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Aquitania E-Book

Eva García Sáenz

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Beschreibung

Der spannende, prämierte Mittelalter-Topseller der spanischen Star-Autorin Eva Garcia Sáenz Das Jahr 1137: Der Herzog von Aquitanien, der umkämpftesten Region Frankreichs, wird in Santiago de Compostela tot aufgefunden. Seine Leiche ist durch den »Blutadler« entstellt, eine alte normannische Foltermethode.  Seine Tochter Eleonorehält König Louis VI. von Frankreich für den Mörder. Sie beschließt, Rache zu nehmen, und heiratet dessen Sohn, Louis VII. Doch während der Hochzeitsfeierlichkeiten kommt der König unter den gleichen Umständen ums Leben wie Eleonores Vater. Hat jemand ein Interesse daran, das unerfahrene Paar auf dem Thron zu sehen? Eleonore und ihr neuvermählter Gatte versuchen es herauszufinden - mit Hilfe ihrer Spione, der legendären »Aquitanischen Katzen«. Ausgezeichnet mit dem Premio Planeta 2020 - Jahresbestseller Nummer eins in Spanien.

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Seitenzahl: 469

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Eva García Sáenz

Aquitania

Das Blut der Könige

Historischer Roman

 

Aus dem Spanischen von Alice Jakubeit

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Das Jahr 1137: Der Herzog von Aquitanien, der umkämpftesten Region Frankreichs, wird in Santiago de Compostela tot aufgefunden. Seine Leiche ist durch den »Blutadler« entstellt, eine alte normannische Foltermethode. Seine Tochter Eleonore hält König Louis VI. von Frankreich für den Mörder. Sie beschließt, Rache zu nehmen, und heiratet dessen Sohn, Louis VII. Doch während der Hochzeitsfeierlichkeiten kommt der König unter den gleichen Umständen ums Leben wie Eleonores Vater. Hat jemand ein Interesse daran, das unerfahrene Paar auf dem Thron zu sehen? Eleonore und ihr neuvermählter Gatte versuchen es herauszufinden - mit Hilfe ihrer Spione, der legendären »Aquitanischen Katzen«. Jahrzehnte zuvor: Ein namenloser Junge wird im Wald ausgesetzt. Monster oder Heiliger - der kleine Überlebende wird zu einem der herausragenden Männer des mittelalterlichen Europas heranwachsen. Ein fesselnder historischer Roman in einer Zeit voller Intrigen, Leidenschaft und blutigen Kämpfen - mit einer außergewöhnlichen jungen Frau im Zentrum: Eleonore von Aquitanien, der legendären Königin und berühmtesten Frau des Mittelalters.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Eva García Sáenz, geboren in der baskischen Stadt Vitoria, lebt in Alicante, Spanien, und schreibt seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich historische Romane und Krimis. Ihre mit Preisen ausgezeichnete Serie um den Ermittler Ayala alias »Kraken« verkaufte sich in Spanien über eine Million Mal und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Der erste Band, »Die Stille des Todes«, wurde verfilmt und war u.a. auf Netflix zu sehen. Ihr historischer Roman »Aquitania« war 2020 der spanische Jahresbestseller Nummer eins und wurde mit dem begehrten Premio Planeta gekrönt.

Für meine Kinder.

Weil ihr da seid.

Im Paradies gibt es keine Geschichten, weil es keine Reisen gibt. Verlust und Bedauern und Unglück und Sehnsucht – sie treiben die Geschichte voran auf ihrem gewundenen Weg.

Margaret Atwood

 

Auch ich habe die Neigung verspürt, mich – auf beinahe dämonische Weise – zu zwingen, stärker zu sein, als ich eigentlich bin.

Søren Kierkegaard

 

Ein Buch muss Wunden aufwühlen, sogar welche verursachen. Ein Buch muss eine Gefahr sein.

Emil Cioran

Erster Teil

Prolog

Eleonore

Dies ist die Geschichte meiner zwei Familien, der furchterregenden Herzöge von Aquitanien und der niederträchtigen Kapetinger, der Herrscher Frankreichs. Sie erzählt davon, wie wir uns hassten und unsere Lebenswege sich ein ums andere Mal kreuzten, bis wir uns gegenseitig zerstörten in jenem turbulenten zwölften Jahrhundert, in dem der Okzident sich für immer veränderte.

Zwei Heranwachsende – Louis, König von Frankreich, und ich, Herzogin von Aquitanien – zogen mit rasenden Federstrichen, unter Verrat und Belagerungen, Blut und Samen die Grenzen dessen, was später Europa sein würde.

Ich war eine frühreife Mörderin, mit acht Jahren genügten mir zwei Buchstaben: oc – »ja«, in meiner geliebten okzitanischen Sprache –, um dem Leben meiner Peiniger ein Ende zu setzen. Überdies, das sollte ich hinzufügen, bin ich eine Tochter des Inzests und habe mich schuldig gemacht, meinen Onkel väterlicherseits, Raimund von Poitiers, in sündiger Weise geliebt und meinen Vetter Louis geheiratet zu haben.

Die Macht war unser, unser waren die Kastelle und die Vasallen, unser der gesamte Reichtum dessen, was später Europa heißen würde. Unser waren die Île-de-France und Aquitanien, die Gascogne und Poitiers.

Ich bin Eleonore von Aquitanien und dreizehn Jahre alt. Als Boten verkleidete Teufel behaupten, mein Vater sei während seiner Wallfahrt nach Santiago de Compostela unter ungewöhnlichen Umständen gestorben …

… und was ich mich nun zu tun anschicke, ist in den Geschichtsbüchern ohne Beispiel.

1Der blaue Tod

Eleonore

Bordeaux 1137

»Sie werden nie aufhören, dich zu unterschätzen. Lass sie dafür bezahlen.«

Dies waren die letzten Worte, die mein Vater, unter dem Pilgerumhang verborgen, vor seiner Abreise an mich gerichtet hatte.

Nun behaupteten Boten mit gesenktem Blick, er sei just am Karfreitag vor dem Hochaltar der Kathedrale von Santiago de Compostela gestorben, nachdem er aus einem vergifteten Brunnen getrunken hatte. Als könnte Wasser einem Giganten wie ihm etwas anhaben. Als hätte er nicht stets sein Stück Kohle bei sich getragen, das jedes Gift aufsaugte. Als wäre er nicht gestählt von tausend Schlachten und widrigen Umständen.

Als wären die vermeintlichen Herolde nicht Teil eines geschickt eingefädelten Ränkespiels. Sie behaupteten, sie seien gemeinsam gekommen, doch die Beinlinge von Rufus, dem Waliser, waren vom langen Ritt durchfeuchtet, und sogar von meinem erhöhten Platz aus roch man den Schweiß seines Pferdes.

Der Bretone Otho wiederum wirkte ausgeruht. Er behauptete, Soldat zu sein, doch die Tonsur, die von einer Vergangenheit hinter den Mauern eines Klosters zeugte, war noch nicht zugewachsen. Und bei seinem schlechten Augenlicht – er stolperte zweimal auf den Stufen – konnte er kein Mann der Tat sein.

»Lüge …«, flüsterte Rai, mein Onkel, mein Geliebter.

Er sah mich vielsagend an, und ich erwiderte den Blick lange.

Ich ahnte bereits, dass unvermittelt das Ende eines Lebensabschnitts gekommen war. Dass dies mein Abschied von ihm war. Und so bewahrte ich die Erinnerung an diese letzten Stunden in meinem Gedächtnis. Für das, was kam, würde ich schöne Erinnerungen brauchen.

Mit der Abenddämmerung brach Rai Richtung Navarra auf, um die Leiche seines geliebten Bruders sowie Erklärungen für dieses Unheil zu suchen. Ich blieb allein an der Spitze des weitläufigen Reichs Aquitanien zurück. Die Nachricht, dass Guilhem X., Graf von Poitiers und Herzog von Aquitanien, nicht mehr unter den Lebenden weilte, blieb das Geheimnis weniger.

Es waren nicht die ersten Neuigkeiten, die uns vom Weg des Apostels erreichten. Und alle widersprachen sie sich.

Die einen erzählten, Vater sei vor dem Hochaltar tot zusammengebrochen, nachdem er allein gegen einen kleinen Jungen gekämpft habe. Ein winziger David habe einen Goliath besiegt.

Wie sollte man ein solches Ammenmärchen glauben?

Andere vermeldeten, er sei durch eine grauenvolle normannische Folter, den »Blutadler«, gestorben: Man habe ihm die Rippen herausgerissen und die Lungen über den Rücken gehängt wie blutige Flügel.

Die hanebüchenste Nachricht lautete, er habe einen Säugling auf die Stirn geküsst, und dabei seien beide gestorben.

Und diese letzten Boten sprachen nun von einem vergifteten Brunnen. Welcher Fassung sollten wir Glauben schenken? Alle Boten stimmten allerdings halb sprachlos, halb verstört darin überein, Vaters Leiche habe eine ungewöhnliche dunkelblaue Färbung gehabt.

An jenem verhängnisvollen Tag sah ich, seine dreizehnjährige Erbin, mich gezwungen, wieder zu sprechen.

Fünf Jahre lang hatte ich kein Wort gesagt, nachdem zwei verfluchte Kapetinger mich unter einer Brücke über die Garonne mit Gewalt genommen hatten, während ihr Haar mir ins Gesicht hing. Seitdem hasste ich weizenblondes Haar. Ich hasste das Blau und das Gelb der Fleur-de-Lys an den Leibern, die mich ins Gras gedrückt hatten.

Nur Rai, dem mir unzertrennlich verbundenen Rai, fiel meine Abwesenheit beim Leichenzug von der Kathedrale Saint-André auf. Er kam zu spät, doch wie spät genau für mich und meinen Mädchenkörper, erfuhr er nie. Ich leugnete die Tat, es hätte bedeutet, Aquitanien – und mich – den Königen der nebligen Île-de-France zu überlassen.

»Willst du, dass ich sie töte?«, fragte Rai, als er uns fand, und zum ersten Mal las ich Erschütterung in den blauen Augen meines Onkels.

Aufgewühlt richtete ich meine Kleidung, verbarg das Blut, das mir an den Beinen hinablief. Nicht einmal er durfte es wissen.

»Oc«, erwiderte ich in unserer Muttersprache. »Ja.«

Ein Wort, zwei Buchstaben. Zwei Männer, zwei Hiebe für jeden.

Einen Schnitt durch die Kehle, der ihr Schweigen auf ewig besiegelte. Ein weiterer trennte ihre Männlichkeit ab, Rache für das, was sie mir und meiner ersten Liebe genommen hatten.

Rai war kein Mann des Mittelwegs, das war seine Sache nicht. Ihn zeichnete aus, dass er sich um alles kümmerte und die Dinge zu Ende brachte. Er war Poiteviner wie ich, das Haar schwarz, die Augen hell und mandelförmig, die Haut gebräunt von der ewigen aquitanischen Sonne.

Mein Großvater, der furchtbare Guilhem, der erste Troubadour, war hochgewachsen und ein Hurenbock wie nur wenige gewesen. Vater, ich sagte es bereits, war ein Gigant, der zur Verblüffung aller bei Banketten für zehn aß. Über Raimund von Poitiers, seinen Bruder – meine Liebe – sagte man, er sei »der schönste der Fürsten des Landes, umgänglich und anmutig im Gespräch«. Das kann ich bezeugen, und seit Kindertagen waren wir füreinander bestimmt, Onkel und Nichte, durch neun Jahre getrennt, durch alles Übrige vereint.

Wir kehrten zurück von der Beisetzung meiner Mutter und des kleinen Aigret, der Herzog von Aquitanien hätte werden sollen und es nicht werden würde, weil er den Pocken zum Opfer gefallen war. König Louis VI. von Frankreich, genannt der Dicke, hatte sich mit höflichen Lügen entschuldigt und Verwandte zu den Trauerfeierlichkeiten gesandt. Alle wussten, dass die Ruhr ihn an sein Lager fesselte.

Doch der König begehrte das üppige Aquitanien. Er begehrte unsere Weinberge und unsere Mühlen, die Weiden und die Tiere, die dort grasten. Er begehrte den Frohsinn unserer Troubadoure und die Farbenpracht unserer Kleidung. Er begehrte den glanzvollen Hof von Poitiers und unseren prächtigen Palast in Bordeaux. Le Midi – der Mittag – nannten die mürrischen Nordländer unser Land ein wenig abschätzig.

Mein Vater war Louis’ Vasall und dennoch reicher als dieser, mächtiger, seine Gebiete waren fünfmal so groß. Sein hohes Ansehen und seine Taten hatten ihm schon zu Lebzeiten den Ruf eines Heiligen und Helden eingetragen, und das demütigte den König.

Er wollte mich haben.

Seit dem Augenblick, in dem Aigret starb, wollte er mich haben.

Er betraute mehrere seiner Brüder mit diesem schändlichen Auftrag. Als Rai kurz unachtsam war, taten zwei von ihnen mir Gewalt an, um auf diese Weise Aquitanien an sich zu bringen. Es war eine weitverbreitete Sitte, Erbinnen zu schänden und sie danach zur Ehe zu zwingen, um an die Mitgift zu gelangen. Mutter hatte es mir schon in der Wiege eingeschärft: »Sollte das geschehen, wird es deine Schuld sein.« Aber nein, es geschah nicht, es gelangte nicht in die Chroniken. Nur ich wusste davon, und ich beschloss, dass es nicht stattgefunden hatte, und so war es auch nicht geschehen.

»Damnatio memoriae«, befahl mir Großvaters Geist. Tilge es aus deinem Gedächtnis.

Vergiss den Feind der Vergangenheit. Denke nicht an ihn, sprich nicht von ihm, schreibe nicht über ihn, kehre nie an den Ort zurück, an dem du verletzt wurdest.

Ich starb beinahe vor Schmerz, als sie mich innerlich zerrissen. Im Dämmerlicht unter dieser Brücke lernte ich, dass das Fleisch eines Mädchens nachgeben muss, denn ein Mann, der sich einen Weg in sie hineinbahnen will, gibt nie nach. Es war eine kriegerische Handlung, und das Schlachtfeld, ihr feigen Hunde, war der Körper eines kleinen Mädchens.

Meine erste Lektion fürs Leben: Suche dir andere Waffen.

Rai und jene zwei Buchstaben waren meine Waffen. Die Brüder des Kapetingerkönigs starben, ohne dem Dicken davon berichten zu können, dass sie in mein Fleisch und damit in Aquitanien eingedrungen waren. Rai gegenüber stritt ich es immer ab. Er gab vor, mir zu glauben, und ruderte mit den Franzosen bis zu einem Seitenarm der Garonne, den kaum jemand kannte. Großvater hatte von seinem Kreuzzug einige riesenhafte Fische mitgebracht, und diese lebten seither dort. Es waren Fleischfresser. In jenem Gewässer verschwanden die Kapetinger. Wir sprachen niemals darüber. Auch Vater erfuhr nichts, er hatte genug mit seiner Trauer zu tun. Auch meine Damen und meine Tanten erfuhren nichts. Die kleine Aelith, meine Schwester, mein anderes Ich, war noch nicht im rechten Alter für die Vertraulichkeiten, die später kommen würden.

Ich verstummte. Alle schrieben es der schlecht verwundenen Trauer um meine Mutter und meinen Bruder zu.

Meine Worte konnten töten.

Ich beschloss, auf sie zu verzichten, obwohl ich Worte schon immer geliebt hatte.

Stumm und unsichtbar – das Schweigen hatte auch seine Vorzüge.

Damit ich die Worte nicht gar zu sehr vermisste, flüchtete ich mich in Großvaters und Vaters Bibliothek. Ich lernte den Leitfaden für das Leben der Herzöge von Aquitanien auswendig, eine bunte Mischung von Ratschlägen, die meine Familie aufzeichnete, seit einer meiner Vorfahren zum Herrn meines Volkes ernannt worden war.

»Rudere auf deinem eigenen Schiff«, die Maxime von Euripides, die Rai sich seit Kindertagen täglich vorsagte, Seite neun. Oder: »Denke an den Rat des alten Schiffers: Wenn jemand kurz davor ist, die Beherrschung zu verlieren, übergib ihm das Ruder«, was mein Großvater Guilhem auf Seite vierundzwanzig notiert hatte.

Allerdings geschah noch etwas.

Ohne das gekränkte Entsetzen seiner Vasallen zu beachten, entschied Vater, dass dieses stumme Mädchen später ihre Herrin sein sollte.

Ich war frühreif in meinen Begabungen, wie alle Aquitanierinnen meiner Familie.

So beherrschte ich bereits das Lateinische, das Englische der Normannen, unsere Langue d’Oc und die Langue d’Oïl, die am französischen Hof in Paris gesprochen wurde. Ich war die beste Falknerin meiner Altersgruppe, ging gern auf die Jagd – nicht auf die schreckhaften Hirsche, lieber auf die grimmigen Wildschweine –, und die sieben freien Künste waren mir kein Geheimnis: Grammatik, Arithmetik, Logik … Meine erste Urkunde unterzeichnete ich nach der Beisetzung meiner Mutter, mit acht Jahren. Dies fand sehr wohl Eingang in die Chroniken und entspricht ausnahmsweise den Tatsachen.

Und noch etwas geschah, als ich beschloss zu verstummen. Ein Wunder, das ich schnell zu verheimlichen lernte. Indem ich stumm blieb und beobachtete – Vaters Vasallen im Rat, die Kammermädchen, die durch die Gänge unseres Palasts in Bordeaux liefen, und die Spione, die scheuen »Aquitanischen Katzen«, deren Schatten stets kurz vor Tagesanbruch auf Vaters einsame Kammer fielen –, lernte ich, auf Belangloses zu achten. Ich erwarb mir eine scharfe Beobachtungsgabe. Eine Kleinigkeit, so scheint es, und doch war es das, was mich einmalig machte und mir die Krone einbrachte, die ich später trug.

»Ich komme gerade aus der Küche, meine Herrin.«

Das stimmte nicht. Sie kam von einem Ort voller Schlamm und Heu, der Saum ihres Oberkleids sprach eine deutliche Sprache, wahrer als die Lügen meiner Damen.

»Ich bringe euch eine gestempelte Urkunde, die belegt, dass ich die Hand in der Schlacht verlor.«

Ebenfalls falsch. Er war durch eine Bestrafung zum Einhändigen geworden. Durch eine saubere Verstümmelung von der sachkundigen Hand eines gelernten Henkers, nicht durch einen schrägen Hieb irgendwo auf den Unterarm in der Hitze eines Gefechts. Diebstahl, genauer gesagt. Ich wandte mich an mein Gedächtnis.

Meine »innere Bibliothek«, so nannte ich es bei mir.

Die Ursache dieses Wunders kenne ich nicht, doch ich brauchte einen Text nur einmal zu lesen, und wenn ich dann die Augen schloss, sah ich ihn in allen Einzelheiten vor mir wie ein Gemälde. In meinem Kopf durchsuchte ich die Archive von Großvater Guilhem nach den Städten, in denen einem Dieb die Hand abgehackt wurde. Ich brauchte mir nur die Lügengeschichte dieses großmäuligen Gassenjungen anzuhören, um zu wissen, dass er kein Untertan von Geoffroy war, dem Schönen, dem ehrgeizigen Grafen von Anjou, unserem Verbündeten im Norden.

»Behalte ihn nicht in deiner Nähe, Vater. Er ist kein Normanne, wie er behauptet«, kritzelte ich daraufhin in der Langue d’Oc auf ein Blatt, das wir zu diesem Zweck stets auf den Tisch legten, wenn wir unsere Untertanen anhörten.

Vater bildete sich sein eigenes Urteil, er übernahm nicht einfach das einer stummen Achtjährigen, aber in seinen wilden und doch gütigen Augen blitzte Stolz auf, und unter dem Tisch drückte er meine Hand. Welch riesenhafte Hand mein Vater hatte! Rau von den vielen Kämpfen, in denen er sein Schwert so vornehm hielt wie die Adlerfeder, mit der er seine Verse schrieb.

Doch nun stehe ich den Feinden Aquitaniens allein gegenüber. Vater sei tot, sagen sie, und ich weiß, dass der Kapetingerkönig dahintersteckt.

Rai ist nach Santiago de Compostela aufgebrochen und folgt dem Weg des Apostels Jakobus, des Maurentöters, und ich muss entscheiden, ob ich mein Volk beuge und zulasse, dass sie meine Gebiete auseinanderreißen, um so der Lebensart der Aquitanier ein Ende zu setzen, oder mich selbst an der Spitze halte.

Niemand weiß davon. Niemand weiß, was ich mir vor fünf Jahren unter der Garonne-Brücke gelobte, als ich meine Wut fürs Erste tief in meinem Inneren vergrub, während ich mir Großvaters Worte vorsagte: »Handele wie ein Löwe, er weint nicht um seine Beute. Stürme herab wie ein Adler, stets von oben. Töte wie ein Skorpion, sein Stachel ist wählerisch und verspritzt sein Gift nur bei einem Feind, der seines Angriffs würdig ist.«

Der Kopf eines Löwen, der Körper eines Adlers, der Schwanz eines Skorpions: Der Mantikor war Großvaters Lieblingsgeschöpf. Doch an jenem Tag hatte nicht ich gewählt, der dicke König hatte es für mich getan. Ich schwor mir, dass dies nie wieder geschehen würde, denn von nun an würde stets ich entscheiden, welcher Mann mich nehmen durfte.

Auf Seite zweiunddreißig des Leitfadens für das Leben der Herzöge von Aquitanien hatte Vater aufgeschrieben: »Ein starkes Haus kann nur von innen her zerstört werden. Kein hundertjähriger Balken verkraftet den Holzwurm. Dieses kleine Tier verwandelt uraltes Holz zu Staub, so dass das Haus einstürzt.«

Die Kapetingerkönige saßen seit einhundertfünfzig Jahren auf dem Thron der Île-de-France. Herzog Hugues Capet wurde von seinesgleichen zum König gewählt, als sämtliche Nachfahren Karls des Großen – eines weiteren Riesen mit Flötenstimme – als neue Herrscher abgelehnt wurden. Seitdem ließen die französischen Könige ihre Erben schon zu Lebzeiten krönen, um den Fortbestand ihres Geschlechts auf dem Thron zu sichern.

Ich werde den Königen von Frankreich ein Ende machen, so habe ich es entschieden.

Überdies habe ich beschlossen, wen ich zum Mann nehme, wen ich benutzen werde.

Und wen verraten.

2Der Teufelsteich

Rai

Bordeaux 1137

Mein Pferd bettelte regelrecht um eine Ruhepause, das wusste ich – allzu viele Tage im Galopp seit Santiago de Compostela. Ich machte nur halt, um auf navarresischem Boden gewisse Nachforschungen anzustellen. Doch kaum wieder zu Hause, drängte es mich, baldmöglichst zum Teufelsteich aufzubrechen und Lía noch vor dem Rat die Neuigkeiten zu überbringen. Lía, meine über alles geliebte Nichte Eleonore.

Die Wäscherinnen breiteten Laken über die Holzpfähle an der Garonne. Überall vor den Toren von Bordeaux hingen Tücher am Fluss und verliehen der Landschaft das Aussehen einer kleinen Flotte von Schiffen, deren Segel im Wind flatterten.

Unversehens wollte mein vor Erschöpfung fast blindes Pferd durch die Tücher reiten und hätte dabei beinahe eine alte Frau umgerissen, die ihre verschlissene Kleidung über einem Stein rieb, um sie zu reinigen.

Das Tier wieherte erschrocken, und die Alte hob eine Hand, um sich zu schützen. Entsetzt sah ich, dass ihr Arm ganz wundgescheuert war, doch ihr Gesicht zeugte davon, dass sie in ihrem langen Leben schon viele andere Schmerzen hatte ertragen müssen.

Ich stieg ab und ging zu ihr.

»Sag mir, alte Frau, wie kommt es, dass du in dieser Verfassung die Wäsche machst?«

»Meine Tochter ist bei der Geburt gestorben. Sie war es, die den Tagelohn nach Hause brachte. Ich sah schon dem Tod entgegen, aber jetzt muss ich ihr Kind aufziehen. Deshalb habe ich ihre Stelle eingenommen und den Gevatter gebeten, noch ein paar Jahre zu warten, bis mein Enkel das Handwerk seines Vaters erlernen kann.«

»Und warum ist der nicht hier und kümmert sich um euch wie jeder wohlerzogene Mann?«

»Er geht jeden Herbst vom Hafen Bayonne aus auf Waljagd. Dass er einen Sohn hat, weiß er noch nicht einmal, aber selbst wenn er zurückkommt, kann er sich erst um den Kleinen kümmern, wenn der das rechte Alter zum Schiffsjungen hat.«

»Ich verstehe. Aber dein Arm sieht nicht gut aus, vielleicht kommt Gevatter Tod früher, als du denkst. Geh zum Palais de l’Ombrière und frage nach Astrolabius, dem Arzt. Sage ihm, sein Herr, Raimund von Poitiers, schickt dich. Versprich mir, alte Frau, dass du hingehst und dich versorgen lässt. Versprich es.«

Die Alten in Aquitanien waren stolz und misstrauten jedem Heilmittel, das nicht aus ihren eigenen Gärten stammte, das wusste ich. Doch wenn die Frau nicht behandelt wurde, würde das Kind schon in wenigen Tagen allein zurückbleiben, und ich wollte nicht zulassen, dass ein Sohn Aquitaniens starb, ohne der Welt zeigen zu können, welche Begabungen und Talente er besaß.

Die Alte stieß einen Fluch aus, den ich nicht verstand.

»Um deines Enkels willen, versprich es«, bedrängte ich sie. »Und sag mir deinen Namen.«

»Hildegarda, Herr«, gab sie schließlich nach.

»Im Palast wird man dir ein Schreiben mit dem Siegel unserer Herzogin Eleonore aushändigen. Wenn der Tag deines Todes kommt und der Vater deines Enkels noch nicht von den Meeren des Nordens zurückgekehrt ist, wird man den Jungen in Ermangelung einer Familie, die sich um ihn kümmert, im Palast aufnehmen und ihm eine Aufgabe übertragen. Bist du einverstanden?«

Die Alte nickte. Stolz blickte sie mir in die Augen, doch ich las darin auch Erleichterung darüber, dass diese letzte Bürde ihres Lebens von ihr genommen war.

»Ihr seid genau wie Euer Vater, der erste Troubadour.« Sie lächelte mich an wie ein vierjähriger Schlingel. »Großer Mund, Herz aus Gold.«

Wir lachten zusammen. Das sagte man mir oft.

Möge Gott es verhüten, alte Frau, dachte ich. Möge Gott verhüten, dass ich wie dieser Unhold werde, der uns Unglücklichen, die wir ihn liebten, solchen Schaden zufügte.

Dies war der Fluch der Poiteviner: diejenigen, die wir liebten, tödlich zu verletzen.

Wirst du die Verletzung verwinden, Lía? Haben mein Bruder und ich unsere Arbeit gut gemacht, und bist du schon stark genug, um den Schlag zu verkraften, den ich dir heute versetzen werde?

»Ihr solltet über uns herrschen, nicht das stumme Mädchen«, sagte Hildegarda unvermittelt, während sie mühsam die schwere nasse Kleidung aufnahm.

»Täusche dich nicht, Hildegarda. Sie ist vom Stamm der Herzöge von Aquitanien, ich dagegen bin nur ein seitlicher Zweig. Sie ist die Herzogin, und sie wird gut über die Aquitanier herrschen, dazu wurde sie ausgebildet.«

»Aber sie ist stumm«, beharrte Hildegarda.

»Jetzt nicht mehr, jetzt ist sie eine gebildete und übrigens äußerst redselige Dame.«

»Und wenn sie inmitten all der Barone nicht überlebt? Sie ist nur eine Frau.«

Ich zwang mich, sorglos zu lächeln.

»Sieh dich an, das ist es doch, was ihr gut könnt, ihr Frauen des Südens. Überleben.«

Dann verabschiedete ich mich von Hildegarda, die mir zum Dank einen Kuss auf die Wange gab, und setzte meinen Weg zum abgelegenen Teufelsteich fort, der im Ruf stand, verflucht zu sein.

 

Nachts leuchteten die blauen Streifen am Rücken der Fische und warfen gespenstische Lichter ans Ufer. Ein Emir hatte Vater die Fische auf dem Kreuzzug im Gegenzug für wer weiß welchen zweifelhaften Gefallen geschenkt. Sie waren bösartig, aber scheu und versteckten sich vor den Menschen, so dass sie nie entdeckt wurden. Die Hirten erzählten, wenn ein Schaf an diesen toten Flussarm ging, um zu trinken, werde es nie wieder gesehen, und vielleicht treibe einige Zeit später sein Schädel an der Oberfläche.

Zudem ging die Legende, ein heißblütiger Bursche habe einmal eine Wasserträgerin überredet, bei Vollmond mit ihm im Teufelsteich zu baden. Der Junge wurde sehr betrauert, denn er verschwand, kaum dass er in das schwarze Wasser gestiegen war. Das Mädchen kam mit dem Leben davon. Sie erzählte, ein blauer Teufel habe sie mit seinem Maul gepackt und versucht, auf den Grund zu ziehen. Sie wehrte sich nach Kräften, verlor jedoch einen Fuß und bettelte seitdem an der Tür der Kathedrale Saint-André um Almosen.

Aus diesem Grund war es der sicherste Platz der Welt für unsere Zusammenkünfte, sogar fernab der Augen der Aquitanischen Katzen.

Unbewusst drückte ich das Ledersäckchen, das an meinem Gürtel hing. Es enthielt Nadel und Tinte.

Es muss getan werden, sagte ich mir.

Lía erwartete mich ungeduldig an unserem Teich, wo der Wind die gelben Blätter der Pappeln schüttelte und ihr die langen Zöpfe gegen die Knöchel schlug. Wieder hatte sie sich mit der Kleidung einer Dienerin getarnt. Sie wollte nicht, dass man sie erkannte, denn ihr liebster Zeitvertreib war es, sich unter das Volk zu mischen und donnerstags zum Markt zu gehen. Immer wieder schlüpfte sie heimlich aus ihrer Kammer, schon mit vier Jahren hatte sie das getan, obwohl ihre strenge Mutter sie dafür bestrafte. Bei anderen Gelegenheiten kleidete sie sich wie ein Stallknecht, und jeder, der uns überrascht hätte, wenn wir uns im Gras wälzten, hätte uns für zwei liebende Knaben gehalten.

»Bringst du Neuigkeiten?«, fragte sie ungeduldig.

Zu viele, dachte ich.

Ich kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn sie umfing meinen Mund mit ihren gierigen Lippen, und ich ließ es zu. Es würde das letzte Mal zwischen uns sein. Hatte Lía bereits gemerkt, dass ich mich verabschiedete?

»Hast du ihn gesehen? Hast du Vaters Leiche gesehen? Haben sie sie in Essig aufbewahrt, wie ich befohlen hatte?«

»Ja«, sagte ich und löste mich von ihr, »aber die Hitze dieses verfrühten Sommers war nicht hilfreich. Es stimmt, die Leiche, die sie mir zeigten, hatte seinen Wuchs, sie gehörte einem starken Mann. Das Haar war dunkel, aber die Nase war nicht mehr vorhanden, und die Lippen waren geschwollen. Es hätte jeder sein können.«

»Aber er war es, du hast sein Zeichen gesehen.«

»Nein, Lía. Das Fleisch war aufgedunsen und von einem eigenartigen dunklen Blau. Unmöglich zu sagen, ob da einst das war, was ich gesucht habe. Setz dich mit mir. Wir müssen reden, und es wird schmerzen.«

Ich setzte mich ans Ufer, suchte einige Schnecken zusammen und warf sie Vaters Fischen zu. An unsere Gegenwart gewöhnt, kamen sie an die Oberfläche. Von ehemals zwei Dutzenden blieben nur noch drei oder vier. Wie auch bei uns. Drei oder vier Nachkommen von Guilhem, dem ersten Troubadour. Lía, die kleine Aelith, ich und … mein Bruder?

Lía setzte sich zwischen meine Beine, lehnte sich an mich und legte den Kopf an meine Brust.

»Ich glaube, dass er noch lebt, auch in Santiago de Compostela hatte man ernste Zweifel an seinem Tod«, sagte ich und sah anderswohin, Hauptsache, nicht in ihre Augen. »Dort erzählen viele, er sei ins Heilige Land gezogen, um die niederträchtigen Taten auf seinem letzten Feldzug mit dem Grafen von Anjou und seine Unterstützung für den Gegenpapst Anaklet zu sühnen. Sie behaupten, er habe die Exkommunikation nicht mehr ertragen und auch beim Anblick des Grabs von Jakobus dem Älteren keinen Trost gefunden. Deshalb habe er beschlossen, nach Jerusalem zu pilgern und an den heiligen Stätten zu beten, damit der Allerhöchste selbst ihm seine Fehler vergibt. Er habe nicht so sterben wollen wie Vater, mit der Heiligen Kirche in Rom verfeindet.«

»Und welchen Sinn hätte es, die Herrschaft über Aquitanien aufzugeben?«, fragte sie verständnislos.

»Er hat dich vorbereitet. Ich weiß, dass er des Herrschens müde war, dass er nicht das Leben wollte, das er geführt hat, noch nach Vaters Pfeife tanzen.«

Vater hatte unsere Mutter Philippa von Toulouse, seine rechtmäßige Ehefrau, verstoßen und in die Abtei Fontevrault verbannt. Dann hatte er die Dangereuse entführt, die Frau eines seiner treuesten Vasallen, und sie vor aller Augen in unserem herzoglichen Palast in der prächtigen Tour Maubergeon untergebracht, dem alten merowingischen Donjon, dem seine Geliebte ihren zweiten Beinamen La Maubergeonne verdankte. Da exkommunizierte ihn der Papst zum ersten Mal.

Meinen Bruder traf es am schlimmsten. Guilhem verzieh Vater nie, dass der ihn zur Ehe mit Aenor de Châtellerault, der Tochter der Maubergeonne, zwang: Stiefgeschwister in gewisser Weise, die sich hassten, gewaltsam verbunden. Ja, Lías Großmütter waren die Ehefrau und die Konkubine ihres Großvaters. Der Inzest schien bereits in ihr angelegt.

Die schöne und kalte Aenor wiederum verzieh meinem Bruder nicht, dass er seine ehelichen Pflichten erfüllen musste, und betrachtete Lía als Tochter der Schändung. Auch mein Bruder empfand es als Zwang: Sein Körper stand unter dem Druck, eine Pflicht zu erfüllen, die er vom ersten Moment an verabscheute. Es war sein Schicksal, Aquitanien Kinder zu schenken – Kinder, geboren aus so viel Hass und so viel Leid, nur weil es nach dem Willen dieses launischen Patriarchen ging.

Ich war mit neun Jahren dabei, als die Erstgeborene zur Welt kam. Alle hatten einen Sohn erwartet, aber sie war vom ersten Atemzug an anders. Diese jähzornige Neugeborene beobachtete uns Anwesende, als wollte sie uns einordnen. Sie war blond wie ihre Mutter, und obwohl die Wöchnerin ihre Tochter nicht einmal in die Arme nehmen wollte, beschloss ihr stolzer Großvater, sie Alia Aenor, Eleonore, zu nennen: »die andere Aenor«.

Und dabei blieb es. Wenn wir die Langue d’Oc verwendeten, nannten wir sie allerdings Alienor.

Sie selbst jedoch traf schon ihre eigenen Entscheidungen: Am Tag nach der Geburt fiel ihr der blonde Flaum aus, mit dem sie geboren worden war, und was nachwuchs, war das in unserer Familie übliche schwarze Haar.

Bereits damals spürte sie, dass sie in der Frau, die sie auf unsere Welt gebracht hatte, niemals den Spiegel finden würde, den Töchter in ihren Müttern suchen. Aigret, ihren einzigen Sohn, blond und melancholisch wie sie selbst, überschüttete Aenor mit Liebe, während sie die zweite Tochter, die unbändige Aelith, ebenso wenig beachtete wie Eleonore. Diese fünf waren niemals eine Familie, sondern zwei feindliche Gruppen, die nur bei öffentlichen Anlässen zusammenkamen.

Meine Schwägerin Aenor und ihr geliebter, zarter, sensibler Sohn Aigret. Mein Bruder und seine beiden Töchter: auf der Jagd, beim Lautespiel, die Mädchen schlafend auf ihres Vaters Schoß, wenn die Feste sich hinzogen, bei denen Troubadoure Vaters unzüchtigste Lieder vortrugen und alle über seine zotigen Einfälle lachten und jubelten.

»Rai, er war dein Bruder und dir ein besserer Vater als dein eigener Vater, aber es führt zu nichts, sich falsche Hoffnungen zu machen.« Lías Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. »Vater ist tot, und wir müssen überlegen, wie wir Aquitanien …«

»Ich reise ins Heilige Land und suche ihn«, unterbrach ich sie.

Befremdet drehte sie sich zu mir um.

»Du wirst nicht irgendwelchen Gespenstern nachjagen, du wirst meinem Rat vorsitzen. Mehr denn je brauche ich dich jetzt an meiner Seite.«

Ich seufzte.

»Da ist noch etwas, und das wird uns trennen, Nichte.«

»Nichte?«, wiederholte sie ungläubig.

»Von nun an muss dies unser Umgang sein, wir werden nicht mehr Rai und Lía füreinander sein, sondern Raimund von Poitiers und Eleonore von Aquitanien. Ich werde Fürst von Antiochien sein, und du bist die Herzogin von Aquitanien und der Gascogne sowie die Gräfin von Poitiers.«

»Deine Lippen bewegen sich, aber ich verstehe den Sinn nicht. Du, Fürst von Antiochien?«

»Vor einigen Monaten, als ich noch in England war, überbrachte mir ein Ritter der Hospitaliter ein Schreiben von König Fulko von Jerusalem. Er schlug mir vor, nach Antiochien zu reisen und die kleine Tochter von Alice, der Witwe Bohemunds II., zu ehelichen. Die derzeitige Kaiserin paktiert mit den Türken, wir werden eine weitere heilige Stätte verlieren, wenn sie nicht jemand für die Christen hält. Damals habe ich dir nichts davon gesagt. Konstanze ist jetzt zehn Jahre alt, und mein Platz war hier bei dir. Kurz darauf trug dein Vater mir auf, mich während seiner Wallfahrt um dich und Aelith zu kümmern, daher lehnte ich Fulkos Vorschlag ab. Jetzt jedoch werde ich ihn annehmen.«

»Aber dein Platz ist noch immer an meiner Seite! Wir wissen beide, dass wir Ehen mit anderen eingehen müssen, dennoch werden wir immer zusammen sein. So ist es seit meiner Geburt gewesen.«

»Eleonore …«

»Eleonore?« Schon war sie zornig, sie sprang auf und betrachtete mich nun wie ein fremdartiges Tier, das sie zum ersten Mal sah.

Seufzend erhob ich mich ebenfalls.

»Wenn ich bleibe, werden viele aquitanische Barone mich bedrängen, der nächste Herzog von Aquitanien zu werden. Doch an dem Tag, an dem Aigret starb und dein Vater mir anvertraute, dass du seine Erbin sein würdest, beschloss ich, nicht Herzog zu werden. Allerdings halten sie dich für schwach, und sie sind starke Herrscher gewohnt. Von heute an wirst du das sein müssen. Ich will keinen Erbfolgekrieg in Aquitanien, du siehst ja, welche Zustände in England herrschen durch die Schuld Maudes, der Tochter des verstorbenen Königs Henry, und ihres Vetters Stephen of Blois. Ich muss Platz machen, damit sie dich als die einzig mögliche Wahl sehen.«

Sie wollte mir antworten, doch in diesem Augenblick geschah ein Wunder, und wir blickten beide zum Himmel und versuchten zu begreifen, was sich da vor unseren Augen abspielte.

3Der zweiköpfige Adler

Rai

Bordeaux 1137

Ein gewaltiger Adler mit zwei Köpfen stürzte elegant und wild zugleich auf den Teich herab und packte mit seinen Fängen einen der fleischfressenden Fische. Noch nie hatte ich gesehen, dass sie zur Beute anderer Tiere wurden, ich hatte es gar nicht für möglich gehalten. Der Adler landete am anderen Ufer und weidete den Fisch mit dem einen Kopf aus, während er ihn mit dem anderen verschlang.

Ich hatte schon Schafe, die eine oder andere Blindschleiche und eine fremdländische Schildkröte mit zwei Köpfen gesehen, aber noch nie einen Vogel von solchen Ausmaßen.

»Das ist der Adler mit den zwei Köpfen aus der Weissagung des Druiden Merlin«, sagte Lía atemlos. »Verstehst du nicht? Der Adler ist Aquitanien, und es wird von zwei Köpfen regiert werden: von dir und mir.«

Ohne uns zu beachten packte der Adler das, was vom Fisch übrig war, breitete die Schwingen aus und flog davon.

Nun bleiben nur noch zwei oder drei, dachte ich. Was ist das für ein Zeichen? Dass Frankreich uns zwei, drei Aquitanier, die wir noch übrig sind, verschlingen wird? Uns, die wir vor Jahren jene Kapetinger töteten?

Lía neben mir blickte dem Adler, der sich zwischen den gelben und orangefarbenen Pappeln verlor, mit angehaltenem Atem hinterher. Der Augenblick war gekommen.

»Du solltest einen aquitanischen Baron zum Gemahl nehmen: Was Aquitaniens ist, soll in Aquitanien bleiben«, sagte ich ihr. »Und höre mir zu: Von nun an musst du dich stets wie eine Königin kleiden. Trage Schuhe mit Korksohlen, die dir eine höhere Statur verleihen, gib Kleider mit langer Schleppe in Auftrag. Auch der Umfang ist von Bedeutung, betone die Schultern, trage immer hohe Kragen, du musst Respekt einflößen. Gib dich hochmütig, setze den Reichtum unserer Familie zu deinem Nutzen ein. Kleide dich, wie sich keine andere Frau kleidet. Lege niemals die herzogliche Krone ab, auch nicht vor deinen Damen, nicht einmal, wenn du schläfst oder sie dich baden. Alle, ob fern oder nah, sollen jederzeit daran denken, dass du über Aquitanien herrschst. Übertreibe alle deine Auftritte, es soll ein Schauspiel sein, dich zu sehen. Dein Gefolge sollte dem deiner Rivalen zahlenmäßig stets überlegen sein. Umgib dich mit Lärm und Musik, die Troubadoure sollen dir vorangehen und deine Auftritte beschließen. Die Gewänder deiner Damen müssen die farbenprächtigsten von allen sein. Und sie sollen dir Blumen zu Füßen werfen, so dass du eine Duftspur hinterlässt, die sich lange hält. Nutze die Üppigkeit unseres Landes, um dich über die anderen zu erheben. Sie dürfen dich nicht als schwach erleben, sie werden kein Mitleid mit dir haben. Strahle Stärke, Licht und Glanz aus; das stumme Mädchen dürfen sie nie mehr sehen. Erlaube nicht, dass in den Chroniken steht, du habest dich einst geweigert zu sprechen. Man darf dir keine einzige Schwäche zuschreiben. Wenn du die Aquitanier für dich einnehmen willst, musst du eine würdige Nachfolgerin deines Vaters und deines Großvaters sein. Wir sind es hier gewohnt, von wilden Männern regiert zu werden. Sei wilder als sie! Dein Vater ließ das Gerücht streuen, er esse für ein Dutzend. Das stimmte nicht, aber bei den Festessen zur Weinlese ließ er so viele Gerichte auftischen, dass er an Kaiser Claudius erinnerte. Er nährte seinen Ruf als Gigant, weil das in der Schlacht von Vorteil war. Auch dein Großvater dachte sich deshalb die Geschichte aus, er habe in Niort ein Dirnenhaus betrieben und alle Dirnen als Nonnen verkleidet.«

»Ich weiß, und auch, dass er der erste Gast gewesen sei. Das Gerücht wurde bei jedem Abendessen aufgetischt.«

»Es ist nie geschehen, jenes Dirnenhaus hat es nie gegeben, aber er war wütend auf die Kirche, weil sie ihn exkommuniziert hatte, und das gab ihm das Gefühl, Rom die Stirn bieten zu müssen. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Deine Macht muss nicht echt sein, zu Anfang genügt es, wenn die anderen dich als mächtig wahrnehmen, das wird dir einen Vorteil verschaffen. Gehe stets zum Angriff über, so kommst du voran. Wenn du dich nur verteidigen willst, ist all dein Denken darauf ausgerichtet, keine Macht oder Gebiete zu verlieren. Wenn du angreifst, machst du Boden gut, aber wenn du dich verteidigst, weichst du zwei Schritte zurück.«

»Du bittest mich hier, den Mantikor freizulassen«, sagte sie bedächtig, als könnte sie nicht glauben, was sie da hörte. Wie oft hatten wir darüber gesprochen, dass sie versuchen musste, ihn zu beherrschen.

»Ja, das ist es, worum ich dich bitte.«

»Vater und du, ihr habt mich ein Leben lang davon abzuhalten versucht, dass ich diese Bestie herauslasse. Von Mutter und ihren abscheulichen Bestrafungen ganz zu schweigen. Und jetzt, wo ich allein zurückbleibe … gibst du mir die Erlaubnis, ihn freizulassen?«

Der Mantikor, dieses Fabelwesen, die schlimmste aller Chimären. Ein Mantikor ließ nur Ruinen und Verwüstung zurück. Eleonore hatte sich diesen Beinamen mit ihrem Zorn bei uns im Palast erworben.

»Du wirst dich schlimmeren Geschöpfen stellen müssen. Du wirst ihn brauchen. Ein Mädchen werden sie nicht respektieren. Nutze deinen Vorteil. Sie sehen nur eine junge Frau. Doch deine Seele ist alt und vom Ungemach abgehärtet, du bist bereits viel weiser als ein Gutteil deiner Vasallen.«

»All dies … ist dein Abschied? Sind das deine letzten Ratschläge? Also hast du dich bereits entschieden? Du verlässt Aquitanien und gehst fort? Ich habe immer gedacht, sie würden uns zusammen in Fontevrault begraben, Onkel und Nichte, mein geliebter Rai.«

»Ich gehe ins Heilige Land«, wiederholte ich wie ein Stoßgebet und versuchte dabei doch selbst noch, es zu fassen. »Ich werde deinen Vater suchen und ihn überzeugen, ich werde ihn zurückholen. Aber wenn ich ihn nicht finde, wenn es nicht dazu kommt, musst du von nun an die Herrschaft übernehmen.«

Und ich muss dir Platz machen, Lía, hätte ich ihr gern gesagt. Meine Anwesenheit hier ist nur ein gefährliches Hindernis für dich.

»Es gibt Neuigkeiten, Rai. Und sie sind beunruhigend«, sagte sie, ihren Blick im Gewässer verloren. »Suger, der Abt von Saint-Denis, der Königsmacher der Franken, ist nach Bordeaux gekommen. Ein diskreter Besuch, ohne Ankündigung oder Begleitung anderer Prälaten. Der dicke König wird eine Entscheidung treffen, er wird das alte Recht durchsetzen, das ihm erlaubt, einen Mann für die Erbin seines Vasallen zu bestimmen. Man hört Namen, Bewerber … Er wird mich mit irgendeinem Baron verheiraten, den er beeinflussen kann.«

»Nicht, wenn mein Bruder noch lebt und ich ihn zurückhole.«

Lía verlor die Geduld. »Er lebt nicht mehr!«, schrie sie. »Welchen Sinn hätte es, dass Vater mich mit dreizehn Jahren und ohne Testament an der Spitze Aquitaniens zurücklässt? Er lebt nicht mehr, Rai. Vater ist tot, und du flüchtest dich in eine Jagd nach einem Trugbild! Niemals hätte ich das gedacht von dir, der du deinen Feinden immer in die Augen geblickt und verteidigt hast, was dein ist.«

Und das mache ich auch, ich verteidige dich gegen mich, dachte ich.

»Ich weiß, dass ich Suger zuvorkommen muss. Er ist ein besonnener Ratgeber, der den Ehrgeiz des Königs mäßigt, aber letztlich doch sein Ratgeber«, fuhr Lía fort. »Ich habe an nichts anderes gedacht, seit die falschen Herolde kamen und von Vaters Tod in Santiago berichteten. Und damit werde ich mich befassen müssen, aber du musst mir einen Gefallen tun.«

»Was immer du willst, das weißt du.« Ich trat zu ihr, war versucht, sie zu umarmen.

»Du musst für mich den Rat und Suger belügen. Du musst behaupten, dass du Vaters Testament mitgebracht hast.«

Sie kannte jede einzelne meiner Gebärden und wusste gut, dass ich, wenn mich etwas beunruhigte, nicht vermeiden konnte, den kronenförmigen Ring zu drehen, den Vater mir vor seinem Tod geschenkt hatte. Die fünf Zacken waren mit einem sehr teuren Gift aus Venedig versehen, es genügte, die Abdeckung des Rings zu öffnen und die Haut zu streifen, um einen Mann von der Größe eines Ochsen zu lähmen.

»Es gibt kein Testament«, rief ich ihr in Erinnerung.

»Es wird eines geben«, gab sie zurück.

»Und was wird darin stehen?«

Sie legte den Mund an mein Ohr. Und flüsterte mir ihren schändlichen Einfall zu.

Entsetzt sah ich sie an und musste mich am nächsten Baum abstützen.

»Das kannst du nicht tun«, flüsterte ich – wann hatte mir je die Stimme versagt? –, »nach dem, was mit den Kap…«

»Denk daran, ich tue das für Aquitanien, Rai. Jetzt bin ich die unverheiratete Erbin dieser Gebiete, und ich bin Vasallin von König Louis VI., dem Dicken.«

»Dem Klugen. Vergiss nie, dass sein Volk ihn vor seiner Erkrankung Louis den Klugen nannte.«

»Der Dicke«, beharrte sie stur. »Und glaubst du wirklich, er lässt sich die Gelegenheit entgehen, mich mit einem seiner Verwandten zu verheiraten? Ist es das, was du willst? Zusehen, wie Aquitanien von einem aus dem Norden beherrscht wird, der verachtet, wie wir sind? Sie werden uns zerstückeln, sie werden Aquitanien unter sich aufteilen wie Jagdhunde, die einen Bären stellen. Unsere Macht beruht auf der riesigen Ausdehnung unserer Gebiete, die aber alle eine gemeinsame Lebensart haben. Ich muss Aquitanien sein, mich können sie nicht zerstückeln.«

»Du weißt, dass unsere Barone sich damit nicht zufriedengeben werden. Dein Plan erscheint wie Verrat, und viele werden nur kurzsichtig denken. Und wenn sie sich nun auflehnen?«

»Sie werden Vaters Testament achten, wenn du es als echt vorstellst.«

»Du hast die Einzelheiten nicht bedacht. Es ist nicht leicht, die letzte Verfügung eines Herzogs von Aquitanien zu fälschen. Was ist mit der Haut? Du hättest mich vor meiner Abreise darum bitten sollen, aber selbst dann hätte ich dir deinen irrwitzigen Wunsch nicht erfüllen können. Seine Leiche war bereits unbrauchbar.«

»Ich soll die Einzelheiten nicht bedacht haben …« Sie lachte, aber sie wirkte nicht glücklich. »Ich werde dir die Haut eines gewaltigen Rückens besorgen.«

Es war Sitte, dass sich unsere Herrscher – vom ersten Herzog Aquitaniens an – ihren letzten Willen auf die gegerbte Haut ihres eigenen Rückens schreiben ließen. Unsere Familie hielt jederzeit einen Gerber in Diensten, der darin bewandert war, menschliche Haut nach dem Empfang der Letzten Ölung zu bearbeiten. Und auf dieser Haut vermerkte dann einer unserer Schreiber den letzten Willen des verstorbenen Herzogs. So wurden Fälschungen verhindert. Die Ehefrau bezeugte, dass die besonderen Kennzeichen wie Leberflecken und Muttermale auf dem Hautstück mit denen des Herzogs übereinstimmten. Diesmal gab es keine Ehefrau, nur einen Bruder und zwei Töchter, an deren Worten angesichts des wahnwitzigen Inhalts niemand zu zweifeln wagen würde.

Doch da war eine weitere Einzelheit zu bedenken, sogar noch geheimer: die drei S.

Stets die Sterne im Sinn.

Das war unser geheimer Leitspruch, fünf Worte, von der Wiege an den Kindern von den Eltern zugeflüstert, drei kleine miteinander verknüpfte Lettern, vom einen Familienmitglied dem anderen in Tinte auf die rechte Schulter gestochen.

»Es ist kein Leitspruch, Dummkopf!«, hatte mein Vater mich einmal angeknurrt. »Es ist die gesamte Weisheit unseres Geschlechts, verdichtet in fünf Worten, die Antwort auf jede Entscheidung, die du im Leben treffen musst. Wähle immer das, was dir erlaubt, nach den Sternen zu greifen. Immer nach den Sternen. Was glaubst du, wie wir Herzöge von Aquitanien zu dem geworden sind, was wir sind, wie wir es so weit gebracht haben? Weil wir stets nach den Sternen greifen.«

Eigentlich ging die Zeichnung auf die Triskele der Kelten zurück. Ein Symbol der Flügel, die sich in immerwährendem Lernen drehten und Stelen wie auch die Stämme jahrhundertealter Bäume an staubigen Kreuzungen schmückten.

Doch jemand von meinem Blut, jemand mit wachem Verstand, hatte das Zeichen übernommen und in die erste Lektion unseres Lebens verwandelt: Stets die Sterne im Sinn. Und genau das tat Lía jetzt. Sie trat die Flucht nach oben an.

Ein schwacher Mensch würde zurückweichen.

Ein feiger Mensch wäre gelähmt.

Ein vorsichtiger Mensch wäre darauf aus, sich zu verteidigen.

Ein starker Mensch würde trotz aller Beschwernisse fortfahren.

Ein starker Mensch wie sie, die Enkelin des ersten Troubadours, die Herzogin von Aquitanien, tat das, was das Blut ihr zuflüsterte, ja, zuschrie: Sie strebte nach den Sternen.

Nach dem Thron.

Strebte danach, uns alle zu übertreffen, Verbündete wie Feinde, von oben.

»Dann bist du also entschlossen … Wirst du es können? Mit allem, was es bedeutet?«, stieß ich hervor. Wir hatten nie über den Tag gesprochen, an dem ich sie verletzt unter der Brücke fand.

»Vater sagte, über Aquitanien zu herrschen bedeute, an die Aquitanier zu denken, nicht an unsere Familie. Und ich habe bereits an alles gedacht. Vater wird in seinem Testament verlangen, dass ich die Herrschaft über meine Besitztümer behalte und mein Ehemann sich darauf beschränkt, der Herzoggemahl zu sein. Der dicke König wird einwilligen, ich werde über unser Volk herrschen und einen Aquitanier nach dem anderen gebären. Es wird das aquitanische Blut sein, das über Frankreich herrscht. Ich werde meinen Erben aufziehen, und in seinen Adern wird Aquitanien über das dünne Kapetingerblut siegen.«

Wir werden also nicht sein wie diese Fische, die aussterben, dachte ich. Sie will den Teich wieder mit Teufeln bevölkern – diese Vorstellung entsetzte und verlockte mich zugleich.

»Ihr seid verwandt«, gab ich zu bedenken, »unsere Vorfahren haben in der Vergangenheit bereits ihr Blut miteinander vermischt. Die Kirche in Rom wird es nicht gestatten.«

»Die Kirche hat es auf meinen Reichtum abgesehen. Die Kapetinger werden von Abt Suger beherrscht, und der braucht Geld, um die Abtei Saint-Denis zu erneuern. Der dicke König kann ihm dieses Geld nicht geben, die Einnahmen aus seinem kleinen Herrschaftsbereich erlauben keine großen Aufwendungen. Die Arbeiten verzögern sich, nicht einmal der Chor ist eingeweiht. Die Kirche wird unsere Blutsverwandtschaft nicht beachten. Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet du, mein Onkel väterlicherseits, dir Sorgen wegen der Blutschande machst.«

»Das zwischen uns ist anders«, murmelte ich. Wie konnte sie es wagen, das zu vergleichen? »Ich bin kein entfernter Vetter.«

»Und dennoch lässt du mich allein und ziehst nach Antiochien, um ein zehnjähriges Mädchen zu heiraten.«

»Ich gehe auf die Suche nach meinem Bruder und lasse dir den Vortritt, damit kein Erbfolgekrieg Aquitanien oder dich zerreißt. Als Sohn Guilhems, des ersten Troubadours, könnte ich Aquitanien für mich fordern, und ich tat es nicht, als Aigret starb. Ich liebte dich zu sehr, auch wenn ich dich nicht gegen die Kapetinger verteidigen konnte. Und jetzt wirfst du dich ihnen in die Arme.«

»Täusche dich nicht, Rai: Ich werfe mich auf ihre Krone, nicht in ihre Arme.«

Sie hielt meinem Blick stand, so starrköpfig wie Vater.

Und da entsagte ich ihr, entsagte der Möglichkeit, jemals nach Aquitanien zurückzukehren, entsagte allem Bekannten. Für den, der ich war, war kein Platz in dem Spiel, das sich nun entfalten würde.

Ich wählte meine Worte mit Bedacht. Es waren die letzten, die sie je von mir hören würde.

»Lía«, sagte ich und wollte ihre Hand nehmen, doch sie entzog sie mir, »niemand darf je erfahren, was zwischen uns war, zwischen dir und mir. Niemand würde es verstehen, und ich weiß, dass es für immer unter uns bleiben wird. Aber von nun an werde ich auf meinem eigenen Schiff rudern, und du wirst das Gleiche tun. Unsere Wege trennen sich hier.«

Sie nickte, auch sie wusste es.

»Du wirst bei der Hochzeit nicht dabei sein? Ich werde an diesem Tag deine Unterstützung brauchen.«

»Die Aufgabe, die mir König Fulko übertragen hat, ist eilig«, log ich.

Wie den Anblick ertragen, wenn sie sich vermählte? »Ich reise morgen ab. Lass mir dieses schändliche Testament zukommen, heute Nachmittag berufe ich den Rat ein, und ich werde sie überzeugen. Für dich, Eleonore, weil ich gesagt habe, dass ich auf deine Stärke vertraue, und das werde ich auch. Ich werde dich nicht nach Paris begleiten.«

»Nach Paris? Nein, Rai, ich werde mich nicht in Paris vermählen. Das wird mein erstes Kräftemessen mit dem dicken König sein.«

»Er ist der König der Île-de-France, die Hochzeit muss in Paris stattfinden«, erwiderte ich entgeistert.

»Und ich werde zur Bedingung machen, dass sie in Aquitanien stattfindet. Ich will sehen, wie weit er nachzugeben bereit ist für die Trophäe, in die ich mich verwandelt habe. Lass mich in Erfahrung bringen, welchen Marktwert ich habe! Es wird mir nutzen zu wissen, wie groß meine Macht tatsächlich ist.«

»Für deinen ersten Zug ist es zu kühn.«

»Durch diese Forderung habe ich nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen, falls er nachgibt.«

Ich sah sie an. Verbarg ich meinen Stolz auf sie auch gut genug?

»Du willst die Tonart des Spiels ermitteln, ich weiß. Aber was du da beabsichtigst, ist keine Kleinigkeit: eine junge Frau von dreizehn Jahren, die den König herausfordert. So sei es also, versuche es – allerdings werde ich nicht dabei sein, weder in Paris noch in Bordeaux. Nach meiner Zusammenkunft mit dem Rat reise ich ins Heilige Land. Wir werden uns öffentlich verabschieden wie der Onkel und die Nichte, die wir sind … und das wird alles sein.«

»Werden wir uns nicht schreiben?«, fragte sie ungläubig. »Hört es so zwischen uns auf?«

»Ich werde dir aus Antiochien schreiben, wenn ich etwas über deinen Vater erfahre. Oder falls du oder Aquitanien in Gefahr seid. Aber es ist besser, wenn du allmählich akzeptierst, dass von nun an Schweigen zwischen uns herrschen wird«, zwang ich mich zu sagen, obwohl ich dabei das Gefühl hatte, eine grausige Ketzerei auszusprechen.

Es wäre gefährlich, wenn wir einander schrieben, denn unsere Briefe würden von Spionen und Verrätern gelesen werden. Lía war in ihren schriftlichen Äußerungen schon immer ungestüm gewesen. Bereits als bartloser Jüngling hatte ich ihre heißblütigen Nachrichten verbrennen müssen, nachdem ich sie mir eingeprägt hatte. Ein solches Wagnis durften wir nicht eingehen.

»… und deshalb wirst du mir den Familienleitspruch in die Schulter stechen. Von nun an darf ich es nicht mehr vergessen, nicht wahr?«, sagte sie und deutete auf das Ledersäckchen.

Ich nickte und holte schweigend Nadel und Tinte heraus.

Besser, endlich zu beginnen, sagte ich mir. Es muss getan werden.

»Hier also stirbt mein Rai. Hier bricht mein Onkel, Raimund von Poitiers, in sein ungewisses Schicksal im Heiligen Land auf«, deklamierte sie laut, vielleicht, um sich selbst davon zu überzeugen.

Sie entkleidete sich vollständig, bot mir schweigend die Schulter, und ich zeichnete die drei S, die mein Bruder seinerseits mir gestochen hatte, als ich im rechten Alter für meine Kampftaufe gewesen war.

Lía ertrug die Schmerzen wie eine wahre Schülerin der Stoiker. Noch nie hatte ich sie klagen gehört, weder wenn sie gestürzt war, noch über Zahnschmerzen. Beim Stechen dieser drei Buchstaben zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.

Als ich fertig war, trug ich Salbe auf die gerötete und geschwärzte Haut auf. Daraufhin ging sie an mir vorbei und stieg zu meinem Entsetzen ins Wasser zu den übrig gebliebenen Teufeln.

»Was tust du da?«, schrie ich erschrocken. Lía neigte weder zu kindischem Verhalten noch zu Prahlereien, sondern hatte den gesunden Menschenverstand meines Bruders geerbt. »Diese Fische werden dich nicht achten, bloß weil du sie dein Leben lang gefüttert hast. Sie haben schon Menschen, Schafe und Kühe gefressen.«

»Ich weiß«, erwiderte sie bloß, bereits im dunklen Wasser.

»Verflucht seist du …« Ich streckte ihr mein Schwert in der Scheide entgegen, um sie zu retten, »… jetzt steig da raus!«

»Komm. Entkleide dich und komm. Ich will dir etwas zeigen.«

»Zeig es mir hier draußen.«

Sie beachtete meinen Befehl nicht.

»Wir sind nicht wie alle anderen, Rai. Wir sind Aquitanier, wir gehören zum Geschlecht des Troubadours und der furchterregenden Großmutter Philippa. Nicht einmal diese wilden Fische werden es wagen, uns zu fressen und sich mit unserem Fleisch zu vergiften. Komm, ich bin sicher, sie können das Gift riechen. Ich werde es dir zeigen.«

»Um Judas’ Phallus willen, du bist sogar dann schön, wenn du gleich verschlungen wirst.«

»Du sollst kommen, habe ich gesagt! Ich befehle es dir als deine Herzogin«, beharrte sie, nunmehr verärgert. »Ich will dich ein letztes Mal zwischen meinen Beinen haben.«

»Nun gut«, gab ich schließlich nach, »aber nimm wenigstens mein Schwert, und sobald du eine Flosse erspähst, wirf es nach ihr. Ich will nicht als Lahmer ins Heilige Land ziehen.«

»Wann hätte ich je fehlgeworfen, zumal auf diese Entfernung?«

»Nur in den ersten zehn Jahren«, musste ich ihr in Erinnerung rufen, während ich die Tunika und die Beinlinge ablegte.

»Eben«, gab Lía zurück. »Widme du dich deiner Aufgabe, mein süßer Rai. Kein Fisch wird es wagen, deine Männlichkeit abzubeißen, darüber wache ich.«

Wie lau das Wasser war und wie weich die Haut zwischen diesen Schenkeln. Wie gut wir beide wussten, dass meine Zunge keinem von uns genügen würde. Wir fielen so wütend übereinander her, dass Wellen um unsere Hüften schlugen.

Ein solcher Zorn in ihren Augen, weil ich sie verließ, eine Raserei, die wir nicht mehr bezähmen konnten, sobald die Leidenschaft einmal entfesselt war in ihrer uralten, uns wohl bekannten Hitze.

Seit Jahren schlangen wir unsere Leiber umeinander, bissen einander erbarmungslos. Was konnten diese Fische uns schon anhaben, das wir uns nicht längst selbst angetan hatten? Sie näherten sich nicht einmal, sondern überließen es uns, uns gegenseitig zu verschlingen.

Lía musste mir die Hand auf den Mund legen, sonst hätte mein Stöhnen sämtliche Schwalben Aquitaniens aufgeschreckt.

So trug es sich zu, auch wenn es in keiner Chronik verzeichnet ist: Ehe wir den Teufelsteich verließen, nahmen wir einander dort im Wasser zum letzten Mal, umgeben von Seerosen, wütend und voll unerträglicher Trauer.

Und in meinen Gedanken eine Lüge, eine Auslassung: der »Blutadler«, die uralte Folter der Menschen des Nordens. Ob die Leiche, die ich gesehen hatte, mein Bruder gewesen war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, doch lieber erzählte ich Lía nichts von dem Grässlichen, das der barbarische Mörder dieser Leiche angetan hatte.

4Die fünf Mütter

Der Junge

Jahrzehnte vor der Ermordung des Herzogs von Aquitanien

Diese Geschichte beginnt mit Leid.

Mit dem grausamen Leid eines Jungen von knapp sechs Sommern, der in einem Wald abseits seiner bekannten Welt ausgesetzt wurde. Und zwar bei Nacht. Schattenhafte Gestalten bekreuzigten sich, als sie ihn schlafend liegen ließen und zurückkehrten in ihren höllischen Alltag, bevor man ihre Abwesenheit bemerken konnte. Eine dieser Gestalten hatte dem Jungen mit süßen Worten Mohnsaft zu trinken gegeben, damit er wenigstens nicht litt, wenn ihn in der Dunkelheit sein Schicksal ereilte.

Auf diese Geschichte folgt ein mit Gewalt gewürztes Rätsel. Eine Anschuldigung – die denkbar schlimmste –, eine Flucht und eine Rückkehr.

Doch fahren wir fort.

Die fünf Mütter dieses Jungen hatten jede zwei Namen. Der, den sie untereinander verwendeten, wenn sie aus Buchenasche und Ziegentalg Seife kochten, war der Tagesname. Und zu ihrem Unglück hatten sie einen schändlicheren, schmutzigeren Namen, mit dem man sie allnächtlich rief, wenn sie zum Beten gehen mussten. Deshalb wusste der Junge nicht genau, nach wem er fragen sollte, als er Monate nach der Nacht, von der eben die Rede war, an den großen Eisenkäfig trat, der an einem dicken Eichenast hing.

»Mutter?«, fragte der Junge hoffnungsvoll.

Er trat ein wenig näher an die Frau heran, die zwischen den Eisenstangen gefangen war.

»Mutter, ich habe viel Lavendel gesammelt. Und Talg für die Seife.«

Allerdings wusste er nicht, von welchem Tier, von einer Ziege wohl nicht. Er hatte das Tier bereits tot am Fluss gefunden und die Vögel verscheucht, die empört gezetert hatten. Doch er hatte mit einem spitzen Stein das Fett zusammenkratzen können. Das war sein größtes Verdienst bisher und gab ihm das Gefühl, älter zu sein.

Er wollte beweisen, dass er von Nutzen war, damit sie ihn nie wieder im Wald vergaßen, damit sie das nächste Mal, wenn sie ihn verloren, nach ihm suchten, bevor sich der Mond viermal gerundet hatte.

»Mädchen? … Komm näher, Mädchen«, sprach die Frau mühevoll.

Eines ihrer Augen war dunkel verfärbt und zugeschwollen. So etwas sah der Junge nicht zum ersten Mal und er wusste, dass es ihr weh tun musste. Die Frau war dünn, wenn auch nicht so dünn wie er, der er nur Haut und Knochen war unter dem groben weißen Kittel. Sie war schon älter, aber noch keine alte Frau. Enttäuschung überkam ihn, während er sie musterte. Sie war keine seiner fünf Mütter.

»Kannst du … kannst du mir Wasser vom Fluss bringen, Mädchen?«

»Ich habe keine Schöpfkelle.« Er war nicht sehr redselig, aber er freute sich, dass er die Worte nicht vergessen hatte.

»Dann mit den Händen, Kleine. Mach eine Kelle aus deinen Händchen.«

Noch nie hatte er mit jemand anderem als seinen fünf Müttern gesprochen. Doch er wusste instinktiv, dass die Frau ihm nicht weh tun konnte, wenn sie in einem Käfig eingesperrt war. Und sie hatte weder Schnabel noch Krallen wie die Eule, die ihn angegriffen hatte, während er in einer seiner ersten Nächte im Wald die Eier aus ihrem Nest raubte, vom Hunger geplagt, weil er bis dahin nur Brombeeren gegessen hatte.

Er lief zum nahen Fluss und versuchte, eine gehörige Menge Wasser in seinen Händen zurückzutragen.

Der Käfig hing recht hoch, und die Frau bückte sich, doch dabei geriet der Käfig ins Schaukeln. Ein wenig konnte sie trinken, aber sie stöhnte vor Schmerzen.

»Warum bist du in einem Käfig?«, wollte der Junge wissen.

Sie dachte nach, bevor sie antwortete, wie seine Mütter, wenn sie sich eine schöne Geschichte für ihn ausdachten.

»Ich bin Rebsammlerin. Meine Schwiegertochter begehrt meine Stellung und auch meine sieben Scheren. Sie hat mich beschuldigt, dem Herzog einen Teil der Steuern vorzuenthalten, und er hat ihr geglaubt. Mit Schlägen haben sie mir ein falsches Geständnis entlockt.«

Der Junge verstand nur das mit dem Herzog und den Schlägen.

»Lebst du hier, im Wald?«, fragte die Frau.

»Nein, meine Mütter haben mich verloren und finden mich nicht mehr. Ich warte auf sie, vielleicht kommen sie heute.«

»Deine Mütter? Wie viele Mütter hast du denn?«