Wie man unsere Namen schreibt - Chinua Achebe - E-Book

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Chinua Achebe

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Beschreibung

Chinua Achebe - seine Essays zum ersten Mal auf Deutsch ›Mein Vater und ich‹, ›Meine Töchter‹ - in 17 persönlichen, polemischen und politischen Essays betrachtet Chinua Achebe den Bogen seines Lebens. Kein Autor hat die Signatur, mit der ihn Afrika prägte, so deutlich beschrieben, analysiert und um seine Anerkennung gekämpft wie Achebe. In dem zum ersten Mal auf Deutsch vorliegenden Band erzählt er von seiner Kindheit, seiner Herkunft und seinem Erbe: von dem Kind in Nigeria bis zu dem Verkehrsunfall, der ihn über zwanzig Jahre an den Rollstuhl fesselte. »Ohne das Werk von Chinua Achebe wäre die afrikanische Literatur überhaupt nicht vorstellbar. Seine Leidenschaft, sein scharfer Geist, seine glasklare Prosa sind unübertrefflich.« Toni Morrison

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Seitenzahl: 206

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Chinua Achebe

Wie man unsere Namen schreibt

Essays

Aus dem Englischen von Uda Strätling

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungVorwortDie Erziehung eines Empire-SchutzbefohlenenDer süsse Duft aus Ziks Küche Formkraft einer LegendeVater und SohnWas bedeutet mir Nigeria?Weiß reisenDen eigenen Namen schreibenMeine TöchterAnerkennungDer vergiftete Name AfrikasSprachenpolitik und -politiker der afrikanischen LiteraturAfrikanische Literatur als Fortschreibung der FeierLehren von Alles zerfälltMartin Luther King und AfrikaHochschule und politische Führung in NigeriaStanley DiamondAfrika heißt MenschenQuellennachweise

Für Charles P. Stevenson Jr.

Vorwort

2008 feierte mein allerletzter Roman Alles zerfällt sein fünfzigjähriges »Jubiläum«. Das Ereignis wurde von Menschen in verschiedensten Teilen der Welt festlich begangen; ein denkwürdiges Jahr, darf man sagen. Es gab hochkarätig besetzte Symposien und kleine, ausgelassene Straßenfeste. In meiner nigerianischen Heimatstadt Ogidi, die wir noch heute liebevoll als Dorf bezeichnen, übertrafen die Menschen sich geradezu selbst an Originalität und Kühnheit: Sie machten Inventur, kramten einen alten Ritus, das Nwafor-Fest, hervor und modelten ihn zur Zelebration eines Romans um.

Nur stellte sich die Frage, ob man mit der Umdeutung dieser traditionellen Festivitäten nicht vielleicht die Ahnengeister und Gottheiten brüskierte. In Gemengelagen wie dieser gehen die Menschen von Ogidi diplomatisch und sehr überlegt vor. Aus dem reichen Festinventar wählten sie gerade dieses »profane«, dem Vergnügen und dem Spaß, der Feier und der Gemeinschaft vorbehaltene Nwafor-Fest: somit kamen rivalisierende Gottheiten gar nicht ins Spiel. Vielmehr weihte Ogidi diesen ausgelassenen Festtag eben dem Buch, das erstmals in der Schriftliteratur die unsterblichen Sitten und Gebräuche des Dorfs feierte, nämlich Alles zerfällt.

So sehr der ganze Wirbel der Vorbereitungen die Alten verwirrt haben mag, so freudig begrüßten die Jungen diese zeitgemäße Auslegung. Ein begabter Schauspieler – derselbe, der einst in der Hauptstadt mit großem Erfolg die Bühnenversion des Okonkwo aus Alles zerfällt gegeben hatte –, zog, wie ich hörte, im Triumph ins Rathaus von Ogidi ein. Jubelnde Dorfbewohner gaben ihm das Geleit. Sie begriffen und bejahten den ungewöhnlichen Trubel um ein Buch, aber eben auch um alles das, was nun zu unserer Geschichte gehört.

In diesem bewegten Festjahr begann ich auch über ein neues Buch nachzudenken, eine Essaysammlung, die den Bogen meiner langen Schaffensjahre als Autor nachzeichnen sollte. Ich gab mich den schönsten Hoffnungen hin. Ich würde das facettierte Licht der Vielfältigkeit auf die Erfahrungen werfen, die das Leben mir persönlich beschert hat, und zeigen, was Schreiben und Leben verbindet. Es wäre gewiss kein leichtes Unterfangen, und der Erfolg der Sammlung hinge davon ab, wie dicht ich die so unterschiedlichen Erfahrungen miteinander verweben könnte. Um konkrete Begegnungen, Momente und Fragen sollte es in dem Band gehen. Einen Punktekatalog, der abzuarbeiten wäre hingegen, einen Schwerpunkt, den ich zu setzen für notwendig hielt, gab es nicht. Das Buch sollte so persönlich wie eklektisch werden; es würde keinen Werkanalysen zuarbeiten.

Ich begann also, Essays zu sichten. Der Beitrag »Meine Töchter« fand anstandslos seinen Platz. Andere folgten, doch nach einer ersten Lektüre meinte mein Lektor: »Und was ist mit den Jungen?« Da ahnte ich schon, dass die nächste Frage sehr wohl lauten könnte: »Wo bleibt Ihre Frau?«, dass meine kompositorische Rechnung nicht aufginge und es mir kaum gestattet werden würde, bestimmte Lebensbereiche auszusparen. Durfte ich denn tatsächlich den Verkehrsunfall übergehen, der mich 1990 an den Rollstuhl fesselte? Was sollte ich aber groß von dem Unfall erzählen – außer, dass ich mit einem meiner Söhne hinten saß, dass er, als er den Unglückswagen nicht hochstemmen konnte, um mich zu befreien, derjenige war, der an die Straße stürzte und so lange meinen Namen schrie, bis alle anhielten und man mich ins Krankenhaus brachte … Wäre mein Sohn nicht gewesen, sähe alles anders aus. Meine Frau Christie hielt gerade ihr Lieblingsseminar vor Abschlussstudenten der University of Nigeria, als sie von dem Unglück erfuhr. Diese Arbeit stellte sie ohne Zögern zurück und tut es noch. Christie, unsere beiden Mädchen Chinelo und Nwando, unsere Söhne Ikechukwu und Chidi waren meine Rettung. Sollte ich, konnte ich wirklich über all das schreiben? Nein, der Band würde Lücken und Auslassungen aufweisen müssen, die Essays ihrer eigenen inneren Logik gemäß von einem Thema zum anderen fortschreiten.

In der Endphase der Arbeit an diesem Buch bot mir eine Einladung, die ich einige Zeit zuvor von der Library of Congress in Washington D.C. erhalten hatte, Gelegenheit, einen Bogen von Zurückliegendem zu einem Ausblick auf Kommendes zu schlagen. Man hatte mich zur Feier des Jubiläums von Alles zerfällt gebeten, und zwar an meinem achtundsiebzigsten Geburtstag. Man empfing mich überaus freundlich. Wiederholt verliehen meine Gastgeber ihrer Freude Ausdruck, dass ich leibhaftig zugegen sei. Das war am 3. November 2008.

Wir hatten ein volles Haus. Ein phänomenaler Trommler aus Kamerun hielt uns in Atem. Ich trug Gedichte vor und signierte Bücher. Dann wurde unter tosendem Beifall eine monströse Geburtstagstorte die Rampe hinauf auf die Bühne gerollt. Meine Dankesworte beschränkten sich auf nur eine Frage: »Macht ihr das etwa immer so?« Welche Antwort ich erwartete, kann ich nicht sagen. Aber an die Bemerkung einer schwarzen Amerikanerin vom Vormittag erinnere ich mich gut. Auch sie hatte mir für mein Kommen gedankt und in einem Ton zwischen Poker und Folklore hinzugefügt: »Und morgen wählen wir für Sie einen schwarzen Präsidenten!«

Sehr wahrscheinlich werden die Leute einander in kommenden Jahren fragen, wo sie gerade waren, als Barack Obama ins Amt gewählt wurde. Ich hingegen hoffe auf eine andere Frage als die, wo wir waren oder was wir gemacht haben, nämlich danach, was die Nachricht mit uns gemacht hat.

 

Chinua Achebe

Annandale-on-Hudson, New York, 2009

Die Erziehung eines Empire-Schutzbefohlenen

Der Titel, den ich für meine Betrachtungen gewählt habe, wird sich nicht jedermann unmittelbar erschließen und verlangt daher, obgleich ohnehin eher lang, eine Erklärung oder weitere Ausführungen. Doch zuvor möchte ich mich kurz einer anderen Sache zuwenden, die mir mehr Sorge bereitet: dem Vortrag selbst.

Der Leser möge hier bitte keine akademische Abhandlung erwarten. Ich selbst musste mir, als ich eingeladen wurde zu sprechen, vor Augen führen, dass derjenige, den andere für einen Kenner halten, in gewisser Weise wohl einer ist. Das gleich »zur Sache«, wie man hierzulande gern sagt; ich halte es klarstellend fest, um Missverständnissen vorzubeugen.

Zwar würde ich eine gelungene Darbietung durchaus dem Trost einer höflich hingenommenen Blamage vorziehen, doch gebe ich zu bedenken, dass einer Blamage, so bedauerlich sie wäre, immerhin der Hauch poetischer Gerechtigkeit anhaftete, blieb mir doch die Chance, Akademiker reinsten Wassers zu werden, vor vierzig Jahren verwehrt, als das Trinity College in Cambridge es vorzog, die Bewerbung eines Absolventen der neu gegründeten Universität in Ibadan unberücksichtigt zu lassen. Dabei war mein Lehrer und Förderer in Ibadan, James Welch, selbst Cambridge-Mann; wir kommen noch zu ihm. Ich jedenfalls blieb damals daheim – und wurde Schriftsteller. Das einzig entscheidende »Wenn« dieses persönlichen Werdegangs, meine Damen und Herren, liegt darin, dass Sie andernfalls heute einen akademischen Text läsen und nicht die impressionistische Skizze einer Kindheit im Britischen Protektorat Nigeria.

Sie sehen schon, nichts gedeiht im Humus kolonialen Diskurses so willig und so üppig wie wechselseitige Schuldzuweisungen. Dafür, dass aus mir ein Schriftsteller wurde und nicht ein Wissenschaftler, muss irgendjemand den Kopf hinhalten. Doch selbst in einem unwirtlichen Haus achtet man die maskierten Geister der Ahnen und gewährt ihnen Immunität vor Kritik.

1957, drei Jahre nach der vergeblichen Bewerbung in Cambridge, bot sich mir, als ich zu einer Schulung an der BBC Staff School in London aufbrach, die erste Gelegenheit zur Ausreise aus meinem Heimatland Nigeria. Zum ersten Mal in meinem Leben benötigte und erhielt ich einen Reisepass, der mich als »British Protected Person« auswies. Mein Personalstand war bis dahin nie Thema gewesen! Drei weitere Jahre noch, bis zur Unabhängigkeit Nigerias 1960, musste ich warten, um dieser doch sehr willkürlichen Protektion ein Ende zu setzen.

Nun hoffe ich, dass hier niemand darauf brennt, sich erneut das ganze Für und Wider der Kolonialherrschaft anzuhören. Von mir gäbe es nur Widerreden. Lieber erlaube ich mir einen Luxus, den unsere gegenwärtige Kultur selten gestattet: einen weder vorder- noch hintergründigen Blick auf die Ereignisse, sondern ein Mittelding.

Die Mitte gilt allerdings als am wenigsten bewunderungswürdig. Es fehlt ihr der Glanz, sie ist undramatisch, unspektakulär. Doch hat mich die traditionelle Igbo-Kultur, der ich entstamme und die mich in der Stunde ihrer Niederlage dem Schein nach in einem Schilfkorb den Wassern des Nils überließ – nicht allerdings ohne im Verborgenen eifersüchtig über mich zu wachen und mich schließlich in Gestalt der Tochter des Pharao in der Fremde zu nähren – einen Kinderreim gelehrt, der die Mitte als ausgesprochen günstigen besingt.

Obu-uzo anya na-afu mmo

Ono-na-etiti ololo nwa

Okpe-azu aka iko

 

Das Vordere hat im Auge die Geister

Das Mittlere ist Günstling des Glücks

Das Hintere hat krumme Finger

Wieso bezeichnen die Igbo das Mittelding als glücksbringend? Was birgt diese Position an Glück? Anders gefragt: Welches Unheil bannt sie? Die Antwort, würde ich meinen, lautet: Fanatismus. Die Gefahr des Einen Wegs, der Einen Wahrheit, der Einen Lebensart. Den Schrecken, der alleine steht. So allein, dass die Igbo dafür die Bezeichnung Ajo-ife-na-onu-oto kennen: Das Böse und der blanke Hals. Denken Sie sich die Sache so allein, so ausnehmend entsetzlich, dass sie nicht einmal den Trost einer Halskette kennt. Die Igbo ziehen Dualismen der Singularität vor. Wo etwas steht, steht ihm etwas zur Seite.

Beim Mittelding handelt es sich weder um den Urgrund der Dinge noch um die Letzten Dinge, denn es kennt voraus eine Zukunft, und es kennt den Rückhalt einer Vergangenheit, es ist die Heimat von Zweifeln und Unschlüssigkeit, der willentlichen Aussetzung von Ungläubigkeit, des Als-ob, des Spielwitzes, des Unvorhergesehenen, der Ironie. Lassen Sie mich die Lebenswelt der Igbo kurz umreißen.

Sehen sich die Igbo mit Zwist und Streitigkeiten konfrontiert, gilt ihr erster Impuls nicht der Beantwortung der Frage, wer im Recht sei, sondern der Wiederherstellung des Gleichgewichts. In meinem Heimatort Ogidi gibt es den Spruch Ikpe Ogidi adi-ama ofu onye: Ogidi entscheidet nie gegen eine Seite. Wir sind mehr Sozialmanager als Normgeber. Wir arbeiten nicht am grünen Tisch, sondern in einer chaotischen Werkstatt. In jedem Haus gibt es kluge wie dumme Köpfe, darüber wird sich niemand empören.

Die Igbo machen sich über die Welt kaum Illusionen. Ihre Lieder feiern keine romantische Liebe. Es gibt ein Sprichwort (das meiner Frau sehr widerstrebt), demzufolge eine Frau erklärt, sie verlange nicht, dass ihr Mann sie liebe, solange er mittags die Yams auf den Tisch bringt. Trübe Aussichten für die Frau! Aber Moment, was ist mit dem Mann? Ein Dorfältester sagte einmal zu mir (und das ist jetzt kein Sprichwort, sondern Realität): »Meine Lieblingssuppe ist egusi. Also sage ich zu meiner Frau, sie solle es unter meinem Dach ja nicht wagen, mir jemals egusi vorzusetzen. Und schon gibt es jeden Abend egusi!« So sieht es aus. Die Frau verzichtet für ihr Essen auf Liebe, der Mann lügt für sein Leibgericht!

Eine Ehe ist wahrlich kein Zuckerschlecken; sie ist größer als Mann oder Frau. Die Igbo verlangen weder, dass man sie – womöglich Spruchbänder schwenkend – frontal angeht, noch dass man sich aus dem Staub macht. Sie verlangen, dass man einen Weg findet. Feigheit? Da kennen Sie die Igbo schlecht.

Die Kolonialherrschaft war stärker als jede Ehe. Die Igbo zogen gegen sie in die Schlacht und verloren. Sie errichteten jede erdenkliche Straßenblockade und verloren. Gelegentlich fragen mich Menschen, die Romane wie Geschichtsbücher lesen, weshalb die Bekehrung meines Volkes zum christlichen Glauben in Alles zerfällt so leicht vonstatten ging.

Leicht? Ich versichere Ihnen, es war nicht leicht, weder im realen Zeitlauf noch im Buch. Nur kann ein Roman historische Zeit nicht abbilden; notgedrungen wird alles gerafft. In Wirklichkeit fegte das Christentum nicht wie ein Flächenbrand über das Land der Igbo hinweg. Dazu vielleicht nur dieses eine Beispiel: Die ersten Missionare erreichten den am Ufer des Niger gelegenen Ort Onitsha 1857. Von diesem Brückenkopf aus drangen sie schließlich 1892 bis zu meinem Geburtsort Ogidi vor. Von Onitsha nach Ogidi sind es gerade mal sieben Meilen. Sieben Meilen in fünfunddreißig Jahren; alle fünf Jahre eine Meile. Wohl kaum ein Wirbelwind.

Aber ich habe versprochen, nicht über den Kolonialismus zu dozieren. Ich begnüge mich daher mit meinem grundlegenden Einwand gegen die Kolonialherrschaft.

Für mich ist es ein schlimmes Verbrechen, sich anderen aufzuzwingen, sich ihres Landes und ihrer Geschichte zu bemächtigen und dann zu allem Überfluss so zu tun, als wären die Opfer Mündel oder Minderjährige, die Schutz benötigten. Das ist gar zu durchsichtig. Und da dies offenbar selbst der Aggressor weiß, verschleiert er seine Raubzüge gern mit dreister Scheinheiligkeit.

Noch am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts konnte der belgische König Leopold II., dessen Vorgehen im Kongo zum Inbegriff kolonialer Schrecken wurde, sich ungeniert folgendermaßen äußern:

»Mit großer Genugtuung nehmen Wir zur Kenntnis, dass Unsere Handelsagenten, größtenteils Freiwillige aus Unserem belgischen Heere, stets der hohen Verantwortung ihres Auftrags eingedenk bleiben, beseelt von Vaterlandsliebe, bereit, hierfür ihr eigenes Blut zu opfern, indes mehr als bereit, dasjenige der Eingeborenen zu schonen, auf dass diese in ihnen die allmächtigen Schutzherren über Leben und Besitz erkennen, gütige Lehrmeister, deren sie so dringend bedürfen.«[1]

Es wäre blanker Unfug, zwischen dem skandalösen Gebaren Seiner Durchlaucht, der Königlichen Majestät Leopold II., im Kongo und der britischen Kolonialherrschaft in Nigeria Parallelen ziehen zu wollen. Und doch dürfen wir die Prämisse nicht außer Acht lassen, die alle europäischen Mächte bei ihrem Run auf Afrika leitete. Denn ebenso, wie ganz Europa seinen Beitrag zu der Schreckensfigur des Mr Kurtz in Joseph Conrads Herz der Finsternis geleistet hatte, wirkte ganz Europa an der Entstehung eben jenes Afrika mit, das Kurtz zu erlösen trachtete, stattdessen aber dem Grauen preisgab.

Die hochtrabenden Worte Leopolds verraten uns allerdings, dass auch der Kolonisator an dem System Schaden nahm, das er schuf. Zwar verlor er, anders als seine kolonisierten Opfer, nicht Land und Freiheit, doch er zahlte eine Reihe nur scheinbar geringer Preise: den Verlust des Sinns für das Absurde, des Sinns für Maß, des Sinns für Humor. Oder glauben Sie etwa, Leopold hätte zu sich selbst gesagt: »Jetzt mach aber mal halblang, Freundchen – alles Humbug! Du weißt genau, weshalb deine Agenten dort unten morden und metzeln. Weil nämlich deine Staatskassen die Einnahmen aus dem Kautschuk- und Elfenbeinhandel brauchen!«? Ein Schuldeingeständnis spricht noch keinen Täter frei, verkürzt aber womöglich Aufzählung und Aufreißen schmerzlicher Wunden.

Wie steht es um die Opfer? Enteignung ist natürlich keineswegs zum Lachen, dem Humor nicht eben förderlich. Und doch lässt sich erstaunlicherweise beobachten, dass der Entrechtete aus seiner Ohnmacht oft das Beste macht, »trotzdem« lacht und sich somit über Not und Verzweiflung erhebt. Seine Menschlichkeit mit knapper Not rettet, denn nichts ist menschlicher als der Humor!

Als meine Mutter um die Jahrhundertwende meinem Katechistenvater versprochen war, schickte man sie auf die nahe gelegene, neu gegründete Mädchenschule St. Monica’s, die erste ihrer Art im Igboland. Ihr wurde die besondere Ehre zuteil, ins Haus der Schulleiterin Miss Edith Ashley Warner und ihrer treuen Schar britischer Lehrerinnen ziehen zu dürfen, wo sie als Gegenleistung für Kost, Logis und Unterricht Haushaltspflichten übernahm. Als Tochter eines Dorfschmieds fand sie dieses neue Leben entsprechend kurios, es war aufregend bis furchterregend. Das schlimmste Erlebnis der ersten Zeit bescherte ihr eines Abends der unerwartete Anblick der Zahnprothese der Schulleiterin – oder mit den Worten meiner Mutter ihres »Kinnladens« – in einem Wasserglas.

Gut dreißig Jahre später hing das Porträt Miss Warners immer noch im Haus meiner Eltern. Eigentlich war sie eine gut aussehende Frau, fand ich als Junge, und mit ihrem Kinnladen schien soweit auch alles in Ordnung. Eine »vollständige Dame«, wie es bei Amos Tutuoala heißt.

Eines Abends hatte diese Dame meine Mutter angewiesen, aufzuessen und ihren Teller dann sorgfältig abzuspülen. Da sie sich zu dieser Zeit mühte, Igbo zu lernen, sagte sie es in der afrikanischen Sprache, nämlich: »Awakwana afele« und meinte eigentlich: »Zerbrich den Teller nicht«, nur können Igbo-Verben recht heikel sein. Meine Mutter hatte nicht an sich halten können und prustete los – ein schwerer Fehler. Die viktorianische Dame zeigte sich »not amused«. Sie griff einen Rohrstock und vertrimmte sie. Später rief sie sie zu sich und hielt ihr eine Gardinenpredigt zu Anstand und Manieren. »Sollte ich mich in deiner Sprache ungeschickt ausdrücken, wäre es angebracht, mich zu verbessern statt auszulachen.« So in der Art.

Ich habe meine Mutter die Geschichte oft und oft erzählen hören, und jedes Mal mussten wir von neuem lachen, weil »Awakwana afele« kaum mehr als Kinderbrabbeln ist und wirklich urkomisch.

Als ich 1936 wiederum selbst eingeschult wurde, gab es Missionslehrerinnen wie Miss Warner nicht mehr. In der Grundschule unterrichteten ausschließlich einheimische Lehrer, doch lebte die Tradition der »ungeschonten Rute« fort, wenn auch in leicht abgewandelter Form. Prügel bekam der, der den Fehler machte, nicht der, der darüber lachte.

Wandplakate als kulturelles Erziehungsmittel haben nicht die Chinesen erfunden. Es war mein Vater. Neben dem Porträt Miss Warners hing bei uns daheim in blauen Buchstaben das gerahmte Motto von St. Monica’s: »Sprich Wahr – Lebe Rein – Richte Recht – Diene Deinem König.«

Da ich in der Schule die ersten englischen Wörter lernte, maß ich mein Können gern an dem Wandschmuck daheim. Nie werde ich die Schwierigkeiten vergessen, die mir »Richte Recht« bereitete. Was hatte mit dem Recht zu geschehen? Wie war es denn recht? Ich bin sicher, selbst die gestrenge Miss Warner hätte über meine Not mit englischen Vokabeln geschmunzelt.

Mein Vater bepflasterte die Wände mit lehrreichen Materialien aller Art. Es gab die Kalender der Missionsgesellschaft mit Abbildungen von Bischöfen und anderen Würdenträgern. Doch am interessantesten waren die Collagen, die mein Vater selbst schuf. Er hatte einen der Dorfschreiner große, aber sehr leichte Rahmen aus weichem hellem Holz zimmern lassen, in die er braune und schwarze Pappen klebte und darauf blanke, bunte Ausschnitte aus verschiedensten Zeitschriften. Ich entsinne mich einer höchst beeindruckenden Aufnahme des Königs George V. in Rot und Gold mit Degen. Und dann gab es noch einen kleinen ulkigen Mann, der im Sturmschritt dahineilte. Er hieß Johnnie Walker. Er war 1820 geboren, dem Plakat zufolge, und noch »munter dabei«. Als ich viele Jahre später erfuhr, dass der außergewöhnliche Bursche nur eine Reklamefigur war, für schottischen Whisky, traf mich dieser Verlust schwer. Es gab auch eine Reklame für die Nigerian Railways, bei der das »N« und das »R« zugleich auch für »National Route« standen. Das bereitete mir ebenfalls Kopfzerbrechen, bis ich daraus »Nigerian National Railway Route« machte, was schließlich ebenso Sinn ergab!

Meine Erziehung nahm also einen etwas erratischen Weg von den Wänden daheim über den Gang durchs Dorf hin zur Missionsschule St. Philip’s und wieder zurück.

Es war gewiss unverfroren, zu Beginn meiner Ausführungen eine Parallele zwischen der eigenen mickrigen Geschichte und der Moses’ auch nur anzudeuten. Das erinnert an den Leuchtkäfer, der sich mit dem Vollmond vergleicht. Sie müssen entschuldigen. Da ist die Phantasie mit mir durchgegangen. Was aber stimmt, ist, dass das Dorf Ogidi während meines christlichen Exils im Verborgenen über mich wachte. Das Flussufer allerdings war das des Nigers und nicht des Nils. Offiziell hießen wir sogar »Diocese on the Niger«. Nicht »des«, sondern »am«. Unser Bischof war Bischof am Niger.

Als ich aufwuchs, war Ogidi nur teilbekehrt und bot noch sämtliche tradierte audiovisuelle Attraktionen, die mich – als Christenkind – streng genommen nichts angingen, was ihnen selbstverständlich den Reiz des Verbotenen verlieh. Wie alle Dorfkinder fieberte ich dem Nwafor-Fest entgegen, dem wichtigsten im traditionellen Jahreszyklus, bei dem maskierte Ahnen aller Art ihren unterirdischen Behausungen in den Termitenhügeln entstiegen, um die Lebenden zu beehren. Acht ganze Tage lang waren sie zu sehen, möglichst natürlich aus sicherer Entfernung, denn sie und ihr Gefolge trugen mehrriemige Peitschen, mit denen sie, um ihre Unbezwingbarkeit zu demonstrieren, dann und wann sich selbst geißelten, und dich erst recht, wenn sie dich erwischten. Über die Maskenerscheinungen eines jeden Tages führten wir eifrig Buch, um sie mit den Sichtungen der Vorjahre vergleichen zu können. Ein gutes Jahr erbrachte weit über hundert Vorkommnisse, und das, obwohl Mehrfachsichtungen, selbst wenn es zehn waren (und die gab es bei umtriebigen Ahnen durchaus), nur einmal gezählt werden durften.

Und dann die Klänge des Dorfs.

Ringsum war alles Sprache, gesungen wie gesprochen. Zugegeben, der christliche Glaube spaltete das Dorf – es gab die Anhänger der Kirche und die der Welt –, aber die Grenze hatte viele Übergänge. Der durchschnittliche Christ genoss Farb- und Klangkulisse der traditionellen Feste in vollen Zügen. Die Nichtchristen wiederum beobachteten uns genau und bedachten einige unserer Riten mit mildem Spott. So inkorporierte das beliebteste Lied jener Zeit – »Egwu obi« (Lied des Herzens) – eine Parodie unseres Solmisierens:

Ukwe ndi uka

Ss ddd m rd mr-e-e

Bei dem, was sie sagten, unterschieden sich Kirche und Dorf allenfalls den Themen, nicht aber dem Ton nach. Auf beiden Seiten gab es große Oratoren. Nicht alle Christen der Generation meines Vaters, die sonntags in der Kirche St. Philip’s predigten, waren begnadete Redner, aber einige schon. Und obwohl die Anglikaner unser Igbo in einem fehlgeleiteten Versuch der Vereinfachung durch die Einführung eines künstlichen Einheitsdialekts erheblich verwässert hatten, blieb diese Kunstsprache zwischen den Buchdeckeln der Bibel und tat dem Vortragsstil inspirierter Prediger keinen Abbruch, wenn sie die Lesung erst absolviert und die Heilige Schrift zugeschlagen hatten. Einer von ihnen wetterte alljährlich zum Nwafor-Fest notorisch von der Kanzel herab und warnte die Gläubigen eindringlich vor der Annahme traditioneller Speisegaben, die ihre heidnischen Nachbarn ihnen über die Hofmauern reichen könnten. Es herrschte also reger Grenzverkehr. Die Christen hatten natürlich auch ihre Feste: das große, Weihnachten, und das kleinere zu Ostern – auch wenn die Katechisten nicht müde wurden zu erklären, es verhalte sich genau umgekehrt.

Außerdem sorgten zwei weltliche Feste für Abwechslung im christlichen Kalender: Empire Day am 24. Mai und Anniversary Day am 27. Juli.

Der 24. Mai war, wie jedes Kind wusste, der Geburtstag Königin Viktorias. An den Schulen ging der Tag mit wichtigen Feierlichkeiten einher; Schulklassen aus dem gesamten Distrikt defilierten am Baldachin des britischen Ministerresidenten in seiner weißen Paradeuniform mit weißen Handschuhen, Federbusch und Degen vorbei.

Krönung des Tages aber waren die Sportwettkämpfe, bei denen die verschiedenen Schulen gegeneinander antraten. Mein erster Empire Day bleibt unvergessen. An unserer Schule gab es sehr kräftige Burschen, und in sie setzten wir für das Tauziehen große Hoffnungen, doch aus unerfindlichen Gründen lagen sie binnen Sekunden vor ihren Gegnern auf den Nasen. Es wurde von Schiebung gemunkelt: Der Direktor habe unsere Jungs im Rahmen eines anglikanischen Komplotts angewiesen, sich von ihren ebenfalls anglikanischen Rivalen schlagen zu lassen, um einen drohenden Sieg der Katholiken zu verhindern. Festivitäten zum Empire Day wurden in der Provinzhauptstadt Onitsha abgehalten, sieben Meilen von unserem Dorf. Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich 1940 als zehnjähriger Grundschüler erstmals den Fußmarsch nach Onitsha und zurück antreten. Ich hielt mich wacker, auch wenn ich mich hinterher fast eine Woche nicht rühren konnte. Diese Unternehmung, auf die ich mich so lange gefreut hatte, blieb viele Jahre eine kostbare Erinnerung. Onitsha erwies sich als magischer Ort, er machte seinem Ruf alle Ehre. Allein schon von der Anhöhe aus vier Meilen Entfernung die Sonne über dem Niger aufgehen zu sehen, verschlug einem Kind den Atem. Den Fluss gab es wirklich! Sein Lauf führte ihn aus den Futa-Jalon-Bergen nach zweitausendsechshundert Meilen hierher, wie jeder Schuljunge wusste. Oder vielleicht nicht ganz jeder. Ich war mit Eltern gesegnet, die leidenschaftliche Verfechter der Bildung waren, mit Schulbüchern, die vor mir drei ältere Brüder und eine Schwester schon studiert hatten. Ich war in der Schule immerhin so gut, dass Bewunderer mir den Spitznamen »Lexikon« anhängten. Im Sport war ich dagegen eher eine Niete; wie gut, dass einem das in unserer Kultur niemand ernstlich zum Vorwurf macht.

Zwei Dinge noch bleiben mir von diesem ersten Empire Day in Onitsha unvergesslich. Aller Dorfbande ledig und mit Geld in der Tasche auf die Großstadt losgelassen, schlug ich über die Stränge, so weit gar, dass ich mir für einen ganzen Halfpenny Erdnüsse gönnte. Noch Jahre später wurde mir schon bei der Erwähnung von Erdnüssen schlecht.

Die zweite Erinnerung ist glücklicher. Mit eigenen Augen sah ich den Mann, der so sehr Legende schien wie Onitsha selbst, den exzentrischen Engländer Dr. John Moray Stuart-Young, der bereits seit der Jahrhundertwende als Händler in Onitsha lebte. Ihn sah ich, ganz wie es die Legende besagte, in der prallen Sonne barhäuptig die New Market Road hinabgehen. Über Stuart-Young erzählte man sich, er habe mit der Wassermutter des Niger einen Pakt geschlossen, die ihm, sofern er unvermählt bliebe, große Reichtümer versprach.

Später erfuhr ich, dass manche Geschichte, die sich um Stuart-Young rankte, als fragwürdig gelten musste, etwa ob er tatsächlich einen Doktortitel besaß. Was hingegen wahrscheinlich stimmte, war, dass er zunächst als Kolonialbeamter nach Nigeria gekommen war, sich gegen die Machthaber gewandt und in der Absicht als Händler etabliert hatte, mit afrikanischer Hilfe das Monopol der europäischen Handelskartelle zu brechen. Er schrieb und veröffentlichte außerdem Gedichte und Romane. Ich selbst habe ihm Jahre später in der Kurzgeschichte »Wie Onkel Ben wählte«[2] ein Denkmal gesetzt.

Der zweite säkulare Festtag, den wir schlicht »Anniversary« nannten, galt dem Gedenken an die Verkündung des Wortes Gottes im Igboland am 27. Juli 1857