfrontiert, die etwas zu verbergen scheinen. Auf der Suche nach dem Mörder und dem verschwundenen Kind entdecken die Kommissare, dass das Opfer eine Menge Geheimnisse hatte. Und dann geschieht ein zweiter Mord ...

Ein weiterer schockierender Fall für die Kommissare Stahl und Freund.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

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Seitenzahl: 529

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Victoria

Daniel

Jonas

Victoria

Daniel

Victoria

Susanne

Daniel

Jonas

Victoria

Daniel

Jonas

Victoria

Daniel

Jonas

Daniel

Victoria

Daniel

Victoria

Susanne

Jonas

Daniel

Jonas

Victoria

Jonas

Daniel

Tatjana

Victoria

Jonas

Victoria

Susanne

Jonas

Daniel

Victoria

Jonas

Susanne

Jonas

Kathrin

Daniel

Victoria

Jonas

Susanne

Daniel

Benedikt

Victoria

Jonas

Daniel

Victoria

Jonas

Victoria

Jonas

Victoria

Daniel

Jonas

Victoria

Jonas

Daniel

Jonas

Benedikt

Jonas

Victoria

Jonas

Daniel

Victoria

Jonas

Daniel

Jonas

Daniel

Jonas

Victoria

Nachwort und Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Vertraute Qualen

Über dieses Buch

Die Hauptkommissare Victoria Stahl und Daniel Freund werden zu einem Tatort im Würzburger Stadtwald gerufen. Eine Frau Anfang zwanzig wurde grausam getötet und mit einer Babydecke zugedeckt. Die Obduktion ergibt, dass die junge Studentin wenige Tage zuvor entbunden hat. Doch wo ist das Baby? Lebt es noch? Ist es das Motiv für den Mord? Stahl und Freund sehen sich gleich mit mehreren Verdächtigen konfrontiert, die etwas zu verbergen scheinen. Auf der Suche nach dem Mörder und dem verschwundenen Kind entdecken die Kommissare, dass das Opfer eine Menge Geheimnisse hatte. Und dann geschieht ein zweiter Mord ...

Über die Autorin

Kirsten Nähle unterhielt schon als Kind ihre Familie mit eigenen Geschichten. Später begann sie, diese als Kurzgeschichten aufzuschreiben. »Der Rosenkavalier« hat es auf die Shortlist (Top 5) des lit.Love Schreibwettbewerbs 2018 geschafft. Ob als Journalistin oder PR-Redakteurin, ob in Köln, Basel oder Würzburg ‒ die Autorin hat stets auch beruflich geschrieben. Seit 2011 wohnt Kirsten Nähle in ihrer Wahlheimat Würzburg, die sie zu einer Kriminalroman-Trilogie inspiriert hat.

Kirsten Nähle

Frische Wunden

Kriminalroman

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Eileen Sprenger

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © den-belitsky/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1674-1

be-thrilled.de

lesejury.de

Prolog

Mittwoch, 06. Februar 2019

Ich halte das kleine Bündel fest an meine Brust gedrückt und sprinte los. Quer über den Rasen durch das offene Gartentor. Ich kreuze die schmale Straße zum Waldweg. Er ist steinig und lehmig. Dicke Wurzeln bohren sich durch die Erde, die noch matschig vom letzten Regen ist.

Zum Glück trage ich meine bequemen Sneaker. Sie sind nicht warm, doch die dicke Sohle schützt vor nassen Füßen. In der kalten Luft wird mein stoßweiser Atem zu weißen Schwaden, die ich trotz der Dämmerung erkennen kann. Kälte streift meine Wangen wie ein eisiges Leichentuch. Ohne Winterjacke fühlen sich auch Arme und Rücken nach den wenigen Minuten im Freien klamm an.

Es spielt keine Rolle. Alles, was zählt, ist das Bündel in der Decke, dem ich Wärme spenden muss.

Ich bleibe kurz stehen und sehe mich um. Wohin führt der Weg? Ich kenne mich im Wald nicht aus. Und selbst wenn ... ich habe gar kein Ziel. Ich habe nicht groß darüber nachgedacht, was ich tue. Nur gehandelt.

»Lara, komm zurück!« Deine Stimme klingt bedrohlich nah. Verfolgt mich.

Schnell setze ich mich in Bewegung. Mir bleibt keine Zeit. Ich habe zwar einen Vorsprung, doch mit dem zusätzlichen Gewicht im Arm bin ich langsamer als gewöhnlich.

»Lara, bleib stehen!« Du wirkst wütend. »Lass uns reden.«

Genug geredet. Ich habe einen Fehler gemacht. Den mache ich jetzt rückgängig.

Ich verlasse den Waldweg. Laufe ins Dickicht hinein in der Hoffnung, dich abzuschütteln. Sofort wird es dunkler um mich herum. Ich gebe mir Mühe, nicht zu stolpern. Überall Äste, Steine und Wurzeln.

Ich höre dich nicht mehr. Bist du noch hinter mir? Bestimmt hast du nicht aufgegeben. Werde ich auch nicht.

Was war das? Ich stocke im selben Moment wie mein Atem. Ich bin sicher, etwas gehört zu haben. Ein Knacken oder Knirschen. Vielleicht ein Ast im Wind oder ein Tier.

Gibt es hier eigentlich Wölfe? Oder Wildschweine? Halten die Winterschlaf? Hoffentlich!

Außer Puste lehne ich mich gegen einen Baumstamm. Das Laufen ist anstrengend. Kein Wunder, das letzte Fitnesstraining ist einige Monate her. Am liebsten möchte ich mich hinlegen und die Augen schließen. Aber was, wenn du mich noch immer verfolgst?

»Lara?«

Ich zucke zusammen.

»Lara, bitte!« Deine Worte klingen gequält. Sie erinnern mich an meine eigenen Qualen und Tränen. An die unerträglichen Schmerzen, die ich durchgestanden habe. Wie einsam ich mich danach fühlte. Einsamer als hier in diesem Wald, obwohl ich nicht allein war.

Ich presche weiter in das hölzerne Meer hinein, laufe kreuz und quer, vorbei an Bäumen und Sträuchern. Eine Ewigkeit lang. Es riecht muffig nach feuchter Erde, nach Kräutern, Pilzen oder Moos. Hat Moos überhaupt einen Geruch?

Der Wald war ein Fehler. Mein gesamtes letztes Jahr war eine Aneinanderreihung von Fehlern. Eine Fehlentscheidung nach der anderen.

»Warum kannst du nicht ein Mal was richtig machen?«, höre ich die Stimme meiner Mutter im Ohr. Ich habe sie zu oft gehört. Ich dachte, ich tue das Richtige. Und doch habe ich mich geirrt.

Mein Handy – ein weiterer Fehler. Ich hab es nicht bei mir. Wie soll ich ohne Navi nach Hause finden? Wobei ich hier sicher keinen Empfang hätte. Aber ich könnte dann wenigstens jemanden anrufen und um Hilfe bitten.

Immerhin scheine ich dich endlich abgehängt zu haben, denn ich sehe dich nicht mehr.

Das Bündel in meinem Arm bewegt sich. Bitte nicht.

»Pssst!« Ich verlangsame die Schritte und drücke mein Kind enger an mich. Es hilft nicht. Ein Schrei durchbricht die Stille.

»Pssst, mein Krümelchen. Du verrätst uns.«

Ich bleibe stehen und lausche. Wo bist du? Du rufst nicht mehr. Bestimmt hast du den Schrei gehört und versuchst, uns zu orten.

Es knackt. Ich drehe mich um – und sehe dich.

Panik überfällt mich, und ich stürme weiter. Zwischen den Bäumen hindurch. Weiter ins Düstere hinein.

Obwohl ich mich die ganze Zeit bewege, friere ich. Neben der Kälte erfasst mich Wut. Ich ärgere mich über mich selbst. Ich werde mich verlaufen. Ganz sicher. Ich hätte besser planen sollen. Was mache ich denn jetzt?

Ich hasse den Wald. Hasste ihn schon als Kind. Er ist unheimlich. Als schluckten die Bäume und Pflanzen alles Licht und jedes Geräusch der Stadt.

»Lara, bleib stehen, verdammt! Wo willst du denn hin?«

Ich zucke zusammen und spüre, wie Tränen meine Wangen hinunterlaufen, wo sie von kalter Luft getrocknet werden.

»Du kannst nicht im Wald bleiben. Ihr erfriert.«

Ich sehe mich nicht um. Renne weiter. Schneller. Krümelchen schreit immer noch, aber leiser. Es ist nur noch ein Wimmern.

Du hast recht, schießt es mir durch den Kopf. Wir werden erfrieren. Nachts sinken die Temperaturen oft unter null Grad. Doch ich kann nicht stehen bleiben. Muss mich verstecken. Bis du aufgibst. Dann werde ich zum Weg zurücklaufen. Er wird mich aus dem Wald hinausführen und zu einer Straße. Zur Not halte ich einen Wagen an, der mich mitnimmt.

»Bitte, Lara, ich möchte dir doch nur helfen. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Angst. Bis vor wenigen Tagen habe ich überhaupt nicht gewusst, was Angst ist. Vielleicht nicht einmal, was Liebe ist.

»Ahhrr.« Ich krümme mich, als der Krampf durch meinen Unterleib fährt. Der Schmerz ist so heftig und unerwartet, dass er mich zum Stehenbleiben zwingt. Schweiß bricht mir auf der Stirn aus. Keuchend schaue ich über die Schulter. Ich sehe dich nicht, höre aber deine Schritte.

Das Baby weint nicht mehr, es scheint eingeschlafen zu sein. Vorsichtig richte ich mich wieder auf.

Nur das Mondlicht lässt mich die Umgebung erkennen. Ich taste mich mit einer Hand vorwärts. Die Dunkelheit ist auch zu meinem Vorteil. Es wird schwieriger für dich, mich zu finden. Entsprechend verzweifelt ist nun dein Rufen. Es scheint auch weiter weg. Oder bilde ich mir das nur ein?

Kehr um! Lass mich in Ruhe!

Ich schleiche auf eine Reihe von Bäumen mit gewaltigen Stämmen zu. Ein erneuter Krampf durchzuckt meinen Bauch. Gerade so verhindere ich, dass mir Krümelchen vom Arm rutscht. Ich beiße die Zähne zusammen, um den Schrei zu unterdrücken. Mir ist so schwindelig, dass ich in die Hocke gehen muss. Auf Knien rutsche ich über Blätter und Erde bis zum nächsten Stamm. Er ist breit genug, um mich vollständig dahinter zu verstecken. Ich lehne mich gegen die Rinde, ziehe die Beine an und bette das Kind auf den Schoß. Vorsichtig lupfe ich die Decke und streiche über die Bäckchen, die Händchen und die Babyfüße. Ich bin erleichtert. Der kleine Körper ist noch warm.

Trotzdem wage ich kaum zu atmen. Wo bist du? Die Feuchtigkeit des Bodens durchnässt meine Jeans bis zur Unterhose. Der Regen fällt in dicken Tropfen auf meine Haare. Schnell schlage ich die Babydecke wieder zu.

»Laaaara!«

Erneut zucke ich zusammen. Du klingst so nah, viel zu nah. Ich halte den Atem an, was meinen Herzschlag noch zu beschleunigen scheint.

»Wo bist du? Komm schon, du machst mir Angst.« Ich höre, dass du die Wahrheit sagst, doch ich fürchte mich mehr als du.

Es raschelt und knarzt. Das Geräusch deiner Stiefel auf dem lehmigen Boden? Oder hast du einen der Sträucher erwischt? Auf jeden Fall weiß ich jetzt, dass du irgendwo rechts von mir läufst.

Wie in Zeitlupe sehe ich zur Seite und schlucke. Da ist dein Umriss. Du stehst wenige Meter von mir entfernt. Wie angewurzelt. Du horchst ins Dunkel hinein wie ein Jäger auf der Pirsch.

Ich bete, dass du nicht in meine Richtung schaust, sondern weiterläufst. An meinem Stamm vorbei und dann weg von hier.

Da spüre ich die Unruhe in meinem Schoß. Sekunden bevor der Schrei die Stille zerfetzt wie der Klageruf eines verletzten Wildtieres.

Der Schreck lähmt mich. Bevor ich reagieren kann, stehst du vor mir.

»Gib mir das Kind.«

»Nein.« Ich umklammere das kreischende Bündel.

»Sofort!« Deine Forderung wird lauter.

Krümelchen plärrt inzwischen wie am Spieß. Auch ich brülle los, als du an der Babydecke zerrst.

»Lass endlich los! Sei doch vernünftig.«

Ich lege mich zur Seite, um Krümelchen mit dem Oberkörper abzuschirmen. »Hau ab! Lass uns in Ruhe.«

Du stemmst dich gegen mich und greifst nach der Decke.

Der Regen wird stärker. Ich höre das laute Prasseln. Doch spüre ich es kaum. Dafür nehme ich dein heißes, wütendes Schnaufen an meinem Gesicht wahr.

Im nächsten Moment werde ich ruckartig an den Schultern nach hinten gerissen. Schmerz schießt durch meine Halswirbelsäule.

Vor Schreck löse ich den Griff um das Bündel. Du willst danach greifen. Ich schubse dich weg. Den Ellbogen sehe ich zu spät auf mich zurasen. Mein Wangenknochen knirscht. Ich verliere das Gleichgewicht und kippe nach hinten. Gegen etwas Hartes. Den Stamm. Eine Welle des Schmerzes durchrollt meinen Hinterkopf. Für ein paar Sekunden bin ich benommen. Dann denke ich an Krümelchen. Dass du mir mein Baby wegnehmen wirst. Ich richte mich auf, doch deine kalten Hände legen sich an meine Schläfen.

»Warum tust du so was? Warum zwingst du mich dazu?«

Bevor ich die Fragen verstehe, donnert mein Schädel ein zweites Mal gegen den Stamm. Dann ist es vollkommen dunkel.

Victoria

Donnerstag, 07. Februar 2019

Sie ignorierte das Vibrieren auf dem Nachttisch. Jemand versuchte schon seit einer Viertelstunde, sie zu erreichen. An ihrem langen Wochenende.

Bestimmt die Arbeit. Sie dachte gar nicht daran, den Sex zu unterbrechen. Er war viel zu gut. Wie meistens am frühen Morgen, wenn der Tag ihr noch nicht den Großteil ihrer Energie geraubt hatte.

Sie konzentrierte sich auf ihren Partner und verstärkte den Griff um seinen Hintern, um ihn zu einem schnelleren Rhythmus zu drängen.

Das Handy vibrierte weiter. »Willst du nicht doch lieber rangehen?«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern. »Nein! Wag es ja nicht aufzuhören.«

Er lachte leise, gehorchte aber. Kurze Zeit später breiteten sich die erlösenden Wellen in ihrem Unterleib aus. Danach blieb sie noch einen Moment lang keuchend liegen und spürte der sich langsam ausbreitenden Entspannung in ihrem Körper nach.

»Du solltest wirklich rangehen, sonst kriegst du noch Ärger.« Er hielt ihr das Smartphone unter die Nase wie einem Kind den Löffel mit dem ungeliebten Spinat.

Victoria seufzte. »Ja, Boss.« Sie drückte die Annahmetaste.

»Ah, du lebst noch.« Daniel klang sauer.

»Ich habe frei.«

»Tut mir leid. Jetzt nicht mehr. Ich brauche dich. Soll ich dich zu Hause abholen?«

»Womit denn? Mit der Straßenbahn?« Hauptkommissar Daniel Freund, ihr Kollege und Leiter der Mordkommission bei der Kripo Würzburg, überließ das Auto in der Regel seiner Verlobten, weil sie als Journalistin eher darauf angewiesen war.

»Haha. Ich bin am Tatort. Mit dem Dienstwagen. Zur Not kann ich auch einen Kollegen von der Streife vorbeischicken.«

Victoria lachte. Sie wusste, Daniel war kein nachtragender Typ. »Nee, lass mal. Wohin soll ich kommen?«

Er nannte ihr einen Parkplatz im Steinbachtal. »Sie wurde im Stadtwald gefunden.«

»Sie?«

»Eine junge Frau. Kein schöner Anblick.«

»Mord?«

»Sieht ganz danach aus.«

Dann frühstücke ich besser mal was. Der Tod ist auf vollem Magen bekömmlicher. »Bin schon unterwegs.« Sie legte auf, wälzte sich aus dem Bett und schlüpfte in die Jeans von gestern.

»Was ist mit unserem langen Wochenende?«, brummelte es aus den Laken.

»Hey, du meintest schließlich, ich solle rangehen. Das hast du nun davon.« Victoria warf einen sehnsüchtigen Blick auf seinen nackten Oberkörper. »Aber bleib ruhig liegen. Gern bis heute Abend. Dann können wir weitermachen, wo wir aufgehört haben.«

»Hmm. Und was mache ich so lange ohne dich?« Er seufzte. »Dann gehe ich auch ins Büro.«

Victoria lief in die Küche und inspizierte den Kühlschrank. Ich brauche was Schnelles für unterwegs.

Er war ihr gefolgt und stand in der Küchentür. »Soll ich dir ein Brot schmieren?« Es klang leicht spöttisch, obwohl sie sicher war, er würde ihr sofort ein komplettes Frühstückspaket schnüren, wenn sie ihn darum bat.

»Ich besorge mir unten beim Bäcker was.« Sie gab ihm einen Kuss und flitzte ins Bad. Nach einer verkürzten Morgenhygiene schnappte sie sich Mantel, Handy, Geldbeutel und Schlüssel und verließ die Wohnung.

Da es regnete, setzte sie die Kapuze auf. Handschuhe wären auch keine schlechte Idee gewesen. Die hatte sie in der Eile nicht eingepackt. Zeit, dass es Frühling wird. Wenigstens hatte es über Nacht nicht gefroren, sodass sie sich das Eiskratzen sparen konnte.

Victoria war in ihrem Mini fast an der Löwenbrücke angelangt, da fiel ihr ein, dass sie den Bäcker vollkommen vergessen hatte. Ihre Gedanken waren längst beim neuen Fall. Eine junge Frau. Kein schöner Anblick.

Wenn die Kripo gerufen wurde, gab es eigentlich nie etwas Schönes zu sehen. Dafür jede Menge Abgründe und Grausamkeiten. Doch nicht das war es, was sie an ihrem Job reizte. Was Victoria antrieb, war das Lösen all der Fragen, die eine Tat aufwarf. Das Aufgreifen von Anhaltspunkten, die sie und das Team schon am Tatort von Täter und Opfer gewannen und die ihnen bei den Ermittlungen halfen. Ihr Ziel war es, den Schuldigen aufzuspüren, festzunehmen und an die Justiz zu übergeben, damit er seine verdiente Strafe erhielt. Das geschah leider nicht immer. Weder die ihrer Meinung nach gerechte Bestrafung, die nicht in ihren Händen lag, noch die Überführung des Täters. Die Aufklärungsquote der Kripo Würzburg war hoch, doch jedes Verbrechen, das sie nicht aufklärten, nagte an Victoria. Gewissensbisse.

Auf dem Parkplatz bei der Bushaltestelle Waldhaus stellte sie ihren Mini zwischen zwei Streifenwagen ab. Sie entdeckte auch Benedikts Opel und Kathrins Golf. Daniel hatte also das komplette Team der Mordkommission zusammengetrommelt.

Ein Kollege der Schutzpolizei begrüßte Victoria und bot an, sie zum Tatort zu führen. Sie schmunzelte. Wahrscheinlich hatte Daniel ihn gebeten, hier auf sie zu warten, damit sie sich nicht verlief und noch mehr verspätete. Die Koordinaten hätten es auch getan.

Victoria vergrub die Hände in den Manteltaschen und folgte dem uniformierten Kollegen. Aufgrund des Nieselregens fühlte sich die Luft kälter an als die fünf Grad, die sie vor ein paar Minuten auf dem Smartphone abgelesen hatte.

Nach wenigen Metern verließen sie den asphaltierten Weg und bogen in den schlammigen Waldweg ein. Immerhin hatte sie wasserfeste Schuhe an. Wanderschuhe gehörten nicht zu ihrem Repertoire. Sie ging höchstens mal spazieren, aber dann selten im Wald. »Wer hat die Tote gefunden?«

»Zwei Waldschützer. Um kurz nach acht.«

»Förster?«

»Nein. Naturschützer. Gehören zu so 'nem Verein, der sich für Waldprojekte engagiert.«

»Im Winter? So früh am Morgen?«

Der Kollege zuckte nur mit den Schultern.

»Kennen wir die Identität der Toten?«

»Nein. Sie hat keine Papiere bei sich. Nicht mal ein Handy.«

Damit fielen schon mal ein paar Anhaltspunkte weg. »Dann hoffen wir mal, dass sie jemand vermisst.«

Victoria entdeckte weitere Uniformierte, in etwa hundert Metern Entfernung. Dazwischen zwei Männer in Zivil. Vermutlich die Waldschützer.

»Grüß Gott, Frau Hauptkommissarin Stahl.« Einer der Uniformierten, den sie vom Sehen kannte, nahm die Daten der »Entdecker« auf. Was immer die beiden jungen Männer im Wald gesucht hatten, mit dem Fund einer Leiche hatten sie bestimmt nicht gerechnet. »Hier links in den Wald rein. Einfach den Markierungen folgen. Ihre Kollegen warten schon.«

»Bitten Sie die beiden Herren, noch eine Weile zu bleiben. Ich möchte anschließend mit ihnen sprechen.«

»Das hat schon einer Ihrer Kollegen getan. Er meinte, wir können sie dann erst einmal entlassen.«

Na dann. Victoria antwortete nicht, sondern folgte der angegebenen Richtung in den Wald hinein. Unterwegs begegnete sie ein paar Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen. Aufgrund des Regens und des leichten Nebels muteten sie im Licht der Tatort-Scheinwerfer ein wenig wie Gespenster an.

Victoria musste weiter laufen als gedacht. Zwischen zwei- und dreihundert Metern, dann stieß sie endlich auf die Absperrbänder aus Plastik, die die Schutzpolizisten an vier Bäumen zu einem Karree um den Tatort festgebunden hatten. Farbige Nummernkegel im Bereich der Fundstelle markierten mögliche Spuren.

Kathrin entdeckte sie zuerst. »Hi, Victoria.« Mit zwanzig Jahren war die blonde Anwärterin die Jüngste im Team. Ihr Ehrgeiz und Fleiß erinnerten Victoria ein wenig an sie selbst, als sie in dem Alter war.

»Guten Morgen«, antwortete Victoria. »Wie sieht's aus?«

»Schau es dir selbst an. Ich mach mich auf in die Inspektion.« Kathrin stapfte an ihr vorbei durch den Regen. Man sah ihr an, dass sie einen Stapel Akten der Tatortbesichtigung vorgezogen hätte. Kathrin liebte es, sich in Hintergrundrecherchen zu vertiefen, und ergänzte somit ihren Partner Benedikt perfekt, der sich im Team um die Dokumentation kümmerte. Alle Informationen, die sie zu einem Fall hatten, liefen bei ihm zusammen. Kathrin und Benedikt bezeichneten sich gern als die »Schreibtischtäter« der Mordkommission, während Daniel und Victoria am liebsten auf Achse waren.

Hauptkommissar Benedikt Strobl stand nur wenige Schritte entfernt mit einer LED-Tatort-Taschenlampe, die das Opfer beleuchtete. Seitlich vor ihm hockte Daniel, von dem Victoria zunächst nur die krausen Haare, den dunklen Nacken und den in eine dünne Lederjacke gehüllten Rücken sah. Der hat wohl Hitze.

Sie erkannte den dritten Mann, der neben Daniel kauerte, erst, als er sich zu ihr herumdrehte. Es war der Rechtsmediziner, Dr. Christof Hagen. Hagen, der Hagere, so nannte sie ihn insgeheim aufgrund seiner skelettartigen Statur und dem hohlwangigen Gesicht. Er sah aus wie der Tod in Person. Passenderweise trug er einen langen schwarzen Mantel und dunkle Stiefel.

»Grüß Gott, Frau Hauptkommissarin.« Er lächelte nicht. Sie hatte ihn überhaupt noch nie lächeln sehen. Er war neu in Würzburg, hatte letzten November angefangen, nachdem sich Prof. Dr. Manfred Huber, mit dem sie immer gern zusammengearbeitet hatte, in den Vorruhestand verabschiedet hatte.

»Darf ich auch mal sehen?« Victoria war froh über ihre Kapuze, die ihr blondes gewelltes Haar bedeckte. Mittlerweile schüttete es, und die drei Männer waren dem Regen schutzlos ausgeliefert.

»Sicher.« Daniel erhob sich, damit sie seinen Platz einnehmen konnte. »Sie wurde in dieser Position vorgefunden. Die Waldschützer behaupten zumindest, sie nicht berührt oder bewegt zu haben.«

Victoria ging in die Hocke, um die Tote in Augenschein zu nehmen.

Die Frau lehnte mit ausgestreckten Beinen am dicken Stamm einer Buche. Sie trug eine helle Jeans und silberfarbene Sneaker, beide pitschnass und mit Erde verschmiert. Ihr Kopf war auf die linke Schulter gekippt, die Lider geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Das Gesicht war fahl – vermutlich wegen der Kälte oder des Blutverlustes – und jung. Anfang bis Mitte zwanzig, schätzte Victoria. Die dunklen Haare waren wohl zu einem Zopf geflochten gewesen, der sich aber aufgrund des Regens nahezu aufgelöst hatte. Am Hinterkopf klaffte eine faustbreite Wunde, deren Ränder mit Blut verkrustet waren. Victoria entdeckte auch bräunliche Spuren am moosbewachsenen Baumstamm, eine Mischung aus Blut, Knochensplittern und Gehirnmasse.

»Der starke Regen letzte Nacht hat das meiste Blut weggespült.« Der Rechtsmediziner, der neben ihr saß, beobachtete sie.

»Wurde sie erschlagen?« So sah es jedenfalls aus.

»Stumpfe Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf«, sagte Hagen. »Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma könnte die Todesursache sein, aber hier lege ich mich erst nach der Obduktion fest. In der Wunde befinden sich Spuren von Rinde. Ich vermute, dass jemand ihren Schädel gegen den Stamm gestoßen hat. Vermutlich mehrmals.«

»Wie lange ist es her?« Victoria schluckte ein paarmal. Der leere Magen rächte sich langsam.

»Aufgrund der Witterungsbedingungen ist das schwer zu sagen. Allerdings ist die Leichenstarre voll ausgebildet und tritt nach gewaltsamem Lösen nicht wieder ein. Auch haben wir keine Pupillenreaktion, was darauf hindeutet, dass sie seit mindestens zwölf Stunden tot ist.«

Also hat sie die ganze Nacht hier gelegen. Was hat sie nur gemacht? Doch sicher keine Nachtwanderung.

»Was ist mit der Decke?« Victoria deutete auf die grüne Steppdecke mit weißen Einhörnern, die den Oberkörper der Toten verbarg. »Sieht aus wie eine Babydecke.«

»Ihr Mörder hat sie nach der Tat zugedeckt«, antwortete Daniel, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand. Er trug gefütterte Lederhandschuhe, die farblich zu seiner Jacke passten.

Hätte ich jetzt auch gerne. »Oder sie war schon zugedeckt, als er sie getötet hat.«

»Nein.« Der Rechtsmediziner zog die Decke hinunter, um Schultern, Arme und Brust der Toten freizulegen. »Dann wäre nicht so viel Blut auf ihrem Pullover.« Das hellblaue Oberteil war mit rotbraunen Flecken übersät.

»Sie trägt keine Jacke?« Wer ging um diese Jahreszeit ohne Jacke aus dem Haus? Sie selbst wagte immer noch nicht, ihre Hände aus den Manteltaschen zu nehmen.

»Vielleicht wohnt sie in der Nähe und ist vor ihrem Mörder geflohen«, meinte Benedikt. »Aber warum tötet jemand die Frau und deckt sie dann zu? Ich meine, frieren tut sie ja nicht mehr.«

»Vielleicht aus Reue.« Daniel fixierte die Babydecke. »Ich denke nicht, dass die Tat geplant war. Nehmen wir an, es kam zu einem Streit, der mit Totschlag endete. Der Täter realisiert zu spät, was er getan hat, oder er verdrängt das Geschehene. Er bietet seinem Opfer nachträglich Schutz, indem er es zudeckt. So, als könnte er dadurch alles wiedergutmachen.«

Victoria nickte. Das kam vor, so grotesk es schien. Undoing nannte man das. »Aber warum hat der Täter überhaupt eine Decke dabei? Oder das Opfer? Ein Picknick wird es ja nicht gewesen sein.«

Benedikt stöhnte. »Leute, ich bin klatschnass.« Seine dunkelblonden Haare klebten am Schädel. Er sah aus wie frisch geduscht.

»In Ordnung«, meinte Daniel. »Wir packen es. Herr Dr. Hagen, sobald die Spurensicherung durch ist, werden wir Ihnen den Leichnam bringen lassen. Benedikt, sag den Kollegen bitte, dass sie die Decke nicht vergessen sollen.«

Victoria erhob sich, konnte ihren Blick aber noch nicht von der Leiche abwenden. Selbst tot war sie auffallend hübsch. »Fangen wir mit der Befragung der Anwohner an?«

Daniel neigte den Kopf. »Mit etwas Glück wohnte die Tote in der Gegend, und jemand vermisst sie.«

Glück, dachte Victoria. Glück ist in unserem Job eher ein Fremdwort.

Daniel

»Tut mir leid, dass ich dir dein langes Wochenende versaue.« Daniel stapfte neben Victoria zurück zum Parkplatz.

»Sie hatte auf jeden Fall Geld.« Seine Partnerin bibberte. Kein Wunder. Auch er war bis auf die Unterwäsche durchnässt.

Daniel kannte Victoria mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie von der Toten sprach. »Wegen der Markenschuhe?«

Sie nickte. »Auch Jeans und Oberteil sehen teuer aus. Und hast du ihre Armbanduhr gesehen?«

»Für einen Spaziergang im Wald war sie nicht gerade passend gekleidet.« Daniel öffnete den Dienstwagen. »Kathrin geht die Vermisstenmeldungen durch. Es war sinnvoll, dass sie vor Ort war, um die Tote zu sehen und ein paar Fotos zu machen. So kann sie schon anfangen und muss nicht auf die Bilder des Polizeifotografen warten.«

»Ich fahre eben heim, um mich umzuziehen.« Victoria grinste ihn an. »Ich glaube, auch dir könnten eine heiße Dusche und neue Klamotten nicht schaden.«

Daniel brummelte zustimmend, obwohl er keinerlei Verlangen spürte, nach Hause zu fahren. »Beeil dich. Wir treffen uns in einer Stunde wieder.«

Er würde in der Inspektion duschen. Im Büro hatte er Ersatzklamotten deponiert. Für den Notfall, denn man wusste nie, ob man mal die Nacht durcharbeiten musste. Wobei das bisher nur selten eingetreten war. Selbst bei ihren beiden kniffligsten Fällen hatten er und sein Team es immer geschafft, wenigstens ein paar Stunden zu Hause zu schlafen. Er brauchte seine Leute ausgeruht. Überstunden führten oft zu Fehlern und selten zu den Tätern.

Nach den Realschulmorden war er kurz davor gewesen, die Leitung der Mordkommission abzugeben. Zu lange hatte er sich damals auf den falschen Täter versteift. Allein wegen der Kollegen entschied er weiterzumachen. Mit ihnen arbeitete er gern zusammen. Sie waren wenigstens ein Team, das den Namen verdiente. In Köln hatte er sich zwar auch mit den meisten Kollegen verstanden, doch die Würzburger waren zu Freunden geworden.

Sogar der Chef, Erster Hauptkommissar Rolf Haller, hatte darum gebettelt, dass er blieb. »Sie kriegen auch Stahl als Partnerin zurück, wenn Sie wollen. Und die Beförderung zum Hauptkommissar.« Dass Victoria und er wieder enger zusammenarbeiteten, war für Daniel ein größerer Bonus als die mit dem Aufstieg verbundene höhere Besoldung. Er glaubte bis heute, diese nicht verdient zu haben. Nach all den toten Jungen. Zumindest stand sie ihm nicht mehr zu als Victoria und Benedikt, die mittlerweile ebenfalls die nächste Karrierestufe erreicht hatten.

Vor der Dusche lugte Daniel in Kathrins Büro. Die Kollegin bemerkte ihn nicht. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem Rechner. Er lief weiter zu seinem Büro, entschied sich dann aber doch anders und bog zur Küche ab. Mit zwei gefüllten Tassen Kaffee schlenderte er zu Kathrins Büro. Benedikt war noch nicht vom Tatort in die Inspektion zurückgekehrt. Sicher war er wie Victoria erst einmal nach Hause gefahren.

Daniel räusperte sich. »Ich habe dir einen Kaffee mitgebracht.« Manch einer der Kollegen würde sich darüber lustig machen, dass er einer Anwärterin Kaffee brachte. Doch sie hatte ihn sich verdient. Sie übernahm alle ihr aufgetragenen Aufgaben ohne zu murren. Ich lobe sie viel zu wenig.

Kathrin strahlte. »Danke.« Sie nahm die Tasse entgegen. »Himmel, wie siehst du denn aus? Du bist ja ganz nass.«

»Ich gehe mich gleich duschen und umziehen.« Stattdessen setzte er sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. »Irgendwelche Übereinstimmungen zwischen Vermisstenfällen und unserem Opfer?«

»Bisher nicht. In den letzten vierundzwanzig Stunden sind keine Meldungen reingekommen. Die des letzten Monats habe ich bereits durchgeschaut, aber da passt keine Beschreibung. Soll ich mit zur Anwohnerbefragung?«

»Nicht nötig. Die ersten Ergebnisse der Spusi kommen sicher bald rein, und dann brauche ich dich hier.«

»Ich habe ein wenig über die Decke recherchiert.«

»Die Decke, die über dem Opfer lag?« Eine Babydecke. Ausgerechnet.

»Genau. Die gibt's bei IKEA. Recht günstig.«

»Mhmm.« Daniel stierte in die Kaffeetasse. Passt nicht so zu den Markenklamotten. Andererseits – wer sagt, dass modebewusste Leute nicht auch mal bei IKEA einkaufen? »Ich brauche Benedikt bei der Anwohnerbefragung. Übernimmst du den Hintergrundcheck der Waldschützer?«

»Gern. Wobei ich nicht glaube, dass die etwas mit dem Mord zu tun haben.«

Ich auch nicht.

»Brauchst du sonst noch was?« Kathrin musterte ihn. Vermutlich wunderte sie sich, dass er immer noch in nassen Klamotten bei ihr saß, obwohl er den Kaffee längst ausgetrunken hatte. »Ich kann uns noch eine Tasse holen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das wärmer war als jedes Heißgetränk.

Daniel atmete einmal tief durch und verneinte. »Ich muss mich beeilen. Melde dich bitte, wenn du etwas über die Identität der Toten herausfindest.«

Kathrin nickte. Dann räusperte sie sich. »Daniel?«

»Ja?« Er war schon halb aus der Tür.

»Falls du mal reden möchtest ... ich bin eine gute Zuhörerin.«

Kann ich mir vorstellen. Er antwortete nicht, sondern verschwand in Richtung der Duschen.

Victoria und Benedikt erwarteten ihn schon, diesmal auf dem Parkplatz am Waldfriedhof. Die Kollegen der Schutzpolizei sollten die Anwohner im Tal entlang des Steinbachs befragen. Daniel und sein Team würden das Wohngebiet weiter südlich am höher gelegenen Waldrand übernehmen. Es regnete nicht mehr. Dennoch hatte er sich eine wasserdichte Einsatzjacke übergezogen, um nicht gleich wieder durchnässt zu sein.

»Sorry«, entschuldigte er sein Zuspätkommen. »Ich habe noch kurz mit Kathrin gesprochen. Wie es aussieht, wird das Opfer nicht vermisst. Die Babydecke ist von IKEA.«

»Die Kollegen von der Schupo haben wohl auch schon mit einigen Anwohnern hier oben gesprochen.« Benedikt reichte Daniel eine Liste mit Namen. Er hatte sich vollständig umgezogen, das Föhnen aber offensichtlich ausgelassen. Die Haare waren noch genauso nass und zerzaust wie vor einer Stunde. »Von denen hat niemand eine junge Frau oder ein fremdes Auto gesehen. Vermisst wird auch keiner.«

»Wenn das Opfer nicht in der Gegend wohnt, ist es vermutlich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen«, merkte Victoria an.

»Die nächsten Bushaltestellen zum Tatort sind die beim Waldhaus am Steinbach und die hier oben am Rothweg«, sagte Benedikt. »Je nachdem, von welcher Seite aus das Opfer in den Wald gelaufen ist.«

»Oder jemand hat sie mit dem Auto abgesetzt.« Wobei Daniel sich immer noch fragte, was die junge Frau im Wald gesucht hatte. »Wir teilen uns auf, um mit den Anwohnern zu sprechen, die die Kollegen noch nicht befragt haben. In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier für einen Zwischenstand.«

Das Wohngebiet zeichnete sich durch Einfamilienhäuser und Stadtvillen aus. Zäune, hohe Hecken, Metalltore oder Steinmauern schützten die Anwesen vor allzu neugierigen Blicken. Die meisten der Häuser waren mit einer Alarmanlage gesichert.

Auf dem ersten Klingelschild, das er drückte, standen die Namen Irene und Rüdiger Schiller. Eine Dame in den Fünfzigern öffnete ihm im Trainingsanzug die Tür.

»Guten Morgen. Hauptkommissar Daniel Freund, Kripo Würzburg.« Er zeigte ihr seinen Dienstausweis, und sie zuckte zusammen. »Sind Sie Frau Schiller?«

Sie nickte, immer noch verschreckt.

»Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«

»Oh, gut. Ich dachte schon, es sei etwas mit meinem Mann.« Sie fuhr sich durch die langen silbernen Haare. Sie gehörte zu den Frauen, denen die Farbe stand.

»Dann ist er nicht hier?«

Frau Schiller schüttelte den Kopf. »Im Büro. Ich arbeite von zu Hause. Flexibel. Sie erwischen mich gerade bei meiner frühmorgendlichen Yogaeinheit.«

Daniel verkniff sich einen Kommentar. Es war nach elf Uhr. Für die meisten Berufstätigen beinahe Mittag. »Das tut mir leid. Aber es ist sehr wichtig. Darf ich einen Moment reinkommen?«

»Selbstverständlich.« Ihre Mimik drückte das Gegenteil aus. Sie führte ihn in einen hellen, aufgeräumten Wohn- und Essbereich. Die vielen glänzenden Fenster hier und im Wintergarten ließen darauf schließen, dass entweder die Hausdame selbst oder eine Putzfrau regelmäßig Zeit mit Putzen verbrachte.

»Darf ich fragen, was Sie von zu Hause aus arbeiten?«

»Ich bin Life-Coach. Helfe Menschen in schwierigen Lebenslagen.« Frau Schiller bot ihm einen Sitzplatz auf der Couch an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Nicht mit meiner schwierigen Lebenslage. »Waren Sie gestern Nachmittag und Abend zu Hause?«

Sie nickte.

»Haben Sie etwas Ungewöhnliches in der Gegend bemerkt? Ein fremdes Auto oder eine unbekannte Frau, Anfang bis Mitte zwanzig, lange dunkelbraune Haare? Oder wissen Sie, ob in der Nachbarschaft eine junge Frau wohnt, auf die die Beschreibung passt?«

»Ich kenne alle Nachbarn. Wir wohnen schon über zwanzig Jahre in diesem Haus. Hier passiert nie etwas Ungewöhnliches. Wieso fragen Sie?«

»Dann kennen Sie niemanden mit den genannten Merkmalen?«

»Meine Putzfrau ist Mitte zwanzig. Studentin. Hat lange dunkle Haare. Aber die ist ja keine Unbekannte.«

»War sie gestern bei Ihnen?«

Frau Schiller sah auf ihre Smartwatch, vielleicht um nach Datum und Wochentag zu schauen. »Nein. Sie war am Dienstag bei uns.«

»Wohnt sie in der Nähe?«

Die Dame zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wo sie wohnt. Aber bestimmt nicht hier. Bei den Preisen.«

Daniel gab ihr schweigend recht. Es war eine teure Wohngegend. »Ich bräuchte bitte den Namen der Dame.«

»Ich hole eben den Arbeitsvertrag. Da steht er vollständig drin.« Sie verließ das Wohnzimmer. Er hörte, wie sie die Stufen der Wendeltreppe im Flur hinaufstieg.

»Sind Sie und Ihr Mann oft im Wald unterwegs?«, rief Daniel ein paar Minuten später die Treppe hinauf. Er hatte die Gelegenheit genutzt und sich im Erdgeschoss umgesehen. Neben dem Flur und dem Wohnzimmer beherbergte es eine Küche, deren Größe und Ausstattung an die Profiküche eines Restaurants erinnerte, sowie ein Bade- und ein Schlafzimmer – beide vermutlich für Gäste.

Frau Schiller kam die Stufen hinunter und gab ihm einen Zettel mit dem Namen und der Anschrift der Putzfrau. »Hatte ganz vergessen, dass die Adresse ja auch im Arbeitsvertrag steht.« Den Vertrag hatte sie nicht mitgebracht, aber es ging ihn ja auch nichts an, was die junge Frau verdiente. »Mein Mann und ich lieben den Wald, ja. Deswegen haben wir das Haus hier gebaut. Rüdiger joggt gern im Wald, sogar im Winter. Ich gehe bei so einem Wetter und dieser Jahreszeit nicht so gern raus.«

»Danke für Ihre Hilfe. Meine Kollegen oder ich werden noch mal vorbeikommen, um Ihren Mann zu befragen.« Daniel steckte den Zettel in die Jackentasche. »Sie haben nicht zufällig ein Foto von Ihrer Putzfrau?« Frau Schiller sah ihn an, als hätte er sie nach Nacktbildern gefragt. »Von der Bewerbung oder so?«, setzte er nach.

»Sie hat sich telefonisch beworben und dann persönlich vorgestellt.« Frau Schiller riss die hellgrauen Augen auf. »Sie glauben doch nicht, dass ihr etwas passiert ist, oder?«

Ich hoffe nicht. Doch je schneller die Identität der Toten festgestellt wurde, umso wahrscheinlicher war es, den zu finden, der sie auf dem Gewissen hatte. »Welchen Beruf hat eigentlich Ihr Mann?«

»Er ist Personalchef bei einer Bank.«

Daniel öffnete die Haustür, doch sie hielt ihn zurück. »Mir fällt da gerade noch jemand ein, auf den Ihre Beschreibung passt.«

Sieh an. Er drehte sich zu ihr um.

»Das Ehepaar Roth am Ende der Straße hat eine Tochter in dem Alter. Auch dunkelhaarig. Sie studiert und wohnt nicht mehr zu Hause, aber vielleicht hat sie ihre Eltern besucht.«

Dann weiß ich, wo ich als Nächstes klingle.

Jonas

Warum tust du mir das an, Lara? Jonas steckte das Smartphone zurück in die Tasche seiner Trainingsjacke. Immer noch kein Anruf von ihr. Nicht mal eine Nachricht. Will sie mir wehtun? Warum?

»Hey, Jonas.« Nele grinste ihn an. Sie war die Neue im Fitnessstudio, aber sicher nicht für lange Zeit. Die Fluktuation unter den Aushilfskräften war hoch. Die meisten von ihnen waren Studenten, die sich etwas dazuverdienten. Er war der Einzige, der seit drei Jahren täglich hier war und dessen Lohn den Mindestlohn überstieg.

»Viel los heute?«

Nele schüttelte den Kopf. »Hauptsächlich junge Mütter und ältere Hausfrauen«, flüsterte sie mit einem Augenzwinkern, das er nicht erwiderte.

Die kamen wenigstens wirklich zum Trainieren her. Im Gegensatz zu vielen Studentinnen, die das Fitnessstudio mit dem Laufsteg verwechselten. Die meisten Typen standen total auf diese gestylten Chicks. Umgekehrt galt dasselbe. Die Zurschaustellung von Muskeln und durchtrainierten Pos hier erinnerte oft genug an das Balzritual sexhungriger Primaten. Hätten sie ihre Genitalien präsentieren dürfen, würden die meisten Männer wahrscheinlich nicht zögern.

»Ich sperre meine Jacke und die Sachen in den Spind und dreh eine Runde. Übernimmst du weiterhin Kasse und Empfang?«

Nele neigte den Kopf, wirkte aber nicht begeistert.

Tja, als Neue hatte man halt keine Wahl. »Falls du Hilfe brauchst, gib Bescheid.«

Jonas nahm sich zuerst den vorderen Teil des Studios mit den Fitnessgeräten vor. Eine Dame mittleren Alters trainierte dort ihre Oberarmmuskulatur. Sie musste neu sein, er hatte sie noch nie hier gesehen.

Jonas beobachtete sie eine halbe Minute lang, dann schritt er ein. »Es sind zu viele Kilos eingestellt. Ist es okay, dass ich Sie duze?« Sie nickte, und er ging in die Hocke, um das Gewicht beim Gerät anzupassen. »So ist es besser. Ich empfehle dir, immer zwei Runden zu machen. Erst eine leichtere mit mehr Wiederholungen, dann gegebenenfalls das Gewicht erhöhen, aber mit weniger Einheiten.«

Die Frau errötete und lächelte ihn schüchtern an. »Danke. Es ist erst mein zweites Mal hier. Ich habe Krafttraining immer gescheut.«

Wie so viele Frauen. Sie denken, sie werden zu muskulös und unweiblich. Blödsinn. Gezieltes Muskeltraining stabilisierte das Skelett. »Ist aber gut für den Rücken, vor allem, wenn man viel sitzt. Ich stelle gern einen Trainingsplan für dich zusammen.«

»Wenn du meinst.« Sie klang verunsichert.

Er stellte sich namentlich vor. »Verrätst du mir deinen Namen?« Er kannte die Vornamen aller Stammkunden und verwechselte nie einen. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen. Sich Gesichter zu merken und sie mit entsprechenden Namen zu verbinden war ihm schon immer leichtgefallen.

»Rebecca.«

»Also, Rebecca. Es ist nur ein Vorschlag. Überleg's dir. Wenn du einen Termin ausmachen möchtest, gib Bescheid.« Er schenkte ihr ein Lächeln, von dem Lara immer behauptete, er sehe dann aus wie Elyas M'Barek. »Ich gebe auch Spinning-Kurse hier. Schau ruhig mal rein.« Je mehr Teilnehmer er für die eigenen Kurse gewann, umso gefestigter wurde seine Position im Studio. Der Chef stellte immer mehr ausgebildete Fitnesstrainer ein. Doch Jonas brauchte keine Ausbildung. Er hatte auch so Ahnung von der Materie. Schließlich hatte er schon als Siebenjähriger mit leichtem Krafttraining begonnen. Zusätzlich hatte er lange Zeit im Verein Fußball gespielt und dort auch die Anfänger trainiert.

»Warum holst du nicht das Abi nach und studierst Sport? Auf Lehramt oder so«, hatte Lara ihn schon oft gefragt. Sie meinte es sicher gut. Doch er würde auf keinen Fall studieren. Schon die Schule war Horror gewesen.

Verdammt, Lara. Warum? Jonas schluckte den Ärger darüber, das Smartphone während der Arbeit nicht nutzen zu dürfen, hinunter.

Er lief an den Crosstrainern vorbei zum Bereich mit den Bauchtrainern. Eine Blondine in kurzer Hose und bauchfreiem Top lag auf dem Rücken und keuchte bei ihren Sit-ups. Bella. Schweißtropfen rannen von ihrer Stirn auf die Gummimatte unter ihr. Als sie bemerkte, dass er ihr zusah, biss sie die Zähne zusammen und beschleunigte den Rhythmus.

Hashtag Perfektionistin. Doch es gab nichts an ihrer Technik zu kritisieren, also wandte er sich ab, um in den Kraftraum nebenan zu schauen, wo die Männer Hanteln stemmten.

»Jonas?«, pfiff ihn Bella zurück. Er drehte sich um und setzte ein Lächeln auf. Sie sprach ihn jedes Mal an. »Ich bräuchte deine Hilfe. Hast du Zeit?«

»Sicher.« Die Kundin ist Königin.

Bella setzte sich auf den Trainer für die seitliche Bauchmuskulatur. »Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig mache.« Sie warf ihm einen Blick zu, der einer Einladung zum Sex gleichkam.

»Alles gut. Das Gewicht ist auch korrekt eingestellt.«

»Aber stimmt meine Bewegung? Fühlt sich komisch an.« Sie spitzte ihre dunkelrot gefärbten Lippen und drückte den Rücken durch. Sicher, damit er ihre Oberweite bemerkte. Wer konnte die schon übersehen?

Jonas zwang sich, ihr in die Augen zu schauen. Türkisblau. Auffallend, aber lange nicht so schön wie Laras. »Du machst das echt perfekt.«

Sie strahlte. »Wir könnten mal wieder meinen Trainingsplan überarbeiten. Was meinst du?«

»Machen wir. Gern. Ich muss mal eben in den Kraftraum. Aber sprich mich jederzeit an, okay?«

Flirten ist erlaubt. Gegessen wird zu Hause. Laras Spruch. Dabei hatte er ihr mehrfach versichert, dass die Mädels im Studio ihn nicht die Bohne interessierten. Klar merkte er, wie sie ihn ansahen, einige zogen ihn mit ihrem Gaffen regelrecht aus. Vor seiner Zeit mit Lara hatte er sich auch gern mal verführen lassen.

»Ach komm. Ich habe die hübschen Frauen gesehen, die im Studio rumlaufen. Da ist es doch normal, dass die Jungs große Augen machen. Du bist sicher keine Ausnahme.«

»Lara, ich bin nur nett zu denen, weil es mein Job ist.«

Sie hatte ihn fast ausgelacht. »Ich bin nicht eifersüchtig.«

Dazu hatte sie auch keinen Grund. Aber ich vielleicht? Wie gerne würde er einen Blick aufs Smartphone werfen, um zu sehen, ob sie sich gemeldet hatte. Er wollte nicht glauben, dass es zwischen ihnen aus war.

»Hi, Jonas, Alter. Was geht?« Cem begrüßte ihn vor den Hantelablagen im Kraftraum. »Meine Muckis sind jetzt fast so groß wie deine.«

Es war ein Scherz. Cem war ein halbes Hemd, obwohl er seit zwei Jahren hier trainierte. Für ihn war die Mucki-Bude eher ein Ort, wo er Kumpels traf und Mädels aufriss. Letzteres mit mäßigem Erfolg. Für Jonas war er zu so etwas wie einem Freund geworden. Vielleicht, weil sie im selben Alter waren. Beide zwanzig.

»Um Muskeln aufzubauen, solltest du mehr trainieren als quatschen, Cem.« Jonas begrüßte auch Cems älteren Kumpel Rolli, der immer nur mit seinem Spitznamen angesprochen werden wollte. Wie er zu diesem gekommen war, verriet er nicht. Dafür zeigte sein Hanteltraining Erfolg. Er hatte Oberarme wie Arnold Schwarzenegger. Viel mehr Muskeln als Jonas. Total übertrieben. »Rolli kann wenigstens beides. Quatschen und trainieren.«

»Multitasking ist nur was für Frauen.« Cem schielte an Jonas vorbei in den Nebenraum. »Apropos Weiber. Wer ist denn die heiße Blondine da drüben? Kannst du mir ihre Nummer besorgen? Die müsste das Studio doch haben, oder?«

»Na klar, Cem. Ich gebe an dich Kundendaten weiter. Träum weiter. Musst sie schon selbst ansprechen.«

»Ja, mach ich vielleicht.« Wäre nicht die Erste. Und sicher nicht die Letzte, die ihn abblitzen ließ. »Wie geht's Lara?«

»Gut. Läuft.«

Cem beäugte ihn misstrauisch. »Ihr seid doch noch zusammen, oder?«

»Klar, Mann, was denkst du denn?«

»Meine ja nur. Hab euch ewig nicht zusammen gesehen, und du erzählst gar nichts mehr von ihr. Trainierst du heute eigentlich auch noch?«

»Morgen. Heute Abend arbeite ich im Tausend und eine Nacht.«

»Ist das nicht die Shisha-Bar in der Sanderstraße?«, mischte sich Rolli ein.

Jonas nickte. Eine von mehreren. Sprossen wie Akne bei Teenagern. Auch die Fitnessstudios in dieser Stadt. »Kommt doch mal vorbei. Der Tabak ist geil, und die Location nicht so abgeranzt wie andere.«

»Kriegste Rabatt für uns?«

»Ich schau, was ich machen kann.« Jonas verabschiedete sich und schlenderte zurück zu Nele, weil er das Gefühl hatte, die Neue schon zu lange alleine gelassen zu haben. Das Studio füllte sich langsam, und der Chef verließ sich auf ihn.

Nele war nicht an der Kasse. Dafür ein Zettel: »Bin kurz auf'm Klo.« Sie hatte Glück, dass der Chef nicht da war. Die Regel lautete, sich bei einem Kollegen abzumelden und Ersatz anzufordern, damit immer jemand am Empfang war. Was solls? Der Chef ist ja nicht da. Und es gab ihm Gelegenheit, sein Handy aus dem Spind zu nehmen, ohne dass Nele es bemerkte.

Er begrüßte zwei Teilnehmerinnen für den donnerstäglichen Bauch-Beine-Po-Kurs, vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und öffnete den Spind. Er hielt das Handy unter der Theke versteckt und holte es aus dem Flugmodus. Immer noch nichts von Lara.

Am liebsten hätte er das Gerät mit der Hand zerquetscht. Stattdessen ließ er es in die Hosentasche gleiten. Gerade rechtzeitig, denn Nele trat wieder zu ihm hinter die Theke.

»Hey, Nele. Du bist neu, daher ist es nicht so schlimm, aber du musst Bescheid geben, bevor du den Empfang verlässt. Kunden sollen den Eindruck haben, dass immer jemand für sie da ist. Rund um die Uhr. Das unterscheidet unser Studio von den Billigketten, verstehst du?«

Neles Augen wurden so groß wie Zweieuromünzen. »Oh, sorry. Das habe ich total vergessen. Kommt echt nicht mehr vor.«

»Schon gut. Das passiert am Anfang schon mal. Keine Sorge. Von mir erfährt der Chef nichts.«

»Danke. Oh Mann, die haben im Radio grad 'ne schlimme Meldung gebracht.« Auf dem Mitarbeiter-Klo stand ein kleiner Rundfunk-Empfänger neben dem Waschbecken. Ein Zugeständnis des Chefs, da sie keine Handys nutzen durften. »Damit ihr mitbekommt, falls die Welt untergeht«, scherzte er immer.

»Was denn für 'ne Meldung?« Jonas interessierte sich nicht sonderlich fürs Weltgeschehen. Kann ich eh nicht ändern.

»Sie haben heute früh im Stadtwald eine Leiche gefunden. Eine dunkelhaarige Frau. Sie wurde angeblich ermordet. Dabei war sie erst zwanzig oder so. Krass, oder?«

Würzburg hatte schon mehr als einen Toten gesehen. Und mehr als einen Mörder. Sogar Serienmörder. Trotzdem fühlte sich Jonas' Kehle an, als hätte er eine Sanduhr verschluckt. »Wer ist die Tote?«

»Keine Ahnung. Aber voll furchtbar, wenn ich mir überlege, es hätte auch mich erwischen können. So oft, wie ich da oben joggen gehe.«

Jonas hörte ihr nicht mehr zu. »Kannst du die Stellung halten? Ich muss kurz weg.«

»Was?! Geht's dir gut? Du bist auf einmal so blass.«

»Nele, machst du's oder nicht?« Er merkte, wie aggressiv er klang.

»Ja, klar. Soll ich dem Chef Bescheid geben?«

»Auf keinen Fall.«

»Okaaay.« Sie stieß die Luft aus, als hätte sie einen Irren vor sich.

Jonas schnappte sich Jacke und Rucksack aus dem Spind und rannte an ihr vorbei aus dem Studio. Kaum war er im Freien, wählte er Laras Nummer. Er erreichte nur die Mailbox. Verfluchte Scheiße, Lara, wo bist du?

Er suchte die Website der lokalen Zeitung. Tatsache, da war die Meldung. Die tote Frau wurde beschrieben als Anfang bis Mitte zwanzig, etwa 1,68 Meter, lange dunkle Haare und graublaue Augen.

Graublau. Wie die kalte, stürmische See. Laras Augen. Jonas fühlte sich, als hätte ihm jemand eine Hantel in den Magen gerammt. Er benötigte eine Weile, um aus dem Artikel die für ihn wichtigste Information herauszulesen: Die Identität der Toten war unbekannt.

Jonas' Eingeweide rotierten. Konnte es wirklich Lara sein, die sie gefunden hatten? Sollte er die Polizei anrufen?

Er wählte zweimal die Eins. Sein Daumen zitterte. Kurz bevor er auf die Null drückte, entschied er sich um. Er wusste, wo er zuerst hinmusste.

Victoria

»Kommen Sie rein.« Frau Held war erst die vierte Anwohnerin, die auf Victorias Klingeln hin öffnete. Die meisten waren wohl auf der Arbeit oder aus anderen Gründen außer Haus. Da würden sie oder die Kollegen es später noch mal versuchen.

Praxis für Psychotherapie las Victoria auf einem Schild neben der Eingangstür. Ihr Magen knurrte. Sie hatte zu Hause wieder nicht gefrühstückt, sondern nur geduscht und die Klamotten gewechselt.

»Ich muss Sie allerdings vorwarnen«, sagte Frau Held. »Viel Zeit habe ich nicht. Ich erwarte einen Patienten.«

»Dauert nicht lange. Wohnen Sie allein?«

»Zusammen mit meinem Mann. Er ist Arzt am König-Ludwig-Haus.«

Victoria schätzte die Psychotherapeutin auf ihr Alter – Ende dreißig. »Waren Sie gestern zu Hause, und ist Ihnen am Nachmittag oder Abend etwas Ungewöhnliches in der Gegend aufgefallen?«

»Ungewöhnliches?« Frau Held verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und lupfte eine Augenbraue. Victoria sah sie in einem Ohrensessel vor sich. Wie sie ihre Patienten mit genau diesem Ausdruck musterte und Gegenfragen stellte.

»Eine fremde Person oder ein Wagen, der nicht in die Nachbarschaft gehört?«, präzisierte Victoria.

Frau Held kräuselte die Stirn über der Brille mit Goldrand. »Denke nicht, nein. Wieso fragen Sie das?« Schon wieder eine Gegenfrage. Waren alle Psychotanten so neugierig?

»Es geht um eine laufende Ermittlung.«

»Verstehe. Ich fürchte, ich bin Ihnen keine große Hilfe.«

»Kennen Sie eine junge Frau Anfang bis Mitte zwanzig? Dunkle Haare? Etwa 1,68 Meter groß. Vielleicht jemanden aus der Nachbarschaft?«

»Ja. Ich habe vor ein paar Tagen ein Mädchen gesehen. Bei den Roths. Ich glaube, es ist ihre Tochter, aber sicher bin ich nicht. So gut kenne ich die Familie nicht. Aber das Alter kommt hin.«

Victoria notierte sich die Hausnummer der Roths und verabschiedete sich.

Die Tochter der Roths. Konnte das ihre Tote sein? Welcher Familie würden sie den Tag mit einer schrecklichen Todesnachricht ruinieren? Nicht nur den Tag. Das ganze Leben.

Wer verbarg sich hinter der nächsten Tür? Klingelputzen war zeitaufwendig und half oft nicht weiter.

»Kripo Würzburg, Hauptkommissarin Stahl. Grüß Gott!« Sie zeigte dem Mann ihre Dienstmarke. »Herr Meckelein?

»Ja.« Der dunkelhaarige Mann wirkte gehetzt. »Polizei? Ist was passiert?« Er schaute über ihre Schulter hinweg zur Straße, als fürchtete er einen Unfall. »Meiner Frau?« Falls er mit der Toten verheiratet war, dann bestand zwischen dem Ehepaar ein Altersunterschied von mindestens zehn Jahren.

»Haben Sie ein Foto von Ihrer Frau?«

Meckeleins glatt rasiertes Gesicht nahm einen käsigen Ausdruck an. »Klar. Warten Sie einen Moment.« Er verschwand im Inneren des Hauses und kam eine halbe Minute später mit einem gerahmten Foto zurück. Ein Hochzeitsfoto. Eine attraktive Frau, aber dunkelblond und ein ganz anderer Typ.

»Nein. Ihr ist nichts passiert, zumindest nicht, dass wir wüssten. Ist sie denn nicht zu Hause?«

Die Gesichtsfarbe des Mannes kehrte zurück. »Sie wollte zum Arzt. Hat den Wagen genommen. Sie fährt nicht so oft, daher habe ich sofort an einen Unfall gedacht. Was führt Sie sonst zu mir?« Er kam nicht auf die Idee, sie hineinzulassen.

»Eine Ermittlung. Kennen Sie eine junge Frau, Anfang bis Mitte zwanzig, lange dunkle Haare?«

»So ad hoc fällt mir keine ein. Warum?«

»Die Tochter der Familie Roth vielleicht?« Falls ja, konnte sie sich schon mal für das Gespräch mit den Eltern wappnen.

»Ich weiß nicht. Kann sein. Ich habe sie nur ein paarmal gesehen.«

»Danke.« Victoria steckte das Smartphone ein. »Es wäre nicht schlecht, wenn wir auch mal mit Ihrer Frau sprechen könnten.« Sie reichte ihm ihre Karte. »Sie soll sich bitte bei uns melden.«

Herr Meckelein nickte nur, und Victoria bedankte sich. Zeit, bei den Roths zu klingeln. Sie staunte, als Daniel aus dem Haus der Familie trat. Er hatte wohl denselben Hinweis erhalten. »Ist es die Tochter?«, fragte sie nur.

»Nein. War sonst noch was Brauchbares bei dir dabei?«

Sie verneinte. »Bei dir?«

»Bei dem Opfer könnte es sich um eine Studentin handeln, die als Putzfrau gearbeitet hat.«

»Muss ja gut verdient haben.«

»Ich habe auch gedacht, dass es nicht wirklich passt, aber überprüfen müssen wir es trotzdem. Lass uns Benedikt suchen und Mittagspause machen. Ich höre nicht nur meinen Magen knurren.« Daniel zwinkerte ihr zu.

Sie gabelten den Kollegen in einer Parallelstraße auf, und gemeinsam liefen sie zurück zum Parkplatz.

»Irgendeine Idee, wo wir hier in der Nähe was zu essen kriegen?« Daniel führte Victoria und Benedikt zum Dienstwagen.

»Schon. Aber im Zentrum ist es sicher günstiger«, antwortete Benedikt. »Lust auf Pasta? Der Lieblingsitaliener meiner Frau ist gut.«

Sie waren einverstanden.

Ich esse jetzt alles, dachte Victoria. Hauptsache, es geht schnell.

Daniel schaltete das Navi ein. »Wo genau ist das Restaurant?«

»Park einfach in der Marktgarage oder am Dom ... oh Shit!« Benedikt starrte auf sein Smartphone.

»Was ist?«

»Jemand hat gequatscht. Die Würzburger Nachrichten berichten von einer toten Frau im Stadtwald. Dass sie vermutlich ermordet wurde und die Kripo weder bestätigt noch dementiert.«

»Haben sie auch Bilder publiziert?«

»Nee. Ich denke mal, unsere Waldschützer stecken dahinter, oder?«

»Ein Wunder, dass sie es geschafft haben, die Polizei noch vor der Zeitung anzurufen.« Victorias Sarkasmus war beabsichtigt. Mediengeile Idioten! Sie konnten von Glück reden, dass keine Leichenbilder durch die Medien schwirrten. So viele Menschen zückten immer gleich die Handykamera, wenn sie Opfer, Tod oder Leid vor die Linse bekamen. Besonders widerlich fand Victoria Gaffer, die Unfallfotos in den sozialen Netzwerken posteten.

Daniel drehte das Radio lauter. Auch dort berichteten sie über eine dunkelhaarige Frau mit graublauen Augen, die tot aufgefunden worden war.

Haller wird toben.

Das Restaurant lag in der neu gepflasterten Spiegelstraße. Die Erneuerung eines Teils der Innenstadt, die jetzt mehr Sitzgelegenheiten und Bäume bot, wertete das Zentrum deutlich auf. Viele Cafés stellten in den Sommermonaten Tische vor ihre Pforten. Auch Boutiquen, Schuhläden und weitere Geschäfte profitierten von der gestiegenen Attraktivität für Einkäufer und Touristen. Die Erneuerung wäre die Gelegenheit für die Errichtung einer reinen Fußgängerzone gewesen. Zwar war der Pkw-Verkehr hier auf Anlieferer beschränkt, doch störten sich viele Bummler an der neuen Bushaltestelle.

Sie hatten gerade ihre Nudeln bestellt, da klingelte Daniels Handy. »Dr. Hagen«, sagte er und nahm den Anruf entgegen.

Die Rechtsmedizin. Ganz schön fix. Victoria wartete gespannt darauf, dass Daniel das Telefonat beendete. Seine Miene wurde im Laufe des Gesprächs immer düsterer.

»Du trägst ihn ja wieder«, sagte Benedikt unvermittelt und deutete auf Victorias Hand. »Deinen Ehering.«

Sie hätte nicht damit gerechnet, dass der Mittdreißiger auf so was achtete. So detailliert Benedikt in der Dokumentation von Fällen war, so zerstreut kam er ihr manchmal in privaten Angelegenheiten vor. Daniel war schon eher der Typ, der so was bemerkte. Der hatte vorhin zwar auch schon auf ihren Ringfinger geschielt, aber nichts gesagt. Weil er sich nicht traute oder sie lieber unter vier Augen ansprechen wollte? »Dir entgeht aber auch nichts.«

»Was entgeht ihm nicht?« Daniel hatte aufgelegt. »Der Ring? Ist mir auch aufgefallen. Dann seid ihr jetzt offiziell wieder zusammen?«

Oder noch immer verheiratet. »Ich dachte, es ist langsam mal an der Zeit.« Schließlich hatte sie vor über einem Jahr entschieden, ihre Scheidungspläne über den Haufen zu schmeißen. Genauer gesagt, einen Tag vor dem Termin beim Amtsgericht. Seitdem hatte sie die Ehe mit Tom einer Probezeit unterstellt.

»Freut mich.« Daniel verzog das Gesicht.

»Siehst nicht so aus.«

»Es gibt Neuigkeiten. Dr. Hagen konnte den Todeszeitpunkt auf gestern zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr eingrenzen. Er schließt eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch des Opfers aus, wobei die Ergebnisse aus dem Labor natürlich noch ausstehen, aber er klang da recht sicher. Wenn sie sich gegen den Täter gewehrt hat, dann nicht so, dass es Spuren hinterlassen hat. Oder diese wurden vom Regen vernichtet.«

»Hm«, meinte Benedikt. »Ist sie wie vermutet mit dem Kopf gegen den Baum geschlagen worden?«

Daniel nickte. »Sie ist an den Folgen eines Schädelbasisbruchs gestorben. Der Täter hätte sie vielleicht noch retten können, wenn er einen Notarzt gerufen hätte.«

»Verflucht.« Victoria schluckte. »Stattdessen deckt er sie zu und überlässt sie ihrem Schicksal.«

»Oder sie«, wandte Benedikt ein. »Könnte auch eine Täterin sein.«

»Die Rechtsmedizin hat die Fingerabdrücke des Opfers genommen«, erläuterte Daniel weiter. »Die Kollegen vom Erkennungsdienst haben sie schon überprüft. Sie sind nicht in unserem System.«

Der Kellner servierte die dampfenden Nudeln.

»Und es gibt noch ein Problem.« Daniel sah aus, als hätte das Telefonat ihm den Appetit verdorben. Was selten vorkam. »Sie war Mutter. Dr. Hagen schätzt, dass die Geburt keine Woche her ist.«

Die Babydecke. Sie hat ein Kind. »Meinst du, sie hatte das Kind bei sich?«

»Aufgrund der Decke ist das anzunehmen.« Daniel starrte lustlos auf den Teller vor sich. »Das Baby zu finden hat für uns oberste Priorität.«

Daniel

Ausgerechnet ein Baby. Er pikste ein paar Nudeln auf die Gabel, nur um überhaupt etwas zu essen. Es verschlug ihm eigentlich nie den Appetit. Selbst nach einem Besuch in der Rechtsmedizin konnte er problemlos reinhauen. Aber dass sie jetzt nach einem Säugling suchten, verdarb ihm den Geschmack der zugegebenermaßen exzellenten Nudeln. Vielleicht lade ich Susanne mal hierher ein. Ihm entfuhr ein Seufzer.

»Schmeckt's dir nicht?« Benedikt klang enttäuscht. Sein Teller war schon fast leer. »Dachte, du isst alles.«

»Sorry. Ich habe wenig Appetit. Sie sind echt super.« Daniel lugte auf Victorias Lasagne, besser gesagt auf das bisschen, was davon übrig war.

Sie bemerkte den Blick. »Mein Magen hing mir schon in den Kniekehlen. Appetit hatte ich nicht wirklich.«

Daniel lächelte dünn. »Musst dich nicht rechtfertigen.« Er winkte dem Kellner. »Bitte packen Sie mir die Nudeln ein.« Er wandte sich wieder an die Kollegen. »Ich fahre zu dieser Studentin. Benedikt, du übernimmst bitte weiterhin die Anwohnerbefragung. Vickie, sprich mit diesen Waldschützern.« Auch sollte er Kathrin anrufen und sie bitten, mögliche Hinweise, die auf die Medienberichte erfolgten, an ihn weiterzuleiten.

»Glaubst du, die nochmalige Befragung der Waldschützer bringt uns weiter?« Victorias Miene spiegelte ihre Skepsis wider.

»Wir suchen ein Baby«, antwortete Daniel schärfer als beabsichtigt. »Selbst wenn die beiden nichts mit dem Tod der Frau zu tun haben, haben sie möglicherweise Informationen, die uns zum Kind führen.« Wir müssen die Hundestaffel mit einbeziehen. Es konnte sein, dass das Baby bis zum Tod der Mutter bei ihr gewesen war. In der Decke, und die führte die Spürhunde bestenfalls zum Kind. Wobei ihnen das Wetter, was die Haltbarkeit der Duftspur anging, nicht in die Hände spielte.

»Vielleicht haben die Waldschützer das Baby nach dem Fund der Leiche mitgenommen, und es lag die ganze Zeit über in ihrem Wagen.« Benedikt tunkte ein Stück Weißbrot in seinen Rest Tomatensoße.

»Wozu?« Vickie runzelte die Stirn. »Um es zu verkaufen? Zudem wissen wir ja nicht mal, ob die Frau ihr Kind überhaupt dabeihatte.«

»Die Einhorndecke spricht dafür.« Daniel nahm vom Kellner die Nudeln in Alufolie entgegen und zahlte für alle. »Auf jeden Fall haben die beiden Männer uns in mindestens einer Hinsicht belogen.«

»Inwiefern?«

»Im Radio haben sie die Augenfarbe der Toten genannt. Die Leiche hatte die Augen aber geschlossen. Die beiden Finder haben behauptet, die Tote nicht berührt zu haben. Einer muss aber ihre Lider angehoben haben, um diese Information an die Presse zu spielen.«

»Vielleicht hat auch einer von unseren Leuten geplaudert«, mutmaßte Benedikt.

»Oder vielleicht kannten die Waldschützer die Frau doch und daher auch ihre Augenfarbe«, wandte Vickie ein.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht. »Hoffen wir, das Baby lebt und ist nicht in Gefahr.« Über diesen Fall werde ich besser nicht mit Susanne sprechen.

»Lass uns die Krankenhäuser nach den Geburten der letzten sieben Tage fragen«, schlug Vickie vor. »Bestenfalls identifizieren wir auf diesem Wege die Mutter.«

Daniel nickte. Daran hatte er auch schon gedacht. Nur – wie viele Kinder wurden in der Stadt jeden Tag geboren? Sicher ein Dutzend. »Wir sprechen hier bestimmt von rund hundert Müttern, die infrage kommen. Ich werde Kathrin anweisen, die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten, jetzt, da die Presse ohnehin über die Frau berichtet.« Leider hatte die Tote laut Rechtsmediziner keine auffälligen Körpermerkmale wie Tattoos oder Muttermale, die eine Identifikation erleichterten.

Daniel brachte die Kollegen zurück zu ihren Wagen am Waldfriedhof, dann machte er sich auf den Weg in den Stadtteil Grombühl. Dort erreichte er niemanden an der von Frau Schiller genannten Adresse. Hoffentlich war die Studentin nur putzen. Und nicht tot.

Er hätte die Putzfrau gern ausgeschlossen. So wie er jede junge Frau in Würzburg gern als Tote ausgeschlossen hätte. Sie war viel zu jung, um zu sterben. Und sie hätte nicht sterben müssen. Wenn der Täter einen Notarzt gerufen hätte.

»Suchen Sie jemanden?« Ein betagter Mann hatte auf dem Gehweg vor dem Mehrfamilienhaus haltgemacht, um seinen Dackel ins Gebüsch pinkeln zu lassen.

»Eine Frau Stefanie Heinrich. Kennen Sie sie?«

»Klar. Ist eine Nachbarin.« Der Mann zog den Hund vom Gebüsch weg. »Die ist sicher an der Uni.«

»Ich bin von der Kripo Würzburg. Wann haben Sie Ihre Nachbarin das letzte Mal gesehen?«

Der Mann hatte jegliches Interesse an dem Dackel verloren, der mitten auf den Gehweg kackte. »Ist länger her. Kripo? Ist was passiert?«

Daniel ging nicht darauf ein. »Können Sie Ihre Nachbarin für mich beschreiben?«

»Nein. Die jungen Dinger sehen für mich alle gleich aus. Aber schauen Sie doch einfach im Internet nach Fotos von ihr. Die jungen Leute dokumentieren heute doch ihr ganzes Leben im Netz.«

»Habe ich schon getan. Frau Heinrich zieht es vor, Katzenfotos anstelle von eigenen Fotos zu nutzen.« Außerdem war Daniel unsicher, ob es sich bei dem im Netz gefundenen Profil um das der Studentin handelte. Es gab mehr als eine Stefanie Heinrich in der Stadt.

»Ah ja, ihre Katzen. Sie hat mehrere von den Drecksviechern.« Erst jetzt registrierte der Mann das Häufchen. »Och nee, nicht schon wieder, Athos.« Er schüttelte den Kopf. »Er machts am liebsten dort, wo er nicht darf.«

Daniel trat zu dem Herrchen auf den Gehweg, bemüht, nicht in das Häufchen zu treten. »Tun Sie mir einen Gefallen?« Er kramte eine Visitenkarte hervor. Falls Sie Frau Heinrich sehen, sagen Sie ihr bitte, sie soll mich anrufen, ja?«

»Von mir aus.« Der Mann steckte die Karte in die Hosentasche. »Ich hoffe, ich vergesse es nicht.« Er tippte sich an die Stirn. »In meinem Alter dauert es manchmal, bis die Rädchen ineinandergreifen.«

»Danke trotzdem.«

Im Dienstwagen wählte Daniel Kathrins Nummer. Hoffentlich hatte sie inzwischen etwas zur Identität der Toten herausgefunden. Vor seiner Fahrt nach Grombühl hatte er sie nicht erreicht, aber per Sprachnachricht die Ergebnisse der Rechtsmedizin für sie zusammengefasst und sie gebeten, sich um den Hilfeaufruf an die Bevölkerung und die Fahndung nach dem Baby zu kümmern. Sie suchten nun nicht mehr nur nach dem Namen einer jungen Frau, sondern auch nach ihrem Kind.

»Hi, Daniel.«

»Gibt es was Neues?«

»Ein erster Kurzbericht der Spurensicherung ist vor fünf Minuten reingekommen. Die Zusammenfassung in der Mail lässt allerdings wenig Hoffnung. Der Täter hatte Glück, dass es letzte Nacht so stark geregnet hat. Es gibt keine verwertbaren Finger- oder Fußabdrücke, keine Haare oder andere Materialspuren.«

»Hab ich befürchtet. Bitte kontaktiere die Krankenhäuser der Stadt. Sie sollen uns die Daten aller Geburten der letzten Woche zukommen lassen. Frag auch, ob seit gestern Nachmittag Babyklappen genutzt worden sind.«