Alles zerfällt - Chinua Achebe - E-Book

Alles zerfällt E-Book

Chinua Achebe

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Beschreibung

Der Afrika-Roman, der die moderne afrikanische Literatur begründete und die Weltliteratur prägte – endlich in neuer Übersetzung! Chinua Achebe erzählt von Verrat und Rache, von Leidenschaften, die keine Ruhe finden, und von Sehnsüchten, die keine Zukunft haben. Okonkwo, stark und jähzornig, stösst sich an den strengen Stammesregeln und zerbricht an dem Regime der britischen Kolonialherren. In seinem Meisterwerk beschreibt Achebe den Konflikt einer archaischen Kultur in einer Sprache, die rituell-sprichwörtlich, dokumentarisch und elementar poetisch ist: Mit diesem Roman erhielt der Kontinent eine Stimme.

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Seitenzahl: 275

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Chinua Achebe

Alles zerfällt

Roman

 

Aus dem Englischen von Uda Strätling

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Chinua Achebe, Vater der modernen afrikanischen Literatur, führt uns in seinem Meisterwerk eine nigerianische Dorfgemeinschaft an der Schwelle zum 20. Jahrhundert unmittelbar vor Augen. Okonkwo, einer der meist geachteten und stärksten, aber auch jähzornigsten Stammesmänner, droht an seiner überbordenden Männlichkeit und seiner allumfassenden Angst vor Schwäche zu zerbrechen. Als er nach sieben Jahren Exil – die Folge eines unbeabsichtigten Schießunfalles – in sein Dorf zurückkehrt, erkennt er es nicht wieder: Britische Kolonialherren und christliche Missionare haben neue Gesellschaftsregeln eingesetzt und die traditionellen Götterriten durch das christliche Kirchenleben substituiert. Achebe schafft es mit scheinbarer Leichtigkeit, in seiner Sprache genau diese Momente des Magischen und Rituellen in ihrer Elementarität lebhaft werden zu lassen.Mit diesem Roman erhielt der Kontinent eine Stimme!

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Sohn eines Katechisten aus dem Stamm der Igbo geboren. Er studierte am University College von Ibadan und lehrt seitdem als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. 1958 erschien sein erster Roman ›Things Fall Apart‹, heute das meistgelesene Buch eines afrikanischen Autors. 2002 wurde Achebe für sein politisches Engagement mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize.

 

Über Chinua Achebe

Als der Londoner Verlag William Heinemann 1958 das Manuskript von Chinua Achebes Things Fall Apart (Alles zerfällt) erhielt, war man sich nicht sicher, ob man den Text herausbringen sollte. Die zentrale Frage für den Lektor Alan Hill lautete: »Würde denn irgendjemand den Roman eines Afrikaners kaufen?« Damals gab es nur einige wenige Beispiele afrikanischer Literatur in Englisch – wie zum Beispiel Amos Tutuolas surreales The Palm-Wine Drinkard (Der Palmweintrinker) und Cyprian Ekwensis Roman über das zeitgenössische Lagos, People of the City –, doch keines dieser Bücher besaß den Ehrgeiz, den Scharfblick oder die Kühnheit von Alles zerfällt.

Chinua Achebe hatte es ursprünglich als eine Geschichte dreier Generationen geplant: Ein Mann im vorkolonialen Igboland, der gegen die von den ersten europäischen Missionaren und Verwaltungsbeamten eingeführten Veränderungen kämpft; sein Sohn, der zum Christentum übertritt und eine westliche Bildung erhält; und sein Enkel, der in England ausgebildet wird und an der Schwelle zur Unabhängigkeit das Leben der neuen Elite führt. Später reduzierte Achebe den Roman und konzentrierte sich auf die erste Generation, um eine sorgfältig recherchierte Geschichte der afrikanisch-europäischen kolonialen Begegnung zu gestalten, die vom Volk der Igbo im Südosten Nigerias im Jahr 1890 handelt, mit dem tragischen Helden Okonkwo im Mittelpunkt. Achebes zweiter Roman, No Longer at Ease, übersprang dann eine Generation und erzählte die Geschichte von Okonkwos Enkel Obi, einem Beamten im Lagos der 1950er Jahre. Sein dritter Roman, Arrow of God, der von einem Igbo-Priester und einem britischen District Commissioner im Igboland der 1920er Jahre handelt, kann als repräsentativ für die Lebenszeit von Okonkwos Sohn gelesen werden. Alle drei Romane, zusammengefasst als Achebes »Afrikanische Trilogie« bezeichnet, schaffen ein wunderbar nuancenreiches Zeitgemälde, eine Chronik der kulturellen und politischen Veränderungen, die zu dem geführt haben, was wir heute als den modernen afrikanischen Staat erleben.

Nachdem der Verlag William Heinemann seine Bedenken überwunden und Alles zerfällt im Juni 1958 publiziert hatte, wurde der Roman von der Kritik gefeiert. Achebe sei es überzeugend gelungen, das Stammesleben von innen zu schildern, war in der Times Literary Supplement zu lesen. Das war in der Tat etwas Neues. Nicht durch sein Sujet stellte Alles zerfällt etwas Neues dar, sondern durch die afrikanische Sichtweise, da es schon viele geachtete Bücher über Afrikaner von Nichtafrikanern gab; das Stammesleben war schon unzählige Male von außen geschildert worden. Achebe selbst las einige der bekannteren dieser ›Kolonialismusklassiker‹ zum ersten Mal als Oberschüler in den 1940er Jahren. »Zunächst einmal empfand ich mich selbst nicht als Afrikaner«, schrieb er über seine Reaktion auf die afrikanischen Figuren. »Ich ergriff die Partei der Weißen gegen die Wilden. Der weiße Mann war gut und vernünftig, intelligent und mutig. Die Wilden, die sich gegen ihn stellten, waren finster und dumm oder zumindest verschlagen. Ich hasste sie wie die Pest.« Als Achebe sich weiter entwickelte und kritischer las, begann er die enorme Macht der Geschichten zu verstehen und wie sehr diese Macht dadurch geprägt wurde, wer die Geschichten erzählte und wie sie erzählt wurden. Als Student in den 1950er Jahren las Achebe nicht nur Wordsworth, Shakespeare und Coleridge, sondern auch Joyce Careys »Mister Johnson«, einen in Nigeria spielenden Roman, den die Zeitschrift Time als »bestes Buch, das jemals über Afrika geschrieben wurde«, bezeichnet hatte. Achebe teilte diese Meinung nicht. Nicht nur war der nigerianische Charakter in dem Roman für ihn und seine Kommilitonen unplausibel, sondern er entdeckte auch in der Beschreibung von Nigerianern »eine unterschwellige Lieblosigkeit …, eine Verseuchung durch Widerwillen, Hass und Hohn«.

Es ist viel darüber geschrieben worden, dass Chinua Achebes Alles zerfällt eine Antwort auf »Mister Johnson« sei, doch man möchte annehmen, dass Achebe seinen Roman auch geschrieben hätte, wenn er den von Carey nicht gelesen hätte. Trotzdem musste die von Vorurteilen geprägte Darstellung afrikanischer Figuren in der Literatur Achebes Entwicklung als Schriftsteller zwangsläufig beeinflusst haben. Jahre später schrieb er einen berühmten Essay über die Darstellung von Afrikanern in Joseph Conrads klassischem Roman Herz der Finsternis. Achebe vertrat nicht etwa die Meinung, dass Conrad über den Rassismus seiner Zeit nicht hätte schreiben dürfen, sondern dass er es versäumt habe, jene Weltsicht als Autor zurückzuweisen.

Das seltsame Gefühl, das man hat, wenn man sich in der Literatur verzerrt widergespiegelt sieht – sich eigentlich darin gar nicht wiederfindet –, ist Teil meiner eigenen Kindheit. Ich wuchs in den 1980er Jahren in der nigerianischen Universitätsstadt Nsukka auf und las eine Menge britischer Kinderbücher. Meine frühen Schreibversuche ahmten meinen Lesestoff nach: Alle meine Charaktere waren weiß, und meine Geschichten spielten ausschließlich in England. Dann las ich Alles zerfällt. Es war eine auf großartige Weise schockierende Entdeckung, und das traf auch auf Arrow of God zu, das ich kurz danach las; bis dahin hatte ich nicht konkret gewusst, dass Menschen wie ich in der Literatur vorkommen konnten. Hier war ein Buch, das selbstbewusst afrikanisch war, das auf schmerzhafte Weise vertraut, aber auch exotisch war, weil es das Leben meines Volkes vor hundert Jahren ganz genau schilderte. Weil ich in einem nigerianischen System erzogen worden war, das mir wenig über meine vorkoloniale Vergangenheit vermittelte, weil ich mir zum Beispiel nicht annähernd vorstellen konnte, wie das Leben 1890 in meinem Teil der Welt ausgesehen hatte, wurden Achebes Romane für mich eigenartig persönlich. Alles zerfällt war nicht mehr ein Roman über einen Mann, dessen übersteigerte Männlichkeit und allumfassende Furcht vor Schwäche es ihm unmöglich machen, sich an die Veränderungen in seiner Gesellschaft anzupassen, er wurde zur Schilderung des Lebens, das mein Urgroßvater geführt haben könnte. Arrow of God handelte nicht mehr nur von der Einsetzung von Häuptlingen durch die britische Kolonialverwaltung und den verbundenen Schicksalen zweier Männer – der eine ein Igbo-Priester, der andere ein britischer District Commissioner –, es wurde zur Geschichte des Heimatortes meiner Vorfahren zu Großvaters Zeiten. Und No Longer at Ease ging über die Geschichte eines gebildeten jungen Nigerianers hinaus, der mit dem Druck der neuen urbanen Erwartungen in Lagos kämpfte, und wurde zur Geschichte der Generation meines Vaters.

Später, als Erwachsene, die mit Darstellungen Afrikas in nichtafrikanischer Literatur konfrontiert wurde – Afrika als Ort ohne Geschichte, ohne Menschlichkeit, ohne Hoffnung – und bei der sich daraufhin jenes spezielle Gefühl der Verletzlichkeit und der Defensive einstellte, das vom Wissen herrührt, dass meine Menschlichkeit angezweifelt wurde, wandte ich mich erneut Achebes Romanen zu. In der schlichten, reinen Poesie von Alles zerfällt, im Humor und in der Komplexität von Arrow of God entdeckte ich eine sanfte Rüge: Schenke den Geschichten anderer über dich ja keinen Glauben.

Angesichts der Zeit und der Umstände, unter denen Chinua Achebe schrieb, mag der Autor geahnt haben, dass sein Werk Literatur und Geschichte für eine Generation von Afrikanern werden würde. Er schrieb, dass er zufrieden wäre, wenn seine Romane nicht mehr erreichten, als seine Leser zu lehren, dass ihre Vergangenheit »keine lange Nacht voll Brutalität gewesen war, aus der die ersten Europäer sie im Auftrag Gottes erlösten«. Gelegentlich hat er in seiner Prosa eine etwas anthropologische Stimme angenommen: »Zum Glück beurteilten dortzulande die Leute einen Mann nach seinem eigenen Wert, nicht nach dem seines Vaters«, wird uns in Alles zerfällt erzählt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Achebes Kunst nie unter dieser Bürde der Verantwortung zusammenbricht. Ein Leser, der einfache Antworten von Chinua Achebes Werk erwartet, wird enttäuscht sein, weil er ein Schriftsteller ist, dem Ehrlichkeit und Vieldeutigkeit wichtig sind und der jede Situation in ihrer Komplexität schildert. Kritik an den Auswirkungen des Kolonialismus auf die Igbo ist seinem Werk immanent, aber ebenso ein Hinterfragen der inneren Struktur der Igbo-Gesellschaft. Als Nwoye, Okonkwos Sohn in Alles zerfällt, mit seiner Familie und Gemeinschaft bricht, um sich den Christen anzuschließen, ist das ein Sieg für die Europäer, doch auch ein Sieg für Nwoye, der Frieden findet und ein Ventil für die tiefe Enttäuschung, die er schon lange bezüglich der Traditionen seines Volks empfunden hat. Als eine Romanfigur sagt: »Der weiße Mann ist listenreich. Er kam ruhig und in Frieden mit seinem Glauben. Wir haben über seine Dummheit gelacht und ihm gestattet, zu bleiben. Jetzt hat er unsere Brüder für sich gewonnen, und der Klan kann nicht mehr geschlossen handeln. Er hat ein Messer auf die Dinge gelegt, die uns zusammenhielten, und wir sind zerfallen«, ist dem Leser klar, dass es in Achebes Erzählung genauso um das Messer geht wie um die Schwachstellen, die inneren Spannungen, die Risse, die schon existierten.

Achebe schreibt schlichte, elegante Sätze in Englisch, doch es ist ein nigerianisches Englisch und oft ein Igbo-Englisch, um genauer zu sein. Alle drei Romane sind voll von direkten Übersetzungen aus dem Igbo, darunter auch Zeilen, über die man laut lachen kann, besonders als Igbo sprechender Leser, wie zum Beispiel »der weiße Mann, dessen Vater oder Mutter keiner kennt«. Die Wiedergabe von Sprichwörtern, von wörtlicher Rede, von Sprechweisen ist es, was Achebes Romane zu einem Sprachfest werden lässt. In Arrow of God erfasst Ezeulu beispielsweise seine eigene vorsichtige Fortschrittlichkeit bildhaft, als er zu seinem Sohn, den er in die Missionsschule zu schicken entschieden hat, sagt: »Der Vogel Eneke wurde von seinen Freunden gefragt, weshalb er stets im vollen Fluge unterwegs sei, und seine Antwort lautete: ›Die Menschen haben gelernt, zu schießen, ohne ihr Ziel zu verfehlen; ich habe gelernt, zu fliegen, ohne mich je niederzulassen.‹… die Welt ist wie ein Maskentanz. Wenn man sie gut sehen will, darf man nicht an einer Stelle stehenbleiben.«

Achebe nimmt seine Figuren ernst, aber nicht zu ernst; er erfindet subversive Möglichkeiten, sie in Frage zu stellen und sogar über sie zu lachen, und er weigert sich, sie von ihren Schwächen zu erlösen. Okonkwo, vielleicht die bekannteste Figur der modernen afrikanischen Literatur in englischer Sprache, ist der Inbegriff eines starken Mannes und wird von einer tiefsitzenden Furcht, die ihn blind macht, beherrscht. Seine Unsicherheit führt zu gnadenloser Härte und einer extremistischen Auffassung von Männlichkeit – er hat so große Angst davor, für schwach gehalten zu werden, dass er einen Menschen, den er liebt, tötet, und doch fühlt der Leser mit ihm in seiner Reue, mag sie auch noch so unterdrückt sein.

Es ist unmöglich, besonders für den heutigen Leser, von der Geschlechterdarstellung in Alles zerfällt nicht beeindruckt zu sein, und davon, dass Schwachheit und Unfähigkeit mit Weiblichkeit gleichgesetzt werden. Interessanter und vielleicht aufschlussreicher ist jedoch die dezente Art, in der Achebe dieses Patriarchat hinterfragt: Okonkwo verunglimpft Frauen, und doch ist seine Tochter Ezinma das Kind, das er am meisten respektiert. Sie ist die einzige Person, die ihm zu widersprechen wagt und die selbstbewusst und offen ist, was von seinen Söhnen nicht in gleichem Maße gesagt werden kann. Meine Lieblingsstelle in dem Roman, die nur wenig Raum einnimmt, ist die Liebesgeschichte des alten Paars Ozoemena und Ndulue. Als Ndulue stirbt, geht Ozoemena in die Hütte ihres Mannes, um seinen Leichnam zu sehen, und kehrt dann in ihre Hütte zurück, wo man sie später tot auffindet. Okonkwos Freund Obierika erinnert sich: »Es hat schon immer geheißen, Ndulue und Ozoemena seien eines Sinnes. Ich weiß noch, dass es in meiner Jugend ein Lied über sie gab. Er unternahm nichts, was er nicht zuvor mit ihr besprochen hatte.« Diese Erinnerung beunruhigt Okonkwo, weil sie in seinen Augen Ndulues authentische Männlichkeit in Zweifel zieht. Er sagt: »Ich dachte, er sei in seiner Jugend ein starker Mann gewesen.« Die anderen bestätigen, dass Ndulue ein starker Mann gewesen sei und den Stamm damals in kriegerische Auseinandersetzungen geführt habe. Sie sehen keinen Widerspruch zwischen der Größe des alten Mannes, was seine Männlichkeit betrifft, und seinem innigen Verhältnis zu seiner Frau, wie Okonkwo das offensichtlich tut.

Diese Starrheit Okonkwos, zusätzlich zu seinem unnachgiebigen Charakter, seiner Unbesonnenheit, seinen Exzessen, macht den Leser unwillig. Doch wenn man seine Handlungen im Kontext der vielen kleinen, mit der Kolonialisierung verbundenen Demütigungen sieht, kann man sie ein wenig verstehen. Die Machtstrukturen seiner Gesellschaft sind so leicht umgestoßen worden. Okonkwo ringt nun verzweifelt darum, eine Welt zu verstehen, aus der die Würde, die für ihn immer selbstverständlich gewesen war, verschwunden ist, in der die Ältesten verächtlich behandelt werden und er, der stolze Krieger, von Gerichtsdienern des District Commissioner ausgepeitscht wird. Der Leser wird dazu gebracht, den hilflosen Zorn und schließlich die Gewalttaten zu verstehen, mit denen Okonkwo auf die enorme und vielleicht verwirrende, politische und wirtschaftliche Macht reagiert, die mit dem Christentum und dem Kolonialismus gekommen ist. Am Ende bleibt uns eine unvergesslich tragische Figur: ein Mann, der große Fehler hat, dem aber auch großes Unrecht angetan wurde.

Ezeulu, die zentrale Figur in Arrow of God, welcher mein Lieblingsroman bleibt, hat wie Okonkwo seine Fehler, und es widerfährt ihm ebenfalls Unrecht, auch er kommt nicht los von seiner Vorstellung davon, was seine Gemeinschaft von ihm erwartet. Anders als Okonkwo, eine Figur, die Achebe deutlich unter Kontrolle hatte, ist Ezeulu außerordentlich sperrig, und dieser großen Komplexität verdankt Arrow of God viel von seiner bleibenden Kraft. Ich vermute, dass Chinua Achebe – wie es in der besten Literatur passiert – keine vollständige Kontrolle über seinen Charakter hatte; letztlich diktierte der Geist Ezeulus, wie seine Geschichte erzählt werden sollte. Arrow of God wird sowohl aus dem Blickwinkel von Ezeulu als auch aus dem des District Commissioner Winterbottom erzählt; bei Romanbeginn ist das zentrale Ereignis schon geschehen, wie bei einem griechischen Drama, und Achebe erforscht, was daraus folgt. Ezeulu hat in einem Gerichtsstreit mit der benachbarten Stadt, in dem es um Landbesitz geht, gegen sein Volk ausgesagt, weil er entschlossen ist, die Wahrheit zu sagen, und seine Tat hat ihm sowohl den Respekt des District Commissioner als auch den Zorn seiner Gegner vor Ort eingebracht. Das wird auch als Katalysator wirken und – zusammen mit Ezeulus Sturheit, seinem Idealismus und seinem Stolz – zu seinem tragischen Ende beitragen.

Wie Alles zerfällt zeigt auch Arrow of God die zornige Hilflosigkeit von Menschen angesichts der in feste Formen gegossenen europäischen Macht: Mächtige Männer werden von Handlangern der Regierung verächtlich behandelt, bedeutende Männer werden ausgepeitscht, das bisherige Gerichtswesen wird ersetzt durch eines, das die Menschen nicht verstehen und das sie nicht mitbestimmen können, und die inneren Triebkräfte der Gesellschaft werden ausgewechselt.

In No Longer at Ease wird diese Hilflosigkeit durch etwas Unfertiges, doch weniger Erstickendes ersetzt, weil sich die Bedingungen während des kurzlebigen Optimismus der Unabhängigkeit geändert haben. Obi, der mit den Belastungen der neuen nigerianischen Gesellschaft kämpft, erfasst diesen Wandel, als er an seinen Chef, den Engländer Mr Green, denkt. Er ist sich sicher, dass dieser »Afrika liebt, doch nur ein gewisses Afrika: das Afrika von Charles, dem Botenjungen, das Afrika seines Gartenboys und Hausboys. 1900 hätte Mr Green zu den größten Missionaren zählen können, 1935 hätte er sich damit begnügt, Schulleiter im Beisein ihrer Schüler zu ohrfeigen, doch 1957 konnte er nur fluchen und schimpfen.«

Achebe schreibt in der Tradition des Realismus und es gibt viele autobiographische Spuren in seinem Werk. Er wurde 1930 in der Igbo-Stadt Ogidi, im Südosten Nigerias, geboren. Seine Eltern waren überzeugte Christen, doch viele seiner Verwandten waren der Igbo-Religion treu geblieben, und er erlebte so als Heranwachsender beide Seiten seines Erbes und, was noch wichtiger war, hörte Geschichten von beiden. Einflüsse seines Großonkels, eines reichen und wichtigen Mannes, der den ersten Missionaren Unterkunft auf seinem Hof gewährt hatte, sie aber später wieder zum Gehen aufgefordert hatte, weil er ihre Musik zu traurig fand, sind in Alles zerfällt offenkundig. Er arbeitete in den 1950er Jahren als Rundfunkredakteur in Lagos und die Details seines Lebens – Filmvorführungen und Clubs und Bars, das Beobachten von ehemaligen Ausländerclubs, die jetzt einige wenige Nigerianer zuließen – verleihen No Longer at Ease seine Authentizität. Durch ein Rundfunkprogramm erfuhr Achebe von der Geschichte eines Igbo-Priesters in einer nahe gelegenen Stadt, der wegen etlicher Vorfälle mit der britischen Verwaltung das heilige Fest der Neuen Yamswurzeln verschoben hatte, was noch nie zuvor geschehen war. Er beschloss, diese Stadt zu besuchen, und die Geschichte regte zu Arrow of God an.

Im gesamten Werk von Achebe geht es in der einen oder anderen Weise um starke kommunitaristische Werte, um den Gebrauch der Sprache als kollektive Kunst, um die zentrale Rolle des Geschichtenerzählens und die Bedeutung symbolischer Handlungen und Objekte für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Der amerikanische Schriftsteller John Updike schrieb an Achebe, nachdem er Arrow of God gelesen hatte, um ihm zu sagen, dass ein westlicher Schriftsteller die Zerstörung einer so reichhaltigen Figur wie Ezeulu nicht zugelassen hätte. Darüber kann man streiten, aber was Updike vielleicht verstanden hatte, war, dass es Achebe ebenso sehr um eine Person ging wie um ein Volk, ein Gedanke, der in einem Sprichwort, das eine Romanfigur in Arrow of God anführt, gut eingefangen ist: »Ein Tier reibt seine juckende Flanke am Baum, ein Mensch bittet seinen Verwandten, ihn zu kratzen.«

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

Drehend und drehend im sich weitenden Kreisel

Kann der Falke den Falkner nicht hören;

Alles zerfällt; die Mitte hält es nicht.

Ein Chaos, losgelassen auf die Welt …

W.B. Yeats: Das Zweite Kommen

Erster Teil

Erstes Kapitel

Okonkwo war weithin bekannt in den neun Dörfern[1], und noch darüber hinaus. Sein Ruhm gründete auf handfesten eigenen Verdiensten. Als junger Mann von achtzehn Jahren hatte er seinem Dorf Ehre bereitet, als er Amalinze, die Katze[2], umwarf. Der große Ringer Amalinze war sieben lange Jahre, von Umuofia bis Mbaino[3], unbesiegt geblieben. Man nannte ihn Katze, weil sein Rücken nie die Erde berührte. Diesen Mann bezwang Okonkwo in einem Kampf, wie es nach Meinung der Alten seit jenem Tag, an dem der Gründer ihres Dorfs sieben Tage und sieben Nächte[4] mit einem Buschgeist rang, einen härteren kaum gegeben hatte.

Die Trommeln rollten und die Flöten sangen und die Zuschauer hielten den Atem an. Amalinze war gewitzt und ein Meister, Okonkwo aber war glatt wie ein Fisch im Wasser. An ihren Armen, an Rücken und Schenkeln traten die Sehnen und Muskeln hervor, fast hörte man sie bis zum Zerreißen gespannt werden. Am Ende warf Okonkwo die Katze um.

Das war vor vielen Jahren, zwanzig oder mehr, und seither war Okonkwos Ruhm gewachsen wie ein Lauffeuer im Harmattan. Okonkwo war groß und massig, seine buschigen Augenbrauen und eine breite Nase verliehen dem Gesicht große Strenge. Er atmete geräuschvoll, und man erzählte sich, wenn er schlafe, hörten seine Frauen und Kinder ihn noch in den eigenen Hütten. Wenn er ging, berührten seine Fersen kaum den Boden und schien er auf Federn zu gehen, als setzte er zum Sprung an, um über jemanden herzufallen. Er fiel in der Tat oft über Leute her. Okonkwo stotterte leicht, und immer, wenn er wütend wurde und die Worte nicht schnell genug kamen, nahm er die Fäuste. Er hatte keine Geduld mit den Erfolglosen. Er hatte keine Geduld mit seinem Vater gehabt.

Unoka[5], so lautete der Name des Vaters, war zehn Jahre zuvor gestorben. Er war zeitlebens träge und unbedacht gewesen und ganz und gar außerstande, an morgen zu denken. Wenn ihm Geld zufiel, und das geschah selten, erstand er sogleich einige Kalabassen Palmwein[6], suchte seine Nachbarn auf und feierte. Er sagte gern, sobald er den Mund eines Toten sehe, wisse er um die Dummheit, nicht zu essen, was man zu Lebzeiten habe. Unoka war natürlich ein Schuldenmacher, er schuldete allen seinen Nachbarn Geld, von wenigen Kauri[7] bis zu beträchtlichen Mengen.

Unoka war hochgewachsen, dabei aber hager, und ging leicht gebeugt. Er sah verhärmt und kummervoll aus, außer wenn er trank oder Flöte spielte. Er spielte die Flöte sehr schön, und die glücklichste Zeit waren für ihn die zwei oder drei Monde nach der Ernte, wenn die Dorfmusikanten ihre über dem Herdfeuer verstauten Instrumente herunterholten. Dann spielte Unoka mit ihnen, vor Seligkeit übers ganze Gesicht strahlend. Manchmal luden andere Dörfer Unoka und seine Spieler zusammen mit ihren egwugwu-Tänzern[8] eine Zeitlang zu sich ein, damit sie ihnen ihre Melodien beibringen konnten. Die Männer blieben dann ganze drei oder vier Märkte[9] bei ihren Gastgebern, spielten und feierten. Unoka liebte das gute Essen und die gute Gesellschaft, er liebte diese Jahreszeit, wenn der Regen vorbei war und die Sonne Morgen für Morgen in vollem Glanz aufging. Dann war es auch nicht zu heiß, denn der kalte, trockene Harmattan blies aus dem Norden. Es gab Jahre, in denen sehr strenger Harmattan herrschte und dichter Nebel sich herabsenkte. Dann hockten sich alte Männer und Kinder um die Feuer und wärmten sich die Knochen. Das alles liebte Unoka, wie er auch die ersten Milane[10] liebte, die mit der Trockenzeit wiederkehrten, und die Kinder, die sie mit Gesängen empfingen. Das ließ ihn an seine eigene Kindheit denken und wie oft er auf der Suche nach einem am blauen Himmel dahintreibenden Milan umhergestreift war. Sobald er einen entdeckte, sang er mit seinem ganzen Wesen, hieß ihn nach der langen, langen Reise willkommen und fragte, ob er Tuch mitgebracht habe.

Das war vor vielen Jahren gewesen, in seiner Jugend. Als Erwachsener blieb Unoka ohne Erfolg. Er war arm, seine Frau und Kinder hatten kaum zu essen. Die Leute verspotteten ihn als Faulenzer und schworen, sie würden ihm kein Geld mehr leihen, weil er nie zurückzahlte. Und doch war Unoka von einer Wesensart, die es ihm immer wieder leicht machte, Geld zu borgen und seine Schulden zu mehren.

Eines Tages kam ein Nachbar namens Okoye[11] zu ihm. Unoka lag in seiner Hütte auf dem Lehmlager und spielte Flöte. Er erhob sich sogleich und reichte Okoye die Hand, dieser entrollte daraufhin die Ziegenhaut[12], die er unter dem Arm bei sich trug, und ließ sich nieder. Unoka zog sich in einen hinteren Raum zurück und kehrte bald darauf mit einer kleinen Holzschale zurück, in der eine Kolanuss, etwas Mbongo-Pfeffer und ein Brocken weißer Kreide[13] lagen.

»Ich habe Kola«, sagte er, setzte sich und reichte seinem Gast die Schale.

»Danke. Wer Kola spendet, spendet Leben. Aber ich denke, du solltest sie brechen«, sagte Okoye und reichte die Schale zurück.

»Nein nein, sie ist für dich, sage ich.« Und so stritten sie ein bisschen hin und her, ehe Unoka sich die Ehre gab, Kola zu brechen. Okoye griff unterdessen den Kreidebrocken, malte mehrere Striche auf die Erde und rieb dann seine große Zehe weiß ein[14].

Während er die Kolanuss brach, erbat Unoka von den Ahnen Leben und Gesundheit und Schutz vor allen Feinden. Als sie gekaut hatten, sprachen sie über dieses und jenes: über die schweren Regenfälle, die die Yamswurzeln[15] ersäuften, über das nächste Ahnenfest und über den drohenden Krieg mit dem Dorf Mbaino. Unoka hörte nicht gern von Kriegen. Er war in Wahrheit ein Feigling und konnte kein Blut sehen. Daher wechselte er das Thema und sprach über Musik, und bald strahlte sein Gesicht wieder. Er hatte die berauschenden, verwickelten Rhythmen der ekwe und der udu und des ogene[16] im Ohr, und er hörte seine Flöte sie mit zierreichen, wehmütigen Tönen umspielen. Das Zusammenspiel klang lebhaft und freudig; nur wenn man ganz auf Höhen und Tiefen der Flöte lauschte, auf ihre kleinen Fluchten, hörte man auch Trauer und Leid.

Okoye war ebenfalls Musiker. Er spielte den ogene. Aber er war nicht erfolglos wie Unoka. Er besaß einen großen Speicher voller Yams, er hatte drei Frauen. Und bald würde er den Idemili-Titel[17] erwerben, den dritthöchsten im Land. Die Festlichkeiten würden sehr kostspielig sein, er war dabei, die erforderlichen Mittel aufzutreiben. Das war auch der Grund seines Besuchs bei Unoka. Er räusperte sich und hob an:

»Ich danke dir für die Kolanuss. Du hast sicher gehört, dass ich nächstens einen Titel erwerben werde.«

Nach diesen ersten klaren Worten kleidete Okoye das nächste halbe Dutzend Sätze in Sprichwörter. Unter den Igbo wird die Konversationskunst hochgeschätzt, und Sprichwörter sind das Palmöl[18], mit dem man seine Worte isst. Okoye war ein großer Redner, und er redete lange um die Sache herum, bis er schließlich auf sie zu sprechen kam. Kurz gesagt bat er Unoka um die Erstattung der zweihundert Kauri, die er ihm ganze zwei Jahre zuvor geliehen hatte. Als Unoka begriff, worauf sein Freund hinauswollte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er lachte laut und lange, seine Stimme tönte so hell wie der ogene, und Tränen traten ihm in die Augen. Sein entgeisterter Gast saß sprachlos da. Schließlich brachte Unoka zwischen neuerlichen Heiterkeitsausbrüchen die Antwort hervor.

»Siehst du die Mauer dort?«, fragte er und zeigte auf die hintere Wand seiner Hütte, die mit rotem Lehm berieben war, dass sie glänzte. »Siehst du die Kreidestriche?« Und in der Tat sah Okoye mehrere Bündel kurzer, senkrechter, mit Kreide aufgemalter Striche. Es waren fünf Bündel, und der kleinste umfasste zehn Striche. Weil Unoka durchaus Sinn fürs Dramatische besaß, wartete er einen Augenblick, gönnte sich eine Prise Schnupftabak und nieste herzhaft, ehe er fortfuhr: »Jedes dieser Strichbündel stellt eine Schuld dar, jeder Strich hundert Kauri. Sieh nur, dem Mann dort schulde ich tausend Kauri. Er aber ist nicht in aller Frühe hergekommen, um mich aus dem Schlaf zu reißen. Ich werde meine Schuld bei dir ganz sicher begleichen, Okoye, aber nicht heute. Unsere Ältesten sagen, die Sonne wird diejenigen bescheinen, die stehen, ehe sie jene bescheint, die vor ihnen knien. Ich muss meine größten Schulden zuerst bezahlen.« Und dann nahm er erneut eine Prise Schnupftabak, als zahle er damit seine größten Schulden ab. Okoye rollte seine Ziegenhaut zusammen und ging.

Als Unoka starb, hatte er keinen einzigen Titel, aber viele Schulden. War es verwunderlich, dass sein Sohn Okonkwo sich seiner schämte? Zum Glück beurteilten dortzulande die Leute einen Mann nach seinem eigenen Wert, nicht nach dem seines Vaters. Okonkwo war unverkennbar für Großes bestimmt. Er war noch jung, hatte es aber als mächtigster Ringer der neun Dörfer zu Ruhm gebracht. Er war Bauer mit einigem Besitz, zwei Speichern voll mit Yams, und er hatte eben seine dritte Frau geheiratet. Noch dazu hatte er bereits zwei Titel erworben, er hatte in zwei Stammeskriegen großen Kampfgeist bewiesen. Obwohl Okonkwo jung war, zählte er bereits zu den Großen seiner Zeit. Sein Volk achtete die Alten, doch Hochachtung brachten sie verdienten Männern entgegen. Wie schon die Ältesten sagten: Wenn ein Kind sich die Hände wäscht, darf es mit Königen essen. Okonkwo hatte sich fraglos die Hände gewaschen, also aß er mit Königen und Ältesten. Und so kam es, dass ihm der Schicksalsjunge in Obhut gegeben wurde, der dem Dorf Umuofia von seinen Nachbarn zur Vermeidung von Krieg und Blutvergießen geopfert worden war. Ikemefuna[19] hieß der glücklose Knabe.

Zweites Kapitel

Okonkwo hatte gerade die Palmöllampe ausgeblasen und sich auf seinem Bambuslager ausgestreckt, als der ogene des Ausrufers[20] die nächtliche Stille zerriss. Gome, gome, gome, gome tönte das hohle Metall. Dann verkündete der Ausrufer seine Botschaft, auf die weitere Gongschläge folgten. Die Botschaft war diese: Alle Männer Umuofias hätten sich morgen in der Früh auf dem Marktplatz zu versammeln. Okonkwo fragte sich, was los sein konnte, denn unverkennbar war etwas geschehen. Er hatte in der Stimme des Ausrufers einen tragischen Unterton vernommen, und selbst jetzt, wo dieser schwächer und schwächer wurde, hörte er diesen Ton noch heraus.

Die Nacht war sehr still. Sie war immer still, außer bei Mond. Die Dunkelheit barg für diese Leute einen tiefen Schrecken, selbst für die Mutigsten. Kindern verbot man nachts das Pfeifen, aus Angst vor bösen Geistern. Gefährliche Tiere waren im Dunkeln noch grimmiger, noch unheimlicher. Eine Schlange rief man nachts nicht beim Namen, sie könnte es hören. Sie hieß dann »Strick«. Und so legte sich an diesem Abend, als die Stimme des Ausrufers langsam in der Ferne verschluckt wurde, wieder Stille auf die Welt, eine drangvolle Stille, dichter noch durch das Schrillen Vieltausender Waldinsekten.

In Mondnächten war das anders. Dann hörte man die hellen Stimmen der auf den Lichtungen spielenden Kinder. Und die nicht mehr ganz so Jungen spielten eher zu zweit an weniger einsehbaren Plätzen, während die alten Männer und Frauen an ihre Jugend zurückdachten. »Wenn der Mond scheint, hungert es noch den Krüppel nach einem Spaziergang«, heißt es bei den Igbo.

Doch in dieser Nacht war es dunkel und still. Und in jedem der neun Dörfer Umuofias forderte ein Ausrufer mit seinem ogene alle Männer auf, am Morgen zu erscheinen. Okonkwo auf seinem Bambuslager versuchte, die Natur der Ausnahme zu ergründen – Krieg mit einem benachbarten Klan? Das schien die wahrscheinlichste Erklärung, und Krieg fürchtete er nicht. Er war ein Mann der Tat, ein Krieger. Anders als sein Vater konnte er sehr wohl Blut sehen. Aus dem letzten Krieg Umuofias hatte er als Erster einen Menschenkopf zurückgebracht. Es war sein fünfter, und er war noch kein alter Mann. Bei besonderen Anlässen wie etwa der Bestattung eines Dorfwürdenträgers trank er aus seinem ersten Menschenkopf den Palmwein.

Am Morgen herrschte auf dem Marktplatz dichtes Gedränge. Es waren bestimmt an die zehntausend Mann da, alle berieten sich mit gedämpfter Stimme. Schließlich erhob sich in ihrer Mitte Ogbuefi Ezeugo, brüllte viermal »Umuofia kwenu![21]« in verschiedene Richtungen und stieß viermal die geballte Faust in die Luft. Und jedes Mal antworteten zehntausend Männer: »Yaa!«. Dann wurde es vollkommen still. Ogbuefi Ezeugo war ein mächtiger Redner; stets überließ man ihm das Wort bei solchen Gelegenheiten. Er strich sich mit der Hand über das weiße Haupt und den weißen Bart. Er rückte das Tuch zurecht, das unter der rechten Achsel zum Knoten auf der linken Schulter führte.

»Umuofia kwenu!«, brüllte er ein fünftes Mal, und die Menge antwortete. Dann, plötzlich, reckte er die Linke wie ein Besessener Richtung Mbaino und presste durch die leuchtend weißen Zähne hervor: »Diese Söhne wilder Tiere haben es gewagt, eine Tochter Umuofias zu töten.« Er senkte den Kopf, mahlte mit den Zähnen und ließ ein unterdrücktes Zornesraunen durch die Menge gehen. Als er wieder zu sprechen anhob, war die Wut in seinem Gesicht einem Halblächeln gewichen, weit schrecklicher und finsterer als diese. Mit klarer, beherrschter Stimme ließ er Umuofia wissen, dass eine Tochter des Dorfs zum Markt nach Mbaino gegangen und getötet worden sei. Diese Frau, sagte Ezeugo, sei die Frau Ogbuefi Udos[22], und er deutete auf einen Mann, der mit gebeugtem Haupt dicht bei ihm saß. Da wurden Zorn und Blutrunst in der Menge laut.

Es sprachen noch viele andere, und am Ende entschied man sich für das übliche Vorgehen. Sogleich wurde Mbaino ein Ultimatum überbracht, das die Nachbarn aufforderte, zwischen Krieg oder aber, zur Wiedergutmachung, der Auslieferung eines Knaben und einer Jungfrau zu wählen.

Umuofia war bei allen Nachbarn gefürchtet. Das Dorf verstand sich auf die Kriegskunst nicht weniger als die der Zauberei, seine Priester und Heiler flößten im weiten Umkreis Angst ein. Der machtvollste Kriegszauber war so alt wie der Klan selbst. Wie alt, wusste niemand genau. Nur über eines war man sich einig: Die Wirkung dieses Zaubers ging auf eine alte Frau mit nur einem Bein zurück. Folglich hieß dieser Zauber agadi-nwayi, altes Weib[23]. Ihm war in der Mitte Umuofias auf einer diesem Zweck vorbehaltenen Stelle ein Schrein geweiht. Wer so leichtfertig war, in der Abenddämmerung am Schrein vorbeizugehen, der sah unweigerlich das alte Weib rundherumhüpfen.

Da die benachbarten Klans natürlich von diesen Dingen wussten, fürchteten sie Umuofia, und keiner zog gegen das Dorf in den Krieg, ohne zuvor eine friedliche Beilegung versucht zu haben. Wie man gerechterweise auch einräumen muss, dass Umuofia selbst niemals in den Krieg zog, wenn es nicht um eine klare und gerechte Sache ging, der das Orakel – das Orakel der Hügel und Höhlen[24] – zustimmte. Es war durchaus schon vorgekommen, dass das Orakel Umuofia einen Krieg untersagte. Und hätte sich der Klan über das Orakel hinweggesetzt, wäre er gewiss unterlegen, denn der gefürchtete agadi-nwayi konnte seine Macht niemals in dem entfalten, was die Igbo einen »Schandkrieg« nennen.

Doch der Krieg, der jetzt drohte, war ein gerechter Krieg. Das wusste selbst der feindliche Klan. Als daher Okonkwo als stolzer, hoheitsvoller Kriegsgesandter aus Umuofia in Mbaino eintraf, wurde er mit allen Ehren und größtem Respekt empfangen, und er kehrte zwei Tage später mit einem fünfzehnjährigen Knaben und einer Jungfrau in zartem Alter zurück. Der Junge hieß Ikemefuna, und seine traurige Geschichte erzählt man sich in Umuofia bis heute.

Die Ältesten oder ndichie[25]